MAX PLANCK FORSCHUNG - ZUR SICHERHEIT

 
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MAX PLANCK FORSCHUNG - ZUR SICHERHEIT
Ausgabe 01 | 2023

                  Max Planck
                                                     Forschung

    MAx-Planck-Gesellschaft   Biologie               Astronomie
Ein Spiegel ihrer Zeit        Hunger ist Kopfsache   Am Ursprung der Milchstraße

Zur Sicherheit
MAX PLANCK FORSCHUNG - ZUR SICHERHEIT
F o t o: R EU T E R S/C a r l o s Ba rr i a
2

    W     ürdigung für einen
    Verteidiger der Demokratie:
    Polizisten erweisen Brian
    Sicknick am Kapitol in
    Washington die letzte Ehre.
    Der Polizist verteidigte den
    US-Kongress am 6. Januar
    2021 gegen den Ansturm
    von Trump-Anhängern.
    Er starb einen Tag darauf an
    den Folgen zweier Schlag-
    anfälle. Diese wurden ge-
    richtlich als natürliche Todes-
    ursache eingestuft, unklar
    ist aber ob der Sturm auf das
    Kapitol zur Auslösung
    der Schlaganfälle beitrug.

                                      Max Planck Forschung · 1 | 2023
MAX PLANCK FORSCHUNG - ZUR SICHERHEIT
Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser

 Das Kapitol in Washington ist das Symbol für Demokratie schlechthin. Der Sturm auf
 das Allerheiligste der amerikanischen Demokratie Anfang 2021 hat deutlich gemacht, wie
 verwundbar Demokratien sind. Auch in anderen Ländern ist die Gewaltbereitschaft
 gegenüber staatlichen Institutionen in den letzten Jahren gestiegen. Die Ereignisse schei-
 nen oft in keinem erkennbaren Zusammenhang zu stehen, Fachleute sprechen von
„Zufallsterror“. Neueste Forschungsergebnisse sehen jedoch keine sozial isolierten Einzel-
 täter am Werk, sondern eine Strategie miteinander vernetzter Gleichgesinnter. Diese
 schaffen durch Lügen und Verschwörungstheorien ein geistiges Umfeld, das solche Taten
 ermöglicht.

Eine vergleichsweise neue Form der Kriminalität ist das Verbreiten von Schadprogrammen,
mit denen sich elektronische Geräte ausspähen lassen. Da bei der Entwicklung neuer            3
Software die Sicherheit oft nachrangig ist, enthalten Programme häufig Schwachstellen,
die Kriminelle ausnutzen können. Mit einem neuen Verfahren wollen Forschende diese
Schlupflöcher effizienter aufspüren.

Wie sicher eine Gesellschaft ist, hängt auch von ihrem Umgang mit Straftätern ab: „Weg-
schließen – für immer!“ Das forderte 2001 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder
für den Umgang mit Sexualstraftätern. Auch bei anderen Gewaltdelikten werden oftmals
besonders strenge Strafen gefordert. Doch senkt eine lange Zeit im Gefängnis die Gewalt-
bereitschaft? Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie und der Hirnforschung legen nahe,
dass ein Strafrecht, das auf Vergeltung, Abschreckung und Ausgrenzung setzt, genau die
Gewalt fördert, die es eigentlich verhindern möchte.

Die vorliegende Ausgabe von Max Planck Forschung ist die erste nach einer großen Verän-
derung. Unser langjähriger Chefredakteur und hochgeschätzter Kollege Helmut Hornung
hat sich vor Kurzem in den Ruhestand verabschiedet. Sein Lieblingsbonmot „Die Lücke,
die er hinterlässt, ersetzt ihn vollkommen“ trifft in seinem Fall nicht zu: Er fehlt uns!
Aber wir versprechen: Wir werden das Magazin mit derselben Begeisterung für die span-
nenden Geschichten rund um die Wissenschaft weiterführen.

Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihnen

Ihr Redaktionsteam

                                     Max Planck Forschung · 1 | 2023
MAX PLANCK FORSCHUNG - ZUR SICHERHEIT
Bi l de r : A l essa n dro G o t ta r d o ( l i n ks obe n ); A n t hon y Sajdl e r ( r ec h ts obe n ); A d obe S t o c k / C omof o t o ( l i n ks u n t e n ); Sve n D ör i ng fü r M PG ( r ec h ts u n t e n )
                                                30                                                                          36

                                                52                                                                          58

30    Leidvoll               36    vertrauensvoll                     52       Gehaltvoll              58    Anspruchsvoll

Die Erfahrungen von Straf-   Hannah Pools Forschung wurde             Fett- und zuckerreiche Nahrung   Die verknüpften Nervenzellen
gefangenen erschweren ihre   erst durch ihre engen Bindungen          spricht das Belohnungssystem     des Gehirns sind Vorbild
Resozialisation.             zu Flüchtenden möglich.                  im Gehirn besonders an.          für künstliche neuronale Netze.

                                                     Max Planck Forschung · 1 | 2023
MAX PLANCK FORSCHUNG - ZUR SICHERHEIT
Inhalt

03 | Editorial                                      36 | besuch bei
                                                    Hannah Pool
06 | orte der forschung

Palazzo Chiaramonte in Palermo                      44 | Zweiter Blick

                                                    46 | 75 Jahre
8 | kurz notiert
                                                            Max-Planck-Gesellschaft

12 | ZUR SACHE                                      Ein Spiegel ihrer Zeit
                                                    Die Max-Planck-Gesellschaft ist bekannt
Es geht um die Wurst
                                                    für ihre wissenschaftlichen Erfolge,
Um den Klimawandel zu bremsen, müssen               doch sie war und ist auch eine Akteurin
wir auch unsere Ernährung umstellen. Ein            der Zeitgeschichte, zum Beispiel
Mix aus sanften und harten Maßnahmen                bei der deutschen Wiedervereinigung.
könnte den klimaschädlichen Fleischkonsum
reduzieren.
                                                    wissen aus

16 | Infografik                                     52 | Hunger ist Kopfsache
Die Evolution der Hausmaus                          Hunger und Appetit werden durch Prozesse
                                                                                                                                  5
                                                    im Gehirn gesteuert, die uns Menschen
                                                    lange evolutionäre Vorteile brachten und ent-
iM FOKUS                                            sprechend schwierig zu beeinflussen sind.
Zur Sicherheit
                                                    58 | Intelligenz mit Plan
18 | Vom Funken zum Feuer                           Eine mathematische Theorie künstlicher
Bei der zunehmenden politischen Gewalt              neuronaler Netze soll helfen, künst-
scheint es sich oft um die Aktionen Einzelner       liche Intelligenz besser zu verstehen und
zu handeln. Doch auch der „Zufallsterror“           zu optimieren.
folgt Mustern. Diese zu verstehen hilft bei der
Prävention von Anschlägen.                          64 | Am Ursprung der Milchstraße
                                                    Die ersten Milliarden Jahre unserer                           techmax
24 | Schlupfloch im Programm                        Galaxie verliefen turbulent – mit einer
Eine neue Methode macht die Suche nach              Art kosmischer Archäologie lässt                     Wunderlampe aus dem
Sicherheitslücken in Software deutlich              sich diese Geschichte rekonstruieren.           Quantenland – wie der Laser
effizienter – Unternehmen wie Google nutzen                                                             den Alltag der Medizin
sie bereits.                                                                                                            erobert
                                                    70 | Post aus ...
30 | Lebenslang                                     Grenada, Karibik
So wie Strafvollzug in vielen Ländern
praktiziert wird, erschwert er die Wieder-          72 | neu erschienen
eingliederung in die Gesellschaft – aber
es geht auch anders.
                                                    74 | fünf fragen
                                                    zu ChatGPT und Urheberrechten

                                                    75 | impressum

                                                  Max Planck Forschung · 1 | 2023
MAX PLANCK FORSCHUNG - ZUR SICHERHEIT
Hinabgestiegen in
    das Reich des Todes

6

                          Max Planck Forschung · 1 | 2023
MAX PLANCK FORSCHUNG - ZUR SICHERHEIT
orte
                                                                                                                               der
                                                                                                                         forschung

                                                                                                      D     er spätgotische Palazzo Chiaramonte in Palermo, auch
                                                                                                      Lo Steri (Festungspalast) genannt, hat eine wechselvolle
                                                                                                      Geschichte. Heute eine von Palermos Sehenswürdigkeiten,
                                                                                                      war der Steri im 17. und 18. Jahrhundert Sitz des Inquisitions-
                                                                                                      gerichts und seiner düsteren Gefängnisse. Menschen ver-
                                                                                                      schiedenster Religionen und Herkunft waren hier inhaftiert. Die
                                                                                                      Wände der Zellen sind mit Zeichnungen bedeckt, teilweise in        7
F o t o: Si s t ema M usea l e di At e n e o de l l ›U n i ve r si tà degl i S t udi di Pa l e r mo

                                                                                                      mehreren Schichten. Neben religiösen Darstellungen finden
                                                                                                      sich Karten und Inschriften in vielen Sprachen, unter anderem
                                                                                                      Italienisch, Sizilianisch, Hebräisch, Latein und Englisch.

                                                                                                      Das Bild zeigt die auch heute vor allem in der Ostkirche noch
                                                                                                      sehr bedeutende Ikonografie des Abstiegs Christi in die
                                                                                                      Unterwelt: In der Zeit zwischen seinem Tod am Kreuz und der
                                                                                                      Auferstehung in der Osternacht steigt Christus ins Reich
                                                                                                      des Todes hinab. Dort errettet er die Seelen der Gerechten –
                                                                                                      hier verkörpert durch die Patriarchen des Alten Testaments –
                                                                                                      aus dem Rachen des Leviathan, des biblischen Ungeheuers,
                                                                                                      das die Sünder verschlingt. Ein kleines Tor auf der linken
                                                                                                      Seite der Zeichnung symbolisiert den Eingang zu den Kerkern.
                                                                                                      Die Inschrift darunter entspricht jener auf dem Tor zur Hölle
                                                                                                      in Dantes Göttlicher Komödie, übersetzt meist als „Ihr, die ihr
                                                                                                      hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren“. Doch Christus gibt
                                                                                                      dem Gläubigen Hoffnung auf Erlösung.

                                                                                                      Das am Kunsthistorischen Institut in Florenz angesiedelte Pro-
                                                                                                      jekt Graffiti Art in Prison, eine internationale Partnerschaft,
                                                                                                      geleitet von der Università degli Studi di Palermo, befasst sich
                                                                                                      mit historischen ebenso wie mit zeitgenössischen Graffiti
                                                                                                      und Wandmalereien. Es geht um Orte der Unfreiheit, Entbehrung
                                                                                                      und Zensur – Gefängnisse ebenso wie Konzentrationslager
                                                                                                      oder psychiatrische Kliniken – und die kreativen Reaktionen
                                                                                                      auf diese Umgebungen: materiell, körperlich, psychologisch,
                                                                                                      politisch, sozial, religiös, räumlich und zeitlich.

                                                                                                       Max Planck Forschung · 1 | 2023
MAX PLANCK FORSCHUNG - ZUR SICHERHEIT
Hoher Besuch weit oben
                                                             Im Rahmen einer Brasilienreise besuch-     xen Wechselwirkungen zwischen dem                                                         namensgebenden 325 Meter hohen
                                                             ten Bundespräsident Frank-Walter           größten tropischen Regenwald der Erde,                                                    Turm, den sie bis zur ersten Zwischen-
                                                             Steinmeier und Bundesumweltminis­          der Atmosphäre und dem Weltklima.                                                         plattform in 54 Meter Höhe bestiegen.
                                                             terin Steffi Lemke Anfang Januar 2023      Susan Trumbore, Direktorin am Max-                                                        Die beiden zeigten sich beeindruckt von
                                                             das Amazon Tall Tower Observatory          Planck-Institut für Biogeochemie und                                                      dem Hightech-Standort mitten im bra-
                                                             (Atto), ein Gemeinschaftsprojekt zweier    deutsche Koordinatorin des Atto-Pro-                                                      silianischen Regenwald. „Hier wird so-
                                                             Max-Planck-Institute mit zwei brasilia-    jekts, führte die Delegation durch die                                                    zusagen der Puls des Weltklimas gemes-
                                                             nischen Forschungseinrichtungen. For-      Forschungsstation. Steinmeier und                                                         sen“, resümierte der Bundespräsident. 
                                                             schende untersuchen dort die komple-       Lemke besichtigten unter anderem den                                                      www.mpg.de/19713754
    F o t o: Bu n desr egi e ru ng / Gu i d o B e rgma n n

                                                                                                                                                                         Über den Bäumen:
                                                                                                                                                                                                                Rekord bei
                                                                                                                                                                         Max-Planck-Forscher
                                                                                                                                                                         Stefan Wolff erläutert                 Wendel-
                                                                                                                                                                         dem Bundespräsiden-
                                                                                                                                                                         ten auf der ersten                     stein 7-X
                                                                                                                                                                         Zwischenplattform
                                                                                                                                                                         von Atto in 54 Meter                   Gerade erst wieder in Betrieb ge-
                                                                                                                                                                         Höhe, welche Fragen                    nommen, und schon eine neue Best-
                                                                                                                                                                         in der Forschungs-                     marke gesetzt: Nachdem Wendel-
                                                                                                                                                                         station bearbeitet                     stein 7-X drei Jahre lang umgebaut
8                                                                                                                                                                        werden.                                wurde und unter anderem eine leis-
                                                                                                                                                                                                                tungsfähigere Heizung sowie eine
                                                                                                                                                                                                                Wasserkühlung erhalten hat, haben
                                                                                                                                                                                                                die Forschenden des Max-Planck-In-
                                                                                                                                                                                                                stituts für Plasmaphysik darin nun
                                                                                                                                                                                                                ein Plasma für acht Minuten stabil
                                                                                                                                                                                                                gehalten. Vor dem Umbau hatten sie
                                                                                                                                                                                                                das lediglich für 100 Sekunden ge-
                                                                                                                                                                                                                schafft. Letztlich soll Wendelstein
                                                                                                                                                                                                                7-X ein Plasma 30 Minuten lang auf-
                                                             ausgezeichnet                                                                                                                                      rechterhalten, um seine Eignung für
                                                                                                                                                                                                                die Kernfusion im Dauerbetrieb zu
                                                                                                                           F o t o: M PI fü r Bio c hem i e / Dav i d Ausse r hofe r

                                                                                                                                                                                                                beweisen. Dabei wollen die Forschen-
                                                             BRENDA SCHULMAN                                                                                                                                    den das Plasma auf 60 Millionen
                                                                                                                                                                                                                Grad aufheizen, was in einer größe-
                                                             Mit dem Louis-Jeantet-                                                                                                                             ren Anlage den 100 Millionen Grad
                                                             Preis für Medizin geht
                                                                                                                                                                                                                entspräche, die für die Zündung der
                                                             eine der angesehensten
                                                             Auszeichnungen der                                                                                                                                 Kernfusion nötig sind. Im aktuellen
                                                             biomedizinischen                                                                                                                                   Experiment heizten sie das Plasma
                                                             Forschung dieses Jahr an                                                                                                                           auf 17 Millionen Grad, hatten in kür-
                                                             Brenda Schulman,                                                                                                                                   zeren Experimenten aber auch schon
                                                             Direktorin am Max-                                                                                                                                 30 Millionen Grad erreicht. Bei Wen-
                                                             Planck-Institut für Bio-                                                                                                                           delstein 7-X handelt es sich um einen
                                                             chemie. Sie erhält den Preis                                                                                                                       Stellarator. Das ist ein Bauprinzip ei-
                                                             gemeinsam mit Ivan Ðikić von der                                                                                                                   nes Fusionsreaktors, der durch die
                                                             Goethe-Universität in Frankfurt am Main für ihre Beiträge                                                                                          Verschmelzung leichter Atomkerne
                                                             zur Erforschung des Proteins Ubiquitin, das eine Schlüssel-                                                                                        Energie erzeugen soll. Neben dem
                                                             rolle für die Gesundheit unserer Zellen spielt. Ubiquitin
                                                                                                                                                                                                                Stellarator erforscht das Max-
                                                             wird an andere Proteine angehängt, um sicherzustellen, dass
                                                             verschiedene Prozesse in unseren Zellen in der richtigen                                                                                           Planck-Institut für Plasmaphysik den
                                                             Reihenfolge ablaufen. Eine Fehlfunktion kann zur Ent-                                                                                              alternativen Tokamak. Als solcher
                                                             stehung von Krankheiten wie Krebs oder von Infektionen                                                                                             wird auch Iter, das bis dato weltweit
                                                             beitragen. Brenda Schulman und Ivan Đikić haben solche                                                                                             größte Fusionsexperiment, gebaut. 
                                                             wichtigen Steuerungsvorgänge des Ubiquitins aufgedeckt.                                                                                             www.ipp.mpg.de/5322014

                                                                                                                           Max Planck Forschung · 1 | 2023
MAX PLANCK FORSCHUNG - ZUR SICHERHEIT
Kurz
                                                                                                                                    notiert
F o t o: A n na S c h rol l fü r M PG

                                                                                                                                    Effektiver
                                                                                                                                    Test
                                                                                                                                     Eine zuverlässige Diagnose latenter
                                                                                                                                     Tuberkulose – einer symptomlosen
                                                                                                                                     und nicht ansteckenden Form der
                                                                                                                                     Krankheit – wäre ein wichtiger Bau-
                                                                                                                                     stein für die Bekämpfung des Erre-
                                                                                                                                     gers. Latent infizierte Personen stel-
                                                                                                                                     len ein Reservoir für Tuberkelbazil-     9
                                                                                                                                     len dar. Zudem kann die Krankheit
                                                                                                                                     bei einer Schwächung des Immun-
                                                                                                                                     systems ausbrechen. Vor immunsup-
                                                   Joachim Gauck, Bundespräsident a. D. und Max-Planck-Senator, sprach beim          pressiven Therapien, etwa vor einer
                                                                          75-jährigen Jubiläum der Max-Planck-Gesellschaft.
                                                                                                                                     Organtransplantation oder einer
                                                                                                                                     Chemotherapie, müssen Patienten
                                                                                                                                     daher auf latente Tuberkulose unter-
                                                                                                                                     sucht werden. Die verfügbaren Tests
                                        Blick zurück nach vorn                                                                       sind bei Menschen, die gegen Tuber-
                                                                                                                                     kulose geimpft sind oder vor langer
                                        Am 26. Februar 2023 feierte die         wichtig Wissenschaft ist. Der Histo-                 Zeit eine Tuberkuloseinfektion hat-
                                        Max-Planck-Gesellschaft ihre Grün-      riker Jürgen Kocka, Mitglied der For­                ten, oft falsch-positiv. Das Schweizer
                                        dung vor 75 Jahren. Mehr als 200        schungsgruppe zur Geschichte der                     Start-up Clemedi arbeitet nun an
                                        Gäste kamen zu einem Festakt im         Max-Planck-Gesellschaft, stellte de-                 besseren Tests. Basis dafür ist eine
                                        Deutschen Museum in München –           ren Entwicklung in seinem Festvor-                   Methode, die am Max-Planck-Insti-
                                        unter ihnen Bundesforschungsmi-         trag als Teil der Zeitgeschichte dar.                tut für Infektionsbio­logie in Berlin
                                        nisterin Bettina Stark-Watzinger, der   Eine gekürzte Fassung dieses Vor-                    und an der Medizinischen Universi-
                                        niedersächsische Wissenschaftsmi-       trags lesen Sie ab Seite 46. Max-                    tät Wien entwickelt wurde und es er-
                                        nister Falko Mohrs und der US-ame-      Planck-Präsident Martin Stratmann                    möglicht, DNA des Erregers Myco­
                                        rikanische Generalkonsul Timothy        nannte seine Wünsche für das Ge-                     bacterium tuberculosis aus dem Blut
                                        Liston. Die Eröffnungsrede hielt        burtstagskind: unter anderem ein                     latent Infizierter zu extrahieren. Im
                                        Joachim Gauck, Bundespräsident a. D.    langes Leben; den Mut, etwas aus                     Dezember 2022 hat Clemedi für die
                                        und Senator der Max-Planck-Ge-          den eigenen Gaben zu machen; die                     Nutzung dieser Technik eine Lizenz-
                                        sellschaft: Selten in der Geschichte    Fähigkeit, Wege jenseits ausgetrete-                 vereinbarung mit der Max-Planck-
                                        der Menschheit, so Gauck, sei man       ner Pfade zu suchen; ein gesundes                    Gesellschaft und der Medizinischen
                                        so sehr auf die Unterstützung durch     Maß an Unangepasstheit; die Sehn-                    Universität Wien getroffen.
                                        die Forschung angewiesen gewesen        sucht nach intellektueller Erfüllung                                  www.mpg.de/19676398
                                        wie heute. Die aktuellen Krisen – da-   und Neugier. Nach dem Festakt
                                        runter der Klimawandel als die wohl     wurde die Ausstellung „Pioniere des
                                        größte Herausforderung – hätten         Wissens“ über die Nobelpreisträge-
                                        auch außerhalb der Forschungs­          rinnen und -preisträger der MPG er-
                                        gemeinschaft deutlich gemacht, wie      öffnet.          www.mpg.de/19900080

                                                                                                  Max Planck Forschung · 1 | 2023
MAX PLANCK FORSCHUNG - ZUR SICHERHEIT
Kurz notiert

                                                                             Starke Schwankungen: Manche Frauen
                                                                             sind in den Tagen vor ihrer Regelblutung                                                                                                Musikalisch, aber
                                                                             psychisch erheblich beeinträchtigt.
                                                                             Die Ursache ist eine relativ schnelle                                                                                                   psychisch labil
                                                                             Veränderung im Transport des Boten-
                                                                             stoffs Serotonin im Gehirn.                                                                                                              Intuitiv glauben viele Menschen,      pressionen und bipolare Störungen
                                                                                                                                                                                                                      Musizieren sei gut für eine gesunde   im Durchschnitt häufiger musika-
                                                                                                                                                                                                                      Psyche. Dennoch wies 2019 ein For-    lisch aktiv waren, mehr übten und
     Bi l d: M PI fü r Ko gn i t ions - u n d Neu row i sse ns c haf t e n

                                                                                                                                                                                                                      schungsteam erstmals einen Zu-        Leistungen auf höherem künstleri-
                                                                                                                                                                                                                      sammenhang zwischen musikali-         schem Niveau erbrachten. Diese
                                                                                                                                                                                                                      schem Engagement und psychi-          Zusammenhänge traten unabhängig
                                                                                                                                                                                                                      schen Problemen nach. Demnach         davon auf, ob die Personen tatsäch-
                                                                                                                                                                                                                      berichten musikalisch aktive Men-     lich psychische Probleme hatten.
                                                                                                                                                                                                                      schen häufiger über Symptome von      Gleichzeitig hatten Teilnehmende
                                                                                                                                                                                                                      Depressionen, Burn-out und Ver-       mit einer höheren genetischen Ver-
                                                                                                                                                                                                                      haltensstörungen als Personen, die    anlagung zur Musikalität im Durch-
                                                                                                                                                                                                                      nicht Musik machen. In einer weite-   schnitt auch ein etwas höheres Ri-
                                                                                                                                                                                                                      ren Studie hat das Team, das inzwi-   siko, an einer Depression zu erkran-
                                                                                                                                                                                                                      schen am Max-Planck-Institut für      ken – unabhängig davon, ob sie
                                                                                                                                                                                                                      empirische Ästhetik forscht, nun      tatsächlich ein Musikinstrument
                                                                                                                                                                                                                      den genetischen Zusammenhang          spielten oder nicht. Diese Ergebnisse
                                                                                                                                                                                                                      zwischen Musikalität und der Ver-     untermauern die Vermutung, dass
                                                                                                                                                                                                                      anlagung für psychische Erkran-       teilweise dieselben Gene das musi-
                                                                 Depressive                                                                                                                                           kungen untersucht. Die Auswertung
                                                                                                                                                                                                                      zeigte, dass Personen mit einem hö-
                                                                                                                                                                                                                                                            kalische Engagement und die psy-
                                                                                                                                                                                                                                                            chische Gesundheit beeinflussen.
                                                                 Tage                                                                                                                                                 heren genetischen Risiko für De-                       www.mpg.de/012023de

                                                                             Das prämenstruelle Syndrom ist
                                                                             mittlerweile vielen ein Begriff. Des-
                                                                             sen schwerere Form, die prämenstru-
                                                                             elle Dysphorie (PMDS), beeinträch-
10                                                                           tigt Betroffene besonders stark. Symp­
                                                                             tome sind etwa Schlafstörungen, De-
                                                                             pressionen, Aggressivität und Kon-
                                                                                                                                                                                                                     Erst die Landwirtschaft
                                                                             zentrationsstörungen. Bis zu acht
                                                                             Prozent der Frauen im gebärfähigen
                                                                                                                                                                                                                     macht das Unkraut
                                                                             Alter sind davon betroffen. Ein For-                                                                                                    Intensive Landwirtschaft übt einen     gen beteiligt waren. Die Wissen-
                                                                             schungsteam des Max-Planck-Insti-                                                                                                       so starken Selektionsdruck auf         schaftlerinnen und Wissenschaftler
                                                                             tuts für Kognitions- und Neurowis-                                                                                                      Wildpflanzen aus, dass diese sich zu   haben das Erbgut des Rau­frucht-
                                                                             senschaften und des Universitätskli-                                                                                                    schwer kontrollierbaren Unkräutern     Wasserhanfs von heute mit dem von
                                                                             nikums Leipzig hat herausgefunden,                                                                                                      entwickeln können. Das zeigt eine      200 Jahre alten Exem­plaren in Mu-
                                                                             dass der Spiegel des Botenstoffs                                                                                                        Studie, an der Forschende des Max-     seen verglichen. Die Pflanze ist in
                                                                             Serotonin im Gehirn bei Frauen mit                                                                                                      Planck-Instituts für Biologie Tübin-   Nordamerika heute ein von Land-
                                                                             PMDS kurz vor der Menstruation                                                                                                                                                 wirten gefürchtetes Unkraut. Be-
                                                                             sinkt. Dieser Befund ist überra-                                                                                                                                               sonders häufig waren in den heuti-
                                                                             schend, weil man bisher dachte, die                                                                                                                                            gen Pflanzen Gene verändert, die
                                                                                                                        F o t o: U n i ve r si t y of B r i t i sh C olumbi a / J u l i a K r e i n e r

                                                                             Regelung des Serotoninspiegels sei                                                                                                                                             für schnelleres Wachstum sorgen
                                                                             ein individuelles Merkmal, das sich                                                                                                                                            und die Pflanzen unempfindlicher
                                                                             nicht in kurzfristigen Zeitspannen                                                                                                                                             gegen Trockenheit und Pflanzen-
                                                                             von zwei Wochen verändert – norma-                                                                                                                                             vernichtungsmittel machen. Auffäl-
                                                                             lerweise geht man von geringfügigen                                                                                                                                            lig ist, dass die Häufigkeit von Gen-
                                                                             Veränderungen alle zehn Jahre aus.                                                                                                                                             varianten, die an die moderne Land-
                                                                             Diese Erkenntnis kann nun in der                                                                                                                                               wirtschaft angepasst sind, seit deren
                                                                             Therapie genutzt werden, indem die                                                                                                                                             Intensivierung in den 1960er-Jahren
                                                                             Patientinnen gezielt, nur über wenige                                                                                                                                          schnell angestiegen ist. Von den sie-
                                                                             Tage, Antidepressiva mit einem                                                                                                                                                 ben Resistenzgenen des heutigen
                                                                             Wirkstoff einnehmen, der die Wieder-                                                                                                                                           Wasserhanfs gegen Herbizide kamen
                                                                             aufnahme von Serotonin hemmt.                                                                                                                                                 zum Beispiel fünf in den histori-
                                                                             www.mpg.de/19816722                                                                                                                                                            schen Exemplaren noch nicht vor.
                                                                                                                                                                                                                                                            Pflanzen, welche eine dieser sieben
                                                                                                                                                                                                                                                            Mutationen besitzen, produzieren
                                                                                                                                                                                                          Maispflanzen wachsen inmitten von                 fast 20 Prozent mehr Nachkommen
                                                                                                                                                                                                          Wasserhanf (rechts) schlechter als ohne           als Pflanzen im Jahr 1960. 
                                                                                                                                                                                                          das Unkraut (links).                                                www.mpg.de/19619839

                                                                                                                                                                                                                 Max Planck Forschung · 1 | 2023
Kurz notiert

                                                                               Attraktive Pilze
                                                                               Massenbefall mit Borkenkäfern schä-       nales Forschungsteam unter der Fe-
                                                                               digt zunehmend Wälder in Deutsch-         derführung des Max-Planck-Insti-
                                                                               land, die bereits durch hohe Tempe-
                                                                               raturen und anhaltende Dürreperio-
                                                                                                                         tuts für chemische Ökologie hat
                                                                                                                         nachgewiesen, dass die Buchdrucker                              für Chemie
                                                                               den geschwächt sind. Einer der
                                                                               wichtigsten Schädlinge ist der Fich-
                                                                                                                         Substanzen attraktiv finden, die die
                                                                                                                         Pilze beim Abbau von Fichtenharz                                und Life Sciences
                                                                               tenborkenkäfer, auch Buchdrucker          freisetzen. Die Insekten nehmen die
                                                                               genannt. Haben die Käfer einen ge-        gasförmigen Verbindungen mit spe-
                                                                               eigneten Baum gefunden, so geben          zialisierten Sinneszellen auf ihren
                                                                               sie Duftstoffe ab, sogenannte Phero-      Antennen wahr. Welche für die Bor-                              Von Chemikern für Chemiker –
                                                                               mone, die Artgenossen anlocken. Die       kenkäfer nützlichen Pilze im Baum                               Nutzen Sie das Netzwerk
                                                                               Käfer verbünden sich zudem mit Pil-       vorhanden sind, ist vermutlich ent-
                                                                               zen in der Rinde, damit sie sich in den   scheidend für den Massenbefall. Die                             der GDCh:
                                                                               Bäumen vermehren können. Die              Forschenden testen nun, ob die zur
                                                                               Pilze versorgen die Käfer mit Nähr-       Abwehr von Borkenkäfern eingesetz-                               Stellenmarkt – Online und in
                                                                               stoffen und schützen sie vor Krank-       ten Pheromonfallen wirksamer sind,                                den Nachrichten aus der Chemie
                                                                               heitserregern. Außerdem helfen sie        wenn sie Substanzen aus dem Pilz-                                CheMento – das GDCh-Mentoring-
                                                                               den Käfern, die Abwehrkräfte der          stoffwechsel enthalten. 
                                                                               Bäume zu überwinden. Ein internatio­                       www.mpg.de/19880257
                                                                                                                                                                                           programm für chemische
                                                                                                                                                                                           Nachwuchskräfte
                                                                                                                                                                                          Publikationen rund um die Karriere
F o t o: M PI fü r c hem i s c he Ökol o gi e / Di n eshkuma r K a n dasam y

                                                                                                                                                                                          Coachings und Workshops
                                                                                                                                                                                          Jobbörsen und Vorträge
                                                                                                                                                                                          Einkommensumfrage

                                                                                                                                                                             A nze ige

                                                                               Ein frisch geschlüpfter Buchdrucker ist in seiner Puppenwiege
                                                                               von Pilzsporen umgeben.

                                                                               Ins richtige Tröpfchen
                                                                               Proteine einer Zelle sammeln sich         in Proteinmolekülen gefunden, die
                                                                               häufig in Tröpfchen, sogenannten          als Etiketten dienen. Zudem entdeck-
                                                                               Kondensaten, die Öltropfen in einem       ten sie, dass Mutationen im Gen für
                                                                               Salatdressing ähneln. In der konzen-      das Protein HMGB1 den Teil des
                                                                               trierten Form können die Proteine         Proteins verändert, der wie ein loses
                                                                               ihre Aufgaben besser erfüllen. Spezi-     Gummiband aus dem Protein her-
                                                                               elle Abschnitte der Aminosäurekette       aushängt. Das Protein wandert dann
                                                                               eines Proteins wirken gewisserma-         fälschlicherweise in ein Kondensat
                                                                               ßen als Adressetiketten und dirigie-      im Zellkern, verklumpt dort und
                                                                               ren ein Protein ins richtige Tröpf-       kann seine Aufgabe nicht mehr erfül-
                                                                               chen. Landet ein Protein im falschen      len. Dies verursacht das BPTA-Syn-
                                                                               Tröpfchen, kann dies Erkrankungen         drom, eine seltene genetische Er-
                                                                               verursachen. Forschende unter ande-       krankung, bei der es zu Fehlbildun-
                                                                               rem des Max-Planck-Instituts für          gen von Gliedmaßen und des Ge-
                                                                               molekulare Genetik haben Abschnitte       hirns kommt.  www.mpg.de/19842527
                                                                                                                                                                                         Gesellschaft Deutscher Chemiker

                                                                                                                                           Max Planck Forschung · 1 | 2023
                                                                                                                                                                                            www.gdch.de/karriere
Es geht um die Wurst
          Für die Bekämpfung des Klimawandels müssen wir nicht
        nur die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas stoppen. Auch
            in anderen Bereichen braucht es einen Wandel, etwa in
         der Ernährung: So schadet Fleischessen dem Klima eben-
             falls. Und doch scheuen sich die meisten Politikerinnen
           und Politiker, hier einzugreifen. Die Juristin Saskia Stucki
          erklärt, warum Essensfragen ein Tabuthema sind und wie
                               die Politik wirkungsvoll handeln könnte.

      Die Fleischfrage – die Frage, ob, wie viel und welches Fleisch wir essen
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      (wollen, sollen, dürfen) – gilt uns traditionell als Privatsache. Unsere Er-
      nährung mag Ausdruck jeweiliger kulinarischer, kultureller, religiöser oder
      auch moralischer Prädispositionen sein, ist aber jedenfalls eine persön-
      liche Entscheidung der Konsumentin. Die Idee einer politischen Intervention
      in diesen Bereich der Privatsphäre löst entsprechendes Unbehagen aus
      und handelt sich schnell den Vorwurf der staatlichen Überregulierung oder
      Übergriffigkeit ein. Ein anschauliches Beispiel dazu liefert die Veggie-
      Day-Kontroverse aus dem Jahr 2013, als der Vorschlag der Grünen, in öffent-
      lichen Kantinen einen vegetarischen Tag einzuführen, Ängste vor
      einem „Fleischverbot“ schürte und einen regelrechten Shitstorm auslöste.

      Die Intuition der Konsumfreiheit und darauf gründende Beißreflexe greifen
      allerdings zu kurz. Dies verdeutlicht bereits ein flüchtiger Blick auf die
      externalisierten Kosten unseres unbändigen Fleischkonsums, dessen schäd­
      liche Folgen für öffentliche Gesundheit, Tiere und Umwelt reichlich doku-
      mentiert sind. So begünstigt die Nutztierhaltung globale Gesundheitsrisiken
      wie die Entstehung von zoonotischen Krankheiten und Antibiotikaresis-
      tenzen. Unser Fleischkonsum geht auch auf Kosten der 750 Millionen Tiere,
      die in Deutschland jährlich geschlachtet werden und von denen ein Groß-
      teil ihr Leben unter den trostlosen Bedingungen der industriellen Massen-
      tierhaltung fristet. Die Nutztierhaltung ist ferner einer der Haupttreiber der
      sich aktuell zuspitzenden ökologischen Krisen: Klimawandel, Biodiversitäts-
      verlust, Regenwaldabholzung. Vor dem Hintergrund dieser gesundheitlichen,
      ökologischen und tierethischen Nebenwirkungen kann von einer rein
      persönlichen Entscheidung nicht (mehr) die Rede sein – die einst privat
      gedachte Fleischfrage ist politisch geworden.

                         Max Planck Forschung · 1 | 2023
ZUR
                                                                                            Sache

                                                                                                             Saskia
                                                                                                            Stucki

                                                                                                                           13

                                                                                          Die Juristin ist seit 2016
                                                                                          Referentin am Max-Planck-
                                                                                          Institut für ausländisches
                                                                                          öffentliches Recht und Völker-
                                                                                          recht. Saskia Stucki studierte
                                                                                          und promovierte an der
                                                                                          Universität Basel, wo sie sich
                                                                                          nun mit dem Projekt Trans-
I l lus t r at ion: S oph i e K et t e r e r fü r mpg

                                                                                          formative Greenstreaming:
                                                                                          Greening Non-Environmental
                                                                                          Law habilitiert. 2018/2019 war
                                                                                          sie Gastwissenschaftlerin an
                                                                                          der Harvard Law School. Ihre
                                                                                          Forschungsschwerpunkte
                                                                                          sind Umwelt- und Klimarecht,
                                                                                          Food Governance, Tier-
                                                                                          recht, Menschenrechte und
                                                                                          Rechtstheorie.

                                                        Max Planck Forschung · 1 | 2023
Die Klimakrise hat in besonderem Maße zur Politisierung von Fleisch
               beigetragen. Oberstes Ziel der Klimapolitik ist die Erreichung von Klima-
               neutralität bis 2045 in Deutschland und 2050 in der EU. Hierzu sind
               rapide und drastische Reduktionen der Treibhausgasemissionen in allen
               Sektoren erforderlich, so auch in der Landwirtschaft. Global betrachtet,
               verursacht das Ernährungssystem je nach Schätzung 21 bis 37 Prozent
               der anthropogenen Treibhausgasemissionen, wobei bis zu 80 Prozent
               davon auf die Tierproduktion entfallen. Um die landwirtschaftlichen Treib-
               hausgasemissionen zu senken, scheint es folglich naheliegend, an deren
               Hauptquelle anzusetzen: der Fleischproduktion.

               Die wissenschaftliche Fachliteratur ist sich weitgehend einig, dass die
               dringend gebotene sustainable food transformation eine massive Re-
               duktion des Tierkonsums erfordert, zumal die Emissionsintensität von Tier-
               produkten jene pflanzlicher Nahrungsmittel durchgehend (und ins-
               besondere bei Rindfleisch und Milch aufgrund des Methanausstoßes von
               Wiederkäuern um ein Vielfaches) übersteigt und die Tierlandwirtschaft
                        auch hinsichtlich ihres hohen Flächen- und Ressourcenver-
                        brauchs zunehmend als ineffizient bewertet wird. Eine gesell-
         Die Klima-     schaftliche Ernährungsumstellung würde dabei ein zweifaches
                        Potenzial für den Klimaschutz in sich bergen. Zum einen liegt
      politik wird      in einer primär pflanzenbasierten Ernährung mit Abstand das
14
             um die     größte Potenzial, die direkten landwirtschaftlichen Treibhaus-
                        gasemissionen zu reduzieren. Zum anderen kann sie auch indirekt
     Fleischfrage       wirken, indem die nicht mehr für Futtermittelanbau und Weide-
                        land genutzte Landfläche renaturiert werden und als natürliche
     nicht herum-       Kohlenstoffsenke dienen kann.
          kommen        Die Klimawende wird ohne Ernährungswende nicht gelingen –
                        insofern kommt die Klimapolitik um die Fleischfrage nicht herum.
               Derzeit befindet sich die Fleischfrage allerdings noch in einem ambi-
               valenten Schwebezustand zwischen Politisierung und politischer Margi-
               nalisierung. Das sogenannte Fleischparadoxon beschreibt in der
               Sozialpsychologie eine kognitive Dissonanz zwischen dem Wissen um
               die Schäden des Fleischkonsums und entgegengesetztem Handeln.
               Dieser Widerspruch offenbart sich auch in unserem paradoxen kollektiven
               Umgang mit der Fleischfrage. Obschon uns die massiven Probleme für
               Menschen, Tiere und Umwelt sowie die Notwendigkeit einer konsequen-
               ten Fleischreduktion durchaus bewusst sind, finden sich bisher kaum
               entsprechende staatliche Maßnahmen, die auf einen Abbau der Tierpro-
               duktion ausgelegt sind – im Gegenteil: Wir erhalten und fördern diese.

               So zielt einerseits etwa die „Farm to Fork Strategy“ der EU – ein Herz-
               stück des „European Green Deal“ – auf eine umfassende Transformation
               des Ernährungssystems ab und unterstreicht dabei die Bedeutung einer
               mehrheitlich pflanzlichen Ernährung für Gesundheit und Nachhaltigkeit.
               Auch die vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft ent-
               wickelten Klimaschutzmaßnahmen in der Landwirtschaft nennen als einen

                                 Max Planck Forschung · 1 | 2023
Zur
                                                                                          Sache

           von zehn Schwerpunkten die Förderung nachhaltiger Ernährungsweisen.
           Andererseits koexistieren und konkurrieren solche Zielsetzungen mit weit-
           aus wirkmächtigeren Strukturen, die in eine gegenläufige Richtung zeigen.
           So bleibt die Tierindustrie im Vergleich zu anderen Sektoren hinsichtlich
           ihrer ökologischen Kosten unterreguliert. Zugleich ist sie neben der Öl-
           industrie die größte Leistungsempfängerin umweltschädlicher Subventionen.
           In Deutschland reichen die Schätzungen von fünf Milliarden Euro (allein
           durch Mehrwertsteuerbegünstigung für Tierprodukte) bis dreizehn Milliar-
           den Euro pro Jahr. Solche klimaschädlichen Subventionen konterkarieren
           die Klimaziele, wie auch der Bundesrechnungshof 2022 in seinem Bericht
           zur Steuerung des Klimaschutzes in Deutschland feststellte.

           Grundsätzlich besteht Einigkeit darüber, dass die zur Erreichung der
           Klimaziele erforderliche Ernährungswende politisch und rechtlich einge-
           rahmt und gefördert werden muss. Das bisherige Versäumnis des
           Staates gilt es nun durch die Entwicklung und Umsetzung einer kohären-
           ten Fleisch(reduktions)politik nachzuholen. Gemeint ist damit mitnichten
           ein plumpes – das gefürchtete – Fleischverbot. Vielmehr steht dem Staat
           ein weitaus raffinierteres Instrumentarium zur Verfügung, um eine trans-
           formative (auf die Ernährungswende ausgerichtete) Fleischpolitik auf min-
           der krude Weise zu implementieren. Dieses umspannt einen Mix aus
           sanften und harten – von freiwilligen, marktpolitischen bis zu regulatori-
                                                                                                  15
           schen und prohibitiven – Maßnahmen.

           So kann der Staat individuelle Konsumentscheide in vielfältiger Hinsicht
           hin zu mehr Nachhaltigkeit lenken, etwa durch Informationskampagnen,
           Ernährungsempfehlungen, Nachhaltigkeitslabels oder durch green nudges.
           Stärker dürften allerdings fiskalische Maßnahmen wirken, so nament­-­
           lich eine Neuausrichtung der Agrarsubventionen weg von der Tier- hin zur
                     Pflanzenproduktion. Zur Herstellung von Kostenwahrheit durch
                     Internalisierung der ökologischen Kosten in die Marktpreise bietet
     Der Staat       sich ferner die Einführung einer Umweltabgabe auf Tierprodukte
                     (Fleischsteuer) an. Auch das öffentliche Beschaffungswesen –
     kann den        etwa in Behördenkantinen, Mensen, Klinikküchen – kann verstärkt
                     auf nachhaltige Ernährung ausgelegt werden. So hat die Stadt
individuellen        Freiburg vor Kurzem beschlossen, in Kitas und Grundschulen nur
   Konsum hin        noch ein vegetarisches Einheitsmenü anzubieten. Denkbar ist
                     ferner ein Werbeverbot für Fleisch, wie kürzlich in der niederlän-
 zu mehr Nach-       dischen Stadt Haarlem angekündigt. Als große Hoffnungsträger
                     gelten schließlich pflanzliche Proteine – als klimafreundliche
    haltigkeit      Alternative zu herkömmlichen Tierprodukten oder In-vitro-Fleisch
       lenken       –, deren (Weiter-)Entwicklung durch staatliche Investitionen und
                     den Abbau regulatorischer Hindernisse gezielt gefördert werden
                     kann. Mit den richtigen politischen und rechtlichen Rahmen-
           bedingungen könnte Europa gemäß Marktprognosen schon im Jahr 2025
          „Peak Meat“ erreichen: den Punkt, von welchem an der Konsum von
           Tierprodukten rückläufig wird – natürlich unter Wahrung der individuellen
           Konsumhoheit.

                             Max Planck Forschung · 1 | 2023
infografik

     Die Evolution der                                                                                                    H

     Hausmaus
     Der Ursprung der Hausmaus liegt im heutigen Iran. Dort hat sie sich in mehrere Unter-
     arten aufgespaltet, von denen sich drei über den gesamten Globus ausgebreitet haben.
     Die Östliche Hausmaus (Mus musculus musculus) und die Asiatische Hausmaus (Mus
     musculus castaneus) begannen ihre Ausbreitung in das nördliche und südliche Asien
     vor rund 9000 Jahren, die Westliche Hausmaus (Mus musculus domesticus) machte sich
     vor etwa 6000 Jahren auf den Weg und erreichte Westeuropa vor 3000 Jahren. In den
     letzten Jahrhunderten ist die Hausmaus auf Schiffen von Europa nach Amerika, in das
     südliche Afrika sowie auf Inseln im Atlantik und Pazifik gekommen. Entlang der
     europäischen Klimascheide treffen die Verbreitungsgebiete der Westlichen und der
     Östlichen Hausmaus in einer Vermischungszone aufeinander.                                       vor ca. 400 Jahren

                            Schleswig-Holstein                     Die Helgoland-Maus

                                                                   Die verschiedenen Hausmaus-
                                                                   Populationen in Schleswig-Holstein
                                                                   und Dänemark unterscheiden sich
                                                                   nur wenig voneinander. Die Lebens-
                                                                   bedingungen auf der Insel Helgo-
                                                                   land sind jedoch so speziell, dass dort
                                                                   innerhalb weniger Hundert Jahre
                                                                   eine neue Art entstanden ist:
                                                                   die sogenannte Helgoland-Maus.

16
                                                             H

     Dänemark

                                                                                                                          G CO nac h Di et ha r d Tau t z / M PI fü r Evolu t ionsbiol o gi e; i s t o c k
                             HELGOLAND

     Mäuse mit Charakter                                           Mäusesprache
     Mäuse besitzen individuelle Persön-                           Mäuse kommunizieren im
     lichkeiten. Ähnlich wie bei den                               Ultraschall mittels einer
     Menschen gibt es unter ihnen mutige                           angeborenen „Sprache“ mit
     und ängstliche, ruhige und streitbare,                        sehr komplexen Lautfolgen.
     scheue und neugierige Individuen.                             Diese Laute unterscheiden
                                                                   sich zwischen den Unterarten.
                                                                   Weibchen sind besonders
                                                                   kommunikativ, wenn sie
                                                                   unter sich sind.

                                                                 Max Planck Forschung · 1 | 2023
infografik

                                                                              17
H     Helgoland-Maus                             Westliche Hausmaus

      Östliche Hausmaus                          Vermischung von Westlicher
                                                 und Östlicher Hausmaus

                                                 Verschiedene, teils noch
     Asiatische Hausmaus
                                                 unbekannte Unterarten

     Vermischung von Östlicher
                                                 Keine Hausmäuse
     und Asiatischer Hausmaus

Fremde Gene im Erbgut

Die Unterarten der Hausmaus haben
sich durch die Anpassung an unter-
schiedliche Umweltbedingungen gene-
tisch auseinanderentwickelt.
Aber ein Austausch adaptiver Gen-
regionen findet immer noch statt.

               Max Planck Forschung · 1 | 2023
IM FOKUS
ZUR SICHERHEIT
18 |	 Vom Funken zum Feuer
24 |	 Schlupfloch im Programm
30 |	 Lebenslang
                              I l lus t r at ion: A l essa n dro G o t ta r d o

   Brandstiftung per Social
    Media: Extremistische
  Narrative in Postings und
   Foren schüren physische
Gewalt gegenüber Einzelnen,
   Gruppen oder dem Staat.

                                                                                  Max Planck Forschung · 1 | 2023
IM FOKUS

                        Vom Funken
                          zum Feuer
                                                             Text: Michaela Hutterer

                                                                                       19

Ob gestürmte Parlamente oder rassistische Anschläge in
den USA ebenso wie in Deutschland: Politisch motivierte Gewalt
nimmt zu. Meistens scheinen die Aktionen ohne Zusammen-
hang zu sein und nur von Einzeltätern auszugehen. Doch
Forschende erkennen darin durchaus terroristische Muster.
James Angove befasst sich am Max-Planck-Institut zur
Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht mit der Frage,
wie „Zufallsterror“ entsteht und was man dagegen tun kann.

                           Max Planck Forschung · 1 | 2023
IM FOKUS

20

        Angriff mit Ansage: Der Sturm von Anhängern des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump
        auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 war alles andere als spontan und zufällig. Bereits im
        Dezember hatte Trump zu Protesten an diesem Tag aufgerufen, in seiner Rede am 6. Januar schickte
        er die Anwesenden dann geradewegs zum Kapitol.

     „Stop the steal“, skandiert eine wütende Menge, als sie   beamten gerungen, Barrikaden gestürmt, Scheiben
         sich am 6. Januar 2021 gegen 12:45 Uhr auf den Weg    eingeschlagen und sich grölend ihren Weg durch das
         zum Kapitol in Washington, D. C., macht. Gleich be-   Gebäude gebahnt: „This house is ours“, rufen sie und
         ginnt im Senat und im Repräsentantenhaus die offizi-  filmen sich dabei. „Stop the steal.“
         elle Auszählung der Stimmen, die Joe Biden als neuen
         US-Präsidenten bestätigen wird. Zuvor hat Wahlver- „Wenn es zu politischer Gewalt kommt, ist es oft verlo-
         lierer Trump über eine Stunde gegen Demokraten und    ckend, mit dem Finger auf diejenigen zu zeigen, die
         schwache Republikaner gewettert, das einprägsame      die Gewalttat begangen haben“, erklärt James Angove,
         Narrativ der gestohlenen Wahl bedient. Er hat seinen  Senior Researcher am Max-Planck-Institut zur Erfor-
         Vize Mike Pence ermahnt, im Senat „das Richtige zu    schung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in
         tun“, und seine Getreuen aufgefordert, den „schwa-    Freiburg. „Bei näherer Betrachtung erweist sich das
         chen Republikanern ... den Stolz und den Mut zu ge-   Phänomen moderner politischer Gewalt heutzutage
         ben, die sie brauchen, um unser Land zurückzu-        jedoch als äußerst komplex.“ Angove ist promovierter
         erobern“. Gegen Ende schickt er seine Fans über die   Philosoph. Am Max-Planck-Institut befasst er sich mit
         Pennsylvania Avenue zum Kapitol, er selbst fährt zu-  den philosophischen und sicherheitspolitischen Aspek-
         rück ins Weiße Haus. Stunden später mahnt er via      ten von Terror. Wodurch lassen sich Menschen zu
         Twitter, „friedlich zu bleiben“. Da haben seine      ­Gewalttaten gegen Minderheiten, Andersdenkende
        ­Anhänger bereits zwei Stunden lang mit Sicherheits­   oder staatliche Institutionen aufstacheln? Ist es eine

                                                                Max Planck Forschung · 1 | 2023
IM FOKUS

                                                                                               Dass Donald Trump den „Sturm auf das Kapitol“ vor
                                                                                                 zwei Jahren mit seiner Rede befeuert hatte, steht außer
                                                                                                 Frage. Auf 845 Seiten sammelte der parlamentarische
                                                                                                 Untersuchungsausschuss des US-Repräsentanten-
                                                                                                 hauses Hinweise für Trumps Zutun und empfahl dem
                                                                                                 Justizminister als oberstem Staatsanwalt, gegen den
                                                                                                 Ex-Präsidenten wegen mehrfacher Verschwörung und
                                                                                                Anstiftung zum gewaltsamen Aufruhr in einem Prä­
                                                                                                 zedenzfall zu ermitteln. Ob es zur Anklage oder gar
                                                                                                Verurteilung kommt, ist unklar. „Stürmt das Kapitol“,
                                                                                                 hatte Trump wohlweislich nicht gerufen und jede geis-
                                                                                                 tige Urheberschaft stets verneint. Daher sammelten
                  F o t o: R EU T E R S / J i m U rquha rt

                                                                                                 die Ausschussmitglieder mehr als tausend Zeugen­
                                                                                                 aussagen und Hinweise, die Trumps Rolle am Tag und
                                                                                                 im Vorfeld der Ereignisse des 6. Januar beleuchten.
                                                                                                Welche juristische Verantwortung trägt Trump? Ist er
                                                                                                 ebenso Täter wie die mehr als 800 einzelnen Kapitol-­
                                                                                                 Stürmer, gegen die laut Medienberichten bislang er-
                                                                                                 mittelt wurde? Muss der Ex-Präsident sich die Gewalt
                                                                                                 zurechnen lassen?

                                                                                                                   Gleichgesinnte finden
                                                                                                                    sich in Internetforen
                                                                                               Darin zeigt sich für Experten gerade das Muster von
                                                                                                 stochastic terrorism: Vermeintlich Einzelne richten ihre   21
                                                                                                 Gewalt gegen das staatliche System, seine Repräsen-
                                                                                                 tanten oder Institutionen oder gegen Menschen be-
                                                                                                 stimmter Hautfarbe, Herkunft, Religion, sexueller
                                                                                                 Neigung oder politischer Einstellung – spontan, iso-
                                                                                                 liert und ohne Verbindung zu Terrorgruppen. „In der
                                                                                                Terrorismusforschung hielt sich lange die Idee des so-
                                                                                                 zial isolierten Einzeltäters, der keiner politischen
                                                                                                 Gruppe zugehörig scheint“, berichtet Angove. Doch
                                                                                                 mittlerweile weisen unter anderem die Erkenntnisse
                                                                                                 einer Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für eth-
                                                                                                 nologische Forschung in Halle zur Entwicklung von
   charismatische Führungsfigur, die auf ihre Anhänger                                          Terrorgruppen in eine andere Richtung: Demnach
   hypnotisch wirkt? Oder liegt es an ihrer Rhetorik, die                                        formiert sich rechte Gewalt nicht nur in Gemeinschaf-
   nur vage und indirekt, gleich einer Hundepfeife, zur                                          ten mit starker persönlicher Bindung, so beispiels-
   Gewalttat aufruft und dadurch unter der Schwelle zur                                          weise in der traditionellen Neonazi-Szene oder im Mi-
   strafbaren Anstiftung bleibt?                                                                 lieu der Reichsbürger, sondern auch in einer Internet-
                                                                                                 subkultur. Dort tauschen sich Gleichgesinnte primär
„Wir beobachten weltweit einen Anstieg politischer Ge-                                           online in anonymen Foren und Messengerdiensten aus,
  walt, die durch diese Indirektheit gekennzeichnet ist“,                                        sagt Michael Fürstenberg, Politologe und Mitarbeiter
  erklärt James Angove. Statistisch lassen sich diese Ge-                                        der Forschungsgruppe.
  walttaten vorhersagen, konkret jedoch nicht. Die Taten
  erscheinen zufällig, zusammenhanglos, ohne erkenn- Als Mitte Mai 2022 ein Achtzehnjähriger im amerikani-
  bare Vernetzung oder Gruppenidentität. Dennoch ist         schen Buffalo vor und in einem Supermarkt zehn Men-
  ein Muster zu sehen, das in Fachkreisen als stochastic     schen erschoss und drei verletzte, streamte er seine Tat
  terrorism diskutiert wird, als zufälliger Terror. Hinter   mindestens zwei Minuten, ehe ihn der Streaming-
  diesem Begriff verbirgt sich die terroristische Strategie, dienst stoppte. Die Ermittler gehen von einem rassis-
  durch extremistische Narrative unter Verwendung von        tischen Motiv des Beschuldigten aus – elf der dreizehn
  Lügen, Verschwörungstheorien und Hate­speech in            Opfer waren Afroamerikaner. Im Internet bezog sich
  Medien und Foren physische Gewalt gegenüber Ein-           der Täter auf rechte Verschwörungstheorien und Vor-
  zelnen, Gruppen oder dem Staat selbst zu entfachen.        gängertaten. US-Präsident Joe Biden verurteilte die

                                                             Max Planck Forschung · 1 | 2023
IM FOKUS

      „Tat, die im Namen der abstoßenden Ideologie des wei-             senden kann, um diese politische Gewalt zu entfachen“,
        ßen Nationalismus verübt werde“. Dieser white supre­            erklärt James Angove. „Technolo­gische Mittel und kul-
        macist terror beruht vor allem auf einem Narrativ: the          turelle Trends ermöglichen diese Form von Gewalt
        great replacement oder white replacement (der große             auch in Großbritannien und in Deutschland – oder in
        oder weiße Austausch). Darunter verstehen Anhänger              Brasilien, wie man im Januar nach Jair Bolsonaros Ab-
        rechter Ideologien den „gezielten Austausch“ von               wahl beobachten konnte.“
      „weißen“ Amerikanern und Europäern durch Einwan-
        derer. Zu lesen sind auch die Begriffe „Umvolkung“ Doch warum kann sich extremistischer Hass so stark aus-
        oder „Personalwechsel“. Medienberichten zufolge war             breiten? Eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bil-
        der Attentäter von Buffalo ein Fan von Fox News, des-           dungsforschung ergab, dass digitale Medien vor allem
        sen Moderator Tucker Carlson vor dem Attentat mehr              in etablierten Demokratien wie in Europa und den
        als 400-mal von „Austauschtheorien“ gesprochen ha-             USA Polarisierung und Populismus befeuern und so-
        ben soll. Auch der Attentäter, der                                               mit destabilisierend wirken. Beson-
        2019 im neuseeländischen Christ-                                                ders das Vertrauen in Politik und in
        church 51 Menschen tötete, berief                                               demokratische Institutionen wie Par-
        sich auf diese rechte Doktrin,           Auf den Punkt                          lamente   wird demzufolge nachweislich
        ebenso die Atten­täter von El Paso       gebracht                                beschädigt.  Auch das Vertrauen in die
        (2019), Pittsburgh (2018) und zuvor                                             klassischen Medien sinkt. Fatal: Damit
        der Attentäter im norwegischen           Die Strategie hinter stochastic         steigt auch die Unwissenheit. Schließ-
        Utøya (2011).                            terrorism ist es, durch meist          lich beziehen viele Social-Media-Nut-
                                                  rechtsextremistische Narrative         zer ihre Informationen nach dem
                                                  physische Gewalt gegenüber
     Diese zutiefst rassistische Doktrin ist                                            Motto „News find me“: Sie informie-
                                                 Einzelnen, Gruppen oder dem
        Experten zufolge nicht neu und           Staat selbst zu entfachen.              ren sich nicht mehr aktiv über mehrere
        prägte in den vergangenen 150 Jah-                                              Quellen, sondern erwarten, dass wich-
        ren vielfach die US-amerikanische        Die sozialen Netzwerke und              tige Nachrichten sie über ihr Netzwerk
        Einwanderungspolitik. Ideologi-          eine zunehmend sensations-             und ausgeklügelte Algorithmen errei-
        sche und pseudowissenschaftliche         orientierte Berichterstattung           chen. Das fördert den Austausch unter
                                                  in den klassischen Medien
        Texte dienten dabei oftmals als                                                 Gleichgesinnten in der eigenen „Echo-
                                                  begünstigen die Verbreitung
22      Rechtfertigung gesellschaftlicher        der Taten und der Ideologie,           kammer“, in der Folge steigt dann die
        Ressentiments und diskriminieren-        die dahintersteht.                     Gefahr von Radikalisierung, und die
        der Politik, so etwa Madison Grants                                             Hemmschwelle für offen artikulierten
        Buch The Passing of the Great Race       Die Forschung empfiehlt, die           Hass sinkt.
        (1916), das Roosevelts Politik beein-    Demokratie zu stärken, für
                                                 Verständigung zwischen ver-
        flusst haben soll und in F. Scott        feindeten Lagern zu sorgen und
                                                                                        In dieser Gemengelage gedeihen Ge-
        Fitzgeralds Gesellschaftsroman           die Resilienz der Menschen             waltakte,  die zufällig wirken, aber ter-
       The Great Gatsby zum Tischge-             gegen Hetze im Netz zu fördern.         roristische Merkmale haben. Gemäß
        spräch taugte.                                                                  den Untersuchungen der Terrorismus-
                                                                                        Arbeitsgruppe am Max-Planck-Insti-
     Laut einer Umfrage von AP Research                                                  tut für ethnologische Forschung meh-
        vom Mai 2022 glaubt ein Drittel der befragten Ameri-            ren sich international Anzeichen einer bevorstehenden
        kaner an „die Gefahr des großen Austauschs“. Das FBI           Welle rechten Terrors. Die Forschenden gehen dabei
        sieht Inlandsterrorismus als eine der Hauptgefahren            von einem Modell des US-amerikanischen Politolo-
        für die Zukunft an. Anschläge wie der von Buffalo wer-          gen ­David Rapoport aus: Demzufolge hat sich der Ter-
        den etwa zu dieser Form von Terrorismus gezählt. Ins-           rorismus seit 1880 in vier einander überlappenden Ter-
        gesamt ermittelte das FBI 2019 in 850 Fällen von                rorwellen entwickelt, die jeweils rund dreißig bis vier-
        domes­tic terrorism. Dabei ist weiß-populis­tischer Hass        zig Jahre andauerten. Auf die anarchistische Welle (bis
        bei Weitem kein rein US-amerikanisches Problem.                 in die 1920er-Jahre) folgte eine antikoloniale Welle,
        1973 verfasste der Franzose Jean Raspail mit Le Camp           welche von den 1920er- bis in die 1960er-Jahre reichte.
        des Saints ein Kultbuch der neuen Rechten, zur selben          Auf die Welle der Neuen Linken (1960 bis 1990) folgte
        Zeit, als Jean-Marie Le Pen den Front National grün-            ab 1980 die aktuelle, religiös motivierte Welle islamis-
        dete. 2011 bediente Renaud Camus mit seinem Buch                tischen Terrors. Diese dürfte sich allmählich abschwä-
       ­Le Grand Remplacement erneut die Angst vor Zuwan-               chen, und eine neue Ära könnte beginnen. „Das Er-
        derung. Vergangenen August sprach Ungarns Minis-                starken antiliberaler und rechtsextremer Kräfte ist ein
        terpräsident Viktor Orbán auf dem jähr­lichen Som-             Trend, der sich mit dem Aufstieg von Populisten wie
        mercamp seiner rechtspopulistischen Fidesz-Partei              Viktor Orbán und Donald Trump bereits abzeichnete
        über die Gefahr des „Austauschs durch Migration“                und sich in den jüngsten Attentaten von Christchurch,
        und „einer gemischtrassigen Welt ... Man sollte das            Halle und Hanau bestätigt“, schrieb im Jahr 2020 die
        Phänomen als ein weltweites betrachten – nicht zuletzt,        Leiterin der Gruppe, Carolin Görzig, in einem Gast-
        weil ein geeigneter ,Influencer‘ von überall agieren und        beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

                                                                  Max Planck Forschung · 1 | 2023
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                                                                                                                                                                                                  Wie auf eine solche Welle unvorhersehbaren Terrors          räuber vorsahen, erzielte die Regierung so einen breiten
                                                                                                                                                                                                    reagieren? „Es gibt mehrere Möglichkeiten“, sagt          gesellschaftlichen Konsens für deren Verschärfung.
                                                                                                                                                                                                   James Angove. Die schlechteste sei eine vorschnelle        Diesen Mechanismus nutzen auch radikale Rädelsfüh-
                                                                                                                                                                                                   Verschärfung von Gesetzen, wie die angstgetriebenen        rer, indem sie ideologische Feindbilder schaffen und
                                                                                                                                                                                                   Antiterrorgesetze in den USA nach den Anschlägen           durch konsequente Dämonisierung bis hin zur Ent-
                                                                                                                                                                                                    von 9/11 zeigten, welche die Islamfeindlichkeit           menschlichung die Hemmschwelle für Gewalt senken.
                                                                                                                                                                                                    verstärkten und damit wiederum die Spirale der Ge-
                                                                                                                                                                                                    walt beförderten. „Stochastischer Terrorismus ist ein Angove sieht große Bedeutung im verstärkten sachlichen
                                                                                                                                                                                                   Ausdruck autoritärer Gewalt innerhalb einer Demo-          Austausch zwischen verfeindeten Lagern, damit Ver-
                                                                                                                                                                                                    kratie“, erkennt Angove. Dagegen helfe vor allem, die     schwörungstheorien weniger Publikum finden, Volks-
                                                                                                                                                                                                    Demokratie zu stärken und das, wofür wir sie schätzen.    verhetzer demaskiert werden und rhetorische Aus-
                                                                                                                                                                                                    Dazu zählt in erster Linie die Bedeutung von              wüchse politischer Persönlichkeiten im Internet auf
                                                                                                                                                                                                   Wahrheit im politischen Diskurs. „Stochastische Ge-        stärkere öffentliche Kritik stoßen. Dafür müsse jede
                                                                                                                                                                                                    walt ist eine Folge der Krise der Wahrheit, der Ver-      und jeder Einzelne einstehen ebenso wie die Medien.
                                                                                                                                                                                                    nunft und der öffentlichen Abwägung“, erklärt James       Gerade diese sollten sich nicht zu Handlangern rechter
                                                                                                                                                                                                   Angove. In Reden werden Zielpersonen verleumdet,           Attentäter machen, indem sie unkritisch, unsensibel
                                                                                                                                                                                                    entmenschlicht und oft als Bedrohung für die Sicher-      oder sensationsorientiert berichten. Täter suchen Auf-
                                                                                                                                                                                                    heit der Zuhörenden dargestellt; Verschwörungstheo-       merksamkeit für ihre Taten und ihre Person, indem sie
                                                                                                                                                                                                    rien können dazu beitragen, diese Bedrohung zu ver-       ihr Vorgehen filmen und Spuren hinterlassen. Wenn
                                                                                                                                                                                                    stärken oder zu charakterisieren.                         Medien Filmausschnitte und Täter zeigen oder gar
                                                                                                                                                                                                                                                              wirre Gedanken zur Tat zu einem politischen „Mani-
                                                                                                                                                                                                                                                              fest“ erhöhen, agieren sie – bewusst oder unbewusst –
                                                                                                                                                                                                               Die Berichterstattung wird                     genau so, wie es der Täter erhofft hat: Ein Bericht in
                                                                                                                                                                                                                zum Brandbeschleuniger                        der Tagesschau oder zumindest in den Onlinenach-
                                                                                                                                                                                                                                                              richten verspricht Ruhm für die Ewigkeit. Die Bericht-
Gr af i k : M ic hae l F ü r s t e n be rg auf Basi s von Rap op ort, D. C .; The f ou r waves of mode r n t e r ror i sm ; I n: At tac k i ng t e r ror i sm: e l eme n ts

                                                                                                                                                                                                                                                              erstattung wird zum Brandbeschleuniger.
                                                                                                                                                                                                 „Daneben nutzen Regierungen seit jeher eine Art morali-
                                                                                                                                                                                                    sche Panik oder Angst vor ,Volksfeinden‘, um autoritäre Gleichzeitig müssen Bürgerinnen und Bürger selbst resi-
                                                                                                                                                                                                    Entscheidungen zu rechtfertigen“, sagt Angove. Um         lient gegen Hetze im Netz und Demokratiefeindlich-
                   of a gr a n d s t r at egy ( E ds. C ron i n, A . K .; Ludes , J. M.). Ge orget ow n U n i ve r si t y Pr ess , Wash i ngt on, D. C . (2 0 0 4)

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           23
                                                                                                                                                                                                    etwa strengere Gesetze im eigenen Land durchzusetzen,     keit werden. Dazu leistet die Wissenschaft einen wich-
                                                                                                                                                                                                    kreierte laut einer Studie des britischen Soziologen      tigen Beitrag. Sie legt Muster offen, erkennt Zusam-
                                                                                                                                                                                                    Stuart Hall die britische Regierung Anfang der 1970er     menhänge und sucht Lösungen für Politik und Gesell-
                                                                                                                                                                                                    ein vermeintlich neues Feindbild des „jungen schwar-      schaft, die eine wirksame Alternative aufzeigen zu
                                                                                                                                                                                                    zen Straßenräubers“, den die Bevölkerung dank Medi-       überhasteten restriktiven Maßnahmen wie der Ein-
                                                                                                                                                                                                    enberichten als neue und wachsende Bedrohung einord-      schränkung von Freiheitsrechten.
                                                                                                                                                                                                    nete. Obwohl die Gesetze bereits Strafen für Straßen-                                 www.mpg.de/podcasts/sicherheit

                                                                                                                                                                              Auf und Ab der Gewalt: Der Terrorismus                                                       1   Fortdauer/Erneuerung der religiösen Welle
                                                                                                                                                                              hat sich laut dem Politologen David Rapoport                                                 2   Abschwellen der religiösen Welle
                                                                                                                                                                              in einem Rhythmus von rund 40 Jahren
                                                                                                                                                                              wellenförmig entwickelt. Die Terrorismus-                                                    3   Neue Welle (Rechtsextremismus?)
                                                                                                                                                                              Forschungsgruppe in Halle sieht Anzeichen                                                          Wellenübergreifende Organisationen (z.B. IRA, PLO)
                                                                                                                                                                              für eine bevorstehende Welle rechter Gewalt.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             Zukunft des
                                                                                                                                                                                                     Anarchismus               AntiKolonialismus                       Neue Linke                  Religiös                Terrorismus?

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     1

                                                                                                                                                                                                                                                                                                              2

                                                                                                                                                                                                                                                                                                         3

                                                                                                                                                                                        1880er                        1920er                        1960er                            1980er                      2020er

                                                                                                                                                                                                                                         Max Planck Forschung · 1 | 2023
IM FOKUS

     Eintrittspforte für
     Cyberkriminelle:
     Software weist meist
     Sicherheitslücken auf.
     Das automatisierte
     Prüfverfahren eines
     Max-Planck-Teams
     klopft Programme
     effektiv und effizient
     darauf ab.

24

                              I l lus t r at ion: A l essa n dro G o t ta r d o

                                    Max Planck Forschung · 1 | 2023
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Schlupfloch
im Programm
                         Text:
                 Thom as Br andstetter

                                                         25

Angriffe auf Software verursachen nicht nur Schäden
in Milliardenhöhe, sondern bedrohen auch die Privat-
sphäre von Nutzerinnen und Nutzern. Cyberkriminelle
    dringen dabei stets durch Sicherheitslücken in
  Programme ein. Marcel Böhme und sein Team am
 Max-Planck-Institut für Sicherheit und Privatsphäre
   sind angetreten, die Einfallstore für die Angreifer
 zu blockieren – und haben auch Unternehmen wie
          Google von ihrem Ansatz überzeugt.

                    Max Planck Forschung · 1 | 2023
IM FOKUS

     Programmieren ist ein kreativer Prozess. Er beginnt mit   die aus unterschiedlichen Quellen stammen. Und jede
       der Idee des Programmierers, eine gewünschte Funk-      dieser Komponenten besteht ihrerseits wieder aus ein-
       tionalität umzusetzen, und endet mit einem funktions-   zelnen kleinen Beiträgen unabhängiger Program­
       tüchtigen Code. Doch was funktioniert, ist noch lange   mierer, die es mit der Sicherheit unterschiedlich genau
       nicht sicher. Dabei steckt die Tücke oft im Detail, und nehmen.
       sie kann sich als große Gefahr entpuppen. So basierte
       der Heartbleed-Fehler, durch den 2014 unter anderem „Es gibt sehr viele kleine Open-Source-Softwaresysteme,
       Zugangsdaten zu zahlreichen Onlinediensten öffent-      die von Menschen in ihrer Freizeit vielleicht einmal an
       lich wurden, auf einer Sicherheitslücke in einer Soft-  einem Nachmittag entwickelt wurden, in den letzten
       ware mit einer sehr überschaubaren Aufgabe: Das         zwanzig Jahren aber unheimlich kritisch und funda-
       kleine Programm hieß Heartbeat und löste das Pro­       mental für unsere digitale Ökonomie geworden sind“,
       blem, dass ein Browser beim Surfen im Internet oder     sagt Marcel Böhme, der am Max-Planck-Institut für
       beim Onlinebanking über eine gesicherte Verbindung      Sicherheit und Privatsphäre die Gruppe für Software

                                                                                                                                        F o t o: F r a n k V i n ke n fü r M PG
       manchmal noch verschlüsselte Daten sendete, obwohl      Security leitet. Außer den ursprünglichen Entwick-
       die geschützte Verbindung längst abgebrochen war.       lern selbst fühle sich jetzt aber niemand mehr verant-
       Über Heartbeat kann der Browser beim Server nach-       wortlich für die Sicherheit all dieser Einzelkomponen-
       fragen, ob die gesicherte Verbindung noch besteht. Zu   ten. Und auch die Entwickler selbst hätten nach so lan-
       diesem Zweck sendet die Software regelmäßig eine        ger Zeit teilweise einfach keine Lust mehr, ihre Pro-
       Zeichenkombination samt Angabe der Zeichenzahl an       gramme weiterzuentwickeln. Trotzdem bieten öffent-
       den Server und erwartet die gleiche                                      lich verfügbare Softwareelemente ge-
       Zeichenkombi­  nation als Antwort.                                       rade in puncto Sicherheit einige Vor-
       Der Entwickler nahm natürlich an,                                        teile, da viele Fachleute sie überprü-
       dass der Browser immer die korrekte                                      fen können. Auch aus diesem Grund
       Zeichenzahl angibt. Anders als bei         Auf den Punkt                 verwenden Unternehmen wie etwa
       anderer Software üblich baute er al-       gebracht                      Google Open-Source-Code. Um in
       lerdings keinen Mechanismus ein,                                                           der eigenen Software Sicherheitslü-
                                                  Softwareentwickler müssen
       um das zu überprüfen. Und diese            darauf achten, dass Pro-                        cken aufzuspüren, arbeitet Google
       Lücke nutzte der Angreifer aus; er         gramme nicht angreifbar                         jetzt mit Böhme und seinem Team
       manipulierte Heartbeat so, dass das        sind. Doch Software, die                        zusammen.
26     Programm eine kurze Zeichenkette           nicht auf Sicherheitslücken
       mit der maximalen Längenangabe             überprüft wird, weist               Die Crux der Softwaresicherheit ist,
                                                  häufig kritische Fehler auf.
       verschickte. Als der Server die Zei-                                           dass die Kette der Programmteile nur
       chenzahl dann aus dem Speicher            Forschende des Max-                  so gut geschützt ist wie ihr schwächs-
       auslas, kopierte er wesentlich mehr       Planck-Instituts für Sicher-         tes Glied. Und das macht auch große,
       Daten, darunter auch sensible Infor-      heit und Privatsphäre haben          kommerzielle Systeme anfällig für
       mationen, als die ursprüngliche Zei-      die automatisierte Suche             Angriffe. Um das ganze System zu
       chenkombination umfasste – Fach-          nach Sicherheitslücken               übernehmen, kann es für einen findi-
                                                 durch das Greybox Fuzzing
       leute sprechen in diesem Fall von         erheblich beschleunigt.
                                                                                      gen Hacker genügen, eine einzige
       Speicherkorruption.                                                            schlecht geschützte Komponente auf-
                                                 Unternehmen wie Google,              zuspüren. „Das liegt oftmals daran,
     So steht der Absicht des Programmie-        Bosch oder Oracle Labs               dass dieser Aspekt zum Zeitpunkt der
       rers, ein bestimmtes Problem zu lö-       nutzen die Methode bereits           Entstehung des Programms noch
       sen, allzu oft die Perspektive eines      und entdecken dabei                  nicht so wichtig war“, sagt Böhme.
                                                 immer wieder neue Fehler.
       böswilligen Hackers gegenüber. Und                                            „Viele große Sicherheitslücken, die wir
       der fragt sich, wie er den Code der                                            heutzutage in weltweit verbreiteten
       Software für seine eigenen Zwecke                                              Systemen finden, lassen sich auf sol-
       nutzen kann. Berüchtigt sind auch                                              che ,kleinen‘ Sicherheitslücken zu-
       die Angriffe von Cyberkriminellen, die sämtliche Da-         rückführen.“ Die Speicherkorruption sei dabei beson-
       teien verschlüsseln, um für die Freigabe ein Lösegeld        ders kritisch. Sie lässt sich nicht nur ausnutzen, um –
       zu verlangen. Auf solche Ransomware-Attacken ist der         wie im Fall von Heartbleed – Daten auszuspionieren
       größte Teil des wirtschaftlichen Schadens durch Cy-          und zu klauen, sondern auch, um Befehle in ein Pro-
       berkriminalität zurückzuführen. Dieser belief sich im        gramm einzuschmuggeln, mit denen ein Angreifer im
       Jahr 2021 dem Branchenverband Bitkom zufolge allein          schlimmsten Fall die Kontrolle über den Rechner
       in Deutschland auf mehr als 220 Milliarden Euro.             übernehmen kann. Denn so wie sich mehr aus einem
                                                                    Speicher auslesen lässt als vorgegeben, lässt sich auch
     Verschärft wird die Problematik der IT-Sicherheit noch         mehr in ihn hineinschreiben, als von einem Programm
       dadurch, dass moderne Softwaresysteme nur selten             vorgesehen ist – wenn die Software nicht so program-
       von einer Person oder zumindest von einer einzigen           miert ist, dass sie die Vorgaben für die angeforderte
       Firma entwickelt werden. Stattdessen sind sie oft aus        oder übertragene Datenmenge überprüft. Um derar-
       einer Vielzahl von Komponenten zusammengebaut,               tige Probleme im Programmcode aufzudecken, wer-

                                                                Max Planck Forschung · 1 | 2023
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