Max Planck Forschung - Die Gefühle müssen rAus
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Ausgabe 04 | 2021 Max Planck Forschung Biomedizin Astrophysik Klimaforschung Booster vom Alpaka Kosmische Detektivarbeit Tauwetter im Permafrost Die Gefühle müssen raus
F o t o: ad ob e s t o c k 2 S eine Gefühle einfach ausleben, so wie dieses Mädchen beim Anblick einer Plastikspinne: Was bei Kindern normal ist, war für Königinnen und Kaiser früher undenkbar. Heute dagegen lassen sich hochrangige Politikerinnen beim Fußball sogar vor laufender Kamera zu Begeisterungsstürmen hinreißen. Und selbst bei Maschinen geht der Trend hin zu mehr Gefühl – zumin- dest bei den Robotern, die Max-Planck-Forschende für Therapiezwecke entwickeln. Max Planck Forschung · 4 | 2021
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser In der Wissenschaft galten Gefühle bis vor nicht allzu langer Zeit als schwer greifbar – zu subjektiv und nicht exakt quantifizierbar. Dabei lassen sie sich anhand der körperlichen Reaktionen, die sie hervorrufen, durchaus messen. Bei Menschen mit einer Spinnenphobie lässt die Angst vor einer Spinne das Herz schneller schlagen und ruft Vermeidungsverhalten hervor. Die Betroffenen müssen dazu nicht einmal vor einem echten Tier stehen: Mithilfe virtueller Realität und verschiedener Sensoren können Forschende das Gefühl beim Anblick einer Spinne erfassen und verbesserte Behandlungsmethoden entwickeln. In der Öffentlichkeit waren Gefühle bis vor Kurzem verpönt. Eine vor aller Augen jubelnde Regierungschefin wie Angela Merkel bei der Fußball-WM 2014 in Brasilien 3 wäre noch wenige Jahre zuvor undenkbar gewesen – von den Gefühlsausbrüchen eines Donald Trump ganz zu schweigen. Herrschte bis Ende des 18. Jahrhunderts noch das Ideal des ruhigen und besonnenen Monarchen, machten die Regierenden später ihr Innenleben zunehmend öffentlich, um sich so der Zuneigung und des Wohlwollens der Bevölkerung zu versichern. Andere wiederum müssen das Fühlen erst noch lernen: Damit uns Roboter eines Tages bei der Betreuung Pflegebedürftiger unterstützen können, müssen sie erfühlen, wie sie einen Menschen berühren. Anders als die Sprach- und Bilderkennung steckt der Tastsinn künstlicher Systeme aber noch in den Kinderschuhen. Damit die Umarmung eines Roboters ein gutes Gefühl auslöst, entwickeln Forschende des- halb neuartige Berührungssensoren. Unser Fühlen bestimmt unser Handeln also maßgeblich mit. Es ist ein Macht- instrument, es hilft oder schadet uns, und es vermittelt uns Nähe. In diesem Sinne wünschen wir Ihnen ein gutes Gefühl bei der Lektüre! Ihr Redaktionsteam Max Planck Forschung · 4 | 2021
F o t o s: pic t u r e a l l i a nc e / A SSOCI AT E D PRESS / C h a r l e s Dh a r apak ( l i n k s ob e n ); A x e l Gr i e s c h ( r ec h ts ob e n ), N.A . Sh a r p, NOAO/ NSO/K i tt Pe ak F TS/AUR A / NSF ( l i n k s u n t e n ); SPL -Age n t u r F o c us ( r ec h ts u n t e n ) 24 46 4 68 76 24 Auftreten 46 Aufstehen 68 Aufspalten 76 Auftauen Wer in der Öffentlichkeit Die Physikerin Hanieh Die sogenannte Spektralanalyse Die voranschreitende Erd- Gefühle zeigt, weckt bei den Fattahi macht sich ist seit Langem ein wichtiges erwärmung lässt Permafrost- Menschen Sympathien. für den Klimaschutz stark. Werkzeug für die Astrophysik. böden schmelzen. Max Planck Forschung · 4 | 2021
Inhalt 03 | Editorial 46 | besuch bei Hanieh Fattahi 06 | orte der forschung 54 | Zweiter Blick Simuliertes Observatorium in Heidelberg wissen aus 08 | kurz notiert 56 | Farben hören, Gene suchen Die Synästhesie ist eines der faszinie- 16 | ZUR SACHE rendsten Phänomene der Neurowissen- Das rechtliche Erbe der Kolonialzeit schaften. Nur sehr langsam lüften sich die damit verbundenen wissenschaft- Die Kolonialisierung ist Geschichte. lichen Geheimnisse. Doch ihre Nachwirkungen zeigen sich immer noch als Kolonialität – in der 62 | Booster vom Alpaka Art und Weise, wie die Welt wahrgenom- Das Immunsystem dieses Lama-ähn- men, verstanden und beherrscht wird. lichen Tieres enthält Abwehrstoffe, die in einem wirksamen Medikament gegen 22 | infografik Sars-CoV-2 eingesetzt werden könnten. Das Meer gerät aus dem Gleich- 68 | Kosmische Detektivarbeit 5 gewicht Die Chemie eines Sterns enthält wertvolle Informationen. Um aus einem spektralen iM FOKUS Fingerabdruck die Häufigkeiten der Elemente exakt zu ermitteln, bedarf es Die Gefühle müssen raus ausgeklügelter Methoden. techmax 24 | Wohldosierte Emotionen 76 | Tauwetter im Permafrost Smarte Polymere – wie Nanokapseln Chemie und Politische Entscheidungen, so das Die dauerhaft gefrorenen Böden vor allem Medizin revolutionieren klassische Dogma, sollten rational und am nördlichen Polarkreis speichern mehr vernünftig getroffen werden, keinesfalls als eine Billion Tonnen Kohlenstoff. emotional. Doch die Realität sieht von Setzen sie beim Auftauen große Mengen jeher anders aus. Welche Bedeutung an Treibhausgasen frei? hatten Gefühle für politische Ereignisse? 32 | Im Netz der Angst 82 | Post aus ... Für Betroffene sind Angststörungen eine Lima, Peru große Belastung. Mithilfe von virtueller Realität wollen Forschende sie besser verstehen und eine standardisierte Thera- 84 | neu erschienen pie entwickeln. Ein Selbstversuch. 86 | fünf fragen 38 | Roboter mit sanfter Hand Zur psychischen Gesundheit Um zukünftig Menschen bei einer in Zeiten von Corona Therapie oder im Alltag unterstützen zu können, müssen Maschinen fähig sein, ihr Gegenüber zu ertasten und behutsam 87 | impressum anzufassen. Tests mit feinfühligen Robotern laufen bereits. Max Planck Forschung · 4 | 2021
Wassertank für Teilchenschauer W as wie eine Baustelle anmutet, ist in Wirklichkeit die Test- anlage für ein ganz besonderes Observatorium. Passend dazu beleuchtet der Orion mit seinen drei charakteristischen Gürtelsternen die Szene und verweist sinnbildlich auf das 6 Weltall. Der elf Meter durchmessende Tank, der sich auf dem Gelände des Max-Planck-Instituts für Kernphysik sechs Meter in die Höhe reckt, fasst 550 Tonnen Wasser – und simuliert einen See. Was das mit Astrophysik zu tun hat? Mitten in den chilenischen Anden planen Forschende eine Anlage namens SWGO. Das Akronym steht für „Southern Wide-field Gamma-ray Observatory“. Dieses soll eines Tages rund um die Uhr energiereiche Strahlung aus den Tiefen des Universums beobachten, und zwar indirekt: Die kosmischen Gammaphotonen lösen in der Luft wahre Partikelschauer aus, die im Wasser blaues Licht erzeugen und sich so nach- weisen lassen. Ein Konzept für das Observatorium sieht einen natürlichen See vor. Aus diesem könnte Wasser ent- nommen, vor Ort gereinigt und in Ballons gefüllt werden. Diese könnte man dann im Innern mit Detektoren versehen und im See schweben lassen. Mit dem Tank in Heidelberg wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler testen, ob diese Idee funktioniert. Das Gerüst ermöglicht es, im wörtlichen Sinne Versuchsballons in dem Tank zu versenken. Dabei werden verschiedene Ballonhüllen-Materialien ausprobiert, sowohl im Hinblick auf ihre Stabilität als auch auf ihre optischen Eigenschaften. Zudem kann eine Wasserumwälz- und -filteranlage den künst- lichen See in leichte Bewegung versetzen. Die perfekte Simulation für ein neues Fenster zum All. www.youtube.com/watch?v=3ceq75YzE8E&feature=youtu.be Max Planck Forschung · 4 | 2021
F o t o: G CO Eine Ehre für unser Magazin Für die Gestaltung und den opti- schen Auftritt ist MaxPlanckFor schung mit einem der renommiertes- ten Designpreise weltweit ausge- Auf der Gewinnerseite: MaxPlanckForschung hat zeichnet worden: Das Magazin den German Design Award 2022 bekommen. erhielt den German Design Award 2022 in der Kategorie „Excellent Communications Design – Edito- rial“. Gewürdigt wurde dabei die Neugestaltung vor zwei Jahren. Das optische und inhaltliche Konzept hat die Jury des German Design Award ebenso überzeugt wie die redaktio- 8 nelle Arbeit, deren Ziel es ist, die ver- schiedenen wissenschaftlichen Fach- jargons in eine einfache und für Laien verständliche Sprache zu über- ausgezeichnet setzen. Der German Design Award wird vom Rat für Formgebung ver- liehen und würdigt innovative Ge- staltung in den Bereichen Architek- DIETER OESTERHELT tur, Kommunikation und Produkt- design. Eine internationale Jury, Der emeritierte Direktor am Max-Planck-Institut für Biochemie erhielt den Albert Lasker Basic die sich aus führenden Fachleuten Medical Research Award 2021 ‑ zusammen mit aller Disziplinen des Designs zusam- F o t o: M PG/F i l se r Peter Hegemann von der Humboldt-Universität mensetzt, bewertet die Einreichun- und dem US-Amerikaner Karl Deisseroth von der gen. www.mpg.de/17874992 Stanford-Universität. Die drei werden für die Entdeckung lichtempfindlicher Proteine in der Membran von Einzellern und deren Einsatz in der Optogenetik geehrt. ALESSANDRA BUONANNO Der diesjährige Balzan Preis ging an die Direktorin am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik und an Thibault Damour vom französischen F o t o: Sv e n D ör i ng Institut des Hautes Études Scientifiques. Die Jury würdigte damit die führende Rolle der beiden bei der Vorhersage von Gravitationswellensignalen. Außerdem hätten ihre Arbeiten die allgemeine Relativitätstheorie äußerst genau bestätigt. Max Planck Forschung · 4 | 2021
Kurz notiert Bi l d: M PI f ü r mol e k u l a r e Biom e di z i n/ H e n r i k R e n n e r , Ja n B ru de r Neue Leitung der Verwaltung Simone Schwanitz wird neue Gene- ralsekretärin der Max-Planck-Ge- sellschaft. Bisher leitete sie die Abtei- lung „Forschung, Technologietrans- fer, Digitalisierung, Europäische Union“ im Ministerium für Wissen- 9 Ein 25 Tage altes Mittelhirn- schaft, Forschung und Kunst des Organoid (blau: Zellkerne; rot: Landes Baden-Württemberg. In die- Nervenzellen; grün: Vorläuferzellen). ser Position war sie auch Mitglied in den Kuratorien mehrerer Max- Planck-Institute. Die 53-jährige Di plom-Politologin hat durch ihre lang- Petrischale statt jährige Arbeit auf operativer ministe- rieller Ebene Kenntnisse in Personal-, Tierversuch Haushalts-, Bau- und Rechtsange legenheiten erworben und Erfahrun- Um die Funktionsweise des Gehirns von Jan Bruder und Henrik Renner gen in deren Umsetzung gesammelt. aufzuklären und Medikamente gegen am Max-Planck-Institut für moleku- „Das wird ihr nicht nur bei der Lei- neurologische Erkrankungen wie lare Biomedizin in Münster. Die bei- tung der Generalverwaltung, son- Alzheimer, Parkinson oder Depres den Wissenschaftler haben außer- dern auch bei der Interaktion mit den sionen zu entwickeln, müssen For- dem ein automatisiertes Herstel- Instituten, Organen und Gremien schende die Gehirne von Versuchs lungsverfahren entworfen, mit dem sowie mit den Ministerien und der tieren untersuchen. Nervenzellen sie die Organoide standardisiert und Gemeinsamen Wissenschaftskonfe- lassen sich zwar auch in zweidimen in hoher Zahl produzieren und analy- renz von Bund und Ländern zugute- sionalen Zellkulturen studieren, die sieren können. Mithilfe der Minia- kommen“, betont Max-Planck-Präsi- traditionell in einer Nährlösung ge- turgewebe können Forschende die dent Martin Stratmann. Simone deihen und einen Rasen miteinander Mechanismen neurologischer Er- Schwanitz wird ihr Amt zum 1. Feb- verbundener Nervenzellen bilden. krankungen grundlegend untersu- ruar 2022 antreten. Ihr Vorgänger Allerdings entsprechen diese flach chen. Zudem lassen sich potenzielle Rüdiger Willems wird zum März ausgebreiteten Zellkulturen nur ent- Arzneistoffe an den Organoiden er- 2022 ausscheiden. fernt den Bedingungen im mensch proben. Wenn sich die Stoffe dabei www.mpg.de/17883878 lichen Gehirn. Ganz anders die Ge- als unwirksam oder toxisch erweisen, hirn-Organoide aus Münster. Sie sind weitere Tierversuche unnötig. entstehen aus speziellen neuralen Dafür haben die beiden Erfinder den Vorläuferzellen, die spontan selbst Tierschutzforschungspreis 2021 des Gewebestückchen formen und sich Bundesministeriums für Ernährung in allen drei Raumrichtungen vernet- und Landwirtschaft erhalten. zen können. Entwickelt wurden sie www.mpg.de/17933386 Max Planck Forschung · 4 | 2021
KURZ NOTIERT Lego mit Gedächtnis: Ein Spielzeugroboter lernt mithilfe eines organischen neuromorphen Schaltkreises, durch ein Labyrinth zu navigieren. F o t o: M PI f ü r P oly m e r f or s c h u ng Bi l d: M P- F or s c h u ngs s t e l l e f ü r N eu ro ge n et i k /Mona K h a n Eine einzelne infizierte Stütz- zelle ist von nicht infizierten Corona Zellen in der Riechschleim- haut eines in der Nase Covid-19-Pati- enten umgeben, 10 Covid-19 kann einen temporären der vier Tage oder auch langfristigen Verlust des nach der Geruchssinns auslösen. Es wäre da- Diagnose der Infektion starb. her möglich, dass Sars-CoV-2 die Die infizierte Sinneszellen in der Riechschleim- Zelle hat die haut befällt und über den Riechnerv sogar ins Gehirn eindringen kann. charakteristi- sche Form eines Roboter mit Forschende der Max-Planck-For- schungsstelle für Neurogenetik in Weinglases. künstlichen Synapsen Frankfurt haben in den Sinneszellen verstorbener Covid-19-Patienten je- Schaltkreise, die wie Nervenzellen kömmliche mikroelektronische doch keine Viren festgestellt. Auch arbeiten, könnten der Computer- Bauteile in Form von Elektronen. die Nervenzellen des Riechkolbens technik noch einmal neue Anwen- Zudem kann der Schaltkreis Ge- im Gehirn werden offenbar nicht be- dungen erschließen. So könnten sie lerntes dauerhaft speichern, weil er fallen. Es gibt demnach bislang keine ähnlich energieeffizient arbeiten eine synthetische Synapse enthält, Hinweise darauf, dass Sars-CoV-2 wie natürliche Neuronen, sensori- die sich beim Lernen nach dem Vor- tatsächlich Nervenzellen befallen sche Information wie etwa die Bild- bild einer biologischen Synapse ver- kann. In der Riechschleimhaut sind daten einer Kamera direkt in Steu- ändert. Das Team baute den neuro- stattdessen Stützzellen das primäre ersignale für einen Motor umwan- morphen Schaltkreis einem Roboter Ziel für das Virus. Vermutlich wird deln und letztlich auch die ein, der damit lernte, anhand von der Verlust des Geruchssinns durch Kommunikation zwischen Nerven- Markierungen den Weg durch ein einen Befall dieser Stützzellen ausge- zellen und mikroelektronischen Labyrinth zu finden. Dabei nutzte löst, welche die Riechsinneszellen Bauteilen erleichtern. Ein Schritt der Roboter neben Kameradaten dann nicht mehr ausreichend mit hin zu einer solchen neuromorphen die mechanischen Signale der Stöße, Nährstoffen versorgen können. Die Elektronik ist nun einem internatio- wenn er irrtümlich gegen die Be- Stützzellen liegen an der Oberfläche nalen Team um Forschende des grenzungen des Labyrinths fuhr. der Nasenschleimhaut und können Max-Planck-Instituts für Polymer- Wie das Team vermutet hatte, inter- dort vom Immunsystem nur unzu- forschung gelungen. Die Forschen- pretierte der Roboter die Weg- reichend geschützt werden. Selbst den haben einen neuromorphen marken nach jedem Fehlversuch zu- geimpfte oder genesene Patienten Schaltkreis entwickelt, dessen Tran- verlässiger, weil die entsprechenden könnten also nach einer Infektion mit sistor Information mithilfe von Signale der künstlichen Synapse Sars-CoV-2 ihren Geruchssinn ver- Ionen verarbeitet – so wie Nerven- stärker wurden. lieren. www.mpg.de/17907771 zellen dies tun – und nicht wie her- www.mpg.de/18021321 Max Planck Forschung · 4 | 2021
KURZ NOTIERT Gefühle Sag mir, was du spielst … kommen Menschen spielen überall auf der Welt, im Mittelpunkt, ob typische Spiele aber sie spielen nicht überall gleich. Rückschlüsse darauf erlauben, wie ko- von Herzen Frühere Studien lieferten Hinweise, operativ eine Gesellschaft ist. Die Er- dass in sozial hierarchischen Gesell- gebnisse zeigen, dass es in Gesellschaf- Wer zu wenig Angst hat, verhält sich schaften häufig wettbewerbsorien- ten, die häufig Konflikte mit anderen leicht riskant. Doch auch wer zu viel tierte Spiele gespielt werden, während Gesellschaften austrugen, mehr ko- Angst hat oder gar zu Panikattacken in egalitären Gesellschaften eher ko- operative als kompetitive Spiele gab. neigt, bekommt Probleme im Alltags- operative Spiele verbreitet sind. Diese Andererseits hatten Kulturen, in de- leben. Doch wie lässt sich Angst im Zusammenhänge wurden jedoch nur nen es häufig zu Konflikten innerhalb Gleichgewicht halten? Ergebnisse, die anhand weniger Kulturen untersucht. der Gemeinschaft kam, stärkere Ten- Forschende des Max-Planck-In sti Forschende des Max-Planck-Instituts denzen zu kompetitiven Spielen. tuts für Neurobiologie in Martins- für evolutionäre Anthropologie in Keine verlässlichen Zusammenhänge ried an Mäusen gewonnen haben, Leipzig haben nun gemeinsam mit gab es zwischen der Art des Spiels und zeigen, dass das Gehirn die Angst Kolleginnen und Kollegen aus Jena, den hierarchischen Sozialstrukturen mithilfe von Reaktionen des Körpers Gera und Australien historische Daten der Gesellschaften. kontrolliert, etwa mithilfe des bei dazu analysiert. Dabei stand die Frage www.mpg.de/17887355 Angst sinkenden Herzschlags. Die Forschenden haben sich auf die Insel- rinde konzentriert – eine Hirnregion, die auch beim Menschen auf Reize reagiert, die Gefahr signalisieren wie etwa ein unerwartetes Geräusch. In ihr laufen über den Vagusnerv auch Signale aus dem Herzen ein. Die Er- gebnisse lassen vermuten, dass die Inselrinde die Angst auf einen be- stimmten Mittelwert bringt: Wird sie aktiviert, verlieren sehr ängstliche Mäuse einen Teil ihrer Angst. Mu- Corona senkt 11 tige Tiere mit aktivierter Inselrinde werden dagegen vorsichtiger. Aller- Lebenserwartung dings benötigt die Inselrinde dazu die Rückmeldung aus dem Körper, In den meisten westlichen Industrie- ten Länder sank demnach die Lebens- denn sobald beispielsweise kein Aus- nationen sind wir es seit Jahrzehnten erwartung für Männer und Frauen. tausch zwischen Herz und Gehirn gewohnt, dass die durchschnittliche Am stärksten betroffen war Russland, stattfindet, wird die Inselrinde nicht Lebenserwartung von Jahr zu Jahr um wo sie für Männer um 2,33 Jahre und aktiviert. Sehr ängstliche Tiere blei- einige Wochen steigt. Nun hat die Co- für Frauen um 2,14 Jahre zurückging. ben ängstlich, die unbekümmerten vid-19-Pandemie diese Entwicklung An zweiter Stelle liegen die USA: Dort bleiben sorglos. Reaktionen des Kör- vorerst gestoppt. Das geht aus einer fiel die durchschnittliche Lebenser- pers sind also mehr als die bloße Studie des Max-Planck-Instituts für wartung bei Männern um 2,27 Jahre Folge von Gefühlen: Mit ihrer Hilfe demografische Forschung in Rostock und bei Frauen um 1,61 Jahre. Die Le- kontrolliert das Gehirn diese viel- sowie der Universitäten Oxford und benserwartung gibt an, wie lange mehr in einer Rückkopplungs- Cambridge hervor. Das Team berech- Menschen im Durchschnitt leben schleife. www.mpg.de/17858608 nete anhand zuverlässiger und voll- würden, wenn die Umstände des un- ständiger Datensätze die Sterblichkeit tersuchten Jahres für den Rest ihres für 37 Länder mit hohem und mittle- Lebens konstant blieben. rem Einkommen. In 31 der untersuch- www.mpg.de/17632788 Gr a f i k : G CO nac h M PI f ü r de mo gr a f i s c h e F or s c h u ng Jahre 1 0 -1 -2 SCHWEIZ KROATIEN K ANADA ÖSTERREICH SCHWEDEN FR ANKREICH ESTLAND LETTLAND LUXEMBURG GRIECHENLAND ISR AEL DEUTSCHLAND FINNLAND ISLAND DÄNEMARK Russl and NORWEGEN SÜDKORE A TAIWAN NEUSEELAND USA BULGARIEN LITAUEN POLEN ITALIEN CHILE SPANIEN BELGIEN TSCHECHIEN SLOWENIEN ENGLAND & WALES SLOWAKEI SCHOTTLAND UNGARN PORTUGAL NIEDERLANDE NORDIRLAND Negative Bilanz: In 31 der 37 untersuchten Länder sank die Lebenserwartung im Jahr 2020. Max Planck Forschung · 4 | 2021
KURZ NOTIERT So gut Krähen schützen schätzen Masken Werkzeuge Selbst drei Meter Abstand helfen Wie sorgfältig wir Menschen mit un- nicht. Wenn eine ungeimpfte Person seren Besitztümern umgehen, hängt F o t o: Ja m e s St C l a i r keine Maske trägt und in der Atem- häufig von deren Preis ab. Ein Preis- wolke eines Menschen steht, der mit schild klebt auf den Stöckchen zwar dem Coronavirus infiziert ist, hat sie nicht, die manche Krähen zur Nah- bereits nach wenigen Minuten ein rungssuche benutzen, doch die Tiere sehr hohes Risiko, sich ebenfalls mit wissen um deren Wert. Das haben dem Erreger von Covid-19 anzuste- Forscher der Universität St. Andrews cken. Masken verhindern die Über- und des Max-Planck-Instituts für tragung des Virus allerdings sehr gut. Verhaltensbiologie in Konstanz in ei- So sinkt das Risiko, sich innerhalb ner Studie mit Neukaledonischen von zwanzig Minuten zu infizieren, Krähen beobachtet. Die Vögel stellen auf höchstens zehn Prozent, wenn in mühevoller Kleinarbeit aus einer beide Personen einen gut sitzenden seltenen Pflanzenart Werkzeuge mit medizinischen Mund-Nasen-Schutz Haken her, mit denen sie zehnmal tragen. Mit gut sitzenden FFP2- oder schneller Beute machen als mit ein KN95-Masken fällt das Risiko sogar facher herzustellenden Werkzeugen auf unter 0,1 Prozent und selbst mit Neukaledonische Krähe ohne Haken. Wie das deutsch-briti- mit Hakenwerkzeug. schlecht sitzenden FFP2-Masken auf sche Team nun festgestellt hat, be- maximal 4 Prozent. Diese Obergren- wahren die Krähen solche wertvollen zen für das Infektionsrisiko hat ein Hilfsmittel zwischen den Einsätzen Team des Max-Planck-Instituts für sicherer auf als einfachere Werk- Dynamik und Selbstorganisation in zeuge. Wenn sie ihre Beute mit einem Göttingen in einer umfangreichen Stöckchen aus Ritzen und Höhlen 12 Studie ermittelt. Darin untersuchte geangelt haben, müssen sie ihr Werk- das Team, wie gut verschiedene Mas- zeug zum Fressen ablegen. Sie halten ken bei unterschiedlichen Tragewei- es dazu entweder unter ihren Füßen sen vor einer Infektion mit der Delta- fest oder stecken es vorübergehend in variante des Coronavirus schützen. ein nahe gelegenes Loch. So versu- Dabei haben die Forschenden das In- chen sie zu vermeiden, dass sie das fektionsrisiko äußerst konservativ be- Stöckchen versehentlich fallen lassen stimmt und sind daher sicher, dass oder dass dieses von anderen Krähen Masken unter realen Bedingungen gestohlen wird. noch besser schützen. Und sie schät- www.mpg.de/18062558 zen, dass für die Omikronvariante das Übertragungsrisiko dank der Masken sogar noch deutlicher sinkt Masken, die an den Rändern Gr a f i k : G CO nac h Bi rt e T h i e de/M PI f ü r Dy na m i k u n d Se l b s t orga n i sat ion als für die Deltavariante. Und das, nicht dicht abschließen, lassen obwohl für eine Infektion mit Omi vor allem an den Nasenflügeln, kron nur die Hälfte oder ein Drittel aber auch an den Wangen Luft der Virionen nötig sind. Den schein- ein- und austreten. Doch selbst baren Widerspruch lösen die For- schlecht sitzende Masken schenden mit einem Blick auf die je- reduzieren das Infektionsrisiko weilige Viruslast und die Größe der noch deutlich. entstehenden Partikel in den unteren und oberen Atemwegen auf: In den unteren Atemwegen ist die Viruslast bei Omikron deutlich niedriger als bei Delta. In den oberen Atemwegen ist sie dagegen bei beiden Varianten ähnlich hoch. Hier entstehen aller- dings – vor allem beim Sprechen, Singen und Schreien – große virus- haltige Partikel, die Masken, auch medizinische Masken, besonders ef- fektiv aus der Atemluft filtern. www.mpg.de/17915640 Max Planck Forschung · 4 | 2021
KURZ NOTIERT Schwacher Golfstrom reduziert Monsunregen F o t o: Ja spe r Wa s se n bu rg, Ma x- Pl a nc k- I ns t i t u t f ü r C h e m i e Wenn der Eisschild Grönlands abtaut, flusst hat. Zu diesem Zweck analy- könnte das auch gravierende Folgen sierte das Team in den Ablagerungen für die Wasserversorgung der Tropen von Stalagmiten einer südchinesi- haben. Denn dadurch fließen große schen Tropfsteinhöhle die chemische Steinerner Mengen Süßwasser in den Nord Signatur, die Aufschluss über die Zeuge: Die atlantik, wodurch sich die atlantische Niederschlagsmenge und -dauer im chemische Umwälzbewegung, zu der auch der Monsun gibt. Diese Daten kombi- Signatur in Golfstrom gehört, verlangsamen nierten die Forschenden mit den Er- den Bändern, dürfte. Das wird wahrscheinlich die kenntnissen anderer Gruppen, wo- die sich beim lebenswichtigen Monsunregenfälle nach sich am Ende der vorletzten Wachstum eines in Ostasien und Indien schwächen. Kaltzeit die atlantische Umwälzbe- Stalagmiten – hier ein Zu diesem Schluss kommt ein inter- wegung durch den vermehrten Zu- Tropfstein aus Marokko – bilden, liefert nationales Team um Forschende des fluss von Schmelzwasser in den Forschenden präzise Max-Planck-Instituts für Chemie in Nordatlantik abschwächte. So wies Informationen zu einer Studie, die zeigt, wie die Ab- das Team nach, dass in dieser Zeit die vergangenen Klima- schwächung des Golfstroms den Monsunregenfälle drastisch abnah- veränderungen. 40 mm Monsun in der Vergangenheit beein- men. www.mpg.de/17884523 13 30.03.2021 29.05.2021 24.06.2021 26.07.2021 Bi l d: ESO / GR AV I T Y C ol l ab or at ion S55 S55 S55 S55 Sgr A* S62 Sgr A* Sgr A* Sgr A* S62 S62 S62 S29 S29 S29 Schwung ums schwarze S300 S29 S300 S300 Loch: Diese Bilder S300 wurden zwischen März und Juli 2021 aufgenom- men und zeigen Sterne, Orbit des Neptun die sehr nahe um das Massemonster im Zentrum der Milch- straße kreisen. Zoom ins galaktische Zentrum Das Herz unserer Milchstraße birgt laufbahnen von Sternen nahe der Stern beobachtet, der so nahe oder so die eine oder andere Überraschung – Schwerkraftfalle. Dazu gehörte auch schnell am schwarzen Loch vorbei nicht zuletzt deshalb, weil in dieser der Rekordstern S29, der sich dem fliegt. Zudem fand die Gruppe her- Region ein gewaltiges schwarzes schwarzen Loch Ende Mai 2021 mit aus, dass dieser und andere Sterne ex- Loch sitzt. Ein Team unter der Lei- der atemberaubenden Geschwindig- akt jenen Bahnen folgen, die sich nach tung des Max-Planck-Instituts für ex- keit von 8740 Kilometern pro Se- der Relativitätstheorie um ein schwar- traterrestrische Physik hat nun einen kunde näherte und das Objekt in einer zes Loch mit 4,3 Millionen Sonnen- tiefen Blick in das galaktische Zen Entfernung von 13 Milliarden Kilo- massen bewegen. Mit einer Genauig- trum geworfen. Dabei konzentrierten metern passierte – entsprechend dem keit von 0,25 Prozent ist dies die bis- sich die Forschenden um Reinhard 90-fachen Abstand zwischen Sonne her präziseste Massebestimmung. Genzel auf die Vermessung der Um- und Erde. Bisher wurde kein anderer www.mpg.de/18025933 Max Planck Forschung · 4 | 2021
KURZ NOTIERT papageien üben sich in selbstkontrolle Im sogenannten Marshmallow-Ver- auf der Max-Planck Forschungssta- Lieblingsfutter als die Aras. Die such testeten Forschende Anfang der tion im Loro Parque – Animal Em- Bestleistung erzielte ein Graupapagei 1970er-Jahre die Fähigkeit von Kin- bassy in Spanien die Selbstkontrolle namens Sensei, der sich mehr als dern, auf eine Belohnung zu warten, von vier Papageienarten miteinander doppelt so lang in Geduld üben wenn diese mit der Zeit größer wird. verglichen. Die Wissenschaftlerin- konnte wie der geduldigste Ara. Eine Eine solche Impulskontrolle besitzen nen und Wissenschaftler testeten, Erklärung für die Unterschiede neben dem Menschen auch einige wie lange die Papageien dem soforti- könnte sein, dass Selbstbeherrschung Tierarten, darunter Schimpansen, gen Verzehr eines Sonnenblumen- bei den Vogelarten stärker ausgeprägt Kapuzineraffen, Hunde, Tintenfi- kerns zugunsten einer in Aussicht ge- ist, die mehr Zeit in die Futtersuche sche und Krähen. Ein Forschungs- stellten Walnuss widerstehen können. investieren müssen oder die in einem team des Max-Planck-Instituts für Afrikanische Graupapageien warte- komplexeren sozialen Umfeld leben. Ornithologie in Seewiesen hat nun ten im Durchschnitt länger auf ihr www.mpg.de/17802107 Bi l d: M ic h a e l K r a m e r / M PI f R gemeinsame Wurzeln Zur Familie der transeurasischen 14 Sprachen zählen so unterschiedliche Sprachen wie Japanisch, Koreanisch, Tungusisch, Mongolisch und Tür- kisch. Die Herkunft und die Ausbrei- tung dieser Sprachfamilie lagen je- doch lange im Dunkeln. Eine inter- Kosmischer Prüfstand: Das Bild ist eine künstlerische Darstellung des Doppelpulsar- disziplinäre Studie mit Hauptautorin systems PSR J0737-3039 A/B, in dem zwei aktive Pulsare einander in nur 147 Minuten Martine Robbeets, Forschungsgrup- umkreisen. Die Umlaufbewegung dieser Neutronensterne mit extrem hoher Dichte penleiterin am Max-Planck-Institut verursacht eine Reihe von relativistischen Effekten, die über einen Zeitraum von sechzehn für Menschheitsgeschichte, hat nun Jahren exakt vermessen wurden. genetische, archäologische und lin- guistische Belege dafür gefunden, dass sich die Sprachfamilie mit der Und Einstein hat doch Landwirtschaft ausgebreitet hat. Die Daten deuten darauf hin, dass die Ur- wieder Recht sprünge der transeurasischen Spra- chen auf die Anfänge des Hirse Mehr als hundert Jahre nachdem her härtesten Tests überprüft. Dazu anbaus am westlichen Liao-Fluss im lbert Einstein seine Gravitations A untersuchte die Gruppe unter der Nordosten Chinas zurückgehen. theorie veröffentlichte, bemühen sich Leitung von Michael Kramer vom Dort wurde Rispenhirse bereits vor Wissenschaftlerinnen und Wissen- Max-Planck-Institut für Radioastro- neuntausend Jahren angebaut. Die schaftler auf der ganzen Welt weiter- nomie ein einzigartiges Sternpaar mit Sprachfamilie verbreitete sich von hin, mögliche Grenzen der allgemei- extremen Eigenschaften, zwei soge- dort aus zunächst in angrenzenden nen Relativitätstheorie aufzuzeigen. nannte Pulsare, die einander in einem Regionen. Im späten Neolithikum so- Die Beobachtung einer Abweichung Doppelsternsystem umkreisen. An wie in der Bronze- und Eisenzeit ver- von den Vorhersagen dieser Theorie den Messungen waren sieben Radio- mischten sich die Hirsebauern all- würde das Fenster zu einer neuen teleskope auf der ganzen Welt betei- mählich mit Populationen am Gelben Physik öffnen und über unser derzei- ligt. Dabei traten neue relativistische Fluss, im Westen Eurasiens sowie in tiges theoretisches Verständnis des Effekte zutage, die zwar erwartet, nun Japan. Dabei brachten sie auch Wis- Universums hinausgehen. Ein Team aber zum ersten Mal gesehen wurden. sen über den Anbau von Reis und von Forschenden aus zehn Ländern Und: Einsteins theoretische Vorher- Feldfrüchten sowie über die Weide- hat in einem sechzehn Jahre dauern- sage stimmen mit den Beobachtungen wirtschaft mit. den Experiment Einsteins allgemeine zu mehr als 99,99 Prozent überein. www.mpg.de/17999767 Relativitätstheorie mit einigen der bis- www.mpg.de/18012904 Max Planck Forschung · 4 | 2021
KURZ NOTIERT Bulgarien geimpf t Rumänien impf willig Lettl and unentschlossen für Chemie Litauen keine impfbereitschaf t Slowakei Kroatien Slowenien und Life Sciences Estl and Schweiz Polen Von Chemikern für Chemiker – Griechenl and Nutzen Sie das Netzwerk Österreich der GDCh: Gr a f i k : G CO nac h SH A RE - ERIC Tschechien Stellenmarkt – Online und in Z ypern den Nachrichten aus der Chemie Fr ankreich CheMento – das Mentoring Ungarn Programm der GDCh für chemische Portugal Nachwuchskräfte Deutschl and Publikationen rund um die Karriere Luxemburg Sichtbare Bewerbungsseminare und Italien Unterschiede: Eine -workshops Niederl ande Befragung von Jobbörsen und Vorträge Isr ael Menschen der Altersgruppe 50 plus Finnl and zeigt, dass die Schweden Impfbereitschaft in osteuropäischen und A nz e ige Belgien baltischen Ländern Spanien wesentlich geringer ist als in den übrigen Dänemark europäischen Malta Staaten und Israel. 0% 20 % 40 % 60 % 80 % 100 % Wer sind die Ungeimpften? Ein Forschungsteam des Max- dungsniveau spielte eine Rolle: Der Planck-Instituts für Sozialrecht und Anteil der Unentschlossenen und Sozialpolitik hat untersucht, welche Impfverweigerer lag in der Gruppe mit demografischen, sozioökonomischen niedriger und mittlerer Schulbildung und gesundheitlichen Faktoren bei der bei 15 bis 16 Prozent, bei den höher Entscheidung für oder gegen eine Co- Gebildeten jedoch nur bei gut 9 Pro- ronaimpfung eine Rolle spielen. Dazu zent. Personen zwischen 50 und 65 nutzten sie den Survey on Health, Age Jahren lehnten den Impfstoff eher ab ing and Retirement in Europe, der in 27 als ältere Befragte, und das in fast allen europäischen Ländern und Israel re- Ländern. Auch das Geschlecht hatte gelmäßig Daten in der Altersgruppe in den meisten Ländern einen Ein- der über 50-Jährigen erhebt. Auffällig fluss: Frauen waren eher zögerlich als ist, dass in Osteuropa die Impfun Männer. Zudem korrelierte die Impf- sicherheit und -verweigerung deutlich bereitschaft mit der körperlichen Ge- stärker ausgeprägt war als in den ande- sundheit und damit, ob die Befragten ren Regionen. Außerdem ließen sich persönlich Menschen kannten, die Menschen mit geringerem Einkom- schwer an Covid-19 erkrankt waren. men seltener impfen. Auch das Bil- www.mpg.de/17668113 Gesellschaft Deutscher Chemiker Max Planck Forschung · 4 | 2021 www.gdch.de/karriere
Das rechtliche Erbe der Kolonialzeit Die Kolonialisierung ist Geschichte. Doch ihre Nach- wirkungen zeigen sich immer noch als Kolonialität – in der Art und Weise, wie die Welt wahrgenommen, verstanden und beherrscht wird. Ein Beispiel dafür sind europäische Rechtsauffassungen, die nach wie vor weltweit als Maß- stab gelten. Unser Autor fordert eine Abkehr von 16 der eurozentrischen Sichtweise und plädiert für ein neues pluriversales Rechtsverständnis. TEXT: R ALF MICHAELS Im September 2021 erklärte die Weltbank eines ihrer erfolgreichsten Projekte, den Doing Business-Report, für beendet. Seit 2004 hatte man alle Staaten der Welt mithilfe eines Indikatorensystems danach beurteilt, wie wirtschaftsfreundlich sie sind, und in ein Ranking eingeordnet. Gestoppt wurde das Projekt trotz seines Erfolges, nachdem sich heraus- stellte, dass die Bewertungskriterien speziell für China geändert worden waren: Man hatte befürchtet, ein Absinken Chinas in der Tabelle könne die Finanzierung der Weltbank insgesamt gefährden. Nun will die Welt- bank in zwei Jahren ein Nachfolgeprojekt vorstellen. Der Doing Business-Report war ein Projekt von Ökonomen – Rechts- wissenschaftler waren an seiner Erstellung nicht beteiligt. Im Kern war es aber ein juristisches Projekt. Denn die beobachteten Faktoren, welche die Wirtschaftsfreundlichkeit begründen sollten, waren im Wesentlichen solche des Rechtssystems: Wie leicht kann man in Staat X ein Unter- nehmen gründen? Eine Frage des Gesellschaftsrechts, aber auch des Verwaltungsrechts behördlicher Genehmigungen. Wie schnell kann man in Staat Y einen säumigen Mieter aus der Wohnung werfen? Eine Frage des Vertragsrechts und des Zivilprozessrechts. Wie leicht kann man in Staat Z seinen Angestellten kündigen? Eine Frage des individuellen und des kollektiven Arbeitsrechts. Max Planck Forschung · 4 | 2021
ZUR Sache RALF MICHAELS 17 Ralf Michaels studierte Rechtswissenschaften in Passau und Cambridge. Nach Abschluss der juristi- schen Staatsexamen und des Master of Laws (LL.M.) forschte und lehrte er I l lus t r at ion: S oph i e K ett e r e r f ü r M PG siebzehn Jahre an der Duke University School of Law in den USA. Seit 2019 ist Ralf Michaels Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und inter- nationales Privatrecht. Zu- dem hat er Professuren an der Queen Mary University of London und an der Universität Hamburg inne. Seine Forschungsschwer- punkte sind die Rechtsver- gleichung, der Bereich Recht und Globalisierung sowie das internationale Privatrecht und die Privatrechtstheorie. Max Planck Forschung · 4 | 2021
Der Doing Business-Report war auch ein rechtsvergleichendes Projekt, weil er die beobachteten Länder miteinander verglich. Solche Vergleiche zwischen rechtlichen Regelungen verschiedener Länder sind seit jeher ein Kerngebiet der Rechtsvergleichung. Die Hauptaufgabe dieses rechtswis- senschaftlichen Fachgebiets besteht traditionell darin, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen verschiedener Staaten zu erkennen, zu erklären, zu bewerten und vielleicht auch durch Rechts- vereinheitlichung zu überwinden. Darüber hinaus beschäftigt sich die Rechtsvergleichung mit sogenannten legal transplants, der Übernahme von Rechtsregeln von einem Rechtssystem in ein anderes. Dazu gehören etwa die Etablierung des englischen common law in den Ländern des Commonwealth nach deren jeweiliger Unabhängigkeit oder die Reform des Kartellrechts in Mexiko nach dem Modell der Vereinigten Staaten Ende des 20. Jahrhunderts. Insbesondere im Rahmen der Entwicklungs- hilfe bieten sich legal transplants als Mittel der Wirtschaftsförderung an. Man hofft, dass Rechtsregeln, die in reichen Staaten zum Funktionieren der Wirtschaft geführt haben, die wirtschaftliche Entwicklung ärmerer Staaten beflügeln werden. Der Doing Business-Report ist ein Paradebei- spiel dafür: Er definiert sogenannte Best Practices, die anderen Staaten zur Nachahmung empfohlen werden. 18 Eigentlich ist die Rechtsvergleichung auf all das ein wenig stolz. Andere juristische Disziplinen, so meint sie, seien engstirnig und nationalistisch: Sie hielten ihr eigenes nationales Recht für den einzig relevanten Maßstab und wüssten nichts von der Welt. Die Rechtsvergleichung dagegen habe ein Bewusstsein für die Vielfalt des Rechts weltweit. Erst durch das Gegenüberstellen verschiedener Systeme, so ein Credo der Rechtsvergleichung, sei Recht vor dem Hintergrund der Globali- Ruanda galt sierung überhaupt richtig verstehbar. Nur wer sich mit vielen unterschiedlichen Rechtsordnungen befasse, habe ein überlege- als Erfolgs- nes Arsenal möglicher Lösungen. Und Rechtsverbesserung sei ohne Rechtsvergleichung nicht wirklich möglich. story: Das Land stieg im Report Doch es gibt auch Kritik: Lange Zeit beschäftigte sich die Rechts- vergleichung vor allem mit europäischen und nordamerikanischen der Weltbank Rechtsordnungen. Wo sie andere Rechtsordnungen zur Kenntnis nahm, sah sie diese lediglich als minderwertige Kopien ihrer von Platz 139 europäischen Vorbilder: nigerianisches Recht als minderwertiges auf Platz 32 englisches Recht, japanisches Recht als Abklatsch des deut- schen Rechts und so weiter. Implizit, so der Vorwurf des Eurozen- trismus, bestand also eine Hierarchie, mit europäischen Staaten an der Spitze. Dem Doing Business-Report, so scheint es, kann man den Vorwurf des Eurozentrismus dagegen nicht machen. Zwar standen zunächst typische OECD-Staaten wie die USA, Kanada, die Schweiz oder Singapur an der Spitze seines Rankings. Bald jedoch stiegen einige Entwicklungsländer auf. Ruanda etwa galt als Erfolgsstory: Von 2009 bis Max Planck Forschung · 4 | 2021
Zur Sache 2010 bewegte sich das ostafrikanische Land von Platz 139 auf Platz 67; 2014 belegte es Platz 32. Georgien, 2006 noch auf Platz 100, war 2019 das sechstbeste Land im weltweiten Ranking der Wirtschaftsfreund- lichkeit. Gerade weil die Messung neutrale Indikatoren suche, so die Weltbank, helfe sie bei der Überwindung von Vorurteilen zulasten nicht- europäischer Rechtsordnungen. Sie sei daher emanzipatorisch. Genau hier setzt nun die dekoloniale Kritik an. Sie geht davon aus, dass die (europäische) Moderne seit jeher verbunden ist mit der Kolonialität als ihrer untrennbaren Schattenseite. Freiheit, Gleichheit und Wohlstand in Europa gingen nicht nur einher mit Unterdrückung, Ungleichbehandlung und Ausbeutung der Kolonien und ihrer Subjekte: Sie wurden dadurch erst möglich gemacht. Um die Unterdrückung und Aus- Europa und beutung zu legitimieren, musste man die Überlegenheit der Europäer und ihres Denkens behaupten – eine Art historisches die USA regieren Ranking. Und der Maßstab für dieses Ranking wurde seinerseits die Welt weiter- europäischen Wertvorstellungen entnommen, die damit univer- salisiert wurden. Kolonialität bedeutete also eine doppelte Herr- hin in den schaft Europas über den Rest der Welt – nicht nur durch militäri- sche und wirtschaftliche Übermacht, sondern auch durch die Strukturen Macht, das Wissen und Denken zu determinieren. von Wissen und Die Epoche der Kolonialisierung ist Vergangenheit, und aus ehe- 19 Denken maligen europäischen Kolonien sind, mit wenigen Ausnahmen, formal unabhängige Staaten geworden. Doch die Kolonialität ist damit nicht überwunden. Nach wie vor geben Europa und die USA die Standards vor, an denen sich der Rest der Welt messen muss. Euro- päische Werte und Ideen, die aus der spezifisch europäischen Geschichte stammen, eine Form des Kapitalismus, die aus Europa und den USA stammt, werden weiterhin als universal bezeichnet und so dem Rest der Welt übergestülpt. Europa und die USA regieren die Welt nicht mehr poli- tisch, wohl aber weiterhin in den Strukturen von Wissen und Denken. Auf das Recht und die Rechtsvergleichung wurde die dekoloniale Theorie bislang selten angewandt. Aber gerade der Doing Business-Report bietet ein gutes Beispiel dafür, worum es in dem Ansatz geht und was er leisten kann. Es ist schon einmal möglich, dass Länder des Globalen Südens im Ranking erfolgreicher sind als europäische Länder. Der Preis ist, dass diese Länder sich ganz auf die Standards und Erwartungen des Projekts einstellen, die nun einmal europäisch und US-amerikanisch geprägt sind. In Ruanda etwa hat die Umstellung des Wirtschaftssystems auf die Erfor- dernisse des Doing Business-Reports zwar das Ranking verbessert, aber auch zu großer Unzufriedenheit geführt. Ob sich der Anpassungswille der Regierung auszahlt, ist fraglich. Möchte man wirklich lieber in Georgien Geschäfte machen als in den USA, lieber in Aserbaidschan als in Israel, nur weil Georgien und Aserbaidschan im Ranking einmal höher stehen? Max Planck Forschung · 4 | 2021
Letztlich priorisiert der Doing Business-Report eben vielleicht nicht euro- päische Länder, wohl aber implizit europäisches Recht. So wird viel Gewicht auf formale Rechtsregeln gelegt, die in Ländern des Globalen Nordens handlungsleitend sind, anderswo weniger. Wenn die Rechtsver- gleichung Staaten vergleicht, ist sie blind für nichtstaatliches Recht. Lokale Bräuche und Mechanismen zur Streitbeilegung, die im Globalen Süden eine wichtige Rolle spielen, erscheinen als Schwächung des staat- lichen Gewaltmonopols und nicht als alternative, vielleicht sogar überlegene Normen. Das Ranking Wenn der Doing Business-Report Regeln des Globalen Nordens vergleicht als Vorbilder für den Globalen Süden vorschlägt, legt er ein formal selbst- technisches und akulturelles Verständnis von Recht zugrunde. „One size fits all“, hieß es im ersten Doing Business-Report. ständige Diese Herangehensweise unterschätzte die Frage, ob solche Regeln im Globalen Süden funktionieren können – und ob ehe- Staaten, bleibt malige Kolonien, die heute formal unabhängig sind, solchen Regeln der ehemaligen Kolonialmächte unterworfen sein wollen. aber in hohem MaSSe kolonial Ein Projekt wie der Doing Business-Report vergleicht also zwar formal selbstständige Staaten, bleibt dabei aber doch in hohem 20 Maße kolonial. Er fördert die Universalisierung von Rechtsregeln des Globalen Nordens nicht durch politische Rekolonialisierung und gewaltsames Inkraftsetzen solcher Regeln, sondern indem er eine be- stimmte rechtliche Rationalität für allgemeingültig erklärt und mittels eines Rankings zum Maßstab macht. Länder des Globalen Südens werden nicht gezwungen, diese Rationalität zu übernehmen. Aber wenn sie es nicht tun, werden sie im Ranking abgewertet. Das Resultat ist nicht einfach eine Hierarchie, die Länder des Globalen Nordens über solche des Globalen Südens stellt. Stattdessen tritt etwas Perfideres zutage: Die Länder, die die Rationalität des Globalen Nordens übernehmen, stehen allein dadurch über jenen, die das nicht tun. Die Messung gibt sich indes wissenschaftlich neutral und rein deskriptiv. In Wirklichkeit transportiert sie eine starke Normativität in ihr Untersuchungs- objekt: die Normalisierung von Prinzipien des Globalen Nordens. Wie könnte eine dekoloniale Rechtsvergleichung aussehen, die sich dem widersetzt? Der Universalität westlicher Werte und Rechte kann sie die Idee der Pluriversalität entgegensetzen – vereinfacht gesagt: das Konzept einer Welt, innerhalb derer viele Welten möglich sind. In einem Pluriver- sum hätte auch das europäische Recht seinen Platz, aber lediglich als eines von vielen Systemen, ohne den Anspruch allgemeiner Gültigkeit, der ihm derzeit innewohnt. Ein solcher Ansatz ist also nicht antieuropäisch, wohl aber antikolonial und damit auch antiuniversalistisch. Max Planck Forschung · 4 | 2021
Zur Sache Abgekoppelt vom europäischen Universalismus werden auf einmal Optio- nen möglich, die innerhalb der europäischen Sichtweise nicht plausibel erschienen. Eine pluriversale Herangehensweise an das Recht in der Welt würde es etwa möglich machen, auch indigene Ansätze zu beleben, wie beispielsweise die südafrikanische ubuntu oder das südamerikanische buen vivir. Ansätze wie diese stellen oftmals nicht das Individuum mit seinen Rechten in den Mittelpunkt, wie es europäisches und US-amerika- nisches Recht tun, vielmehr betonen sie den Einklang mit der Gemein- schaft und der Natur. Pluriversalität bedeutet nun nicht, dass diese Prinzipien an die Stelle des europäischen Individualismus treten. Denn das wäre nur der Austausch eines Universalismus gegen einen anderen. Wohl aber bedeutet Pluriver- salität, dass europäische und außereuropäische Auffassungen als gleichwertig angesehen werden. Damit wird keineswegs Europas einem moralischen oder rechtlichen Relativismus das Wort ge- redet, in dem jede Rechtsordnung gleichermaßen legitim wäre. Universalismus Das wäre schon deshalb unangemessen, weil auch viele Rechts- ordnungen des Globalen Südens durch Kolonialität geprägt sind. hat uns blind Vermieden werden könnte eine Situation, in der ausschließlich europäische Maßstäbe auf die Rechtsordnungen der gesamten gemacht dafür, Welt angewendet würden. 21 was alles Was das für ein Neudenken des Rechts im Einzelnen bedeutet, möglich wäre bedarf der genaueren Analyse. Aber es scheint klar: Mit einer pluriversalen Welt ist ein Projekt wie der Doing Business-Report, auch in reformierter Form, unvereinbar. Denn es ist nicht akzep tabel, sämtliche Rechtssysteme an einem Maßstab zu messen, der dem Globalen Norden entliehen ist und dessen Rechtsordnungen und Werte privilegiert. Es ist nicht vertretbar, dass durch ein solches Ranking Hierar- chien fortgesetzt und verfestigt werden. Undenkbar ist auch, dass Rechts- ordnungen durch den Zwang zu einem globalen Wettbewerb an einer eigenen Entwicklung gehindert werden. An die Stelle universalistischer Sichtweisen tritt die Hoffnung auf ein wahrhaft plurales Verständnis des Rechts in der Weltgesellschaft, in dem alternative Rechtsmodelle möglich sind und nachhaltige Rechte vielleicht nicht durch einen Verdrängungs- wettbewerb untergehen müssen. Klingt das utopisch? Vielleicht. Aber das liegt sicher auch daran, dass der europäische Universalismus uns blind gemacht hat dafür, was alles mög- lich wäre. Dass wir blind sind, weil die Rechtsvergleichung eben doch letztlich im europäischen Paradigma verhaftet bleibt. Die Hoffnung dekolo- nialer Rechtsvergleichung liegt darin, solche Rechte möglich zu machen, die bislang unmöglich erscheinen. Ohne Ranking. Max Planck Forschung · 4 | 2021
infografik DAS MEER GERÄT AUS DEM GLEICHGEWICHT -97 % 1850 lebten 340 000 Blauwale in den Ozeanen, heute gibt es noch 10 000 dieser Tiere. Das ist ein Rückgang von 97 Prozent. Bevor der Mensch Fischerei und Walfang industriell betrieb, war das Leben in den Ozeanen Gr a f i k : G CO, I l lus t r at ion: Va l e r i A Du m l e r , Ic ons: ISt o c k in Balance: Jede Gewichtsklasse von Lebewesen brachte in etwa die gleiche Biomasse auf die Waage – eine Milliarde Tonnen. Der Grund: Von den kleineren, leichteren Organismen gibt es entsprechend mehr Individuen. So wogen zu Beginn der industriellen Ausbeutung der Meere im Jahr 1850 zum 22 Beispiel alle Fische der Ozeane, die ein Gewicht zwischen Heute 10 und 100 Kilogramm haben, zusammen genauso viel wie das Meeresplankton zwischen 10 und 100 millionstel Gramm. Heute besteht dieses Gleichgewicht nicht mehr. Im Jahr 1850 Max Planck Forschung · 4 | 2021
infografik Fischfang in Mio. Tonnen 120 130 124 109 -66 % 90 88 51 31 Die Meere werden immer leerer: Die Masse der kommerziell ver- wertbaren Fische (> 10 Gramm, 0–200 Meter Tiefe) ist seit 1850 2000 2010 1980 1990 1960 1950 1970 um 66 Prozent gesun- ken. 1996 erreichte die Fischerei ihren Höhe- 23 punkt: 130 Millionen Tonnen Fisch wurden damals aus dem Meer geholt. Seitdem gehen die Mengen trotz immer höheren Aufwands kon- tinuierlich zurück. Max Planck Forschung · 4 | 2021
IM FOKUS IM FOKUS Die Gefühle müssen raus 24 | Wohldosierte Emotionen 32 | Im Netz der Angst 38 | Roboter mit sanfter Hand 24 F o t o: pic t u r e a l l i a nc e / A SSOCI AT E D PRESS / C h a r l e s Dh a r apak Staatsmännisch: Barack Obama als erster afro- amerikanischer US-Präsident knüpfte bewusst an den Stil seiner Vorgänger an. Max Planck Forschung · 4 | 2021
IM FOKUS Wohldosierte Emotionen Text: Mechthild Zimmermann 25 Politische Entscheidungen, so das klassische Dogma, sollten rational und vernünftig getroffen werden, keinesfalls emotional. Doch die Realität sieht von jeher anders aus. Welche Bedeu- tung Gefühle für politische Ereignisse, für den Aufstieg und Fall von Herrschenden haben und hatten, ist das zentrale Thema von Ute Frevert und ihrem Team am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Ihre Erkenntnisse über die Vergan- genheit erhellen auch manch aktuelle Geschehnisse. Max Planck Forschung · 4 | 2021
IM fokus im FOKUS Konträres Gebaren: Der erste Präsident der Vereinigten Staaten, George Washington (links auf dem berühmten Lansdowne Portrait), führte noch aristokrati- sche Traditionen fort. Donald Trump als 45. Präsident brach ge- 26 zielt mit den politischen Konventionen, um Wähler zu mobilisieren, die sich von der bisherigen Elite aus- gegrenzt fühlten. BIL D: Gi l b e rt St ua rt/ Nat iona l P ort r a i t Ga l l e ry Von Angela Merkel wird nach sechzehn Jahren im Kanz- ale Wesen für die Gefühle anderer Menschen interes- leramt sicher eines im Gedächtnis bleiben: ihr nüch- sieren. Weil wir eben keine rationalen Nutzenmaxi- terner, rationaler Stil. Nur selten ließ sie sich dazu hin- mierer sind, wie es viele Wirtschaftstheorien ideali- reißen, ihre Gefühle offen zu zeigen. Und doch sind es siert behaupten. Im Gegenteil: Gefühle spielen überall gerade die emotionalen Momente ihrer Kanzlerschaft, eine Rolle, wo Menschen miteinander zu tun haben, die in der Rückschau hervorstechen: Merkels Torjubel, und damit auch in der Politik. Daher hat vermutlich als die deutsche Nationalelf 2014 Weltmeister wurde, genau die Verbindung von sachorientierter Politik, zu- ihre Entscheidung, syrischen Flüchtlingen in der Not- rückhaltendem Auftreten ohne Selbstdarstellung und lage 2015 die Grenzen zu öffnen, ihre eindringlichen ebenjenen raren, aber ungekünstelten emotionalen Appelle, in der Coronakrise auf Kontakte zu verzich- Momenten Angela Merkel Anerkennung und Ver- ten, um gefährdete Mitmenschen zu schützen, oder trauen in der Bevölkerung eingebracht. die sichtliche Rührung, mit der sie ihren Amtskollegen Emmanuel Macron beim Abschiedsbesuch in Frank- reich umarmte. Warum sind uns diese Emotionen so Gunst gewinnen, Macht sichern wichtig? Reicht es nicht, die politische Linie der Bun- deskanzlerin zu kennen? Warum interessiert es uns, Um genauer zu verstehen, welche Rolle Gefühle in der worüber sie sich freut oder was sie bewegt? Eine erste Politik spielen, lohnt sich ein Blick in die Vergangen- Antwort ist: weil wir Menschen sind und uns als sozi- heit. Auch die historische Forschung hat das Thema Max Planck Forschung · 4 | 2021
IM FOKUS Ute Frevert hat dazu die Entwicklungen seit der Fran zösischen Revolution in den Blick genommen. Der epochale Umsturz, der 1789 in Paris begann, führte zu grundlegenden Änderungen in ganz Europa. Das Volk war mit Macht auf die politische Bühne getreten. Nach der Absetzung und Hinrichtung des französischen Königspaares mussten sich die europäischen Monar- chen um ihre Sicherheit und ihren Herrschaftsan- spruch sorgen. Hier kommt ins Spiel, was Ute Frevert als „Gefühlspolitik“ definiert hat – dass Machthaber sich aktiv darum bemühen, ihre Untertanen emotional für sich einzunehmen: „Gefühlspolitik war eine Mög- lichkeit, die eigene Macht zu sichern“, erläutert Fre- vert. „Macht braucht ‚Fügsamkeit‘, wie es der Sozio- loge Max Weber genannt hat, also die Zustimmung der Beherrschten. Diese Fügsamkeit lässt sich natürlich durch Gewalt herstellen. Es funktioniert aber besser, wenn die Menschen sich freiwillig fügen. Dazu muss man sie überzeugen oder, noch besser, ihnen Ver- trauen einflößen, ihre Zuneigung gewinnen, vielleicht sogar ihre Liebe.“ Könige mussten Bürger hofieren Oloribus. Seque coreptatur rectore dernatia eos repelest, core et as eserumqui ipitis incimus.Liquia sinctiis di apero eum as ipsam que mintionse volecto rerferiaepro occaes ex eum faceperunt eius, nimaior Eine Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, war, den Bür- aborestisimo omnisque volendipsust ex eumquunt des et, tes gern positive Gefühle zu zeigen, sei es in öffentlichen 27 molorerorit, iduciisque volo omnitat qui nemoles tenimaio consequunt, Grußbotschaften, in Bekanntmachungen oder bei per- sönlichen Auftritten. Frevert hat dafür zahlreiche Be- lege gefunden, etwa einen Brief der preußischen Köni- gin Luise, die 1798 an ihren Bruder schrieb: „Ich F o t o: REU T ERS/ D OMINIC K REU T ER werde alles anwenden, um ohne Zwang die Liebe der Untertanen durch Höflichkeit, zuvorkommendes We- sen, Dankbarkeit […] zu gewinnen und zu verdienen.“ Für die hohen Damen und Herren war die Inszenie- rung ihrer Volksliebe nicht immer erquicklich, wie ein weiterer Brief zeigt, den Luise 1794, damals noch Kronprinzessin, an ihren Mann richtete. Anlass war eine Einladung des Thronfolgerpaares zu Kaffee und Emotionen lange Zeit vernachlässigt. Dass sich das seit Kuchen bei der Potsdamer Schützengilde. „Denk Dir einigen Jahren ändert, ist ganz wesentlich ein Ver- nur, was für eine reizende Vergnügungspartie uns dienst von Ute Frevert, Direktorin am Max-Planck-In- heute erwartet“, schreibt sie süffisant. „Was bleibt uns stitut für Bildungsforschung in Berlin. „Wer wissen also übrig, wir müssen, wollen wir oder nicht, uns will, wie es kommt, dass sich Menschen vergesellschaf- schmoren lassen und vielleicht sogar toll werden, um ten, dass sie gemeinsame Ziele entwickeln und verfol- die Ehre zu haben, den Bürgern die cour zu machen.“ gen, dass sie sich aber auch wieder entzweien, getrennte Die Herrschenden fühlten sich verpflichtet, ihrem Wege gehen, sich verfeinden und einander Schaden zu- Volk den Hof machen. fügen, kann Gefühle und deren Gestaltungskraft nicht geringschätzen“, begründet die Historikerin ihren An- Die Anekdote zeigt dabei auch die andere Seite der Ge- satz. Die Ergebnisse ihres Forschungsbereichs zeigen, fühlspolitik, die Ute Frevert in ihrer Forschung eben- dass viele Aspekte der Geschichtsschreibung in neuem falls betont: „Die Bürger sind ja keine passiven Emp- Licht erscheinen, wenn Emotionen wie Angst, Wut und fänger emotionaler Botschaften und reagieren auf die Hass, aber auch Hoffnung, Vertrauen und Mitleid in Signale von oben nicht per se mit Wohlwollen, sondern die Analysen einbezogen werden. So lässt sich beispiels sie haben Erwartungen, Vorlieben, vielleicht sogar weise beleuchten, wie sich das Verhältnis zwischen Volk Forderungen. Und da liegt das Risiko für den Herr- und Regierenden in der Vergangenheit entwickelt und scher: Wer um die Liebe der Bürger wirbt, kann schei- gewandelt hat. tern. Und er signalisiert auch noch, dass er es nötig hat. Max Planck Forschung · 4 | 2021
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