Eins 2023 Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam - Universität Potsdam
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16 L Inhalt Von Angesicht zu Angesicht David Schlangen will künstliche Agenten befähigen, in Echtzeit mit uns zu interagieren��������������������������������������������4 33 Fragen an Prof. Dr. Katharina Scheiter, Professorin für Digitale Bildung am Department Erziehungswissenschaft������������������10 Kaffee mit Hund Milena Rabovsky untersucht die Sprachverarbeitung im Gehirn mithilfe neuronaler Netzwerke und setzt dabei vor allem auf Lerneffekte durch Vorhersagefehler��������������������������16 „Wir erkennen an, dass Tiere Individuen sind“ An der Universität Potsdam untersuchen Forschende die Persönlichkeiten wildlebender Tiere ��������������������������������� 20 30 Früherkennung auf Tastendruck Prof. Natalie Boll-Avetisyan hat ein Spielzeug entwickelt, das ein Risiko für Sprachstörungen anzeigen soll ������������������26 Klimawende für Millionen Forschende untersuchen, welche Verwaltungsstrukturen Metropolen brauchen und wie Beteiligungsformate erfolgreich sein können������������������������������������������������������������30 48 Einzelne Moleküle aufspüren Potsdamer Forschende nutzen Nano-Engineering für diagnostische Verfahren und zur Beobachtung chemischer Reaktionen ��������������������������������������������������������������������������������36 Die Insel der Liebessprache Mit der App LoveLane wollen Heike Kraft und Carolyn Litzbarski Paare glücklicher machen��������������������������������������� 40 Ohne Herzangst zurück in den Beruf „AmPULS“ erprobt ein Programm, das nach kardiologischer Erkrankung und Rehabilitation die Rückkehr an den Arbeitsplatz unterstützt������������������������������� 44 Mit Kudu, Eland und Springbock Wie Wildtiermanagement der Savanne helfen kann����������������48 Gewaltkulturen Von der Arbeit an einer Systematik militärischer Gewalt��������56 Kann künstliche Intelligenz Krankheiten verhindern? 92 Forschende analysieren mithilfe von selbstlernenden Model- len, welches Krankheitsrisiko in unseren Genen steckt����������62 „Hallo Leute! Willkommen zu meinem neuen Video …“ Roland Verwiebe und sein Team untersuchen die Arbeitsumstände von Youtuber*innen ����������������������������������� 66 Extreme verstehen Das Graduiertenkolleg NatRiskChange entwickelt Methoden, um Naturgefahren und Risiken in einer Welt im Wandel zu analysieren und zu quantifizieren��������������������������������������������72 Der Augenblick dazwischen Impressum Titelbild: Andreas Töpfer Audrey Bürki untersucht kognitive Prozesse beim Sprechen�� 76 Layout/Gestaltung: unicom-berlin.de Neue Allianzen schmieden Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe: Das Graduiertenkolleg minor cosmopolitanisms will Portal Wissen 31. Mai 2023 Dialoge anregen����������������������������������������������������������������������� 80 Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam ISSN 2194-4237 Formatanzeigen: unicom MediaService, Wenn die Pipeline mal ein Leck hat Tel.: (030) 509 69 89 -15, Fax: -20 Wasserstoff soll ein entscheidender Baustein für das Herausgeber: Referat für Presse- und Gültige Anzeigenpreisliste: Nr. 1 postfossile Zeitalter werden������������������������������������������������������84 Öffentlichkeitsarbeit im Auftrag des Präsidiums www.hochschulmedia.de Immer in Bewebung Redaktion: Dr. Silke Engel (verantwortlich), Druck: Bonifatius GmbH Matthias Zimmermann Gedruckt auf 100% Recyclingpapier. Die Juristin Susanne Hähnchen möchte den Menschen Mitarbeit: Luisa Agrofylax, Antje Horn-Conrad, das Recht und seine Geschichte näherbringen und blickt Heike Kampe, Dr. Stefanie Mikulla, Dr. Jana Scholz Auflage: 3.500 Exemplare dabei über den Tellerrand der Universität��������������������������������88 Anschrift der Redaktion: Nachdruck gegen Belegexemplar bei Quellen- Klimazeugen am Meeresboden Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam und Autorenangabe frei. Dr. Manfred Mudelsee entwickelt statistische Methoden, Tel.: (0331) 977-1474 Fax: (0331) 977-1130 Portal Wissen finden Sie online unter um Daten aus Klimaarchiven auszuwerten������������������������������92 E-Mail: presse@uni-potsdam.de $ www.uni-potsdam.de/portal Ich meine, also bin ich? Eric-John Russell erforscht die Philosophie der Meinung ����� 96
LERNEN Was wir in der intensiven Diskussion über die viel- schichtigen Ebenen des Ler- nens gern übersehen: Wir Jana Eccard und Valeria Mazza haben das Verhalten von kleinen Nagetieren un- sind keineswegs die einzig tersucht und dabei nicht nur gangenen Jahrhunderte uns Lernenden. Viele, wenn festgestellt, dass sie sehr über „Militärische Gewalt- Uns lernend zu verändern, nicht alle Lebewesen auf unterschiedliche Persönlich- kulturen“ verrät und die ist eine der wichtigsten der Erde lernen, manche keiten ausbilden, sondern Frage, welche Lehren wir Eigenschaften, die wir Men- zielstrebiger und komplexer, auch beschrieben, wie sie aus Naturgefahren für die schen haben. Wir werden kognitiver, als andere. Und lernen, diese an wechselnde Zukunft ziehen sollten. geboren und können – seit einiger Zeit sind auch Umweltbedingungen an- scheinbar – nichts, müssen Maschinen in der Lage, zupassen. Die Bildungsfor- Wir haben mit einer Juristin uns alles erst erschließen, mehr oder weniger selbst- scherin Katharina Scheiter gesprochen, die über den abschauen, aneignen: ständig zu lernen. Künstli- erklärt, wie die Möglichkei- Tellerrand der Universität greifen und laufen, essen che Intelligenz lässt grüßen. ten der Digitalisierung un- blickt und Recht für jeder- und sprechen. Natürlich ser Lernen verändern – und mann verständlich machen auch lesen und rechnen. Lernen kann in seiner Be- wie nicht. Der Politikwissen- will, und mit einem Phi- Inzwischen wissen wir: deutung für den Menschen schaftler Fabian Schuppert losophen, der untersucht, Damit werden wir nie fer- kaum überschätzt werden. und die Verwaltungsexpertin warum „eine Meinung tig. Im besten Fall lernen Das hat auch die Wissen- Sabine Kuhlmann wiederum haben“ heute etwas ande- wir ein Leben lang. Hören schaft begriffen und die analysieren die Klimapoli- res bedeutet als vor 100 wir damit auf, schadet es Lernprozesse und -bedin- tiken von Millionenstädten Jahren. Wir berichten von uns. „Es ist keine Schan- gungen in nahezu allen überall auf der Welt – und „smarter DNA“ und der KI- de, nichts zu wissen, wohl Zusammenhängen für sich dabei vor allem die Art und gestützten Genomanalyse, aber, nichts lernen zu wol- entdeckt, egal, ob es um Weise, wie die Bevölkerung die beide die Gesundheits- len“, meinte vor über 2.400 unsere eigenen geht oder einbezogen wird –, damit versorgung nachhaltig ver- Jahren schon der griechi- solche um uns herum. Eini- die Metropolregion Ber- ändern können. Außerdem sche Philosoph Platon. gen davon sind wir für die lin von diesen Strategien geht es um das Berufsbild aktuelle Ausgabe der „Por- profitieren kann. Und der „YouTuber*in“, ein Start-up, Auch als Menschheit sind tal Wissen“ nachgegangen. Computerlinguist David das eine App entwickelt hat, wir lernfähig, gelangten Schlangen geht der Frage dank der Paare spielerisch dank immer mehr Wissen So erforscht die Neurowis- nach, was Maschinen lernen ihre Liebe vertiefen können, über die Welt um uns he- senschaftlerin Milena Ra- müssen, damit unsere Kom- und die Frage, wie sich un- rum aus der Steinzeit ins bovsky, wie unser Hirn ge- munikation mit ihnen noch ser mentales Lexikon erfor- digitale Zeitalter. Dass auch sprochene Sprache vorher- besser funktioniert. schen lässt. Wir sprechen dieser Fortschritt keine sagt – und dabei aus seinen über minor cosmopolita- Ziellinie ist, sondern wir Fehlern lernt –, während Da Forschung letztlich im- nisms, Wildtiermanagement nach wie vor einen weiten die Psycholinguistin Nata- mer ein Lernprozess ist, in Afrika und Wasserstoff als Weg vor uns haben, zeigen lie Boll-Avetisyan eine Box der danach strebt, etwas Energiequelle der Zukunft. der menschengemachte Kli- entwickelt hat, mit der sich zu verstehen, was bislang Wenn Sie hier fertig sind, mawandel – und vor allem schon bei kleinen Kindern noch unbekannt ist, stehen haben Sie was gelernt. Ver- die Unfähigkeit, als globale Störungen beim Sprachen- dieses Mal ohnehin alle sprochen! Viel Vergnügen! Gemeinschaft das, was uns lernen entdecken lassen. Texte irgendwie unter dem die Forschung lehrt, in ent- Die Verhaltensbiologinnen „Stern“ des Titelthemas: Es MATTHIAS ZIMMERMANN sprechendes Handeln zu geht darum, wie wir Millio- übersetzen. Bleibt zu hof- nen Jahre alte Korallen als Illustration: Andreas Töpfer fen, dass wir das auch noch Klimaarchive lesen können, begreifen. was die Geschichte der ver- PORTAL WISSEN · EINS 2023 3
t ich es n g n A Vo e s i c h t n g A David Schlangen will künstliche Agenten befähigen, in Echtzeit mit uns zu zu interagieren PORTAL WISSEN · EINS 2023 5
Ob im Hilfe-Chat auf einer Webseite oder im Tele- tems sehr schön und bringt einen gleichbleibenden fonat mit einem Dienstleister: Die Kommunikation Strom sehr guter Studierender nach Potsdam.“ mit Dialogsystemen ist allgegenwärtig geworden. Schlangen hat neben seiner heutigen Domäne üb- Meist begegnen wir hier vorgefertigten Äußerun- rigens auch Informatik und Philosophie studiert. Zur gen, die oft gar nicht zu unserer Situation passen. Computerlinguistik kam er über einen kleinen Um- Würde die Kommunikation nicht viel besser gelin- weg. „In Bonn habe ich zuerst zwei oder drei Semes- gen, wenn das System auch wissen würde, was wir ter Physik studiert, schon mit philosophischem Inter- gerade vor uns sehen? Wenn es uns sagt, welche esse. Zumindest im Grundstudium habe ich das aber Schraube wir in welches Brett bohren oder welches nicht befriedigt gesehen.“ Ein Schulfreund hatte ihm Kabel wir in welche Buchse des Routers stecken dann vom Fach Computerlinguistik erzählt, das er müssen? Und wenn es uns dann auch noch helfen damals nicht kannte. „Es war ja in den 1990er Jahren, würde, falls wir das falsche Brett oder Kabel genom- als ich studiert habe, noch ein bisschen exotisch.“ So men haben? Das von der Deutschen Forschungs- begann er gemeinsam mit dem Freund in Bonn das gemeinschaft geförderte Projekt RECOLAGE soll Studium. Die Brücke zur Philosophie kann Schlangen Computersysteme befähigen, sekundenschnell auf heute immer noch schlagen, denn sowohl die Sprach- ihr menschliches Gegenüber zu reagieren. Indem philosophie als auch die Computerlinguistik befassen sie sowohl auditive als auch visuelle Daten erfas- sich mit der Erzeugung von Bedeutung in der Inter- sen, sollen sie auch auf spontan aufkommende aktion. Vor 20 Jahren habe allerdings kaum jemand in Probleme eingehen – und nicht etwa abwarten, der Computerlinguistik zu Dialogsystemen geforscht, bis der Mensch die falsche Schraube ins falsche erzählt der Wissenschaftler. Heute ist das sogenannte Brett gedreht hat. Prof. Dr. David Schlangen leitet Natural Language Processing – und darin die Dialog- das Projekt. Seit vielen Jahren widmet sich der Forschung – als ein zentraler Bereich der Künstlichen Computerlinguist der Interaktion von Menschen Intelligenz etabliert. Doch nicht alle Forschenden ha- und künstlichen Agenten. Zeit spielt in seiner For- ben einen linguistischen Hintergrund. „Viele im Fach schung eine wesentliche Rolle: Schlangen arbeitet meinen, dass sie als Informatikerin oder als Informa- an Computersystemen, die menschliches Verhalten tiker gar nicht so viel über die Domäne, in der die Ma- in Echtzeit und in einer ganz konkreten Situation schine lernen soll, wissen müssen“, sagt Schlangen. simulieren können. „Das sehe ich naturgemäß anders. Aus meiner Sicht ist es wichtig, möglichst nah an der Sprachverarbei- tung zu sein, wie sie bei Menschen abläuft.“ Die menschliche Sprache als Vorbild In der Emmy Noether-Gruppe arbeitete Schlangen mit seinem Team an Dialogsystemen, die Äußerun- Seit drei Jahren ist David Schlangen Professor für gen schon verarbeiten, noch bevor sie vollständig Grundlagen der Computerlinguistik an der Univer- sind. „Sprachsysteme hören in der Regel zu, bis man sität Potsdam. Doch betritt er hier kein Neuland, still ist, und beginnen erst dann mit der Verarbeitung schließlich forschte er als Postdoc zu Beginn des Jahr- des Gesagten.“ Dieses Verhalten empfinden wir Men- tausends schon viele Jahre in Potsdam und leitete hier schen oft als „unnatürlich“ oder störend. „Schließlich ab 2006 die Emmy Noether-Gruppe „Incrementality verstehen wir eine Aussage zumindest schon teil- and projection in dialogue processing“. Seit 2010 war weise, noch während unser Gegenüber spricht, und er in Bielefeld Professor für Angewandte Computer- können darauf reagieren“, sagt der Wissenschaftler. linguistik und dort am Exzellenzcluster „Cognitive Deswegen geben wir ständig sogenannte Feedback- Interaction Technology“ beteiligt. „Wiedergekommen Signale: Wir nicken oder sagen „mhm“, um zu zei- bin ich wegen des sehr guten Instituts, der qualifizier- gen, dass wir folgen. „Ein Hörer beeinflusst durch ten Kolleginnen und Kollegen und der Möglichkeiten, sein kontinuierliches Feedback den Sprecher und die mir die Stelle bietet“, erzählt der Wissenschaftler. ein guter Sprecher geht beständig auf die Signale des „Außerdem ist der Master-Studiengang Cognitive Sys- Hörers ein.“ Diese mitunter subtilen Zeichen sind es, die Schlangen an der Konversationsforschung inter- essieren. DA S P ROJ E KT RECOLAGE: Kollaborative Sprachgenerierung in Wenn Computer uns sagen, was wir zu Echtzeit und aus visuellem Input tun haben Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Der Fokus von Schlangen und seinem Team liegt auf Laufzeit: 12/2019–11/2023 der Sprache, doch die Forschenden beziehen auch Leitung: Prof. Dr. David Schlangen den Körper und die physische Umgebung des Men- schen ein. „Unser Ziel ist es, dass künstliche Systeme 6 PORTAL WISSEN · EINS 2023
Computerlinguist David Schlangen gegeben wird, kann der Roboter an den Reaktionen des Menschen sehen, ob er richtig verstanden wurde. So könnte es zum Beispiel irgendwann möglich sein, dass ein Computersystem uns dabei hilft, ein Möbel- stück nach einer Ikea-Anleitung zusammenzubauen – auch dank eines weiteren Bereichs der Künstlichen Intelligenz, der Bildverarbeitung. „Nimm das Brett da hinten und die kleinen silber- nen Schrauben“, könnte solch ein Computersystem etwa zu uns sagen. Über ein Tablet würde das System nicht nur erfassen, was wir sagen, sondern uns auch per Kamera zuschauen und uns helfen, die verschie- denen Bauteile um uns herum zusammenzusetzen. Greifen wir nach dem falschen Teil, soll es uns sofort korrigieren. „Nein, nicht das braune, sondern das grü- ne daneben.“ „Die sprachliche Korrektur ergibt sich aus dem jeweiligen Kontext, was die Sache so kom- pliziert macht“, sagt Schlangen. „Denn hier kommt es auf Millisekunden an.“ Wenn das Computersystem so in der Zeit situiert sind, wie das auch menschliche zum Beispiel beobachtet, dass die Hand des Men- Gesprächspartner wären“, so Schlangen. „Wir wol- schen sich in die falsche Richtung bewegt, soll es noch len dahin kommen, dass eine Interaktion mit den währenddessen reagieren – in Echtzeit eben und nicht Agenten mehr einem Gespräch von Angesicht zu erst, wenn die Schraube im falschen Brett gelandet ist. Angesicht ähnelt als einer Chatunterhaltung.“ Daher Deswegen müsse der Computer vorhersehen, wohin verwenden die Potsdamer Computerlinguistinnen der Mensch greifen wird. Das könne auch schiefge- und -linguisten gerne Roboter, die einen Körper oder hen, wenn der Roboter eine Bewegung vorhersagt, die zumindest einen Kopf haben – wie etwa Furhat, der wir gar nicht beabsichtigt hatten. „So etwas kann aber im Computerlinguistik-Labor an der Uni Potsdam für genauso bei zwei Menschen, die sich gut kennen, zu Studienzwecke zur Verfügung steht. Im RECOLAGE- Unfrieden führen“, sagt Schlangen und lacht. Damit Projekt gibt Furhat dem Menschen Anweisungen die Anweisungen des Systems einfach zu interpre- – und zwar bei Pentomino. Das Spiel, das an den tieren und umzusetzen sind, muss die gemeinsame Klassiker Tetris erinnert, nutzt Schlangen seit seiner Basis des Verstehens zwischen Maschine und Mensch Postdoc-Zeit. „Es eignet sich als vereinfachte Domäne, ausgehandelt werden. Welche technischen Begriffe Fotos: Tobias Hopfgarten (2) die gewisse Freiheitsgrade, aber gleichzeitig eine rela- soll der Computer erklären, welche kann er voraus- tiv große Kontrolle bietet.“ Während die Anweisung setzen? Denn wenn das menschliche Gegenüber die PORTAL WISSEN · EINS 2023 7
Roboter Furhat beim Pentomino-Spiel … Anweisungen nicht versteht oder sich nicht richtig … im Golmer Computerlinguistik-Labor verstanden fühlt, empfindet es die Kommunikation als anstrengend – und das System wäre keine echte Unterstützung mehr. Auch wenn die Frage nach der Anwendung nicht Teil des Forschungsprojekts ist, sind die Ergebnis- se von RECOLAGE für persönliche Assistenten in jeder Hinsicht denkbar. Vorstellbar wäre auch, dass uns ein künstlicher Agent beim Kochen durch ein Rezept führt. „Der Konzern Amazon arbeitet gerade an der Entwicklung eines solchen Systems“, erzählt der Wissenschaftler. Informatikerinnen und Infor- matiker in der Wirtschaft befassen sich oft mit ganz ähnlichen Problemen wie Schlangen und sein Team. „In meinem Feld ist extrem viel Geld unterwegs. Große Firmen unterhalten Forschungsbereiche und veröffentlichen auch.“ In Potsdam wird jedoch Grund- lagenforschung betrieben, hier geht es nicht um Pro- maschinellen Lernens, bei der künstliche neuronale duktentwicklung. „Insofern herrscht zwischen uns Netze ein tiefergehendes Lernen erlauben sollen – und der Wirtschaft eine weitgehend freundschaftliche aber zum Teil kritisch gegenüber. „Ich komme von Konkurrenz.“ einer etwas traditionelleren Herangehensweise, in der es üblich ist, theoretisch zu starten. Wir möchten Theorien entwickeln, die etwas erklären und nicht Mit Computermodellen menschliches nur ‚machen‘, wie es bei Deep-Learning-Modellen Verhalten simulieren der Fall ist.“ Zwar könnten solche Modelle sehr über- zeugend aussehen, wenn es zum Beispiel um eine Das maschinelle Lernen ist ein wesentliches Element kurze Chat-Unterhaltung geht. „Wenn wir es aber mit in Schlangens Forschung. Dabei geht es darum, einem verkörperten Computersystem zu tun haben, Wissen aus Erfahrung zu erzeugen: Das Compu- mit einem Roboter in menschlicher Gestalt, muss tersystem erhält Lerndaten, leitet daraus Regeln ab sehr viel gleichzeitig gesteuert werden – nicht nur und kann diese im besten Fall auf neue Situationen die Sprache, auch Mimik und Gestik, und das alles Fotos: Sandra Scholz (2) anwenden. Der Computerlinguist steht den Deep- in kurzer Zeit.“ Der Roboter kann schließlich nicht Learning-Modellen – einer bestimmten Methode des einen Gesichtsausdruck zehn Sekunden beibehalten, 8 PORTAL WISSEN · EINS 2023
Roboter Nao DER FO RS CHER Prof. Dr. David Schlangen studierte Computerlinguistik, Informatik und Philosophie. Er ist seit 2019 Profes- sor für die Grundlagen der Compu- terlinguistik an der Uni Potsdam. u david.schlangen@uni-potsdam.de logische oder linguistische Experimente einzusetzen – ein bisher eher ungewöhnliches Vorgehen, für das es jedoch gute Argumente gibt. „Sie eignen sich sehr gut als kontrolliertes Gegenüber. Ein Roboter kann gna- denlos Stimuli produzieren, die für jeden Probanden exakt identisch sind.“ Wenn uns die Computersysteme scheinbar im- mer ähnlicher werden, kommt die Frage auf, worin sie sich überhaupt noch von uns unterscheiden. In seiner Forschung ist David Schlangen häufig mit dem Phänomen konfrontiert, dass gerade das, was uns Menschen leichtfällt, für Computer schwierig ist (und umgekehrt – man denke nur an anspruchsvolle Rechenaufgaben). So sei zum Beispiel der Small Talk für Menschen eine unkomplizierte Alltagsübung, Computersysteme aber stellt er vor Herausforderun- gen – sie machen dabei regelmäßig Fehler. „Das ist gar nicht so schlimm, das passiert uns ja auch. Wir sind aber anders als Computer sehr gut darin, uns zu korrigieren.“ Für den Wissenschaftler ist daher klar, dass die Computersysteme uns Menschen nicht perfekt simulieren können – im Gegenteil, es sollte stets klar sein, dass es sich um künstliche Agenten handelt. „Doch sie sollten verstehbar sein und situativ bis der nächste kommt – denn das würde vom Men- angemessen reagieren, sich ‚natürlich‘ verhalten.“ Wa- schen schon wieder interpretiert werden. Weil Deep- rum aber ist es offenbar so schwierig, bei künstlichen Learning-Modelle nicht von Situationen in Echtzeit Agenten „natürliches“ Verhalten zu erreichen? „Viel- gelernt haben, sondern mit „toten“ Daten, sind sie leicht fehlt ihnen etwas Grundlegendes“, vermutet aus Sicht des Wissenschaftlers nur begrenzt geeignet, Schlangen. „Sie werden mit Text gefüttert, während unter Zeitdruck Informationen zu verarbeiten und das Neugeborene vom ersten Moment an in Interakti- entsprechend zu reagieren. „Damit das Verhalten der onen gefördert und gefordert wird. Interaktion ist für künstlichen Agenten in die Situation passt, brauchen uns Menschen fundamental und gehört zu den ange- wir also weitere Computermodelle, die extrem dyna- borenen Lernmechanismen. Wir lernen nicht in pas- misch sein müssen.“ siven Beobachtungssituationen, sondern wollen uns Deswegen arbeitet der Forscher mit Kognitions- verstehen und uns mitteilen. Wesentlich für unsere wissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern der Uni menschliche Interaktion ist aus meiner Sicht, dass Potsdam zusammen, die kognitive Prozesse model- wir einander selbst und unser Gegenüber als inten- lieren. „Wir konsumieren unterschiedliche Modelle tionale Agenten begreifen.“ Dass Computersysteme unserer Kolleginnen und Kollegen, die sehr präzise mithilfe der aktuellen Methoden bald schon natürlich, Fotos: Sandra Scholz (li.); Tobias Hopfgarten (re.) an kleineren Phänomenen arbeiten, wie zum Bei- vielleicht sogar absichtsvoll kommunizieren können, spiel der Vorhersage von Blickbewegungen. Unsere glaubt Schlangen daher eher nicht. „Andererseits hät- Aufgabe ist es, diese Theorien zusammenzusetzen te ich das, was Künstliche Intelligenz heute kann, vor und auf diese Weise Sprachsysteme zu entwickeln, zehn Jahren auch noch nicht für möglich gehalten.“ die menschliches Verhalten simulieren.“ Außerdem planen die Forschenden, künftig Roboter für psycho- DR. JANA SCHOLZ PORTAL WISSEN · EINS 2023 9
33 Fragen an Prof. Dr. Katharina Scheiter, Professorin für Digitale Bildung am Department Erziehungs wissenschaft Foto: AdobeStock/Gorodenkoff 10 PORTAL WISSEN · EINS 2023
Digitale Medien halten immer mehr Einzug in die scheidend ist, die Lehrkräfte entsprechend fortzubil- Schule. Zum einen sollen sie Kinder und Jugend- den und sie zu befähigen, digitale Medien zielgerich- liche auf eine kompetente und kritisch reflektierte tet für guten Unterricht einzusetzen. Nutzung in allen Lebensbereichen vorbereiten. Zum anderen können sie im Unterricht verschiedenste Lehr- und Lernprozesse unterstützen und optimie- Was können digitale Lernmedien, was ren. Unter welchen Voraussetzungen dies gelingt, andere Medien nicht können? erforscht Prof. Dr. Katharina Scheiter, die seit Mai 2022 Professorin für Digitale Bildung an der Uni- Adaptive Angebote schaffen. Sie sind gut geeignet, versität Potsdam ist, gefördert durch die Hasso Platt- den individuellen Lernstand der Schülerinnen und ner Foundation. Schüler zu erheben und sie gezielt zu fördern. Und dann können digitale Medien natürlich Dinge be- greifbar machen, die einer direkten Beobachtung Frau Professor Scheiter, die Pandemie nicht oder nur schwer zugänglich sind: schmelzende führte jeder Familie, jedem Kind, jeder Gletscher, das Alte Rom oder Mikrostrukturen in der Lehrkraft vor Augen, welche Bedeutung Chemie. Hier lassen sich auch unterschiedliche Arten digitale Medien beim Lernen einnehmen von Visualisierungen – zum Beispiel realitätsnahe können. Was stellte sich im Rückblick als Abbildungen eines Experiments und die abstrakte die wichtigste Erfahrung heraus? Darstellung der beobachteten Zusammenhänge auf der Modellebene – didaktisch sinnvoll miteinander Wir haben wie mit einem Brennglas verstärkt gezeigt verknüpfen. bekommen, was wir eigentlich vor der Pandemie schon wussten: Entscheidend für den Lernerfolg sind die Voraussetzungen, die die Schülerinnen und Schü- Und was können sie nicht? ler mitbringen. Wer selbstgesteuert arbeiten kann, über entsprechende Techniken verfügt und von den Aus schlechtem Unterricht guten machen. Oder um Eltern unterstützt wurde, kam besser zurecht. Die es mit Andreas Schleicher, dem Direktor des PISA- Schwierigkeit für die Lehrkräfte bestand darin, hoch- Programms der OECD, zu sagen: „Technology can wertige Unterrichtsangebote zu unterbreiten, die den amplify great teaching, but great technology cannot Bedürfnissen aller Lernenden gerecht wurden. Die replace poor teaching.“ Wir müssen eine Idee von gu- Qualität der Umsetzung des Distanzunterrichts war tem Unterricht haben und dürfen die Technik nicht sehr verschieden. Es gibt noch viel zu tun. einfach überstülpen in der Hoffnung, dass dadurch Lernen automatisch besser gelingt. Wie steht Deutschland beim Lernen mit digitalen Medien im internationalen Was macht guten Unterricht mit Vergleich da? digitalen Medien aus? Nach wie vor nicht gut. Bei den Medienkompetenzen Im Wesentlichen genau die drei Dinge, die auch gu- liegen wir bestenfalls im Mittelfeld. Erhebungen von ten analogen Unterricht ausmachen: kognitive Akti- 2013 und 2018 zeigen hier auch keine wesentliche vierung, konstruktive Unterstützung und Klassenfüh- Entwicklung. Konstant an der Spitze stehen Länder rung! Es kommt also darauf an, die Schülerinnen und wie Australien und Dänemark. Interessant ist, dass Schüler geistig anzuregen, helfende Rückmeldungen Länder wie Tschechien, die über weit weniger Tech- zu geben und in der Klasse für einen reibungslosen nik verfügen als wir, eine höhere Medienkompetenz Ablauf des Unterrichts zu sorgen. aufweisen. Es ist also nicht nur eine Frage der Aus- stattung. Was müssen Lehrkräfte grundsätzlich verstehen, wenn sie digitale Medien im Viele Schulen sind inzwischen technisch Unterricht wirksam einsetzen wollen? besser ausgestattet. Worauf kommt es jetzt an? Sie müssen genau wissen, was sie damit erreichen wollen. Und welche speziellen Funktionen sie für Mancherorts ist die Ausstattung noch immer sehr ein konkretes fachliches oder überfachliches Vermitt- schlecht. Auch nützt die beste Technik nichts, wenn lungsziel nutzen können. Ein Medium wirkt nicht es kein schnelles Internet gibt und man nicht weiß, einfach allein, sondern muss kohärent in ein unter- was man mit digitalen Medien anfangen kann. Ent- richtliches Gesamtkonzept eingebunden sein. PORTAL WISSEN · EINS 2023 11
Welche Kompetenzen braucht es Frau Scheiter, Sie sind eigentlich darüber hinaus? Psychologin. An welcher Stelle Ihrer Karriere sind Sie abgebogen, um zu Lehrkräfte müssen in der Lage sein, lebenslang zu einer Expertin für Digitale Bildung lernen und sich permanent auf den neusten Stand zu zu werden? bringen: Welche Medien mit welchen Funktionen gibt es? Was kann ich damit anfangen? Sie müssen offen Eigentlich schon als wissenschaftliche Hilfskraft wäh- und bereit sein, sich auf Neues einzulassen. Letztlich rend des Psychologiestudiums in Göttingen. 1999 ist es für Lehrkräfte eine Frage der Haltung, die eige- habe ich dann meine Diplomarbeit zum „Lernen mit ne Fort- und Weiterbildung als Bestandteil ihrer Pro- Hypermedia“ geschrieben. Als Psychologin sehe ich fessionalität zu verstehen. mich im Übrigen immer noch, wobei ich gern an den Schnittstellen mit anderen Disziplinen arbeite, mit den Erziehungswissenschaften, der Informatik, den Sich im laufenden Schulbetrieb zu Fachdidaktiken, der Medizin … qualifizieren, dürfte nicht einfach sein. Wie können Lehrkräfte das schaffen? Was reizte Sie an Ihrem Es ist sicher nicht sehr sinnvoll, einen Tag im Jahr Diplomthema? zur Fortbildung zu fahren. Qualifizierungen sollten möglichst parallel zum Unterricht über einen län- Die Verknüpfung von Grundlagentheorien mit An- geren Zeitraum laufen, das Erproben des Gelernten wendungskontexten. Konkret ging es hier um die ermöglichen sowie regelmäßiges Peerfeedback und motivationspsychologische Frage, unter welchen Be- Coaching beinhalten. Ebenfalls erfolgversprechend, dingungen wir in der Lage sind, unsere Ziele zu weil glaubhaft und nah an der Praxis, sind soge- verfolgen, auch wenn wir ständig mit Ablenkungen nannte Mikrofortbildungen im Kollegium, bei denen konfrontiert sind. Tatsächlich ist es so, dass wir uns Lehrkräfte untereinander Wissen und Erfahrungen mehr für unser Ziel anstrengen und uns weniger teilen. Einzelne Fächer könnten sich künftig auch ablenken lassen, wenn es schwieriger wird. Beim schulübergreifend stärker vernetzen, um gemeinsam Lernen mit digitalen Medien sollte die gestellte Auf- Foto: AdobeStock/Gorodenkoff neue Lerneinheiten zu entwickeln und bewährte Un- gabe also nicht zu einfach sein, damit wir nicht allzu terrichtskonzepte auszutauschen. Nicht alle müssen leicht verführerischen Zusatzinformationen im Netz alles selbst erfinden. nachgehen. 12 PORTAL WISSEN · EINS 2023
Hätten Sie auch Psychotherapeutin Welche Transferinstrumente nutzen Sie? werden können oder wollten Sie schon immer in die Forschung? Vor allem die Fort- und Weiterbildung von Lehr- kräften. Um Gesamtstrukturen verändern zu kön- Am Beginn des Studiums stand ganz deutlich der nen, berate ich auch politische Institutionen und Wunsch, Psychotherapeutin zu werden. Doch nach Bildungsverwaltungen. Mit einem Schulbuchverlag zwei Praktika in der Kinder- und Jugendpsychotherapie habe ich unlängst den Prototypen eines digitalen mit vielen Routineaufgaben in vorgegebenen Struktu- Lehrmediums entwickelt. Außerdem gebe ich häufig ren und Hierarchien wusste ich, dass dies nicht das Interviews oder schreibe auch selbst Beiträge für Pra- Richtige für mich ist. Vielleicht bin ich auch einfach zu xismagazine. ungeduldig. An einem Forschungsprojekt mitzuarbei- ten und mich in ein Thema vertiefen zu können, fand ich schon als wissenschaftliche Hilfskraft spannender. Was lernen Sie selbst dabei? Nach der Diplomarbeit war dann alles klar. Mich klar auszudrücken. Der Verzicht auf Dreifach- Interaktionen bei der Beschreibung eines Forschungs- Was gefällt Ihnen an der Wissenschaft? befundes bedeutet nicht gleich die Abkehr von der Wissenschaftlichkeit. Ich lerne, von der eigenen For- Erkenntnisorientiert zu arbeiten und dabei aus- schung zu abstrahieren, und erfahre im Austausch schließlich die eigenen Qualitätsansprüche anlegen mit der Praxis, was die Lehrkräfte konkret bewegt. Das zu können, also selbst zu bestimmen, wann etwas wiederum bringt für die Forschung neue Impulse. so gut ist, dass man es der Öffentlichkeit präsentie- ren möchte. Forschung ist immer interessengeleitet, man ist frei in dem, was man machen will. Und dann Sie gingen in den 1980er Jahren zur gefällt mir natürlich der interdisziplinäre Austausch. Schule. Wo begegneten Ihnen als Schülerin die ersten elektronischen Lernmedien? Sie engagieren sich in besonderer Weise für den Wissenstransfer in die Bezeichnenderweise nicht in Deutschland, sondern Praxis und sind dafür 2022 mit dem in Kanada, wo ich während der 10. Klasse ein halbes Franz Emanuel Weinert-Preis der Jahr an einer High School verbrachte. Ein Program- Deutschen Gesellschaft für Psychologie mierkurs für C++ war dort Pflicht. Übrigens fast die ausgezeichnet worden. Gehört der einzige Erfahrung. Zu Hause in Göttingen war ich Transfer für Sie zur wissenschaftlichen später nur einmal im sogenannten Computerkabinett Arbeit automatisch dazu oder bedarf meines Gymnasiums. dies eines zusätzlichen Aufwands? Wenn man zu einem gesellschaftlich relevanten The- Was haben Sie von bzw. mit diesen ma forscht und vor dem Hintergrund dieser For- Medien gelernt? schung Orientierungswissen anbieten kann, gehört der Transfer dazu. Ja, es bedarf eines zusätzlichen Ich habe tatsächlich erst während des Studiums ge- Aufwands, zumal das Studium und die spätere wissen- lernt, mit digitalen Medien zu arbeiten. Und auch dort schaftliche Qualifizierung nicht hinreichend darauf war ich ein Late Adopter. Meinen ersten eigenen Com- vorbereiten. Für mich ist das jedoch Teil meiner gesell- puter – einen gebrauchten Apple Macintosh Classic II schaftlichen Verantwortung. Natürlich ist es aber auch – hatte ich erst im Hauptstudium 1995. eine Frage der Neigung und des Gestaltungswillens, an Veränderungen in einem größeren Bereich mitzu- wirken. Falsch wäre allerdings, die Qualität und den Mochten Sie es, damit zu arbeiten? Wert von Forschung daran zu messen, wie „verwert- bar“ sie ist. Es muss immer Platz für Grundlagenfor- Ja. Ich habe damals schon Präsentationen und Artikel schung bleiben, auch weil man bei vielen Dingen gar mit meinem Diplomarbeitsbetreuer verfasst. Gemein- nicht weiß, wofür sie später einen praktischen Nutzen sam an einem Dokument arbeiten und dabei schnell haben könnten, wie zum Beispiel für die Entwicklung auf eine Vielzahl von digitalen Quellen zugreifen zu eines Impfstoffs für eine noch unbekannte Bedrohung können, ohne in der Bibliothek erst den Fernleihzettel durch einen Virus wie Corona. Auch wenn Forschung ausfüllen zu müssen und dann auf die Lieferung zu nicht unmittelbar in die Anwendung geht, ist sie wert- warten, das war eine wirkliche Erleichterung und Be- voll und muss gefördert werden. reicherung wissenschaftlichen Arbeitens. PORTAL WISSEN · EINS 2023 13
Gab es in Ihrer Schule bereits und eine mir unbekannte Pflanze entdecke, nutze ich Medienpädagogik? eine Bestimmungs-App auf dem Smartphone, um die Wissenslücke zu schließen. Nein, interessanterweise auch nicht zu klassischen Medien. Ich hätte mir hier eine umfassende Bildung gewünscht, etwa zur Entstehung der Medieninhalte, Und wenn Sie nicht wandern oder lesen, um die Nachrichten besser nachvollziehen zu können womit füllen Sie sonst Ihre Freizeit? oder die Wirkung von Werbung. Gartenarbeit, Schwimmen, Pilze suchen, Fahrradfah- ren … ich bin schon gerne in der Natur unterwegs. Lesen Sie heute noch klassisch Bücher Und ruhig sitzenbleiben ist nicht meine große Stärke. oder nur digital? Gedrucktes bevorzuge ich in der Badewanne oder am Sie wohnen in Potsdam-Eiche in See. Wenn ich aber in den Urlaub fahre, bin ich froh, der Nähe des Campus Golm. Zufall nicht zwölf Bücher mitschleppen zu müssen, sondern oder Absicht? sie bequem auf mein Tablet zu laden. Absicht. Als ich im vergangenen Jahr nach Potsdam zog, war mein Hauptkriterium bei der Wohnungssu- Sie schaffen es, im Urlaub zwölf Bücher che, einen Garten zu bekommen. Außerdem mag ich zu lesen? kurze Wege zur Arbeit. Eiche ist sehr schön, man hat viel Grün und ist trotzdem mit dem Fahrrad schnell Ja. Lesen ist neben dem Wandern und Kanufahren in der Innenstadt. schon eine meiner Hauptaktivitäten. Und da ich gern in abgelegene Gegenden Skandinaviens reise, habe ich dort auch nicht allzu viel sonstige Unter- Berlin reizte sie nicht? haltung. Nein, als nette Vorstadt von Potsdam ist Berlin in Ord- nung. Ich gehe gern in Konzerte, zu Grönemeyer in Lesen Sie eher Fach- und Sachbücher die Waldbühne oder auch ganz klassisch in die Phil- oder Romane? harmonie. Ansonsten fehlt mir in Potsdam nichts. Sowohl als auch, wobei ich in meiner Freizeit eine sehr klare Präferenz für englischsprachige Krimis Sie hatten in Tübingen eine Professur habe. für empirische Lehr-Lernforschung, die mit der Leitung einer Arbeitsgruppe am Leibniz-Institut für Wissensmedien Schaffen Sie sich regelmäßig digitale (IWM) verbunden war. Warum Auszeiten? wechselten Sie nach Potsdam? Ich bin schon sehr digital unterwegs und eher viel Nach 20 Jahren Tübingen hatte ich Lust auf etwas bzw. häufig online, allerdings immer zielgerichtet. Neues. Ich war seit der Gründung mit dem IWM ver- Ich benutze digitale Medien als Werkzeug, selten zum bunden, hatte dort ab 2009 die Professur und vieles bloßen Zeitvertreib. Wenn ich zum Beispiel wandere gemacht. Das Angebot aus Potsdam lockte mit neuen Foto: AdobeStock/Gorodenkoff 14 PORTAL WISSEN · EINS 2023
Gestaltungsmöglichkeiten und großen Freiräumen. Die Strukturen hier sind noch nicht so festgezurrt. DIE FORSCHERIN Ein dynamisches Umfeld mit vielen tollen Kollegin- nen und Kollegen. Außerdem hatte ich mich schon Prof. Dr. Katharina Scheiter studierte bei meinem ersten Besuch in Potsdam – das war 1992 Psychologie an der Universität Göt- als Abiturientin – in die Stadt und ihre Park- und Was- tingen und promovierte 2003 an der serlandschaft verliebt. Als gebürtige Niedersächsin Universität Tübingen. 2009 wurde war für mich auch immer klar, dass ich gerne wieder sie an die Universität Tübingen auf weiter im Norden leben möchte. Mit meiner etwas eine Professur für Empirische Lehr-Lernforschung direkten Art bin ich hier wahrscheinlich auch besser berufen, die mit der Leitung einer Arbeitsgruppe am aufgehoben. Leibniz-Institut für Wissensmedien verbunden war. Seit 2022 ist sie Professorin für Digitale Bildung an der Universität Potsdam, gefördert durch die Hasso Ihre Professur an der Humanwissen- Plattner Foundation. schaftlichen Fakultät wird durch die Hasso Plattner Foundation gefördert. u katharina.scheiter@uni-potsdam.de Was verbindet Sie mit dem HPI und der Digital Engineering Fakultät? Das neue Jahr hat gerade begonnen. Die Überzeugung, dass digitale Technologien fester Wie sehen Ihre Pläne aus? Bestandteil unserer Lebens-, Bildungs- und Arbeits- welt sind und eben auch Werkzeuge für das Gestalten Es fangen zwei sehr anspruchsvolle BMBF-geför- von Bildung. Es gibt auch bereits erste gemeinsame derte Großprojekte an, für deren Koordination ich Projekte wie die Entwicklung digitaler und hybrider verantwortlich bin. Insbesondere die im Februar Fortbildungen in den MINT-Fächern auf der Basis von gestartete Vernetzungs- und Transferstelle zu den LERNEN.Cloud im Rahmen eines vom BMBF geför- Kompetenzzentren für digital gestützten Unterricht, derten Verbundprojekts. die bundesweit ca. 25 bis 30 Projektverbünde zusam- menführen und beim Transfer ihrer Erkenntnisse in die Praxis unterstützen soll, wird eine große, Was ist hier zukünftig noch denkbar? spannende Herausforderung, die aber auch viele Ressourcen binden wird. Im April beginnt dann das Es bieten sich auch im Kontext der Schul-Cloud An- MINT-Verbundprojekt, in dem forschungsbasiert knüpfungspunkte, wenn es um die Gestaltung von und standortübergreifend Professionalisierungs- digitalem Content geht. Gemeinsam mit dem HPI- maßnahmen für den digital gestützten Unterricht Geschäftsführer Ralf Herbrich und David Schlangen entwickelt werden. „Nebenbei“ stehen dann noch aus der Computerlinguistik verschaffe ich mir gerade der Aufbau meiner Arbeitsgruppe und die Konzepti- einen Überblick über das, was mit Bezug auf Künst- on für ein neues Master-Studienangebot zum Thema liche Intelligenz an der Uni Potsdam passiert. Hier digitale Bildung auf der Agenda. Beides sind Dinge, möchte ich zukünftig auch die Möglichkeiten von KI die aufgrund der Anträge zu den beiden Projekten für die Gestaltung adaptiver Lehr-Lernangebote stär- 2022 deutlich zu kurz gekommen sind. Und mehr ker in den Blick nehmen. muss ich wohl nicht planen, die Arbeit kommt ja ganz von allein. Welche ersten Eindrücke haben Sie von den Potsdamer Lehramtsstudierenden, Und was wünschen Sie sich? was die digitale Bildung betrifft? Mehr Zeit (lacht). Astrid Lindgren hat mal 1964 in ihr Mir ist aufgefallen, dass die Studierenden in Potsdam Tagebuch geschrieben: „Och så ska man ju ha några auf digitalem Gebiet schon sehr viel mehr mitbringen stunder att bara sitta och glo också!” Frei übersetzt: als andernorts. Das kann zum einen bedeuten, dass „Und dann sollte man ja auch noch Zeit haben, ein- das Thema hier schon besser auch in den verschiede- fach da zu sitzen und vor sich hin zu schauen.“ Bei nen Fachdidaktiken verankert ist, hängt zum anderen aller inneren Unruhe ist da auch was dran! Aber ich aber vielleicht auch damit zusammen, dass die Studie- habe hier beruflich wie privat einen sehr guten Start renden während des Studiums häufiger in der Praxis gehabt, von daher darf es auch gerne so weitergehen. sind. Darauf lässt sich gut aufbauen, selbst wenn es bis zu einem auch phasenübergreifend kohärenten Foto: Tobias Hopfgarten DIE FRAGEN STELLTE Angebot noch ein weiter Weg ist. ANTJE HORN-CONRAD. PORTAL WISSEN · EINS 2023 15
Kaffee mit Hund Milena Rabovsky untersucht die Sprachverarbeitung im Gehirn mithilfe neuronaler Netzwerke und setzt dabei vor allem auf Lerneffekte durch Vorhersagefehler Foto: AdobeStock/Nick Ciciora 16 PORTAL WISSEN · EINS 2023
Aufgepasst: „The dog was bitten by the man.“ – etwa lernt, sprachlichen Input auf Bedeutung zu map- Alles klar? Nein? Dann ist gut. Wenn wir etwas pen, indem es – basierend auf sequentiell präsentier- lesen oder hören, weiß unser Gehirn oft schon, was ten Wörtern – schätzt, welches Ereignis der jeweilige als nächstes kommt. Dank dieses Wissens müssen Satz beschreibt, d.h. wer was mit wem (oder was) wir Sätze nicht immer umständlich analysieren, macht, und dazu Feedback bekommt, um seine Schät- sondern erfassen ihren Sinn meist schon „auf hal- zungen zu verbessern.“ Andere Modelle versuchen, bem Weg“. Wenn es doch einmal anders kommt, das jeweils nächste Wort im Satz vorherzusagen. als wir erwarten, merkt das Hirn dies in der Regel „Die Modelle lernen Sprache einfach, indem sie ihre zuverlässig – und messbar. Die Neurowissen- Aufgabe ausführen.“ Dafür seien syntaktische Regeln schaftlerin Milena Rabovsky erforscht genau diese zwar auch wichtig, immerhin enthalten die Texte, Abweichungen vom Erwartbaren, denn sie helfen mit denen die Modelle Sprachverstehen lernen und dabei zu verstehen, wie wir Sprache lernen und trainieren, normale und damit regelgerechte Sätze. verarbeiten. Aber die Regeln werden nicht vorab in den Modellen verankert. Vielmehr lernen sie diese mit dem Sprach- Dabei interessiert sie sich gerade nicht so sehr für die gebrauch. „Damit unterscheidet sich die Art, wie ich Strukturen und Regeln, mit denen Sprache arbeitet. Sprachverarbeitung sehe, stark davon, wie viele Lin- „Sprache wird zwar durch Syntax strukturiert. Ihr ei- guisten sie verstehen“, so die Forscherin. „Und ich gentlicher Zweck ist aber, Bedeutung zu vermitteln“, denke, durch die beeindruckende Leistungsfähigkeit so die Wissenschaftlerin. In ihrer Forschung setzt aktueller Deep-Learning-Modelle der Sprachverarbei- sie sogenannte neuronale Netzwerkmodelle ein, die tung (z.B. chatGPT) wird es für die linguistische Idee, auch als Deep-Learning-Modelle bezeichnet werden. Sprache könne ohne ein gewisses Vorwissen nicht Dies sind Computermodelle, die unter anderem gelernt werden, zumindest eng.“ nachbilden sollen, wie das menschliche Gehirn Spra- Milena Rabovskys Modelle lernen Sprache letzt- che verarbeitet. Mit ihnen versucht sie, Hirnsignale, lich so, wie auch Menschen sie lernen: Sie hören die bei menschlicher Sprachverarbeitung gemessen zu, immer wieder. Genauer gesagt werden sie mit werden, zu reproduzieren und zu erklären. „Wenn sogenannten Korpora „gefüttert“, Sammlungen von das gelingt, ist das ein Hinweis darauf, dass es gute typischen gedruckten Texten, die oft aus Zeitungsaus- Modelle sein könnten.“ gaben bestehen. Irgendwann erkennen – oder besser: Das Besondere ist: Das Verständnis von Spra- beherrschen – sie Regelhaftigkeiten. Und dann wird che, das neuronalen Netzwerkmodellen zugrunde es für die Wissenschaftlerin erst richtig spannend. liegt, unterscheidet sich wesentlich von klassischen Denn im Fokus der Forschung von Milena Rabovsky linguistischen Theorien der Sprachverarbeitung. In stehen eigentlich jene sprachlichen Phänomene, die diesen wird angenommen, dass die Funktionalität vom Normalen abweichen. Wie der Satz vom bissigen von Sprache auf syntaktischen Regeln basiert. Und Mann und dem armen Hund. Die Neurowissenschaft- häufig auch, dass diese nicht gelernt werden kön- lerin erforscht nämlich die N400. Das ist kein Über- nen, sondern basale Aspekte dieser syntaktischen schallflugzeug und auch keine Küchenmaschine, Regeln angeboren sind. Dahinter steckt die Idee ei- sondern eine Welle. Die N400-Welle lässt sich beim ner Universalgrammatik, wie sie etwa der Linguist Menschen mithilfe der Elektroenzephalografie (EEG) Noam Chomsky beschrieben hat. Für die Neurowis- messen und ist eine Komponente des sogenannten senschaftlerin Milena Rabovsky ist die Rolle syntakti- ereigniskorrelierten Potenzials. Die Welle gibt Aus- scher Regeln nicht mehr so primär. Für die Aufgabe kunft über unsere Sprachverarbeitung, genauer: Sie von Sprache, Bedeutung zu vermitteln, seien die zeigt an, wenn unser Gehirn dabei Schwierigkeiten statistischen Regelhaftigkeiten oft wesentlicher und hat. Die N400-Welle wird nämlich immer dann ausge- vor allem wirkmächtiger als syntaktische Regeln. löst, wenn Worte auftauchen, die nicht in den Kontext Deshalb verstünden viele Menschen den Satz „The passen. Ein klassisches Beispiel: „Ich trinke meinen dog was bitten by the man.“ zunächst falsch. Sie ver- Kaffee mit Sahne und Hund.“ Wieder dieser Hund. stehen, was sie erwarten, dass nämlich der Hund den Ihren Namen hat die Welle von der Verzögerung, mit Mann beißt, und nicht, wie die Syntax vorgibt, dass der Hund vom Mann gebissen wird. Was Deep-Learning-Modelle der Sprachverarbeitung können, beweist der Ende 2022 an den Start gegange- ne chatGPT der Firma Open AI, der für alle frei verfüg- Sprache im Gebrauch lernen bar und in der Lage ist, auf der Grundlage von Einga- ben Texte aller Art zu generieren – von romantischen „Neuronale Netzwerkmodelle lernen Sprache aus den Gedichten bis zu wissenschaftlichen Aufsätzen. statistischen Regelhaftigkeiten der Umwelt“, erklärt Milena Rabovsky. Und zwar je nach Herangehens- $ https://openai.com/blog/chatgpt weise auf verschiedene Art und Weise. „Mein Modell PORTAL WISSEN · EINS 2023 17
der unser Hirn die Abweichung registriert: 400 Mil- dass die N400 einen Vorhersagefehler und den damit lisekunden nachdem wir „Hund“ lesen oder hören, verbundenen Lerneffekt anzeigt“, erklärt sie. Wenn wird sie ausgelöst. Dabei fällt das Signal, also die Wel- wir Sprache hören, versuche das Hirn ständig, das le, größer aus, je stärker das Wort von der Erwartung nächste Wort und dessen Bedeutung vorherzusagen. abweicht. Trinken wir unseren Kaffee mit Honig ist Bei Abweichungen kommt es zur Fehlermeldung, die das weniger auffällig als mit Hund. N400-Welle „schlägt“ aus – und das Hirn muss seine Vorhersage korrigieren. Es lernt. „Diese Annahmen haben wir in unsere Modelle Mensch und Modell im Experiment implementiert und arbeiten nun daran, sie zu bele- gen“, so die Forscherin. Nachdem die Modelle einige Mit der N400 beschäftigt sich Milena Rabovsky schon Zeit mit Korpora trainiert haben, müssen sie sich mit lange, denn die studierte Psychologin ist in der EEG- Menschen messen. Dafür führen Milena Rabovsky Forschung „groß“ geworden. Dort bildet die Welle und ihr Team im Prinzip parallel zwei Experimente eines der wichtigsten Instrumente zur Untersuchung durch: Im EEG-Labor werden Testpersonen mit Sät- der Sprachverarbeitung. Zeigt sie doch zuverlässig zen konfrontiert, die immer wieder unterschiedlich an, wie unser Hirn mit sprachlichen Phänomenen starke Abweichungen enthalten. Mal gibt es Milch umgeht, die es (noch) nicht kennt. „Wir konnten in mit Honig, mal mit Hund. Oder ähnliches. Die auf- zahlreichen Studien N400-Effekte nachweisen“, sagt gezeichneten N400-Wellen vergleichen die Forschen- sie. „Doch es war lange nicht klar, was genau dahin- den dann mit den Aktivierungsmustern der Modelle, tersteckt, was das Hirn eigentlich macht, wenn die die mit demselben sprachlichen Input „gefüttert“ Welle größer oder kleiner wird. Das war irgendwie wurden. „Wenn wir bei den Modellen dieselben frustrierend.“ Auf der Suche nach neuen Ansätzen N400-Effekte nachweisen können wie bei unseren wandte sich die Kognitionswissenschaftlerin der Mo- Testpersonen, ist dies ein Hinweis darauf, dass es dellierung zu, ging dafür nach Kanada an die Univer- gute Modelle menschlicher Sprachverarbeitung sein sity of Western Ontario, später nach Stanford. Seit könnten“, so Milena Rabovsky. Experimentell belegen 2019 ist sie an der Universität Potsdam. Hier hat sie wollen sie auch den Lerneffekt: Auf einen typischen dank der Förderung der Deutschen Forschungsge- N400-Test folgt ein zweiter „Lerntest“, bei dem sich meinschaft im Emmy-Noether-Programm eine Grup- zeigen soll, ob die Größe der N400 im ersten Teil spä- pe aufgebaut, mit der sie experimentelle Forschung tere Lerneffekte vorhersagt. „Ist die N400 tatsächlich und Modellierung zusammenbringt – aktuell vor al- ein Lernsignal, müssten Probanden Worte, bei denen lem mit Blick auf die N400. „Es besteht die Theorie, sie eine größere N400-Welle zeigten, beim zweiten Versuch schneller erkennen.“ Neu Gelerntes wird zum alten Hund. Prof. Milena Rabovsky Im Idealfall lässt sich diese Erklärung dann auch am Modell verifizieren. Bislang hat es die Härtetests alle bestanden. Milena Rabovsky ist zufrieden und wendet sich bereits neuen Zielen zu. So plant sie gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für Kogni- tions- und Neurowissenschaften eine MEG-Studie. Dank der dabei eingesetzten Magnetoenzephalografie (MEG) können die Forschenden nicht mehr nur – wie mit dem EEG – erfassen, wann etwas im Gehirn ge- schieht, sondern sogar wo. DIE FO RS CHERIN Prof. Dr. Milena Rabovsky studierte Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach der Pro- motion an der Berlin School of Mind and Brain und Stationen in London (Ontario), Stanford und an der Freien Universität Berlin ist sie seit 2019 Professorin für Kognitive Neurowissenschaften an der Universität Potsdam. u milena.rabovsky@uni-potsdam.de Foto: Tobias Hopfgarten 18 PORTAL WISSEN · EINS 2023
EEG-Experiment DA S P ROJ E KT Kombination von Elektrophysiologie und neuronalen Von dem ist Milena Rabovsky jedenfalls überzeugt. Netzen bei der Untersuchung des Sprachverstehens Auch wenn es natürlich momentan ein stark verein- (Emmy Noether-Nachwuchsgruppe) fachtes Modell sei, würde die Vielzahl der erklärten neuronalen Effekte nahelegen, dass die dem Modell Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) zugrundeliegenden Prinzipien wesentliche Aspek- Laufzeit: 2019–2024 te der menschlichen Sprachverarbeitung erfassen. Beteiligt: Prof. Dr. Milena Rabovsky (Leitung), Profes- Und auch wenn sie betont, dass sie Grundlagenfor- sor Dr. James McClelland (Stanford University) schung betreibt, deren Aufgabe es ist, das menschli- che Sprachverstehen zu untersuchen, sieht sie bereits mögliche Anwendungen: „Wenn man ein wirklich Vom Fehler zum Lernen gutes Modell hat, kann man mit dessen Hilfe etwa Aphasien besser verstehen oder Mechanismen von Außerdem soll künftig eine zweite Welle ins Modell Krankheiten erklären, die sich auf unser Sprachver- einfließen: Die P600. „Während die N400 so etwas mögen auswirken.“ wie den automatischen Prozess der Fehlererken- Bis dahin sei der Weg zwar noch weit, aber gerade nung widerspiegelt, zeigt die P600 möglicherweise die enge Zusammenarbeit mit den Potsdamer Kol- die Reanalyse an“, erklärt Milena Rabovsky. „Also ei- leginnen und Kollegen am Institut für Linguistik in nen relativ kontrollierten kognitiven Prozess, in dem dieser Hinsicht inspirierend. Denn Berührungsängste Menschen den Fehler korrigieren und Missverstan- gibt es zwischen Linguistik und kognitiven Neurowis- denes richtig erfassen.“ Wer etwas falsch versteht, senschaften keine. Im Gegenteil: So arbeitet Milena anschließend korrigiert und dann richtig erfasst, Rabovsky etwa im linguistischen Sonderforschungs- sollte sich an den beiden Wellen zeigen lassen. Da bereich „Die Grenzen der Variabilität der Sprache“ dieser Vorgang durchaus kognitiv herausfordernd mit einigen sehr produktiv zusammen: „Wir haben ist, müssen die Experimente auch verschiedene Fak- ähnliche Interessen und es passt gerade experimentell toren berücksichtigen. Ob die Versuchspersonen sehr gut. Außerdem sind wir alle tolerant. Und viel- aufmerksam sind, etwa. Dafür sollen künftig nicht leicht denkt jeder im Geheimen, dass er die anderen nur EEG-, sondern auch Augenbewegungsmessun- irgendwann doch noch überzeugt.“ Fotos: Tobias Hopfgarten (3) gen eingesetzt werden. Und natürlich das „gewach- sene“ Modell. MATTHIAS ZIMMERMANN PORTAL WISSEN · EINS 2023 19
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