Aufbruch in die Moderne - HALLETHEMA 2019 - Halle (Saale)
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IHK: DIE ERSTE ADRESSE! FÜR IHREN ERFOLG MACHEN WIR UNS STARK. Die Industrie- und Handelskammer Halle-Dessau ist die branchenübergreifende Selbstverwaltungsorganisation von 55.000 Mitgliedsunternehmen im süd- lichen Sachsen-Anhalt. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts hat sie den gesetzlichen Auftrag, das Gesamtinteresse aller Gewerbetreibenden ihres Bezirks − ausgenommen der Handwerker − zu vertreten. kritischer Partner der Politik unabhängiger Anwalt des Marktes kundenorientierter Dienstleister Industrie- und Handelskammer Halle-Dessau Franckestraße 5, 06110 Halle (Saale), Telefon: 0345 2126-0, info@halle.ihk.de, www.halle.ihk.de
Grußwort Liebe Leserinnen und Leser, Halle (Saale) ist aktuell eine Stadt im Auf- bruch – wir erleben regelrecht ein kleines Wirtschaftswunder. Komplette Stadtteile sind im Wandel oder entstehen ganz und gar neu. Faszinierenderweise lassen sich zahlreiche Pa- rallelen zum Aufbruch der 1920er Jahre fin- den, wenngleich die Umwälzungen, die Halle (Saale) seinerzeit erlebt hat, freilich ungleich größer waren: Aus einer Kleinstadt wurde ab der Mitte des 19. Jahrhunderts binnen weni- ger Jahrzehnte eine Großstadt – mit aufblü- hendem kulturellen Leben, pulsierender In- dustrie und aufsehenerregenden städtebauli- chen Akzenten. Das vorliegende Themenheft »Halle 2019 – Mein Dank geht an dieser Stelle auch an die Aufbruch in die Moderne« führt Sie zurück in Autorinnen und Autoren: Ihre Texte haben das jene aufregende Zeit. Ich verspreche eine Ziel erreicht, wenn sie Sie, liebe Leserinnen spannende Lektüre, bei der natürlich auch be- und Leser, neugierig gemacht und in der Folge sagte Bereiche – Kultur und Wirtschaft als vielleicht sogar Ihr Interesse geweckt haben, Motoren der Stadtentwicklung – eine tragen- sich tiefer gehend mit dem einen oder ande- de Rolle spielen. So werden die Facetten des ren Thema auseinanderzusetzen. In diesem Themas »Aufbruch in die Moderne« exempla- Sinne wünsche ich eine anregende Lektüre. risch an den Beispielen der Lettiner Porzellan- fabrik und der damaligen halleschen Kunstge- Herzlich werbeschule Burg Giebichenstein gezeigt. Die Dreieinigkeitskirche in Halle-Süd wird bei- Dr. Bernd Wiegand spielhaft für das neue Bauen vorgestellt. Tat- Oberbürgermeister sächlich dürften Kenner der Stadtgeschichte auf interessante Details und auch Personen stoßen, etwa auf Willy Dietrich, der in den 1920er Jahren Intendant des damaligen Halle- schen Theaters gewesen war. 1
Grußwort Liebe Leserinnen und Leser, das Veranstaltungsformat HalleThema verbin- det alljährlich interessante Angebote, Ausstel- lungen und Veranstaltungen hallescher Ak- teure aus Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft. Stand im vergangenen Jahr mit »Moderne und Revolution« bereits eine für die Entwicklung unserer Stadt prägende Zeit im Fokus, so wid- met sich im Jahr des Bauhausjubiläums das HalleThema 2019 »Halle und die Moderne« auf neue und andere Weise dieser für die Stadt- und Gesellschaftsentwicklung so be- deutenden Epoche. Nach dem Ersten Weltkrieg stehen die Jahre voller Kunst, ja neuem Kunstsinn. Neue Rhyth- der Weimarer Republik zwischen krisenge- men und Tänze, Musik von der Schallplatte, schüttelter, industriell geprägter Modernität, vom Grammophon oder zunehmend aus dem optimistischer Wahrnehmung kultureller Radio, Werbung, Kinofilme, neue Bilder- und Avantgardeleistungen, sozioökonomischen Klangwelten, Jazz, Klassik von Oper bis Operet- Neuerungen und Verwerfungen. Innere Wi- te, Varieté, Sport und Sportbegeisterung, Mas- dersprüche zeigten sich in den Jahren der senfreizeit, aber auch okkultische Sitzungen, »klassischen Moderne« auch in Halle (Saale) in Geistersehen, Aberglauben und Kritik daran, der Polarisierung der Gesellschaft; so ging es Lebensreformbewegungen – alles schien mög- letztlich auch auf kommunaler Ebene um So- lich in einer arbeitsteiligen Industriegesell- zialpolitik und -fürsorge sowie um das Bemü- schaft voll überbordender Kreativität und Lust hen, die Lebenssituation und Chancen der Be- an natürlicher, unversehrter Körperlichkeit völkerung zu verbessern. Neues Bauen, Hygie- oder gegenständlicher Funktionalität. ne, Stadt- und Verkehrstechnik, Bildung und Die Beiträge im diesjährigen Themenheft wol- Erholung, Kunst und Wissenschaft bestimm- len Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, diese ten schon die Betätigungsfelder kommunalen Zeit vergegenwärtigen. An vergangene Leis- Handelns in den 1920er Jahren. Die rasant fort- tungen der Moderne in Halle (Saale) soll ex- schreitende Modernisierung und Rationalisie- emplarisch erinnert, auf Erhaltenes aufmerk- rung der Produktionsprozesse beschleunigten sam gemacht werden. Darüber hinaus finden den sozialen Wandel, folgten teilweise einem Sie Hinweise auf weitere ausgewählte Jubilä- technischen Machbarkeitswahn, dessen Ver- en im Themen- und Bauhausjahr 2019. sprechen sich allzu häufig nicht erfüllten. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. Es wuchs eine Sehnsucht nach Unbefangen- heit, nach Freizeit und Amüsement, Ablenkung Dr. Judith Marquardt und Unterhaltung, aber auch nach anspruchs- Beigeordnete für Kultur und Sport 2
Inhalt Halle 2019 – Aufbruch in die Moderne 4 NEUES BAUEN und NEUES SEHEN in Halle 52 Das Trauma T. O. Immisch Die völlige Entwertung des Geldes Ulf Dräger 14 Halle (Saale) 1923–1929 Kurze Bemerkungen zum vorüber- 58 Neues Bauen gehenden Aufschwung dieser Stadt Die Dreieinigkeitskirche der Prof. (em.) Dr. Peter Hertner Franziskaner in Halle-Süd Matthias Schwenzfeier 18 Das Wirtschaftsleben in der Stadt Halle (Saale) nach dem 64 Spurensuche – Gedenktage Ersten Weltkrieg und der Weltwirt- bedeutender Persönlichkeiten, schaftskrise 1929 Einrichtungen und Unternehmen Danny Bieräugel Die Wendezeit im Fokus des Ministeriums für Staatssicherheit 22 Aufbruch und Moderne am Beispiel Dr. André Gursky der Lettiner Porzellanfabrik Volkshochschule »Adolf Reichwein« Dr. Walter Müller Gabriele Behr 200 Jahre Sparkasse 28 Halle in den 1920er Jahren 200 Jahre Thüringisch-Sächsischer Athleten, Sportlerinnen und Vereine in Verein für Geschichte und Altertums- Zeiten der polarisierenden Moderne kunde Prof. Dr. Stefan Lehmann Dr. Walter Müller Die Erweiterung der Salzniederlage 34 Willy Dietrich vor dem Klaustor Ein ehrlicher Makler der Kunst Dr. Uwe Meißner Margrit Lenk Christoph Semler und die Astronomie Dirk Schlesier 40 Künstlerischer Aufbruch in die Moderne Die hallesche Kunstgewerbeschule 90 Ausgewählte Veranstaltungen 2019 Burg Giebichenstein im Überblick Dr. Angela Dolgner 3
NEUES BAUEN und NEUES SEHEN in Halle T. O. Immisch Fotografiehistoriker In den zwanziger Jahren des vergangenen kannten Ausmaßen. Auch in Halle als einem Jahrhunderts sollte alles neu werden, sein: Zentrum des mitteldeutschen Industriere- die Neue Frau, die Neue Musik, der Neue Tanz viers und Verkehrsknotenpunkt wirkten sich usw. Wovon bis heute vieles erhalten bzw. diese Veränderungsprozesse nachhaltig aus. von Einfluß bis in die Gegenwart ist, sind vor Neu im Baugeschehen und damit charakte- allem das Neue Bauen, die damals neue Ar- ristisch für das Neue Bauen war vor allem, chitektur und das Neue Sehen einer neuen daß es kostengünstig sein und meist Mini- Generation von Fotografen. malanforderungen genügen mußte. Wichtige Mit Kriegs- und unruhiger Nachkriegszeit im Konzepte waren der Kleinwohnungsbau und Jahrzehnt von 1914 bis 1923 waren viele bis das Wohnen, die Wohnung für das Existenz- dahin selbstverständlich erschienene Ord- minimum. Für die Architektur der Zeit bedeu- nungen, Werte und Gegebenheiten fragwür- tete dies unter anderem, daß die Gebäude- dig geworden oder weitgehend weggefallen. struktur häufig von innen nach außen entwi- Zu den politischen Veränderungen – parla- ckelt wurde, gern kubische oder gebogene mentarische Republik statt konstitutioneller Baukörper entworfen wurden, meist glatte Monarchie – kamen weitere beträchtliche Fassaden und Flach- oder Pultdächer verwen- Veränderungen der gesellschaftlichen, sozia- det wurden. Dazu finden sich erste Ansätze len und kulturellen Verhältnisse. Deutschland industriellen und seriellen Bauens, teils mit war verarmt und bis Mitte des Jahrzehnts von vorgefertigten Teilen und der verstärkte Ein- Krisen gezeichnet. Zur allmählichen Bewälti- satz von Stahl und Beton. Gemeinsam war gung dieser Situation wurden seitens der allen diesen Bestrebungen der Verzicht auf Länder, Kommunen und Gewerkschaften be- Stil sowohl im Sinne des Historismus, der his- trächtliche Anstrengungen unternommen, torische Stile imitierte oder mischte wie im um die soziale und kulturelle Lage besonders Sinne der Stilkunst um 1900, des Jugendstils der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums mit seinem Willen zum Stil in ganz verschie- zu verbessern. Neben Gesetzesänderungen, denen Ausprägungen, etwa Materialstil, Hei- etwa zur Beschränkung der Arbeitszeit, betraf matstil, Landhausstil usw. Deshalb wurde für das ab Mitte der zwanziger Jahre vor allem das Neue Bauen, das auch in den Niederlan- einen sozialen Wohnungsbau mit Wohnanla- den, der Schweiz und der Sowjetunion prä- gen und Siedlungen von bis dahin kaum ge- gend wurde, der (Hilfs-)Begriff des Internati- 6
onal Style gefunden. Die Formierungsphase bichenstein lehrende Hans Finsler ins Spiel: des Neuen Bauens liegt in den Jahren 1923 Von ihm stammte auf der »FiFo« der dritt- mit dem Haus am Horn, gebaut für die erste größte Beitrag nach denen von Moholy-Nagy Bauhausausstellung in Weimar und 1926 mit und Sasha Stone. dem Bauhausgebäude Dessau und der Wei- Die Fotografie des Neuen Sehens umfaßt ßenhofsiedlung des Deutschen Werkbundes, zwei Hauptrichtungen, eine experimentelle, errichtet 1927. verfahrensbezogene (Hauptvertreter Moholy- Die Formierungsphase des Neuen Sehens der Nagy) und eine gegenstandsbezogene, be- Neuen Fotografen ist dagegen zeitlich etwas tont sachliche (Hauptvertreter Albert Renger- versetzt. Sie beginnt 1925 mit dem Bauhaus- Patzsch). Finslers Werk gehört zu letzterer, buch 8 »Malerei Photographie Film« von Lász- Experimente sind darin die Ausnahme. ló Moholy-Nagy und findet ihren Höhepunkt In seinem grundlegenden Essay zu Finslers 1929 mit der Werkbundausstellung »FiFo« – Werk und Werdegang »Der Blick auf die Din- Film und Foto – in Stuttgart, welche die da- ge. Hans Finsler, Photographien 1926–1932« mals aktuellen Tendenzen und Entwicklungen gibt Bruno Thüring eine bündige Definition der internationalen Fotografie und Filmkunst der Arbeitsweise und -mittel dieser Neuen präsentierte. Zur Ausstellung erschienen zwei Fotografen: »Die von ihnen angewandte Bild- Publikationen: »Foto-Auge« von Franz Roh sprache kennzeichnet folgende Merkmale: und Jan Tschichold sowie »Es kommt der neue Fotograf!« von Werner Graeff. Hier kommt der Cröllwitzer Brücke, 1928 in Halle an der Kunstschule auf der Burg Gie- 7
scharfe und präzise Wiedergabe, Ausschnitt- haftigkeit anstelle der Totalen, Abkehr von der statischen, horizontalen Perspektive zu- gunsten eines dynamisierten, polyvalenten Blickwinkels – von der Froschperspektive bis zur ›Flugzeugimpression‹ –, die nuancierte Wiedergabe fein abgestufter Tonwerte, die Betonung von Hell-Dunkel-Kontrasten sowie der Miteinbezug experimenteller Praktiken wie Doppelbelichtung, Negativabzug und Photogramm.«1 Linke Seite oben links: Wasserturm, Detail, Oktober 1929 oben rechts: Wasserturm, von Südosten, Oktober 1929 unten links: Wasserturm mit Telegraphenmast, Frühling 1929 unten rechts: Wasserturm, Detail von unten gesehen, Frühling 1929 9
Vorige Seite oben rechts: wahl seiner frühen Bilder 1969 in Rapperswil Wasserturm durch Decke, von oben, Oktober 1929 hat er sich zu seinen Anfängen als Fotograf unten links: Wasserturm innen, Treppenraum, Oktober 1929 anschaulich geäußert unter der Überschrift »Mein Weg zur Fotografie«: unten rechts: Wasserturm innen, von unten nach oben, Oktober 1929 »Fotografie habe ich nicht erlernt. Vielleicht habe ich sie ererbt von meinem Grossvater, der Fotograf war. Er lebte bereits, als die Fotografie Hans Finsler (1891 Heilbronn – 1972 Zürich) erfunden wurde. Ich bin Zürcher von Geburt war als Fotograf Autodidakt. Er studierte zu- (1891), studierte nach der Matur zuerst Archi- nächst Architektur in Stuttgart, dann Kunst- tektur und wurde in München unter dem Ein- geschichte in München. 1921 ging er nach fluss von Fritz Burger mit der modernen Kunst Halle, um dort bei seinem Lehrer Paul Frankl bekannt. Während des ersten Weltkrieges ging zu promovieren. Für den Lebensunterhalt ich zur Kunstgeschichte über und erhielt von fand er eine Anstellung als Bibliothekar und Heinrich Wölfflin entscheidende Einsichten in Lehrer für Kunstgeschichte an der Kunsthand- die Bildbetrachtung und Bildanalyse. 1922 kam werkerschule auf der Burg Giebichenstein. ich als Bibliothekar und Lehrer für Kunstge- Anläßlich einer Ausstellung mit einer Aus- schichte an die Kunstgewerbeschule Burg Gie- bichenstein in Halle, eine Schule, die im Wett- bewerb mit dem Bauhaus nach neuen Gestal- tungsmitteln suchte. Es kamen eine Reihe von Schülern und Lehrern vom Bauhaus nach Halle. Ich fragte mich dort: Wie muss man Dinge fo- tografieren, die nach bestimmten formalen Gesetzen entstanden sind? Vor meinen Versu- chen wurden diese Dinge von einem Berufs- fotografen unsachgemäss nach der damals üblichen Schablone fotografiert. Meine ersten Versuche existieren nicht mehr. Sie wurden abgelehnt, auch innerhalb der Schule. Sie waren zu ungewohnt. Aber Foto- grafie in Verbindung mit den aufzunehmen- den Dingen wurde für mich zu einer faszinie- renden Entdeckung. Hätte ich eine fotografi- sche Lehre absolviert, wäre ich nie zu den glei- chen Ergebnissen gekommen. Zwangsweise wurde ich Fotograf. Schüler kamen, es entstand die erste Klasse für Sachfotografie an einer Kunstgewerbeschule. Wasserturm, Ausstieg aus Wendelschacht, Oktober 1929 Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg bedeute- ten auf vielen Gebieten einen Neubeginn. Man 10
fragte nach den Grundlagen. Man fragte zum Wasserturm, Ausstieg aus Wendelschacht, Oktober 1929 Beispiel: Was ist ein Haus? Was ist ein Stuhl? Was ist Farbe?« 2 Finslers Antworten auf seine Fragen sind die Fotografien, Sach- und Architekturaufnah- Charakteristisch für Finslers Architekturfoto- men, die er 1926 bis 1932 in Halle schuf. grafie ist, daß er häufig nicht einzelbildorien- Seine Sach- und Produktfotos entstanden zu- tiert arbeitet wie andere wichtige Architektur- nächst vor allem für die »Burg«, die sie auch fotografen der Zeit, etwa Werner Mantz in für Werbezwecke verwandte (diese Aufgabe Köln oder Max Krajewski in Berlin, sondern se- wurde zunehmend von den Schülern der Foto- riell. Das heißt, er bewegt sich fotografierend klasse übernommen), sodann für eine ganze um die Bauten herum und durch sie hindurch. Reihe von Firmen und Institutionen, etwa WMF Mittels der so erreichten Mehransichtigkeit oder den Deutschen Werkbund. Die umfäng- vermittelt der Fotograf ein sowohl komplexe- lichste Werkgruppe aus Finslers Zeit in Halle res wie differenzierteres Bild seiner jeweiligen sind seine Architekturaufnahmen sowohl von Gegenstände. In einigen Fällen, bei freistehen- historischen wie von modernen, zeitgenössi- den Bauwerken, konnte er beide Ansätze – das schen Bauten. Sie entstanden mehrheitlich im Umschreiten wie das Durchschreiten der Ge- Auftrag verschiedener städtischer Ämter: Ju- bäude glücklich verbinden. Drei davon, eine gend-, Hochbau-, Verkehrs- und Nachrichten- Brücke, ein Turm und ein Glashaus werden im amt, teils als Dokumentation, teils für lokale Folgenden exemplarisch vorgestellt. Publikationen von Büchern über Zeitungen Die Giebichensteinbrücke wurde 1926 bis und Zeitschriften bis hin zu Postkarten. 1928 gebaut, entworfen von Clemens Vacca- 11
Flughafenrestaurant, 1931 no – Konstruktion und Paul Thiersch – Gelän- Der Wasserturm Süd am Lutherplatz, entwor- der, Lampen und Treppen. Thiersch schlug fen von Wilhelm Jost und Oskar Muy wurde auch Gerhard Marcks für die Gestaltung der 1927/28 zusammen mit der daneben stehen- beiden monumentalen Brückenfiguren vor, den Umformerstation errichtet. Beide Bauten ein Pferd auf der Stadt- und eine Kuh auf der waren nötig geworden wegen der südlichen Landseite Richtung Kröllwitz. Die Ausführung Stadterweiterung dieser Zeit, so die Wohnan- der Plastiken besorgte der Bildhauer Josef lagen am Lutherplatz und am Johannesplatz Gobes nach Marcks‘ Entwürfen. und die Siedlung Vogelweide. Finsler beschäftigte sich 1928 mit den Auf- Finsler fertigte im Frühjahr und im Herbst nahmen des Bauwerks. Er fotografierte die zwei Aufnahmeserien davon, zunächst von Brücke von verschiedenen Aufnahmeorten außen, im Oktober vom Inneren des Turms. an beiden Seiten des Flusses aus, nahm sie Die Außenansichten zeigen ihn von verschie- von oben, von unten und von der Seite auf denen Standorten aus und aus unterschied- und kam zu verschiedenen Diagonalkompo- lichen Entfernungen sowie mit variierten sitionen. Von den sechs überlieferten Foto- Aus- und Anschnitten. Auf einigen Bildern grafien betonen fünf das Dynamische der steht der Turm frei, auf anderen sehen wir ihn Brückenbögen, die für den Fotografen defini- im Detail oder teilweise verdeckt vom Umfor- tive Variante verdeutlicht für ihn aber vor al- mergebäude. Mit einer Ausnahme vermeidet lem die Funktion und das Wesen des Baus: der Fotograf stark stürzende Linien. Am ver- »Die Brücken gehören zu den wichtigsten Kon- blüffendsten ist die Aufnahme mit dem Zie- struktionen des Menschen zur Überwindung gelmauerwerk unten vor dem Turm und den natürlicher Hindernisse. Die Brücke ist die Wolken hinter ihm, die die Assoziation eines räumliche Verbindung zweier fester Punkte Schiffes erzeugt – die Mauer als Bug, der Turm oder Auflagen. In dieser Aufnahme wird der als Schornstein und die Wolke als Rauch dar- Raumeindruck erzeugt durch die Diagonale aus. (Anklänge an Elemente des Schiffbaus des Bilds, das stark von oben aufgenommen kommen in der Architektur der Zeit gelegent- werden konnte. Die Fläche des Flusses entsteht lich vor.) Die Innenaufnahmen zeigen entwe- durch das Boot, der Zweck der Brücke durch der den Raum zur Gänze, aus extremer Unter- einen Fußgänger. Die Aufnahme ist das Ergeb- oder Draufsicht, die Kreisform der spiralig nis tagelanger Versuche.« 3 aufgehängten Kugellampen leicht aus der 12
Flughafenrestaurant, Obergeschoß, Nordseite, 1931 Mitte gerückt oder konstruktive Details des Wiederum fotografiert Finsler zunächst um Baus, verknappt und rabiat angeschnitten das Haus herum, dann hinein bis hin zu Aus- wiederum aus Drauf- und Untersicht. stattungsdetails. Er schreitet von einer Fron- Das Restaurantgebäude des Flughafens Hal- talansicht zu einer leichten Schrägsicht zum le-Leipzig, errichtet 1930/31, entspricht von Eingang, nimmt die Treppe zum Restaurant den drei gezeigten Beispielen am meisten auf und dieses selbst, einmal streng symmet- den Prinzipien des Neuen Bauens mit seinem risch und einmal asymmetrisch, isoliert foto- Flachdach, den Glasfassaden, der sichtbaren grafisch eine der Lampen und zeigt den Raum Stahlbetonkonstruktion im Inneren und sei- mit zugezogenen Vorhängen, ein perfekter ner prismatischen Kubatur. Entworfen wurde Rundum- und Durchgang. es von Hans Wittwer, seit 1929 Leiter der Alles in Allem läßt sich über Finslers hallesche Architekturklasse an der »Burg«. Davor war er Architekturfotografie in den Jahren um 1930 Assistent von Hannes Meyer am Bauhaus in sagen, daß die Stadt Glück hatte mit ihrem Dessau. An der Gestaltung und Ausstattung Fotografen und er mit der Stadt. 1932 ging er des Baus waren weitere Klassen bzw. Lehrer an die Kunstgewerbeschule Zürich. der Schule beteiligt: Die Tönung der großen Scheiben entwickelte die Malklasse von Er- win Hass, die Lampen entwarf Karl Müller, 1 Hans Finsler: Neue Wege der Photographie, Leiter der Metallwerkstatt, Vorhänge, Tisch- Hrsg. Klaus E. Göltz, Theo Immisch, Peter Romanus decken und Servietten wurden in der Textil- und Axel Wendelberger, Leipzig 1991, S. 67. klasse von Benita Koch-Otte gewebt und das 2 Hans Finsler: Mein Weg zur Fotografie, Geschirr entwarf Marguerite Friedlaender, Pendo Verlag Zürich 1971, zitiert in: siehe Anmer- Leiterin der Porzellanwerkstatt, hergestellt in kung 1, S. 292. der Staatlichen Porzellanmanufaktur Berlin. 3 Siehe Anmerkung 1, S. 203. 13
Halle (Saale) 1923–1929 Kurze Bemerkungen zum vorübergehenden Aufschwung dieser Stadt in schwierigen Zeiten Prof. (em.) Dr. Peter Hertner Die folgenden kurzen Bemerkungen stützen Beide Texte sind vergleichsweise umfang- sich auf knappe Auszüge aus dem Band »Le- reich, nur ganz geringe Teile aus ihnen kön- benserinnerungen eines deutschen Oberbür- nen deshalb hier vorgestellt werden. Die fol- germeisters« von Richard Robert Rive, Stutt- genden ausgewählten Beispiele stammen gart 1960. Rive hatte die Stadt Halle an der aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Saale von 1906 bis 1933 in dieser Funktion ge- Rive war in einer deutschen, nach Neapel aus- leitet. Zweite Quelle ist das Buch »Die halli- gewanderten Familie 1864 geboren worden, sche Stadtverwaltung«, 1906–1931, Halle wuchs aber nach dem Tod des Vaters und der (Saale) 1931, verfasst im selben Jahr von dem Rückkehr der Mutter nach Schlesien im Jahr Historiker Erich Neuss, der damals das Amt 1868 in Breslau auf. Hier ging er zur Schule, des Stadtarchiv- und Bibliotheksdirektors von absolvierte ein Jurastudium an der dortigen Halle ausübte. Universität, promovierte und wurde mit 30 Jahren Teilhaber in einer großen Breslauer Anwaltsfirma. Ende 1899 wurde Rive als be- soldeter Stadtrat Mitglied des Breslauer Ma- Halle, Gartenvorstadt Gesundbrunnen, gistrats. 1906 wählte man ihn in Halle (Saale) Modellbebauungsplan (Ausschnitt), 1928 zum Oberbürgermeister. Er trat damit in ein Amt ein, das er insgesamt sehr erfolgreich bis zum Frühjahr 1933 ausüben sollte. Schon während der ersten acht Jahre bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges gelang es Rive, eine Reihe von überfälligen, zum Teil aber auch gänzlich neuen Problemen in der Stadt Halle, Gartenvorstadt Gesundbrunnen, Lageplan, 1927 14
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Halle und in ihrem Umland einer Lösung zu- dem halleschen Norden wurde während des zuführen. Erwähnt sei hier nur ganz kurz der ersten Weltkrieges und unmittelbar danach von Rive schon in den ersten Wochen seiner von der Stadtverwaltung noch weiter nach Tätigkeit – nach Überwindung der Anfangs- Norden verlegt, wo man beispielsweise bei schwierigkeiten – begonnene »Umbau« der Trotha für den Schiffstransport auf der Saale städtischen Verwaltung, mit dessen Hilfe de- einen Hafen ausbaute, der jahrzehntelang – ren Effizienz verbessert werden sollte, was über die Zwischenkriegszeit und den Zweiten auch in den meisten Fällen gelang. Bereits ein Weltkrieg hinweg – seine regionale Bedeu- Jahr nach dem Amtsantritt von Rive in Halle tung beibehalten konnte. ließen sich bei der Modernisierung der Stadt, »Die schlimmste und auch in ihrer Dauer beispielsweise bei der Arbeit der Baudeputa- hartnäckigste Not war nach dem Kriege die tion, klare Fortschritte erkennen. Ein weiteres Wohnungsnot«, schreibt Rive in seinen Le- Feld mit langfristiger Wirkung bot beispiels- benserinnerungen, die er nach seinem Aus- weise der schrittweise Erwerb von großen scheiden aus dem halleschen Oberbürger- Teilen der »domänenfiskalischen Ländereien meisteramt in den Jahren nach 1933 verfasst des Amtes Giebichenstein« im Norden der hat. Er fährt an dieser Stelle fort: „Die Knapp- Stadt Halle, insbesondere der an der Saale heit an Lebensmitteln wich nach Jahr und liegenden Burgruine. Die Ausdehnung nach Tag ausreichender Versorgung und die Ar- beitslosigkeit nahm in Halle erst 1929 be- drohlichere Formen an. Anders die Woh- Kranverladung im Hafen nungsnot. Von den Anfängen der städtischen Halle-Trotha, um 1930 Wohnungs- und Wohnungsbaupolitik bis zu ihren Riesenleistungen der Nachkriegszeit ist zeitlich und sachlich ein weiter Weg. Für die Stadt war es ein Glück, dass die Bebau- ung, die bald ungeahnte Maße annahm, im Stadtgebiet ebenso wie in Nachbarkreisen, wenn sie in diese vorstoßen musste, nach systematisch ausgearbeiteten Bau- und Sied- lungsplänen durchgeführt werden konnte. Ebenso, dass es niemals an dem erforderli- chen Grund und Boden zum Wohnungsbau fehlte. Die Fürsorge der Stadt vor dem Kriege fand jetzt ihre stärkste Rechtfertigung, sie wurde zum Segen in der Not nach dem Krie- ge. Immer war die Stadt in der Lage, den Bau- grund unter günstigen Bedingungen zur Verfügung zu stellen und damit zu verbilli- gen. Auf solchem Boden steht heute der größte Teil der neuen Wohnstadt von Halle mit fast 9000 Wohnungen, die allein in den 16
Jahren 1919 bis 1930 geschaffen worden sind, und mit Stadtteilen von einer solchen Vollen- dung des Aufbaus und der Anlage, wie z. B. die Gartenstadt Gesundbrunnen.« In nicht wenigen Fällen vergleichbar mit Ri- ves Lebenserinnerungen, die wie angegeben, aber erst 1960 in Westdeutschland veröffent- licht wurden, ist das bereits im Jahr 1931 von Erich Neuss in Halle in Druck gegebene Buch über Die Hallische Stadtverwaltung, das »statt eines Vorwortes« beginnt mit einem kurzen Auszug aus der Ansprache von Robert Richard Rive »an die hallischen Stadtverord- Schiffe im Hafenbecken neten am 2. April 1906«, also ganz am Beginn Halle-Trotha, um 1935 von dessen Amtszeit. Das Buch von Neuss ist vor allem aufschlussreich, weil es aus einer ren. Von großem Interesse sind besonders anderen, aber keinesfalls gänzlich verschie- auch die Seiten, die dem Wohnungsbau und denen Perspektive die Ergebnisse der Verwal- der Wohnungsbaupolitik in Halle zwischen tung der Stadt Halle am Ende des 19. und im 1923 und ungefähr 1930 gewidmet sind, die ersten Drittel des 20. Jahrhunderts darstellen vor dem Hintergrund eines raschen städti- will. Es ist das Buch eines Historikers, das schen Wachstums gesehen werden müssen. ganz auf Halle konzentriert bleibt und des- Beide hier ganz kurz erwähnten Beiträge zur halb nicht so weit ausholen muss wie Rive. Es Geschichte Halles im ersten Drittel des 20. ist auch das Buch eines Jüngeren – Neuss Jahrhunderts sind von einer Qualität, um die wurde erst 1899 geboren – mit zwangsläufig sie andere deutsche Städte dieser Größe be- geringerer Lebenserfahrung, aber dennoch neiden können. Es wäre der Stadt und der mit einem erstaunlich scharfen Blick auf die Geschichtswissenschaft zu wünschen, dass Vorgänge in der Saalestadt. Als besonders Vergleichbares auch zu den folgenden Jahr- informativ wird der Leser – neben den präzi- zehnten in Angriff genommen wird. sen Ausführungen über die hallesche Sozial- politik vor und nach dem Ersten Weltkrieg – den Beitrag von Neuss in diesem Band über »die Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke der Stadt« einschließlich der »Straßenbahnfra- ge« empfinden. Damit werden immerhin 75 Weiterführende Literatur: Jahre städtischer Infrastrukturpolitik abge- Thomas Brockmeier/ Peter Hertner (Hg.): Menschen, deckt. Vom Thema her ganz anders, aber le- Märkte & Maschinen. Die Entwicklung von Industrie und mittelständischer Wirtschaft im Raum Halle (Saale). senswert und informativ sind im Übrigen die Halle 2007. Ausführungen von Neuss zur Museumspoli- Kerstin Küpperbusch: Von der Mietskaserne zur tik in der Stadt Halle in der Zeit kurz vor dem Gartenvorstadt. Siedlungs- und sozialer Wohnungsbau Ersten Weltkrieg und in den zwanziger Jah- während der Weimarer Republik in Halle. Halle 2010. 17
Das Wirtschaftsleben in der Stadt Halle (Saale) nach dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise 1929 Danny Bieräugel IHK-Konjunkturreferent Die Auswirkungen des Krieges Kriegsgegner hatten die deutsche Wirtschaft Halle (Saale) hatte sich nach der Jahrhun- von ausländischen Rohstoffen und Märkten dertwende zu einem bedeutenden Wirt- abgeschnitten und begrenzten so die Wachs- schafts- und Verkehrszentrum in Mittel- tumsmöglichkeiten. Auftragsrückgänge im deutschland entwickelt. Die Wirtschaft in der Auslandsgeschäft trafen etwa den in Halle Region war jedoch in den beginnenden (Saale) angesiedelten Maschinenbau. Die Un- 1920er Jahren stark vom zurückliegenden ternehmen stellten Spezialmaschinen für ersten Weltkrieg 1914 bis 1918 und dessen den Bergbau, die Zuckerindustrie, aber auch Folgen geprägt. Um diesen Krieg führen zu für Bäckereien her. können, wurde nahezu die gesamte Wirt- Nach den für diese Zeit nur spärlich verfüg- schaftsleistung Deutschlands benötigt. Im baren Statistiken blieb die Produktion wäh- Ergebnis hatte das Deutsche Reich die Pro- rend des Krieges zwar weitgehend konstant, duktion auf kriegswichtige Güter umgestellt. Dies führte zusammen mit einer Blockade Struktur der deutschen Wertschöpfung durch die Kriegsgegner bei der Versorgung nach Wirtschaftsbereichen der Zivilbevölkerung während des Krieges zu Engpässen bis Anteile am Nettoinlandsprodukt 1910 bis 1913 hin zu Hungersnöten. 1925 bis 1929 Wer die weitere Entwicklung 45% 41% der halleschen Wirtschaft in den 1920er Jahren verstehen will, muss zunächst auf die 23% ökonomische Entwicklung im 16% Krieg schauen. Die nominale 9% 10% 9% 12% Wirtschaftsleistung – gemes- sen am Bruttosozialprodukt Land- und Industrie- und Handel, Banken, sonstige – war nach Kriegsbeginn Forstwirtschaft Handwerk Versicherungen Dienstleistungen deutlich abgefallen. Denn die 18
das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt je Das Kriegsende 1918 brachte für die Unter- Einwohner lag bei umgerechnet ca. 6.000 nehmen einen abermaligen Umbruch. Die US-Dollar. Hinter der vermeintlichen Stabili- Produktion musste wieder auf zivile Waren tät verbirgt sich aber eine deutliche Ände- umgestellt werden. Ein gutes Beispiel dafür rung der Wirtschaftsstruktur im Deutschen war eine vormalige hallesche Munitionsfab- Reich. Aufgrund der spezifischen Anforderun- rik, die nun unter dem Namen Reimer & Fabel gen des Krieges verschoben sich die Anteile Milchzentrifugen herstellte. Allerdings hat- des Sozialproduktes von der Landwirtschaft ten besonders die Industriebetriebe zum Teil auf die industrielle Produktion und die erheblich unter den Auflagen und Restriktio- Dienstleistungen. nen der Siegermächte zu leiden. Überdies Das zeigte sich auch in der Region Halle mit waren Produktionsmittel und Rohstoffe leistungsfähigen Böden für industrielle Nah- knapp. Demzufolge ging das Bruttoinlands- rungsmittelproduktion und der noch jungen produkt Deutschlands nach 1918 zunächst Chemieproduktion. Wegen der günstigen stra- deutlich zurück. Innere Unruhen durch die tegischen Lage – Mitteldeutschland war da- Revolution und entsprechende Arbeitskämp- mals vor feindlichen Angriffen geschützt – war fe verhinderten eine schnelle Erholung zu- die kriegswichtige Chemieproduktion in be- sätzlich. nachbarten Orten wie Bitterfeld oder Leuna angesiedelt worden. In Halle (Saale) selbst wa- ren vor allem mittelständische chemische und Kraftwerk Trotha, 1926 pharmazeutische Unternehmen ansässig. 19
In der Folge nahmen die Unternehmens- 1923 bei sagenhaften 4,2 Billionen Mark. konzentrationen zu – im Maschinenbau, aber Für den Bankensektor in der Stadt Halle (Saa- auch in der für den mitteldeutschen Raum le) brachten die 1920er Jahre deshalb einen seit dem 19. Jahrhundert bedeutenden Rüben- deutlichen Umbruch: War die Kreditwirt- zuckerindustrie. Die Unternehmen konnten so schaft vor dem Krieg noch durch kleinere ei- ihre Kosten senken. Schon 1921 schlossen sich genständige Institute geprägt, brachten Zu- mehr als 30 Rohrzuckerfabriken aus der Regi- sammenschlüsse und Übernahmen kleinerer on zur Vereinigung mitteldeutscher Rohrzu- Bankhäuser die großen Berliner Institute auf ckerfabriken (VEMIRO) mit Sitz in Halle (Saa- den halleschen Geldmarkt. le) zusammen. Durch weitere Übernahmen Die Geldentwertung wirkte sich unmittelbar und einen Zusammenschluss mit der Vereini- auf die Preise vieler Güter und auch die Löhne gung anhaltischer Zuckerproduzenten ent- aus. Das lähmte die Wirtschaft zunehmend stand ein Konzern, der rund 30 Prozent aller und an Investitionen war trotz hoher Nach- deutschen Zuckerfabriken umfasste. frage kaum zu denken. In der Region Halle Hinzu kam, dass die Deutschland mit dem Ver- stieg die Zahl der Erwerbslosen deutlich und sailler Vertrag ebenfalls auferlegten Reparati- auch die Konkurse nahmen zu. onszahlungen die Inflation der Reichsmark befeuerten. Ab 1922 explodierte sie geradezu. Der Kurs des Dollars lag 1918 noch bei rund sechs Papiermark, 1922 im Jahresdurchschnitt Entwicklung der Wertschöpfung in Deutschland schon bei rund 1.900 Mark und im Dezember Quelle: Maddison Project Reales Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner in US-Dollar zum Kurs von 2011 in Preisen von 2011 9.000 1928 8.500 1930 8.000 1913 1931 7.500 1926 1922 7.000 1907 1932 1903 1914 1924 6.500 1918 1900 1916 6.000 5.500 1920 1923 5.000 1919 4.500 4.000 20
Neuanfang und einige „Goldene“ Jahre Wohnsiedlungen am Stadtrand vor – Raum Erst die Währungsreform im November 1923 für die wachsende Zahl der Arbeiter und An- beendete die Hyperinflation. In der Folge gestellten. Von der Nähe zur Zuckerindustrie stieg das Bruttosozialprodukt und damit profitierten nicht zuletzt die halleschen Scho- auch Produktion und Beschäftigung wieder koladenhersteller, die bekannteste – wenn an. In der Region Halle war – wie überall in gleich nicht die einzige – David-Mignon, das Deutschland – ein starkes Wachstum zu ver- Unternehmen stellte die Hallorenkugeln her. zeichnen. Die Zeit von 1924 bis 1928, dem Vorabend der Die zwischenzeitlich stärker verbreiteten Weltwirtschaftskrise, war auch geprägt von technischen Innovationen wie Elektrogeräte einem Aufschwung verbunden mit einem und Automobile erforderten insbesondere starken Optimismus, der durch technische In- eine leistungsfähige Industrieproduktion. Da- novationen und das neue Sozialsystem beför- von profitierten die Region Halle und die im dert wurde. Der wirtschaftliche Wohlstand Umkreis angesiedelte Braunkohleförderung, ermöglichte einen Aufschwung bei Kunst und da sie als Produktions- und Energierohstoff Kultur: Die Kunstsammlung der Moritzburg benötigt wurde. So stieg die Gewinnung von stieg in die erste Liga der deutschen Museen Kohle im »Thüringisch-Sächsischen Braun- auf, im Varietétheater Walhalla am Steintor kohlenbezirk« von 30,1 Mio. Tonnen im Jahr traten bekannte Kleinkünstler auf – ein Hauch 1913 auf 48,4 Mio. Tonnen im Jahr 1926. Damit von »Goldenen Zwanzigern« in Halle (Saale). kamen 35 Prozent der deutschen Braunkohle- Diese endeten in Deutschland ebenso wie in förderung aus der Region. vielen anderen Teilen der Welt mit dem An der Stromerzeugung aus festen Brenn- schwarzen Donnerstag am 24. Oktober 1929. stoffen (im Wesentlichen Braunkohle) im Die guten Jahre hatten international zu Über- Deutschen Reich hatte 1925 die preußische treibungen an den Finanzmärkten geführt Provinz Sachsen, in der die Region Halle lag, und erhebliche Kapitalmittel fehlgelenkt. Das mit 2,72 Mrd. kWh einen Anteil von 18 Pro- Platzen dieser Spekulationsblase wirkte auch zent. Nur die preußischen Rheinprovinzen auf die realen Märkte zurück und löste eine waren seinerzeit noch bedeutsamer in der Weltwirtschaftskrise aus. In Deutschland wa- Elektrizitätswirtschaft. ren die öffentlichen Haushalte aufgrund der Die soziale Revolution, die regional sehr stark Reparationsverpflichtungen und einem ge- von gewerkschaftlichen Kräften geprägt war, ringen Ansehen bei ausländischen Gläubi- verbesserte auch die Arbeitsbedingungen der gern nicht in der Lage, der Krise zu begegnen. Beschäftigten. Sie erhielten erstmals einen Dies führte zu einem vergleichsweise starken Jahresurlaub, es wurden Sozialkassen einge- Einbruch – auch in Halle (Saale). führt und der Lohn stieg. Das führte neben einem industriellen Aufschwung auch zu Zu- Weitergehende Ausführungen insbesondere wächsen bei Handel und Dienstleistungen zur Wirtschaftsentwicklung in den verschiedenen sowie dem Wohnungsbau der Stadt. Die städ- Branchen finden sich in: Thomas Brockmeier/Peter Hertner (Hrsg.): Menschen, tische Bauwirtschaft profitierte davon, dass in Märkte und Maschinen. Die Entwicklung von Industrie Halle (Saale) umfangreich gebaut wurde. Ein und mittelständischer Wirtschaft im Raum Halle (Saale), städteplanerischer Gesamtplan sah neue Halle (Saale) 2007 21
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Aufbruch und Moderne am Beispiel der Lettiner Porzellanfabrik Dr. Walter Müller Ende 1858 gründete Heinrich Baensch (1830– Brennerei-Arbeiter, Schlämmerei- und Müh- 1911) im unweit von Halle gelegenen Saalkrei- lenarbeiter, Kapseldreher, Porzellan-Packer sort Lettin eine Porzellanfabrik. 1950 wurde sowie Hofarbeiter, deren Wochenlohn zwi- das Dorf nach Halle eingemeindet. Heinrich schen 10 bis 20 Mark lag. Die darunter als Baensch hatte in Berlin Porzellandreher ge- »Acordarbeiter« beschäftigten konnten sogar lernt und sich vor allem in Schlesien prakti- 15 bis 25 Mark verdienen. sche Kenntnisse in der Steingut- und Porzel- Um 1900 und in den Jahren danach konnte lanherstellung angeeignet. Zunächst wurde bis auf eine Absatzflaute zwischen 1908 und nur Weißporzellan als Tafelgeschirr herge- 1911 der Export Lettiner Porzellans deutlich stellt und Hauptabsatzgebiet war vor allem gesteigert werden. Hauptexportregionen die nähere Umgebung. Mit dem Bau des und Länder waren England und dessen Kolo- zweiten Brennofens um 1868 wurde auch das nien, Nordamerika (vor allem die USA), Nord- Bemalen des hergestellten Porzellans aufge- europa sowie Griechenland. 1903 erhielt die nommen. Noch bis 1876 erfolgte der Waren- Lettiner Porzellanfabrik von Heinrich Baensch absatz ausschließlich in Deutschland. Laut auf der Gewerbe-Ausstellung in Athen eine Jahresbericht der Handelskammer zu Halle Goldene Medaille für ihre Produkte verliehen. a. d. S. 1882 wurden »Tafelgeschirre, weiss und Im ältesten bisher bekannten »Preis-Verzeich- dekorirt, auch unter Musterschutz gestellte nis der Porzellan-Manufaktur von Heinrich Luxusgegenstände für In- und Ausland« Baensch in Lettin bei Halle/S.« von 1903/1904 produziert. 1873 beschäftigte die Porzellan- wurde damit gleich für die Qualität des Letti- manufaktur bereits 32 Mitarbeiter, deren Zahl ner Porzellans geworben. sich bis 1883 »auf durchschnittlich 50« stei- Im Bericht an die Handelskammer im Dezem- gerte. Im Jahr 1876 gehörten dazu etwa schon ber 1907 konnten schon 110 Arbeiter aufge- zwei bis drei Porzellanmaler, Dreher, Former, führt werden, von denen immerhin 29 ge- lernte Arbeiter waren, die schon als Lehrlinge in der Fabrik angefangen hatten. Mit dem Be- Dekors von Ludwig Hohlwein, Jugendstildose mit Kirschen malen des Porzellans waren damals schon vier Porzellanmaler ganzjährig beschäftigt. 23
Nach dem Tod des voll zu. Aber eigenes Firmengründers Betriebsvermögen für Heinrich Baensch notwendige Modernisie- am 3. Februar 1911 wurde rungen und Produktanpas- der Betrieb von seinem Sohn sungen bzw. Neuentwicklun- Alfred Baensch (1873–1942) gen stand nur sehr begrenzt zur weitergeführt. Dieser war be- Verfügung. Alfred Baensch ver- reits von seinem Vater zu Studi- suchte in den Jahren 1927 bis 1930 enzwecken in zahlreiche euro- über die Leipziger Messe wieder päische Länder, vor allem Eng- verstärkt in das Exportgeschäft land und Frankreich, geschickt einzusteigen. Diese Jahre stellen worden, um vor allem das Ex- für die Lettiner Porzellanfabrik portgeschäft weiter zu die wohl innovations- entwickeln. Bedingt Vase in Baensch Rot, Art Dèco, kaum Goldabrieb; reichste und künstle- Unterglasurmarke: 1900–1931 in blau durch ungünstige Zeit- risch produktivste Zeit umstände war dies je- dar und rechtfertigen doch zunächst nur begrenzt möglich. So kam die Titelwahl für den Beitrag »Aufbruch und kriegsbedingt durch den Ersten Weltkrieg Moderne«. Dazu wurden u. a. 1927/28 zwei zwischen Mitte 1914 bis Ende 1918 der Export aufwendig gestaltete neue Firmenkataloge von Lettiner Porzellan nahezu vollständig zum mit künstlerisch hochwertigen Farbtafeln her- Erliegen und in der Weimarer Republik hatte gestellt, die mehrere Jahre Gültigkeit hatten. die Lettiner Porzellanfabrik in den Jahren Weiterhin gelang es Alfred Baensch mehrere 1925/26 wirtschaftlich schwer zu kämpfen. Im deutschlandweit angesehene Künstler auf Jahresbericht der Industrie- und Handelskam- Honorarbasis für die Gestaltung moderner mer zu Halle 1926 steht dazu verallgemeinert: Formen und vor allem neuer Dekors zu gewin- »Die im Bezirk vertretene Porzellanherstel- nen. Anfänge dazu lassen sich bereits unter lung litt im Jahre 1926 weiter unter dem im seinem Vater erkennen. So entwarf zum Bei- Vorjahr eingeleiteten wirtschaftlichen Nieder- spiel der bedeutende deutsche Plakatkünstler, gang. Der Kundenkreis zeigte sich im Einkauf Grafiker, Maler und Designer Ludwig Hohl- äußerst zurückhaltend. Das allgemeine Bild wein (1874–1949) zwischen 1903 und 1909 konnte auch nicht durch eine scheinbare zeit- mehrere Jugendstildekore für die Lettiner Por- weilige Besserung gegen Jahresende geän- zellanfabrik, die man rechtlich schützen lies. dert werden. Obwohl Deutschland eine leis- Produziert wurden diese im sogenannten Be- tungsfähige und künstlerisch auf der Höhe reich »Luxusporzellan« in Lettin vor allem für stehende Porzellanindustrie hat, war es äu- das Exportgeschäft auf Dosen und Bonbonni- ßerst schwierig, auf dem Auslandsmarkt wie- eren wohl noch bis in die 1920er Jahre. Die der festen Fuß zu fassen. Wie viele der mittle- Lettiner Porzellanfabrik stellte sich speziell ren und kleinen Industrien, so litt die Porzel- unter der Leitung von Alfred Baensch vor al- lanindustrie unter mangelhafter Zurverfü- lem in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre gungstellung von langfristigen Krediten.« künstlerisch dieser Entwicklung inmitten des Dies traf auch auf die Lettiner Porzellanfabrik generellen Aufbruchs der Klassischen Moder- 24
ne, bei der die gestalterische Verbindung von Künstlerisch gehörte die zu den kleineren Eleganz der Form, Kostbarkeit der Materialien, Porzellanfabriken in Deutschland zählende Stärke der Farben und Sinnlichkeit des The- Lettiner Porzellanfabrik von Alfred Baensch in mas im Vordergrund stand. Vieles davon war der Zeit des Aufbruchs in die Moderne zwei- schon im Jugendstil angelegt. Eine Neuheit felsfrei mit zu den führenden Herstellern im für Lettin waren auch die erstmals im Messe- Bereich der Porzellanfabrikation im Deut- katalog 1927/28, Farbtafel XI vorgestellten schen Reich. Ebenfalls wurden zwischen 1927 plastischen Tiergruppen (Hundegruppe, Scha- und 1930 ältere noch im Lager vorhandene le mit Eisbären, Schale mit Füchsen) bzw. die Weißporzellane mit zeitgemäßen Dekors be- Putten mit Schale, die Schale mit Traubenes- malt. Aber auch die bekannten Firmenpro- ser, die Schlangenbändigerin sowie die Mas- dukte in den Traditionsfarben der Lettiner kenballszene. Derartige Tier- bzw. Figuren- Porzellanfabrik wie »Baensch-Rot« und Ko- gruppen hatte die Lettiner Porzellanfabrik in balt wurden zunehmend mit modernen De- den Jahren zuvor gar nicht im Sortiment. Diese koren versehen. basierten überwiegend auf Entwürfen des be- Damit konnte die Zahl der Beschäftigten in deutenden Designers/Modelleurs Hans Kie- der Lettiner Porzellanfabrik zwar bis 1929 auf weg für die Kunstabteilung der Porzellanfabrik 200 gesteigert werden, wozu etwa fünf bis Fraureuth aus dem Jahre 1919 und wurden ab sieben Porzellanmaler, mehrere Porzellandre- 1927 auch im Lettiner Werk produziert. Die her und -former, Porzellanbrennerei-Arbeiter, 1866 gegründete Porzellanfabrik Fraureuth im Schlämmerei- und Mühlenarbeiter, Kapsel- gleichnamigen Ort war ein Hersteller von Ge- dreher, Porzellanpacker und Hofarbeiter ge- brauchs- und Zierporzellan. Sie musste 1926 hörten. Wirtschaftlich waren diese Arbeits- Konkurs anmelden. Alfred Baensch muss es plätze jedoch keinesfalls sicher. also gelungen sein, zumindest einige der For- Der Anteil des Exportgeschäfts an der Letti- men aus der Konkursmasse zu erwerben und ner Porzellangesamtproduktion konnte in deren Produktion in hoher Qualität auch in der dieser Zeit zwar auf 5 bis 20 % gesteigert Lettiner Fabrik zu realisieren. Zum Beispiel zeigt die Art Déco Schale drei Eisbären an ei- Keksdose, Art Déco; nem Wasserbecken (Höhe: 14 cm, Breite: 35 cm) Unterglasurmarke: 1927–1931 in grün in absolut naturgetreuer Ausarbeitung und die Ausformung ist von sehr hoher künstleri- scher Qualität. Zwar beschäftigte die Lettiner Porzellanmanufaktur bis Anfang der 1930er Jahre noch keinen eigenen hauptamtli- chen Designer bzw. Modelleur, aber auch die im Betrieb be- schäftigen Porzellanmaler schei- nen zahlreiche der umgesetzten modernen Dekore in der Art Déco- Zeit geschaffen zu haben. 25
werden, war aber im wesentlichen kreditvor- 26 ausländische Firmen und deren Vertreter finanziert und damit äußerst krisenanfällig. Kaufinteresse für die in überwiegend neuen Die Hauptexportländer waren Frankreich, Formen, Dekoren und modernen Design (Art England, Spanien, die Tschechoslowakei, Nord- Déco) angebotenen Lettiner Gebrauchs- und und Südamerika. Das Exportgeschäft wurde Luxusporzellane, aber Abschlüsse konnten jedoch durch die starke tschechische und ja- keine getätigt werden. Damit hatte zwar Alf- panische Konkurrenz und damit gedrückte red Baensch mit seiner Firma künstlerisch den Preise, hohe Zollsätze des Auslandes, sowie Höhepunkt in der Herstellung von Lettiner die damals vorherrschenden verlängerten Gebrauchs- und vor allem Luxusporzellanen, Zahlungsfristen bis zu mehreren Monaten er- die durchaus auf dem internationalen Porzel- schwert. Um überhaupt im Auslandsgeschäft lanmarkt konkurrenzfähig waren, Anfang der noch erfolgreich zu sein, musste die Ge- 1930er Jahre erreicht; wirtschaftlich stand das schäftsführung der Lettiner Porzellanfabrik Unternehmen jedoch sehr schlecht da. Der außerdem starke Preiskonzessionen akzeptie- notwendige Absatz für die hochwertigen Let- ren, was zwangsläufig zu einer nur sehr gerin- tiner Porzellanerzeugnisse und damit die er- gen Gewinnspanne führte. Die damit verbun- forderliche Umsatzsteigerung konnten nicht denen negativen Auswirkungen zeigten sich realisiert werden. besonders nach der im Oktober 1929 mit dem Schon zu Beginn der Weltwirtschaftskrise las- New Yorker Börsencrash ausbrechenden Welt- tete auf der Lettiner Porzellanfabrik ein er- wirtschaftskrise. Auf der Leipziger Herbstmes- heblicher Schuldenberg. Allein die Sparkasse se 1930 bekundeten zwar 79 inländische und des Saalkreises hatte mit 130 000 Reichsmark und der Tierarzt Dr. Paul Meyer aus Salzmün- de mit 80 000 Reichsmark den Firmeninha- Firma Baensch, Messekatalog 1927/28, Farbtafel IX ber Alfred Baensch Hypotheken gegeben, um die Erweiterung des Inland- und Exportge- schäfts durch neue Innovatio- nen und eine Teilmodernisie- rung der Produktionsanlagen vorzufinanzieren. In der Zeit der Konjunktur konnten die dafür erforderlichen hohen Zinsen erwirtschaftet werden und die Fabrik einen leichten Gewinn erzielen. In der Welt- wirtschaftskrise aber konnte die Lettiner Porzellanfabrik je- doch dem Wettbewerbsdruck anderer Marktteilnehmer auf dem eng umkämpften Porzel- lanmarkt trotz eines moder- nen Sortiments an Gebrauchs- 26
und Luxusprozellanen – wie viele andere und führte die Porzellanproduktion bis 1945 Porzellanbetriebe – nicht lange standhalten. fort. Ab 1940 wurden dabei in Lettin zuneh- Mit der Umwandlung der seit 1. Juli 1906 mend Elektroteile aus Porzellan, hauptsäch- noch von Heinrich Baensch eingetragenen lich Flugzeug- und U-Bootsicherungen, herge- bestehenden Betriebsform der Firma als stellt. Erstmals 1944 konnte die Porzellanfab- Offene Handelsgesellschaft hatte Alfred rik Lettin GmbH seit der Gründung 1935 einen Baensch am 15. Januar 1931 sich als persönlich Gewinn erwirtschaften. Zu dieser Zeit entfie- haftender Gesellschafter im Handelsregister len nur noch etwa 20 % der Produktion auf die eintragen lassen und damit versucht, durch Herstellung von Gebrauchs- , Zier- bzw. Luxus- den Einsatz seines Privatvermögens die Letti- porzellan und rund 80 % waren Rüstungsauf- ner Porzellanfabrik und die Arbeitsplätze der träge, vor allem Porzellansicherungen ver- damals rund 200 Beschäftigten noch zu ret- schiedenster Art. Positiv ist dabei zu bemer- ten. Am 21. Januar 1931 musste Alfred Baensch ken, dass seit dem ersten Konkurs im Januar jedoch Konkurs anmelden und wurde damit 1931 trotz aller finanziellen Probleme und selbst bettelarm. Seine Villa in Lettin (Stadel- kaum erfolgten Investitionen zwischen 1931 berg 9) ging neben der Firma und weiterem und 1945 die Produktion in der Lettiner Porzel- recht umfangreichen Grundbesitz in Lettin lanfabrik nahezu durchgehend aufrechterhal- und der näheren Umgebung in die Konkurs- ten werden konnte und rund 100 bis 150 Ar- masse und wurde Eigentum des Hauptgläubi- beitsplätze durchschnittlich in dieser Zeit ge- gers, der Sparkasse des Saalkreises. Alfred sichert werden konnten. Baensch starb im 70. Lebensjahre stehend am Ab 1. April 1946 wurde die Porzellanfabrik Let- 26. Januar 1942 als armer, einsamer Privat- tin unter Zwangsverwaltung durch die Provinz mann in einer kleinen Mietwohnung in der Sachsen gestellt. Von 1948 bis zur Schließung Dölauer Zechenhausstraße 6. der Produktionsstätte in Lettin am 31. Dezem- Um die Porzellanfabrik Lettin und damit die ber 1990 und anschließender Beräumung des Porzellanfabrik im Ort als größten Arbeitge- Werksgeländes wurde durch den volkseigenen ber für den Ort und die Umgebung vielleicht Betrieb (VEB) Porzellanwerk Lettin Halle/Saale doch noch zu retten, bildete sich aus den im Ort Porzellan hergestellt. Hauptgläubigern ein Konsortium das die Zum Jahreswechsel 1990/1991 endete damit Firma fortführte und diese am 7. Juli 1931 in nach der Betriebsgründung Ende 1858 eine eine Aktiengesellschaft mit dem Namen »Por- über 130jährige Firmengeschichte. Heute zellanfabrik Lettin, vormals Heinrich Baensch werden unter der 2008 von dem hallischen AG.« umwandelte. Durch die hohe Hypothe- Arzt und Nuklearmediziner Thomas Steuber kenlast hatte die Aktiengesellschaft keinen erworbenen Marke »Lettiner Porzellan« in langen Bestand. Nach mehreren Interimslö- limitierter Auflage wieder exklusive Objekte sungen übernahm schließlich 1935 die Wick- aus Porzellan, vor allem Künstler-Medaillen, mann-Werke AG in Witten-Annen für 40 000 Kleinplastiken und ausgewählte Einzelstücke Reichsmark mit dem gesamten Inventar und hergestellt. Diese werden meist von halli- allen Liegenschaften den Betrieb. Am 30. März schen Künstlern entworfen und gestaltet. 1936 wurde die Aktiengesellschaft »Porzellan- fabrik Lettin« in eine GmbH umgewandelt 27
Halle in den 1920er Jahren Athleten, Sportlerinnen und Vereine in Zeiten der polarisierenden Moderne Prof. Dr. habil. Stefan Lehmann Leiter des Archäologischen Museums der MLU Halle-Wittenberg, i. R. Vor 100 Jahren, kurz nach dem Ende des Ers- mit einem Schwerpunkt in der Leibeserzie- ten Weltkrieges und der Novemberrevolution, hung wuchs sich der Zuspruch zum Sport zu tagte ab Anfang Februar 1919 die verfassung- einer Massenbewegung aus. Allerdings hatte gebende Nationalversammlung im Deut- sich bereits vor dem Weltkrieg ein wettkampf- schen Nationaltheater in Weimar. orientierter moderner Sportbetrieb heraus- Diese Gelegenheit nutzte der Dachverband gebildet, in dem sich schnell unterschiedliche des Sports in Deutschland zur politischen Ein- Sport- und Wettkampfdisziplinen differen- flussnahme, indem Vertreter des »Deutsche zierten und neu etablierten. Die zahlreich Reichsausschusses für Leibesübungen« (DRA) vorhandenen Vereine organisierten sich in der Nationalversammlung eine Denkschrift übergreifenden Sportverbänden, und insge- überreichten. In dieser waren sieben Forde- samt erfreute sich der Sport eines wachsen- rungen zu Leibesübungen, Turnen, Spiel und den und großen Zuspruchs in der Bevölke- Sport formuliert, die in Bälde gesetzlich gere- rung. Allerdings kann für die Zeit vor dem gelt werden sollten: Ersten Weltkrieg noch nicht von einem Mas- 1. Bau von Übungsstätten und Sportplätzen; sencharakter der Sportbewegung gesprochen 2. Sportpflicht an den Schulen; 3. Turnunter- werden. So zählten etwa die Deutsche Tur- richt auch an den weiterführenden Schulen; nerschaft ca. 1,4 Millionen und die Arbeiter- 4. Tägliche Sportstunde; 5. Beibehaltung der Turn- und Sportbewegung etwa 400.000 Sommerzeit; 6. Staatliche Finanzunterstüt- Mitglieder. Frauen zung für die Vereine sowie 7. Schaffung und und Jugendliche wa- Ausbau staatlicher Ämter für Leibesübungen ren generell deutlich und Sport. unterrepräsentiert. Die vorgebrachten Forderungen mündeten dann zwar nicht in entsprechende Gesetze, Otto Blankenstein, von 1904–1919 doch verbesserte sich die Situation für den Vorstandsmitglied des Sport und seine Stätten in den 1920er Jahren Saale-Regattavereins spürbar. Unter den neuen politischen Bedin- und seit 1921 Leiter der Kanu-Abteilung des gungen der Weimarer Republik sowie durch Rudervereins Böllberg die Reformbestrebungen in der Pädagogik 28
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