Aufbruch in die Moderne - HALLETHEMA 2019 - Halle (Saale)

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Aufbruch in die Moderne - HALLETHEMA 2019 - Halle (Saale)
HALLETHEMA 2019 Aufbruch in die Moderne

              HALLETHEMA 2019

in die Moderne
       Aufbruch
Aufbruch in die Moderne - HALLETHEMA 2019 - Halle (Saale)
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Die Industrie- und Handelskammer Halle-Dessau ist die branchenübergreifende
Selbstverwaltungsorganisation von 55.000 Mitgliedsunternehmen im süd-
lichen Sachsen-Anhalt. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts hat sie den
gesetzlichen Auftrag, das Gesamtinteresse aller Gewerbetreibenden ihres
Bezirks − ausgenommen der Handwerker − zu vertreten.

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Aufbruch in die Moderne - HALLETHEMA 2019 - Halle (Saale)
Grußwort

Liebe Leserinnen und Leser,

Halle (Saale) ist aktuell eine Stadt im Auf-
bruch – wir erleben regelrecht ein kleines
Wirtschaftswunder. Komplette Stadtteile sind
im Wandel oder entstehen ganz und gar neu.
Faszinierenderweise lassen sich zahlreiche Pa-
rallelen zum Aufbruch der 1920er Jahre fin-
den, wenngleich die Umwälzungen, die Halle
(Saale) seinerzeit erlebt hat, freilich ungleich
größer waren: Aus einer Kleinstadt wurde ab
der Mitte des 19. Jahrhunderts binnen weni-
ger Jahrzehnte eine Großstadt – mit aufblü-
hendem kulturellen Leben, pulsierender In-
dustrie und aufsehenerregenden städtebauli-
chen Akzenten.

Das vorliegende Themenheft »Halle 2019 –           Mein Dank geht an dieser Stelle auch an die
Aufbruch in die Moderne« führt Sie zurück in       Autorinnen und Autoren: Ihre Texte haben das
jene aufregende Zeit. Ich verspreche eine          Ziel erreicht, wenn sie Sie, liebe Leserinnen
spannende Lektüre, bei der natürlich auch be-      und Leser, neugierig gemacht und in der Folge
sagte Bereiche – Kultur und Wirtschaft als         vielleicht sogar Ihr Interesse geweckt haben,
Motoren der Stadtentwicklung – eine tragen-        sich tiefer gehend mit dem einen oder ande-
de Rolle spielen. So werden die Facetten des       ren Thema auseinanderzusetzen. In diesem
Themas »Aufbruch in die Moderne« exempla-          Sinne wünsche ich eine anregende Lektüre.
risch an den Beispielen der Lettiner Porzellan-
fabrik und der damaligen halleschen Kunstge-       Herzlich
werbeschule Burg Giebichenstein gezeigt. Die
Dreieinigkeitskirche in Halle-Süd wird bei-        Dr. Bernd Wiegand
spielhaft für das neue Bauen vorgestellt. Tat-     Oberbürgermeister
sächlich dürften Kenner der Stadtgeschichte
auf interessante Details und auch Personen
stoßen, etwa auf Willy Dietrich, der in den
1920er Jahren Intendant des damaligen Halle-
schen Theaters gewesen war.

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Aufbruch in die Moderne - HALLETHEMA 2019 - Halle (Saale)
Grußwort

Liebe Leserinnen und Leser,
das Veranstaltungsformat HalleThema verbin-
det alljährlich interessante Angebote, Ausstel-
lungen und Veranstaltungen hallescher Ak-
teure aus Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft.
Stand im vergangenen Jahr mit »Moderne und
Revolution« bereits eine für die Entwicklung
unserer Stadt prägende Zeit im Fokus, so wid-
met sich im Jahr des Bauhausjubiläums das
HalleThema 2019 »Halle und die Moderne«
auf neue und andere Weise dieser für die
Stadt- und Gesellschaftsentwicklung so be-
deutenden Epoche.
Nach dem Ersten Weltkrieg stehen die Jahre        voller Kunst, ja neuem Kunstsinn. Neue Rhyth-
der Weimarer Republik zwischen krisenge-          men und Tänze, Musik von der Schallplatte,
schüttelter, industriell geprägter Modernität,    vom Grammophon oder zunehmend aus dem
optimistischer Wahrnehmung kultureller            Radio, Werbung, Kinofilme, neue Bilder- und
Avantgardeleistungen, sozioökonomischen           Klangwelten, Jazz, Klassik von Oper bis Operet-
Neuerungen und Verwerfungen. Innere Wi-           te, Varieté, Sport und Sportbegeisterung, Mas-
dersprüche zeigten sich in den Jahren der         senfreizeit, aber auch okkultische Sitzungen,
»klassischen Moderne« auch in Halle (Saale) in    Geistersehen, Aberglauben und Kritik daran,
der Polarisierung der Gesellschaft; so ging es    Lebensreformbewegungen – alles schien mög-
letztlich auch auf kommunaler Ebene um So-        lich in einer arbeitsteiligen Industriegesell-
zialpolitik und -fürsorge sowie um das Bemü-      schaft voll überbordender Kreativität und Lust
hen, die Lebenssituation und Chancen der Be-      an natürlicher, unversehrter Körperlichkeit
völkerung zu verbessern. Neues Bauen, Hygie-      oder gegenständlicher Funktionalität.
ne, Stadt- und Verkehrstechnik, Bildung und       Die Beiträge im diesjährigen Themenheft wol-
Erholung, Kunst und Wissenschaft bestimm-         len Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, diese
ten schon die Betätigungsfelder kommunalen        Zeit vergegenwärtigen. An vergangene Leis-
Handelns in den 1920er Jahren. Die rasant fort-   tungen der Moderne in Halle (Saale) soll ex-
schreitende Modernisierung und Rationalisie-      emplarisch erinnert, auf Erhaltenes aufmerk-
rung der Produktionsprozesse beschleunigten       sam gemacht werden. Darüber hinaus finden
den sozialen Wandel, folgten teilweise einem      Sie Hinweise auf weitere ausgewählte Jubilä-
technischen Machbarkeitswahn, dessen Ver-         en im Themen- und Bauhausjahr 2019.
sprechen sich allzu häufig nicht erfüllten.       Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.
Es wuchs eine Sehnsucht nach Unbefangen-
heit, nach Freizeit und Amüsement, Ablenkung      Dr. Judith Marquardt
und Unterhaltung, aber auch nach anspruchs-       Beigeordnete für Kultur und Sport

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Aufbruch in die Moderne - HALLETHEMA 2019 - Halle (Saale)
Inhalt

Halle 2019 –
Aufbruch in die Moderne
 4 NEUES BAUEN und NEUES SEHEN in Halle     52
                                            		 Das Trauma
		 T. O. Immisch                            		 Die völlige Entwertung des Geldes
                                            		 Ulf Dräger
14
		 Halle (Saale) 1923–1929
		 Kurze Bemerkungen zum vorüber-           58
                                            		 Neues Bauen
		 gehenden Aufschwung dieser Stadt         		 Die Dreieinigkeitskirche der
		 Prof. (em.) Dr. Peter Hertner            		 Franziskaner in Halle-Süd
                                            		 Matthias Schwenzfeier
18
		   Das Wirtschaftsleben
		   in der Stadt Halle (Saale) nach dem    64
                                            		 Spurensuche – Gedenktage
		   Ersten Weltkrieg und der Weltwirt-     		 bedeutender Persönlichkeiten,
		   schaftskrise 1929                      		 Einrichtungen und Unternehmen
		   Danny Bieräugel                           Die Wendezeit im Fokus des
                                            		 Ministeriums für Staatssicherheit
22
		 Aufbruch und Moderne am Beispiel         		 Dr. André Gursky
		 der Lettiner Porzellanfabrik                Volkshochschule »Adolf Reichwein«
		 Dr. Walter Müller                        		 Gabriele Behr
                                            		 200 Jahre Sparkasse
28
		 Halle in den 1920er Jahren               		 200 Jahre Thüringisch-Sächsischer
		 Athleten, Sportlerinnen und Vereine in   		 Verein für Geschichte und Altertums-
		 Zeiten der polarisierenden Moderne       		 kunde
		 Prof. Dr. Stefan Lehmann                 		 Dr. Walter Müller
                                            		 Die Erweiterung der Salzniederlage
34
		 Willy Dietrich                           		 vor dem Klaustor
		 Ein ehrlicher Makler der Kunst           		 Dr. Uwe Meißner
		 Margrit Lenk                             		 Christoph Semler und die Astronomie
                                            		 Dirk Schlesier
40 Künstlerischer Aufbruch in die Moderne
		 Die hallesche Kunstgewerbeschule         90
                                            		 Ausgewählte Veranstaltungen 2019
		 Burg Giebichenstein                      		 im Überblick
		 Dr. Angela Dolgner

                                                                                      3
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Aufbruch in die Moderne - HALLETHEMA 2019 - Halle (Saale)
Brücke, 1928

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Aufbruch in die Moderne - HALLETHEMA 2019 - Halle (Saale)
NEUES BAUEN und
NEUES SEHEN in Halle
T. O. Immisch
Fotografiehistoriker

In den zwanziger Jahren des vergangenen          kannten Ausmaßen. Auch in Halle als einem
Jahrhunderts sollte alles neu werden, sein:      Zentrum des mitteldeutschen Industriere-
die Neue Frau, die Neue Musik, der Neue Tanz     viers und Verkehrsknotenpunkt wirkten sich
usw. Wovon bis heute vieles erhalten bzw.        diese Veränderungsprozesse nachhaltig aus.
von Einfluß bis in die Gegenwart ist, sind vor   Neu im Baugeschehen und damit charakte-
allem das Neue Bauen, die damals neue Ar-        ristisch für das Neue Bauen war vor allem,
chitektur und das Neue Sehen einer neuen         daß es kostengünstig sein und meist Mini-
Generation von Fotografen.                       malanforderungen genügen mußte. Wichtige
Mit Kriegs- und unruhiger Nachkriegszeit im      Konzepte waren der Kleinwohnungsbau und
Jahrzehnt von 1914 bis 1923 waren viele bis      das Wohnen, die Wohnung für das Existenz-
dahin selbstverständlich erschienene Ord-        minimum. Für die Architektur der Zeit bedeu-
nungen, Werte und Gegebenheiten fragwür-         tete dies unter anderem, daß die Gebäude-
dig geworden oder weitgehend weggefallen.        struktur häufig von innen nach außen entwi-
Zu den politischen Veränderungen – parla-        ckelt wurde, gern kubische oder gebogene
mentarische Republik statt konstitutioneller     Baukörper entworfen wurden, meist glatte
Monarchie – kamen weitere beträchtliche          Fassaden und Flach- oder Pultdächer verwen-
Veränderungen der gesellschaftlichen, sozia-     det wurden. Dazu finden sich erste Ansätze
len und kulturellen Verhältnisse. Deutschland    industriellen und seriellen Bauens, teils mit
war verarmt und bis Mitte des Jahrzehnts von     vorgefertigten Teilen und der verstärkte Ein-
Krisen gezeichnet. Zur allmählichen Bewälti-     satz von Stahl und Beton. Gemeinsam war
gung dieser Situation wurden seitens der         allen diesen Bestrebungen der Verzicht auf
Länder, Kommunen und Gewerkschaften be-          Stil sowohl im Sinne des Historismus, der his-
trächtliche Anstrengungen unternommen,           torische Stile imitierte oder mischte wie im
um die soziale und kulturelle Lage besonders     Sinne der Stilkunst um 1900, des Jugendstils
der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums       mit seinem Willen zum Stil in ganz verschie-
zu verbessern. Neben Gesetzesänderungen,         denen Ausprägungen, etwa Materialstil, Hei-
etwa zur Beschränkung der Arbeitszeit, betraf    matstil, Landhausstil usw. Deshalb wurde für
das ab Mitte der zwanziger Jahre vor allem       das Neue Bauen, das auch in den Niederlan-
einen sozialen Wohnungsbau mit Wohnanla-         den, der Schweiz und der Sowjetunion prä-
gen und Siedlungen von bis dahin kaum ge-        gend wurde, der (Hilfs-)Begriff des Internati-

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Aufbruch in die Moderne - HALLETHEMA 2019 - Halle (Saale)
onal Style gefunden. Die Formierungsphase       bichenstein lehrende Hans Finsler ins Spiel:
des Neuen Bauens liegt in den Jahren 1923       Von ihm stammte auf der »FiFo« der dritt-
mit dem Haus am Horn, gebaut für die erste      größte Beitrag nach denen von Moholy-Nagy
Bauhausausstellung in Weimar und 1926 mit       und Sasha Stone.
dem Bauhausgebäude Dessau und der Wei-          Die Fotografie des Neuen Sehens umfaßt
ßenhofsiedlung des Deutschen Werkbundes,        zwei Hauptrichtungen, eine experimentelle,
errichtet 1927.                                 verfahrensbezogene (Hauptvertreter Moholy-
Die Formierungsphase des Neuen Sehens der       Nagy) und eine gegenstandsbezogene, be-
Neuen Fotografen ist dagegen zeitlich etwas     tont sachliche (Hauptvertreter Albert Renger-
versetzt. Sie beginnt 1925 mit dem Bauhaus-     Patzsch). Finslers Werk gehört zu letzterer,
buch 8 »Malerei Photographie Film« von Lász-    Experimente sind darin die Ausnahme.
ló Moholy-Nagy und findet ihren Höhepunkt       In seinem grundlegenden Essay zu Finslers
1929 mit der Werkbundausstellung »FiFo« –       Werk und Werdegang »Der Blick auf die Din-
Film und Foto – in Stuttgart, welche die da-    ge. Hans Finsler, Photographien 1926–1932«
mals aktuellen Tendenzen und Entwicklungen      gibt Bruno Thüring eine bündige Definition
der internationalen Fotografie und Filmkunst    der Arbeitsweise und -mittel dieser Neuen
präsentierte. Zur Ausstellung erschienen zwei   Fotografen: »Die von ihnen angewandte Bild-
Publikationen: »Foto-Auge« von Franz Roh        sprache kennzeichnet folgende Merkmale:
und Jan Tschichold sowie »Es kommt der neue
Fotograf!« von Werner Graeff. Hier kommt der    Cröllwitzer Brücke, 1928
in Halle an der Kunstschule auf der Burg Gie-

                                                                                           7
Aufbruch in die Moderne - HALLETHEMA 2019 - Halle (Saale)
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scharfe und präzise Wiedergabe, Ausschnitt-
haftigkeit anstelle der Totalen, Abkehr von
der statischen, horizontalen Perspektive zu-
gunsten eines dynamisierten, polyvalenten
Blickwinkels – von der Froschperspektive bis
zur ›Flugzeugimpression‹ –, die nuancierte
Wiedergabe fein abgestufter Tonwerte, die
Betonung von Hell-Dunkel-Kontrasten sowie
der Miteinbezug experimenteller Praktiken
wie Doppelbelichtung, Negativabzug und
Photogramm.«1

Linke Seite oben links:
Wasserturm, Detail, Oktober 1929
oben rechts:
Wasserturm, von Südosten, Oktober 1929
unten links:
Wasserturm mit Telegraphenmast, Frühling 1929
unten rechts:
Wasserturm, Detail von unten gesehen, Frühling 1929

                                                      9
Vorige Seite oben rechts:                             wahl seiner frühen Bilder 1969 in Rapperswil
Wasserturm durch Decke, von oben, Oktober 1929
                                                      hat er sich zu seinen Anfängen als Fotograf
unten links:
Wasserturm innen, Treppenraum, Oktober 1929
                                                      anschaulich geäußert unter der Überschrift
                                                      »Mein Weg zur Fotografie«:
unten rechts:
Wasserturm innen, von unten nach oben, Oktober 1929   »Fotografie habe ich nicht erlernt. Vielleicht
                                                      habe ich sie ererbt von meinem Grossvater, der
                                                      Fotograf war. Er lebte bereits, als die Fotografie
Hans Finsler (1891 Heilbronn – 1972 Zürich)           erfunden wurde. Ich bin Zürcher von Geburt
war als Fotograf Autodidakt. Er studierte zu-         (1891), studierte nach der Matur zuerst Archi-
nächst Architektur in Stuttgart, dann Kunst-          tektur und wurde in München unter dem Ein-
geschichte in München. 1921 ging er nach              fluss von Fritz Burger mit der modernen Kunst
Halle, um dort bei seinem Lehrer Paul Frankl          bekannt. Während des ersten Weltkrieges ging
zu promovieren. Für den Lebensunterhalt               ich zur Kunstgeschichte über und erhielt von
fand er eine Anstellung als Bibliothekar und          Heinrich Wölfflin entscheidende Einsichten in
Lehrer für Kunstgeschichte an der Kunsthand-          die Bildbetrachtung und Bildanalyse. 1922 kam
werkerschule auf der Burg Giebichenstein.             ich als Bibliothekar und Lehrer für Kunstge-
Anläßlich einer Ausstellung mit einer Aus-            schichte an die Kunstgewerbeschule Burg Gie-
                                                      bichenstein in Halle, eine Schule, die im Wett-
                                                      bewerb mit dem Bauhaus nach neuen Gestal-
                                                      tungsmitteln suchte.
                                                      Es kamen eine Reihe von Schülern und Lehrern
                                                      vom Bauhaus nach Halle.
                                                      Ich fragte mich dort: Wie muss man Dinge fo-
                                                      tografieren, die nach bestimmten formalen
                                                      Gesetzen entstanden sind? Vor meinen Versu-
                                                      chen wurden diese Dinge von einem Berufs-
                                                      fotografen unsachgemäss nach der damals
                                                      üblichen Schablone fotografiert.
                                                      Meine ersten Versuche existieren nicht mehr.
                                                      Sie wurden abgelehnt, auch innerhalb der
                                                      Schule. Sie waren zu ungewohnt. Aber Foto-
                                                      grafie in Verbindung mit den aufzunehmen-
                                                      den Dingen wurde für mich zu einer faszinie-
                                                      renden Entdeckung. Hätte ich eine fotografi-
                                                      sche Lehre absolviert, wäre ich nie zu den glei-
                                                      chen Ergebnissen gekommen. Zwangsweise
                                                      wurde ich Fotograf. Schüler kamen, es entstand
                                                      die erste Klasse für Sachfotografie an einer
                                                      Kunstgewerbeschule.
Wasserturm, Ausstieg aus Wendelschacht,
Oktober 1929                                          Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg bedeute-
                                                      ten auf vielen Gebieten einen Neubeginn. Man

10
fragte nach den Grundlagen. Man fragte zum       Wasserturm, Ausstieg aus Wendelschacht,
                                                 Oktober 1929
Beispiel: Was ist ein Haus? Was ist ein Stuhl?
Was ist Farbe?« 2
Finslers Antworten auf seine Fragen sind die
Fotografien, Sach- und Architekturaufnah-        Charakteristisch für Finslers Architekturfoto-
men, die er 1926 bis 1932 in Halle schuf.        grafie ist, daß er häufig nicht einzelbildorien-
Seine Sach- und Produktfotos entstanden zu-      tiert arbeitet wie andere wichtige Architektur-
nächst vor allem für die »Burg«, die sie auch    fotografen der Zeit, etwa Werner Mantz in
für Werbezwecke verwandte (diese Aufgabe         Köln oder Max Krajewski in Berlin, sondern se-
wurde zunehmend von den Schülern der Foto-       riell. Das heißt, er bewegt sich fotografierend
klasse übernommen), sodann für eine ganze        um die Bauten herum und durch sie hindurch.
Reihe von Firmen und Institutionen, etwa WMF     Mittels der so erreichten Mehransichtigkeit
oder den Deutschen Werkbund. Die umfäng-         vermittelt der Fotograf ein sowohl komplexe-
lichste Werkgruppe aus Finslers Zeit in Halle    res wie differenzierteres Bild seiner jeweiligen
sind seine Architekturaufnahmen sowohl von       Gegenstände. In einigen Fällen, bei freistehen-
historischen wie von modernen, zeitgenössi-      den Bauwerken, konnte er beide Ansätze – das
schen Bauten. Sie entstanden mehrheitlich im     Umschreiten wie das Durchschreiten der Ge-
Auftrag verschiedener städtischer Ämter: Ju-     bäude glücklich verbinden. Drei davon, eine
gend-, Hochbau-, Verkehrs- und Nachrichten-      Brücke, ein Turm und ein Glashaus werden im
amt, teils als Dokumentation, teils für lokale   Folgenden exemplarisch vorgestellt.
Publikationen von Büchern über Zeitungen         Die Giebichensteinbrücke wurde 1926 bis
und Zeitschriften bis hin zu Postkarten.         1928 gebaut, entworfen von Clemens Vacca-

                                                                                               11
Flughafenrestaurant,
                                                  1931

no – Konstruktion und Paul Thiersch – Gelän-      Der Wasserturm Süd am Lutherplatz, entwor-
der, Lampen und Treppen. Thiersch schlug          fen von Wilhelm Jost und Oskar Muy wurde
auch Gerhard Marcks für die Gestaltung der        1927/28 zusammen mit der daneben stehen-
beiden monumentalen Brückenfiguren vor,           den Umformerstation errichtet. Beide Bauten
ein Pferd auf der Stadt- und eine Kuh auf der     waren nötig geworden wegen der südlichen
Landseite Richtung Kröllwitz. Die Ausführung      Stadterweiterung dieser Zeit, so die Wohnan-
der Plastiken besorgte der Bildhauer Josef        lagen am Lutherplatz und am Johannesplatz
Gobes nach Marcks‘ Entwürfen.                     und die Siedlung Vogelweide.
Finsler beschäftigte sich 1928 mit den Auf-       Finsler fertigte im Frühjahr und im Herbst
nahmen des Bauwerks. Er fotografierte die         zwei Aufnahmeserien davon, zunächst von
Brücke von verschiedenen Aufnahmeorten            außen, im Oktober vom Inneren des Turms.
an beiden Seiten des Flusses aus, nahm sie        Die Außenansichten zeigen ihn von verschie-
von oben, von unten und von der Seite auf         denen Standorten aus und aus unterschied-
und kam zu verschiedenen Diagonalkompo-           lichen Entfernungen sowie mit variierten
sitionen. Von den sechs überlieferten Foto-       Aus- und Anschnitten. Auf einigen Bildern
grafien betonen fünf das Dynamische der           steht der Turm frei, auf anderen sehen wir ihn
Brückenbögen, die für den Fotografen defini-      im Detail oder teilweise verdeckt vom Umfor-
tive Variante verdeutlicht für ihn aber vor al-   mergebäude. Mit einer Ausnahme vermeidet
lem die Funktion und das Wesen des Baus:          der Fotograf stark stürzende Linien. Am ver-
»Die Brücken gehören zu den wichtigsten Kon-      blüffendsten ist die Aufnahme mit dem Zie-
struktionen des Menschen zur Überwindung          gelmauerwerk unten vor dem Turm und den
natürlicher Hindernisse. Die Brücke ist die       Wolken hinter ihm, die die Assoziation eines
räumliche Verbindung zweier fester Punkte         Schiffes erzeugt – die Mauer als Bug, der Turm
oder Auflagen. In dieser Aufnahme wird der        als Schornstein und die Wolke als Rauch dar-
Raumeindruck erzeugt durch die Diagonale          aus. (Anklänge an Elemente des Schiffbaus
des Bilds, das stark von oben aufgenommen         kommen in der Architektur der Zeit gelegent-
werden konnte. Die Fläche des Flusses entsteht    lich vor.) Die Innenaufnahmen zeigen entwe-
durch das Boot, der Zweck der Brücke durch        der den Raum zur Gänze, aus extremer Unter-
einen Fußgänger. Die Aufnahme ist das Ergeb-      oder Draufsicht, die Kreisform der spiralig
nis tagelanger Versuche.« 3                       aufgehängten Kugellampen leicht aus der

12
Flughafenrestaurant,
                                                                                Obergeschoß,
                                                                                Nordseite, 1931

Mitte gerückt oder konstruktive Details des       Wiederum fotografiert Finsler zunächst um
Baus, verknappt und rabiat angeschnitten          das Haus herum, dann hinein bis hin zu Aus-
wiederum aus Drauf- und Untersicht.               stattungsdetails. Er schreitet von einer Fron-
Das Restaurantgebäude des Flughafens Hal-         talansicht zu einer leichten Schrägsicht zum
le-Leipzig, errichtet 1930/31, entspricht von     Eingang, nimmt die Treppe zum Restaurant
den drei gezeigten Beispielen am meisten          auf und dieses selbst, einmal streng symmet-
den Prinzipien des Neuen Bauens mit seinem        risch und einmal asymmetrisch, isoliert foto-
Flachdach, den Glasfassaden, der sichtbaren       grafisch eine der Lampen und zeigt den Raum
Stahlbetonkonstruktion im Inneren und sei-        mit zugezogenen Vorhängen, ein perfekter
ner prismatischen Kubatur. Entworfen wurde        Rundum- und Durchgang.
es von Hans Wittwer, seit 1929 Leiter der         Alles in Allem läßt sich über Finslers hallesche
Architekturklasse an der »Burg«. Davor war er     Architekturfotografie in den Jahren um 1930
Assistent von Hannes Meyer am Bauhaus in          sagen, daß die Stadt Glück hatte mit ihrem
Dessau. An der Gestaltung und Ausstattung         Fotografen und er mit der Stadt. 1932 ging er
des Baus waren weitere Klassen bzw. Lehrer        an die Kunstgewerbeschule Zürich.
der Schule beteiligt: Die Tönung der großen
Scheiben entwickelte die Malklasse von Er-
win Hass, die Lampen entwarf Karl Müller,
                                                  1
                                                      Hans Finsler: Neue Wege der Photographie,
Leiter der Metallwerkstatt, Vorhänge, Tisch-
                                                      Hrsg. Klaus E. Göltz, Theo Immisch, Peter Romanus
decken und Servietten wurden in der Textil-           und Axel Wendelberger, Leipzig 1991, S. 67.
klasse von Benita Koch-Otte gewebt und das        2
                                                      Hans Finsler: Mein Weg zur Fotografie,
Geschirr entwarf Marguerite Friedlaender,             Pendo Verlag Zürich 1971, zitiert in: siehe Anmer-
Leiterin der Porzellanwerkstatt, hergestellt in       kung 1, S. 292.

der Staatlichen Porzellanmanufaktur Berlin.       3
                                                      Siehe Anmerkung 1, S. 203.

                                                                                                           13
Halle (Saale) 1923–1929
Kurze Bemerkungen zum vorübergehenden
Aufschwung dieser Stadt in schwierigen Zeiten

Prof. (em.) Dr. Peter Hertner

Die folgenden kurzen Bemerkungen stützen         Beide Texte sind vergleichsweise umfang-
sich auf knappe Auszüge aus dem Band »Le-        reich, nur ganz geringe Teile aus ihnen kön-
benserinnerungen eines deutschen Oberbür-        nen deshalb hier vorgestellt werden. Die fol-
germeisters« von Richard Robert Rive, Stutt-     genden ausgewählten Beispiele stammen
gart 1960. Rive hatte die Stadt Halle an der     aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre.
Saale von 1906 bis 1933 in dieser Funktion ge-   Rive war in einer deutschen, nach Neapel aus-
leitet. Zweite Quelle ist das Buch »Die halli-   gewanderten Familie 1864 geboren worden,
sche Stadtverwaltung«, 1906–1931, Halle          wuchs aber nach dem Tod des Vaters und der
(Saale) 1931, verfasst im selben Jahr von dem    Rückkehr der Mutter nach Schlesien im Jahr
Historiker Erich Neuss, der damals das Amt       1868 in Breslau auf. Hier ging er zur Schule,
des Stadtarchiv- und Bibliotheksdirektors von    absolvierte ein Jurastudium an der dortigen
Halle ausübte.                                   Universität, promovierte und wurde mit 30
                                                 Jahren Teilhaber in einer großen Breslauer
                                                 Anwaltsfirma. Ende 1899 wurde Rive als be-
                                                 soldeter Stadtrat Mitglied des Breslauer Ma-
Halle, Gartenvorstadt Gesundbrunnen,
                                                 gistrats. 1906 wählte man ihn in Halle (Saale)
Modellbebauungsplan (Ausschnitt),
1928                                             zum Oberbürgermeister. Er trat damit in ein
                                                 Amt ein, das er insgesamt sehr erfolgreich bis
                                                 zum Frühjahr 1933 ausüben sollte.
                                                 Schon während der ersten acht Jahre bis zum
                                                 Beginn des Ersten Weltkrieges gelang es Rive,
                                                 eine Reihe von überfälligen, zum Teil aber
                                                 auch gänzlich neuen Problemen in der Stadt

                                                               Halle, Gartenvorstadt Gesundbrunnen,
                                                                                       Lageplan, 1927

14
15
Halle und in ihrem Umland einer Lösung zu-        dem halleschen Norden wurde während des
zuführen. Erwähnt sei hier nur ganz kurz der      ersten Weltkrieges und unmittelbar danach
von Rive schon in den ersten Wochen seiner        von der Stadtverwaltung noch weiter nach
Tätigkeit – nach Überwindung der Anfangs-         Norden verlegt, wo man beispielsweise bei
schwierigkeiten – begonnene »Umbau« der           Trotha für den Schiffstransport auf der Saale
städtischen Verwaltung, mit dessen Hilfe de-      einen Hafen ausbaute, der jahrzehntelang –
ren Effizienz verbessert werden sollte, was       über die Zwischenkriegszeit und den Zweiten
auch in den meisten Fällen gelang. Bereits ein    Weltkrieg hinweg – seine regionale Bedeu-
Jahr nach dem Amtsantritt von Rive in Halle       tung beibehalten konnte.
ließen sich bei der Modernisierung der Stadt,     »Die schlimmste und auch in ihrer Dauer
beispielsweise bei der Arbeit der Baudeputa-      hartnäckigste Not war nach dem Kriege die
tion, klare Fortschritte erkennen. Ein weiteres   Wohnungsnot«, schreibt Rive in seinen Le-
Feld mit langfristiger Wirkung bot beispiels-     benserinnerungen, die er nach seinem Aus-
weise der schrittweise Erwerb von großen          scheiden aus dem halleschen Oberbürger-
Teilen der »domänenfiskalischen Ländereien        meisteramt in den Jahren nach 1933 verfasst
des Amtes Giebichenstein« im Norden der           hat. Er fährt an dieser Stelle fort: „Die Knapp-
Stadt Halle, insbesondere der an der Saale        heit an Lebensmitteln wich nach Jahr und
liegenden Burgruine. Die Ausdehnung nach          Tag ausreichender Versorgung und die Ar-
                                                  beitslosigkeit nahm in Halle erst 1929 be-
                                                  drohlichere Formen an. Anders die Woh-
Kranverladung im Hafen
                                                  nungsnot. Von den Anfängen der städtischen
Halle-Trotha, um 1930                             Wohnungs- und Wohnungsbaupolitik bis zu
                                                  ihren Riesenleistungen der Nachkriegszeit
                                                  ist zeitlich und sachlich ein weiter Weg. Für
                                                  die Stadt war es ein Glück, dass die Bebau-
                                                  ung, die bald ungeahnte Maße annahm, im
                                                  Stadtgebiet ebenso wie in Nachbarkreisen,
                                                  wenn sie in diese vorstoßen musste, nach
                                                  systematisch ausgearbeiteten Bau- und Sied-
                                                  lungsplänen durchgeführt werden konnte.
                                                  Ebenso, dass es niemals an dem erforderli-
                                                  chen Grund und Boden zum Wohnungsbau
                                                  fehlte. Die Fürsorge der Stadt vor dem Kriege
                                                  fand jetzt ihre stärkste Rechtfertigung, sie
                                                  wurde zum Segen in der Not nach dem Krie-
                                                  ge. Immer war die Stadt in der Lage, den Bau-
                                                  grund unter günstigen Bedingungen zur
                                                  Verfügung zu stellen und damit zu verbilli-
                                                  gen. Auf solchem Boden steht heute der
                                                  größte Teil der neuen Wohnstadt von Halle
                                                  mit fast 9000 Wohnungen, die allein in den

16
Jahren 1919 bis 1930 geschaffen worden sind,
und mit Stadtteilen von einer solchen Vollen-
dung des Aufbaus und der Anlage, wie z. B.
die Gartenstadt Gesundbrunnen.«
In nicht wenigen Fällen vergleichbar mit Ri-
ves Lebenserinnerungen, die wie angegeben,
aber erst 1960 in Westdeutschland veröffent-
licht wurden, ist das bereits im Jahr 1931 von
Erich Neuss in Halle in Druck gegebene Buch
über Die Hallische Stadtverwaltung, das
»statt eines Vorwortes« beginnt mit einem
kurzen Auszug aus der Ansprache von Robert
Richard Rive »an die hallischen Stadtverord-                                     Schiffe im Hafenbecken
neten am 2. April 1906«, also ganz am Beginn                                       Halle-Trotha, um 1935

von dessen Amtszeit. Das Buch von Neuss ist
vor allem aufschlussreich, weil es aus einer      ren. Von großem Interesse sind besonders
anderen, aber keinesfalls gänzlich verschie-      auch die Seiten, die dem Wohnungsbau und
denen Perspektive die Ergebnisse der Verwal-      der Wohnungsbaupolitik in Halle zwischen
tung der Stadt Halle am Ende des 19. und im       1923 und ungefähr 1930 gewidmet sind, die
ersten Drittel des 20. Jahrhunderts darstellen    vor dem Hintergrund eines raschen städti-
will. Es ist das Buch eines Historikers, das      schen Wachstums gesehen werden müssen.
ganz auf Halle konzentriert bleibt und des-       Beide hier ganz kurz erwähnten Beiträge zur
halb nicht so weit ausholen muss wie Rive. Es     Geschichte Halles im ersten Drittel des 20.
ist auch das Buch eines Jüngeren – Neuss          Jahrhunderts sind von einer Qualität, um die
wurde erst 1899 geboren – mit zwangsläufig        sie andere deutsche Städte dieser Größe be-
geringerer Lebenserfahrung, aber dennoch          neiden können. Es wäre der Stadt und der
mit einem erstaunlich scharfen Blick auf die      Geschichtswissenschaft zu wünschen, dass
Vorgänge in der Saalestadt. Als besonders         Vergleichbares auch zu den folgenden Jahr-
informativ wird der Leser – neben den präzi-      zehnten in Angriff genommen wird.
sen Ausführungen über die hallesche Sozial-
politik vor und nach dem Ersten Weltkrieg –
den Beitrag von Neuss in diesem Band über
»die Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke der
Stadt« einschließlich der »Straßenbahnfra-
ge« empfinden. Damit werden immerhin 75           Weiterführende Literatur:
Jahre städtischer Infrastrukturpolitik abge-      Thomas Brockmeier/ Peter Hertner (Hg.): Menschen,
deckt. Vom Thema her ganz anders, aber le-        Märkte & Maschinen. Die Entwicklung von Industrie und
                                                  mittelständischer Wirtschaft im Raum Halle (Saale).
senswert und informativ sind im Übrigen die
                                                  Halle 2007.
Ausführungen von Neuss zur Museumspoli-
                                                  Kerstin Küpperbusch: Von der Mietskaserne zur
tik in der Stadt Halle in der Zeit kurz vor dem   Gartenvorstadt. Siedlungs- und sozialer Wohnungsbau
Ersten Weltkrieg und in den zwanziger Jah-        während der Weimarer Republik in Halle. Halle 2010.

                                                                                                        17
Das Wirtschaftsleben
in der Stadt Halle (Saale) nach dem Ersten
Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise 1929

Danny Bieräugel
IHK-Konjunkturreferent

Die Auswirkungen des Krieges                       Kriegsgegner hatten die deutsche Wirtschaft
Halle (Saale) hatte sich nach der Jahrhun-         von ausländischen Rohstoffen und Märkten
dertwende zu einem bedeutenden Wirt-               abgeschnitten und begrenzten so die Wachs-
schafts- und Verkehrszentrum in Mittel-            tumsmöglichkeiten. Auftragsrückgänge im
deutschland entwickelt. Die Wirtschaft in der      Auslandsgeschäft trafen etwa den in Halle
Region war jedoch in den beginnenden               (Saale) angesiedelten Maschinenbau. Die Un-
1920er Jahren stark vom zurückliegenden            ternehmen stellten Spezialmaschinen für
ersten Weltkrieg 1914 bis 1918 und dessen          den Bergbau, die Zuckerindustrie, aber auch
Folgen geprägt. Um diesen Krieg führen zu          für Bäckereien her.
können, wurde nahezu die gesamte Wirt-             Nach den für diese Zeit nur spärlich verfüg-
schaftsleistung Deutschlands benötigt. Im          baren Statistiken blieb die Produktion wäh-
Ergebnis hatte das Deutsche Reich die Pro-         rend des Krieges zwar weitgehend konstant,
duktion auf kriegswichtige Güter umgestellt.
Dies führte zusammen mit einer Blockade
                                                   Struktur der deutschen Wertschöpfung
durch die Kriegsgegner bei der Versorgung          nach Wirtschaftsbereichen
der Zivilbevölkerung während
des Krieges zu Engpässen bis
                                   Anteile am Nettoinlandsprodukt                        1910 bis 1913
hin zu Hungersnöten.                                                                     1925 bis 1929
Wer die weitere Entwicklung                                  45%
                                                      41%
der halleschen Wirtschaft in
den 1920er Jahren verstehen
will, muss zunächst auf die         23%
ökonomische Entwicklung im                  16%
Krieg schauen. Die nominale                                             9% 10% 9% 12%
Wirtschaftsleistung – gemes-
sen am Bruttosozialprodukt
                                      Land- und       Industrie- und Handel, Banken,      sonstige
– war nach Kriegsbeginn
                                   Forstwirtschaft      Handwerk       Versicherungen Dienstleistungen
deutlich abgefallen. Denn die

18
das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt je       Das Kriegsende 1918 brachte für die Unter-
Einwohner lag bei umgerechnet ca. 6.000           nehmen einen abermaligen Umbruch. Die
US-Dollar. Hinter der vermeintlichen Stabili-     Produktion musste wieder auf zivile Waren
tät verbirgt sich aber eine deutliche Ände-       umgestellt werden. Ein gutes Beispiel dafür
rung der Wirtschaftsstruktur im Deutschen         war eine vormalige hallesche Munitionsfab-
Reich. Aufgrund der spezifischen Anforderun-      rik, die nun unter dem Namen Reimer & Fabel
gen des Krieges verschoben sich die Anteile       Milchzentrifugen herstellte. Allerdings hat-
des Sozialproduktes von der Landwirtschaft        ten besonders die Industriebetriebe zum Teil
auf die industrielle Produktion und die           erheblich unter den Auflagen und Restriktio-
Dienstleistungen.                                 nen der Siegermächte zu leiden. Überdies
Das zeigte sich auch in der Region Halle mit      waren Produktionsmittel und Rohstoffe
leistungsfähigen Böden für industrielle Nah-      knapp. Demzufolge ging das Bruttoinlands-
rungsmittelproduktion und der noch jungen         produkt Deutschlands nach 1918 zunächst
Chemieproduktion. Wegen der günstigen stra-       deutlich zurück. Innere Unruhen durch die
tegischen Lage – Mitteldeutschland war da-        Revolution und entsprechende Arbeitskämp-
mals vor feindlichen Angriffen geschützt – war    fe verhinderten eine schnelle Erholung zu-
die kriegswichtige Chemieproduktion in be-        sätzlich.
nachbarten Orten wie Bitterfeld oder Leuna
angesiedelt worden. In Halle (Saale) selbst wa-
ren vor allem mittelständische chemische und      Kraftwerk Trotha, 1926
pharmazeutische Unternehmen ansässig.

                                                                                            19
In der Folge nahmen die Unternehmens-                         1923 bei sagenhaften 4,2 Billionen Mark.
konzentrationen zu – im Maschinenbau, aber                    Für den Bankensektor in der Stadt Halle (Saa-
auch in der für den mitteldeutschen Raum                      le) brachten die 1920er Jahre deshalb einen
seit dem 19. Jahrhundert bedeutenden Rüben-                   deutlichen Umbruch: War die Kreditwirt-
zuckerindustrie. Die Unternehmen konnten so                   schaft vor dem Krieg noch durch kleinere ei-
ihre Kosten senken. Schon 1921 schlossen sich                 genständige Institute geprägt, brachten Zu-
mehr als 30 Rohrzuckerfabriken aus der Regi-                  sammenschlüsse und Übernahmen kleinerer
on zur Vereinigung mitteldeutscher Rohrzu-                    Bankhäuser die großen Berliner Institute auf
ckerfabriken (VEMIRO) mit Sitz in Halle (Saa-                 den halleschen Geldmarkt.
le) zusammen. Durch weitere Übernahmen                        Die Geldentwertung wirkte sich unmittelbar
und einen Zusammenschluss mit der Vereini-                    auf die Preise vieler Güter und auch die Löhne
gung anhaltischer Zuckerproduzenten ent-                      aus. Das lähmte die Wirtschaft zunehmend
stand ein Konzern, der rund 30 Prozent aller                  und an Investitionen war trotz hoher Nach-
deutschen Zuckerfabriken umfasste.                            frage kaum zu denken. In der Region Halle
Hinzu kam, dass die Deutschland mit dem Ver-                  stieg die Zahl der Erwerbslosen deutlich und
sailler Vertrag ebenfalls auferlegten Reparati-               auch die Konkurse nahmen zu.
onszahlungen die Inflation der Reichsmark
befeuerten. Ab 1922 explodierte sie geradezu.
Der Kurs des Dollars lag 1918 noch bei rund
sechs Papiermark, 1922 im Jahresdurchschnitt                  Entwicklung der Wertschöpfung in Deutschland
schon bei rund 1.900 Mark und im Dezember                     Quelle: Maddison Project

     Reales Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner in US-Dollar zum Kurs von 2011 in Preisen von 2011

     9.000
                                                                                                     1928
     8.500                                                                                                  1930

     8.000
                                                     1913                                                      1931
     7.500
                                                                                                    1926
                                                                                1922
     7.000                           1907                                                                    1932
                        1903                           1914                                1924
     6.500                                                           1918
             1900                                             1916
     6.000

     5.500                                                                   1920
                                                                                    1923

     5.000                                                            1919

     4.500

     4.000

20
Neuanfang und einige „Goldene“ Jahre              Wohnsiedlungen am Stadtrand vor – Raum
Erst die Währungsreform im November 1923          für die wachsende Zahl der Arbeiter und An-
beendete die Hyperinflation. In der Folge         gestellten. Von der Nähe zur Zuckerindustrie
stieg das Bruttosozialprodukt und damit           profitierten nicht zuletzt die halleschen Scho-
auch Produktion und Beschäftigung wieder          koladenhersteller, die bekannteste – wenn
an. In der Region Halle war – wie überall in      gleich nicht die einzige – David-Mignon, das
Deutschland – ein starkes Wachstum zu ver-        Unternehmen stellte die Hallorenkugeln her.
zeichnen.                                         Die Zeit von 1924 bis 1928, dem Vorabend der
Die zwischenzeitlich stärker verbreiteten         Weltwirtschaftskrise, war auch geprägt von
technischen Innovationen wie Elektrogeräte        einem Aufschwung verbunden mit einem
und Automobile erforderten insbesondere           starken Optimismus, der durch technische In-
eine leistungsfähige Industrieproduktion. Da-     novationen und das neue Sozialsystem beför-
von profitierten die Region Halle und die im      dert wurde. Der wirtschaftliche Wohlstand
Umkreis angesiedelte Braunkohleförderung,         ermöglichte einen Aufschwung bei Kunst und
da sie als Produktions- und Energierohstoff       Kultur: Die Kunstsammlung der Moritzburg
benötigt wurde. So stieg die Gewinnung von        stieg in die erste Liga der deutschen Museen
Kohle im »Thüringisch-Sächsischen Braun-          auf, im Varietétheater Walhalla am Steintor
kohlenbezirk« von 30,1 Mio. Tonnen im Jahr        traten bekannte Kleinkünstler auf – ein Hauch
1913 auf 48,4 Mio. Tonnen im Jahr 1926. Damit     von »Goldenen Zwanzigern« in Halle (Saale).
kamen 35 Prozent der deutschen Braunkohle-        Diese endeten in Deutschland ebenso wie in
förderung aus der Region.                         vielen anderen Teilen der Welt mit dem
An der Stromerzeugung aus festen Brenn-           schwarzen Donnerstag am 24. Oktober 1929.
stoffen (im Wesentlichen Braunkohle) im           Die guten Jahre hatten international zu Über-
Deutschen Reich hatte 1925 die preußische         treibungen an den Finanzmärkten geführt
Provinz Sachsen, in der die Region Halle lag,     und erhebliche Kapitalmittel fehlgelenkt. Das
mit 2,72 Mrd. kWh einen Anteil von 18 Pro-        Platzen dieser Spekulationsblase wirkte auch
zent. Nur die preußischen Rheinprovinzen          auf die realen Märkte zurück und löste eine
waren seinerzeit noch bedeutsamer in der          Weltwirtschaftskrise aus. In Deutschland wa-
Elektrizitätswirtschaft.                          ren die öffentlichen Haushalte aufgrund der
Die soziale Revolution, die regional sehr stark   Reparationsverpflichtungen und einem ge-
von gewerkschaftlichen Kräften geprägt war,       ringen Ansehen bei ausländischen Gläubi-
verbesserte auch die Arbeitsbedingungen der       gern nicht in der Lage, der Krise zu begegnen.
Beschäftigten. Sie erhielten erstmals einen       Dies führte zu einem vergleichsweise starken
Jahresurlaub, es wurden Sozialkassen einge-       Einbruch – auch in Halle (Saale).
führt und der Lohn stieg. Das führte neben
einem industriellen Aufschwung auch zu Zu-
                                                  Weitergehende Ausführungen insbesondere
wächsen bei Handel und Dienstleistungen           zur Wirtschaftsentwicklung in den verschiedenen
sowie dem Wohnungsbau der Stadt. Die städ-        Branchen finden sich in:
                                                  Thomas Brockmeier/Peter Hertner (Hrsg.): Menschen,
tische Bauwirtschaft profitierte davon, dass in
                                                  Märkte und Maschinen. Die Entwicklung von Industrie
Halle (Saale) umfangreich gebaut wurde. Ein       und mittelständischer Wirtschaft im Raum Halle (Saale),
städteplanerischer Gesamtplan sah neue            Halle (Saale) 2007

                                                                                                       21
22
Aufbruch und Moderne
am Beispiel der Lettiner
Porzellanfabrik
Dr. Walter Müller

Ende 1858 gründete Heinrich Baensch (1830–        Brennerei-Arbeiter, Schlämmerei- und Müh-
1911) im unweit von Halle gelegenen Saalkrei-     lenarbeiter, Kapseldreher, Porzellan-Packer
sort Lettin eine Porzellanfabrik. 1950 wurde      sowie Hofarbeiter, deren Wochenlohn zwi-
das Dorf nach Halle eingemeindet. Heinrich        schen 10 bis 20 Mark lag. Die darunter als
Baensch hatte in Berlin Porzellandreher ge-       »Acordarbeiter« beschäftigten konnten sogar
lernt und sich vor allem in Schlesien prakti-     15 bis 25 Mark verdienen.
sche Kenntnisse in der Steingut- und Porzel-      Um 1900 und in den Jahren danach konnte
lanherstellung angeeignet. Zunächst wurde         bis auf eine Absatzflaute zwischen 1908 und
nur Weißporzellan als Tafelgeschirr herge-        1911 der Export Lettiner Porzellans deutlich
stellt und Hauptabsatzgebiet war vor allem        gesteigert werden. Hauptexportregionen
die nähere Umgebung. Mit dem Bau des              und Länder waren England und dessen Kolo-
zweiten Brennofens um 1868 wurde auch das         nien, Nordamerika (vor allem die USA), Nord-
Bemalen des hergestellten Porzellans aufge-       europa sowie Griechenland. 1903 erhielt die
nommen. Noch bis 1876 erfolgte der Waren-         Lettiner Porzellanfabrik von Heinrich Baensch
absatz ausschließlich in Deutschland. Laut        auf der Gewerbe-Ausstellung in Athen eine
Jahresbericht der Handelskammer zu Halle          Goldene Medaille für ihre Produkte verliehen.
a. d. S. 1882 wurden »Tafelgeschirre, weiss und   Im ältesten bisher bekannten »Preis-Verzeich-
dekorirt, auch unter Musterschutz gestellte       nis der Porzellan-Manufaktur von Heinrich
Luxusgegenstände für In- und Ausland«             Baensch in Lettin bei Halle/S.« von 1903/1904
produziert. 1873 beschäftigte die Porzellan-      wurde damit gleich für die Qualität des Letti-
manufaktur bereits 32 Mitarbeiter, deren Zahl     ner Porzellans geworben.
sich bis 1883 »auf durchschnittlich 50« stei-     Im Bericht an die Handelskammer im Dezem-
gerte. Im Jahr 1876 gehörten dazu etwa schon      ber 1907 konnten schon 110 Arbeiter aufge-
zwei bis drei Porzellanmaler, Dreher, Former,     führt werden, von denen immerhin 29 ge-
                                                  lernte Arbeiter waren, die schon als Lehrlinge
                                                  in der Fabrik angefangen hatten. Mit dem Be-
Dekors von Ludwig Hohlwein,
Jugendstildose mit Kirschen                       malen des Porzellans waren damals schon
                                                  vier Porzellanmaler ganzjährig beschäftigt.

                                                                                             23
Nach dem Tod des                                                                 voll zu. Aber eigenes
Firmengründers                                                                   Betriebsvermögen für
Heinrich Baensch                                                             notwendige Modernisie-
am 3. Februar 1911 wurde                                                 rungen und Produktanpas-
der Betrieb von seinem Sohn                                            sungen bzw. Neuentwicklun-
Alfred Baensch (1873–1942)                                          gen stand nur sehr begrenzt zur
weitergeführt. Dieser war be-                                      Verfügung. Alfred Baensch ver-
reits von seinem Vater zu Studi-                                  suchte in den Jahren 1927 bis 1930
enzwecken in zahlreiche euro-                                       über die Leipziger Messe wieder
päische Länder, vor allem Eng-                                        verstärkt in das Exportgeschäft
land und Frankreich, geschickt                                        einzusteigen. Diese Jahre stellen
worden, um vor allem das Ex-                                        für die Lettiner Porzellanfabrik
portgeschäft weiter zu                                                        die wohl innovations-
entwickeln. Bedingt Vase in Baensch Rot, Art Dèco, kaum Goldabrieb; reichste und künstle-
                                  Unterglasurmarke: 1900–1931 in blau
durch ungünstige Zeit-                                                        risch produktivste Zeit
umstände war dies je-                                                         dar und rechtfertigen
doch zunächst nur begrenzt möglich. So kam           die Titelwahl für den Beitrag »Aufbruch und
kriegsbedingt durch den Ersten Weltkrieg             Moderne«. Dazu wurden u. a. 1927/28 zwei
zwischen Mitte 1914 bis Ende 1918 der Export         aufwendig gestaltete neue Firmenkataloge
von Lettiner Porzellan nahezu vollständig zum        mit künstlerisch hochwertigen Farbtafeln her-
Erliegen und in der Weimarer Republik hatte          gestellt, die mehrere Jahre Gültigkeit hatten.
die Lettiner Porzellanfabrik in den Jahren           Weiterhin gelang es Alfred Baensch mehrere
1925/26 wirtschaftlich schwer zu kämpfen. Im         deutschlandweit angesehene Künstler auf
Jahresbericht der Industrie- und Handelskam-         Honorarbasis für die Gestaltung moderner
mer zu Halle 1926 steht dazu verallgemeinert:        Formen und vor allem neuer Dekors zu gewin-
»Die im Bezirk vertretene Porzellanherstel-          nen. Anfänge dazu lassen sich bereits unter
lung litt im Jahre 1926 weiter unter dem im          seinem Vater erkennen. So entwarf zum Bei-
Vorjahr eingeleiteten wirtschaftlichen Nieder-       spiel der bedeutende deutsche Plakatkünstler,
gang. Der Kundenkreis zeigte sich im Einkauf         Grafiker, Maler und Designer Ludwig Hohl-
äußerst zurückhaltend. Das allgemeine Bild           wein (1874–1949) zwischen 1903 und 1909
konnte auch nicht durch eine scheinbare zeit-        mehrere Jugendstildekore für die Lettiner Por-
weilige Besserung gegen Jahresende geän-             zellanfabrik, die man rechtlich schützen lies.
dert werden. Obwohl Deutschland eine leis-           Produziert wurden diese im sogenannten Be-
tungsfähige und künstlerisch auf der Höhe            reich »Luxusporzellan« in Lettin vor allem für
stehende Porzellanindustrie hat, war es äu-          das Exportgeschäft auf Dosen und Bonbonni-
ßerst schwierig, auf dem Auslandsmarkt wie-          eren wohl noch bis in die 1920er Jahre. Die
der festen Fuß zu fassen. Wie viele der mittle-      Lettiner Porzellanfabrik stellte sich speziell
ren und kleinen Industrien, so litt die Porzel-      unter der Leitung von Alfred Baensch vor al-
lanindustrie unter mangelhafter Zurverfü-            lem in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre
gungstellung von langfristigen Krediten.«            künstlerisch dieser Entwicklung inmitten des
Dies traf auch auf die Lettiner Porzellanfabrik      generellen Aufbruchs der Klassischen Moder-

24
ne, bei der die gestalterische Verbindung von    Künstlerisch gehörte die zu den kleineren
Eleganz der Form, Kostbarkeit der Materialien,   Porzellanfabriken in Deutschland zählende
Stärke der Farben und Sinnlichkeit des The-      Lettiner Porzellanfabrik von Alfred Baensch in
mas im Vordergrund stand. Vieles davon war       der Zeit des Aufbruchs in die Moderne zwei-
schon im Jugendstil angelegt. Eine Neuheit       felsfrei mit zu den führenden Herstellern im
für Lettin waren auch die erstmals im Messe-     Bereich der Porzellanfabrikation im Deut-
katalog 1927/28, Farbtafel XI vorgestellten      schen Reich. Ebenfalls wurden zwischen 1927
plastischen Tiergruppen (Hundegruppe, Scha-      und 1930 ältere noch im Lager vorhandene
le mit Eisbären, Schale mit Füchsen) bzw. die    Weißporzellane mit zeitgemäßen Dekors be-
Putten mit Schale, die Schale mit Traubenes-     malt. Aber auch die bekannten Firmenpro-
ser, die Schlangenbändigerin sowie die Mas-      dukte in den Traditionsfarben der Lettiner
kenballszene. Derartige Tier- bzw. Figuren-      Porzellanfabrik wie »Baensch-Rot« und Ko-
gruppen hatte die Lettiner Porzellanfabrik in    balt wurden zunehmend mit modernen De-
den Jahren zuvor gar nicht im Sortiment. Diese   koren versehen.
basierten überwiegend auf Entwürfen des be-      Damit konnte die Zahl der Beschäftigten in
deutenden Designers/Modelleurs Hans Kie-         der Lettiner Porzellanfabrik zwar bis 1929 auf
weg für die Kunstabteilung der Porzellanfabrik   200 gesteigert werden, wozu etwa fünf bis
Fraureuth aus dem Jahre 1919 und wurden ab       sieben Porzellanmaler, mehrere Porzellandre-
1927 auch im Lettiner Werk produziert. Die       her und -former, Porzellanbrennerei-Arbeiter,
1866 gegründete Porzellanfabrik Fraureuth im     Schlämmerei- und Mühlenarbeiter, Kapsel-
gleichnamigen Ort war ein Hersteller von Ge-     dreher, Porzellanpacker und Hofarbeiter ge-
brauchs- und Zierporzellan. Sie musste 1926      hörten. Wirtschaftlich waren diese Arbeits-
Konkurs anmelden. Alfred Baensch muss es         plätze jedoch keinesfalls sicher.
also gelungen sein, zumindest einige der For-    Der Anteil des Exportgeschäfts an der Letti-
men aus der Konkursmasse zu erwerben und         ner Porzellangesamtproduktion konnte in
deren Produktion in hoher Qualität auch in der   dieser Zeit zwar auf 5 bis 20 % gesteigert
Lettiner Fabrik zu realisieren. Zum Beispiel
zeigt die Art Déco Schale drei Eisbären an ei-
                                                                                Keksdose, Art Déco;
nem Wasserbecken (Höhe: 14 cm, Breite: 35 cm)                    Unterglasurmarke: 1927–1931 in grün
in absolut naturgetreuer Ausarbeitung und
die Ausformung ist von sehr hoher künstleri-
scher Qualität. Zwar beschäftigte die
Lettiner Porzellanmanufaktur bis
Anfang der 1930er Jahre noch
keinen eigenen hauptamtli-
chen Designer bzw. Modelleur,
aber auch die im Betrieb be-
schäftigen Porzellanmaler schei-
nen zahlreiche der umgesetzten
modernen Dekore in der Art Déco-
Zeit geschaffen zu haben.

                                                                                                 25
werden, war aber im wesentlichen kreditvor-      26 ausländische Firmen und deren Vertreter
finanziert und damit äußerst krisenanfällig.     Kaufinteresse für die in überwiegend neuen
Die Hauptexportländer waren Frankreich,          Formen, Dekoren und modernen Design (Art
England, Spanien, die Tschechoslowakei, Nord-    Déco) angebotenen Lettiner Gebrauchs- und
und Südamerika. Das Exportgeschäft wurde         Luxusporzellane, aber Abschlüsse konnten
jedoch durch die starke tschechische und ja-     keine getätigt werden. Damit hatte zwar Alf-
panische Konkurrenz und damit gedrückte          red Baensch mit seiner Firma künstlerisch den
Preise, hohe Zollsätze des Auslandes, sowie      Höhepunkt in der Herstellung von Lettiner
die damals vorherrschenden verlängerten          Gebrauchs- und vor allem Luxusporzellanen,
Zahlungsfristen bis zu mehreren Monaten er-      die durchaus auf dem internationalen Porzel-
schwert. Um überhaupt im Auslandsgeschäft        lanmarkt konkurrenzfähig waren, Anfang der
noch erfolgreich zu sein, musste die Ge-         1930er Jahre erreicht; wirtschaftlich stand das
schäftsführung der Lettiner Porzellanfabrik      Unternehmen jedoch sehr schlecht da. Der
außerdem starke Preiskonzessionen akzeptie-      notwendige Absatz für die hochwertigen Let-
ren, was zwangsläufig zu einer nur sehr gerin-   tiner Porzellanerzeugnisse und damit die er-
gen Gewinnspanne führte. Die damit verbun-       forderliche Umsatzsteigerung konnten nicht
denen negativen Auswirkungen zeigten sich        realisiert werden.
besonders nach der im Oktober 1929 mit dem       Schon zu Beginn der Weltwirtschaftskrise las-
New Yorker Börsencrash ausbrechenden Welt-       tete auf der Lettiner Porzellanfabrik ein er-
wirtschaftskrise. Auf der Leipziger Herbstmes-   heblicher Schuldenberg. Allein die Sparkasse
se 1930 bekundeten zwar 79 inländische und       des Saalkreises hatte mit 130 000 Reichsmark
                                                 und der Tierarzt Dr. Paul Meyer aus Salzmün-
                                                 de mit 80 000 Reichsmark den Firmeninha-
Firma Baensch, Messekatalog 1927/28,
Farbtafel IX                                     ber Alfred Baensch Hypotheken gegeben, um
                                                 die Erweiterung des Inland- und Exportge-
                                                                schäfts durch neue Innovatio-
                                                                nen und eine Teilmodernisie-
                                                                rung der Produktionsanlagen
                                                                vorzufinanzieren. In der Zeit
                                                                der Konjunktur konnten die
                                                                dafür erforderlichen hohen
                                                                Zinsen erwirtschaftet werden
                                                                und die Fabrik einen leichten
                                                                Gewinn erzielen. In der Welt-
                                                                wirtschaftskrise aber konnte
                                                                die Lettiner Porzellanfabrik je-
                                                                doch dem Wettbewerbsdruck
                                                                anderer Marktteilnehmer auf
                                                                dem eng umkämpften Porzel-
                                                                lanmarkt trotz eines moder-
                                                                nen Sortiments an Gebrauchs-

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und Luxusprozellanen – wie viele andere            und führte die Porzellanproduktion bis 1945
Porzellanbetriebe – nicht lange standhalten.       fort. Ab 1940 wurden dabei in Lettin zuneh-
Mit der Umwandlung der seit 1. Juli 1906           mend Elektroteile aus Porzellan, hauptsäch-
noch von Heinrich Baensch eingetragenen            lich Flugzeug- und U-Bootsicherungen, herge-
bestehenden Betriebsform der Firma als             stellt. Erstmals 1944 konnte die Porzellanfab-
Offene Handelsgesellschaft hatte Alfred            rik Lettin GmbH seit der Gründung 1935 einen
Baensch am 15. Januar 1931 sich als persönlich     Gewinn erwirtschaften. Zu dieser Zeit entfie-
haftender Gesellschafter im Handelsregister        len nur noch etwa 20 % der Produktion auf die
eintragen lassen und damit versucht, durch         Herstellung von Gebrauchs- , Zier- bzw. Luxus-
den Einsatz seines Privatvermögens die Letti-      porzellan und rund 80 % waren Rüstungsauf-
ner Porzellanfabrik und die Arbeitsplätze der      träge, vor allem Porzellansicherungen ver-
damals rund 200 Beschäftigten noch zu ret-         schiedenster Art. Positiv ist dabei zu bemer-
ten. Am 21. Januar 1931 musste Alfred Baensch      ken, dass seit dem ersten Konkurs im Januar
jedoch Konkurs anmelden und wurde damit            1931 trotz aller finanziellen Probleme und
selbst bettelarm. Seine Villa in Lettin (Stadel-   kaum erfolgten Investitionen zwischen 1931
berg 9) ging neben der Firma und weiterem          und 1945 die Produktion in der Lettiner Porzel-
recht umfangreichen Grundbesitz in Lettin          lanfabrik nahezu durchgehend aufrechterhal-
und der näheren Umgebung in die Konkurs-           ten werden konnte und rund 100 bis 150 Ar-
masse und wurde Eigentum des Hauptgläubi-          beitsplätze durchschnittlich in dieser Zeit ge-
gers, der Sparkasse des Saalkreises. Alfred        sichert werden konnten.
Baensch starb im 70. Lebensjahre stehend am        Ab 1. April 1946 wurde die Porzellanfabrik Let-
26. Januar 1942 als armer, einsamer Privat-        tin unter Zwangsverwaltung durch die Provinz
mann in einer kleinen Mietwohnung in der           Sachsen gestellt. Von 1948 bis zur Schließung
Dölauer Zechenhausstraße 6.                        der Produktionsstätte in Lettin am 31. Dezem-
Um die Porzellanfabrik Lettin und damit die        ber 1990 und anschließender Beräumung des
Porzellanfabrik im Ort als größten Arbeitge-       Werksgeländes wurde durch den volkseigenen
ber für den Ort und die Umgebung vielleicht        Betrieb (VEB) Porzellanwerk Lettin Halle/Saale
doch noch zu retten, bildete sich aus den          im Ort Porzellan hergestellt.
Hauptgläubigern ein Konsortium das die             Zum Jahreswechsel 1990/1991 endete damit
Firma fortführte und diese am 7. Juli 1931 in      nach der Betriebsgründung Ende 1858 eine
eine Aktiengesellschaft mit dem Namen »Por-        über 130jährige Firmengeschichte. Heute
zellanfabrik Lettin, vormals Heinrich Baensch      werden unter der 2008 von dem hallischen
AG.« umwandelte. Durch die hohe Hypothe-           Arzt und Nuklearmediziner Thomas Steuber
kenlast hatte die Aktiengesellschaft keinen        erworbenen Marke »Lettiner Porzellan« in
langen Bestand. Nach mehreren Interimslö-          limitierter Auflage wieder exklusive Objekte
sungen übernahm schließlich 1935 die Wick-         aus Porzellan, vor allem Künstler-Medaillen,
mann-Werke AG in Witten-Annen für 40 000           Kleinplastiken und ausgewählte Einzelstücke
Reichsmark mit dem gesamten Inventar und           hergestellt. Diese werden meist von halli-
allen Liegenschaften den Betrieb. Am 30. März      schen Künstlern entworfen und gestaltet.
1936 wurde die Aktiengesellschaft »Porzellan-
fabrik Lettin« in eine GmbH umgewandelt

                                                                                               27
Halle in den 1920er Jahren
Athleten, Sportlerinnen und Vereine in Zeiten
der polarisierenden Moderne
Prof. Dr. habil. Stefan Lehmann
Leiter des Archäologischen Museums der MLU Halle-Wittenberg, i. R.

Vor 100 Jahren, kurz nach dem Ende des Ers-       mit einem Schwerpunkt in der Leibeserzie-
ten Weltkrieges und der Novemberrevolution,       hung wuchs sich der Zuspruch zum Sport zu
tagte ab Anfang Februar 1919 die verfassung-      einer Massenbewegung aus. Allerdings hatte
gebende Nationalversammlung im Deut-              sich bereits vor dem Weltkrieg ein wettkampf-
schen Nationaltheater in Weimar.                  orientierter moderner Sportbetrieb heraus-
Diese Gelegenheit nutzte der Dachverband          gebildet, in dem sich schnell unterschiedliche
des Sports in Deutschland zur politischen Ein-    Sport- und Wettkampfdisziplinen differen-
flussnahme, indem Vertreter des »Deutsche         zierten und neu etablierten. Die zahlreich
Reichsausschusses für Leibesübungen« (DRA)        vorhandenen Vereine organisierten sich in
der Nationalversammlung eine Denkschrift          übergreifenden Sportverbänden, und insge-
überreichten. In dieser waren sieben Forde-       samt erfreute sich der Sport eines wachsen-
rungen zu Leibesübungen, Turnen, Spiel und        den und großen Zuspruchs in der Bevölke-
Sport formuliert, die in Bälde gesetzlich gere-   rung. Allerdings kann für die Zeit vor dem
gelt werden sollten:                              Ersten Weltkrieg noch nicht von einem Mas-
1. Bau von Übungsstätten und Sportplätzen;        sencharakter der Sportbewegung gesprochen
2. Sportpflicht an den Schulen; 3. Turnunter-     werden. So zählten etwa die Deutsche Tur-
richt auch an den weiterführenden Schulen;        nerschaft ca. 1,4 Millionen und die Arbeiter-
4. Tägliche Sportstunde; 5. Beibehaltung der      Turn- und Sportbewegung etwa 400.000
Sommerzeit; 6. Staatliche Finanzunterstüt-                                 Mitglieder. Frauen
zung für die Vereine sowie 7. Schaffung und                                und Jugendliche wa-
Ausbau staatlicher Ämter für Leibesübungen                                 ren generell deutlich
und Sport.                                                                 unterrepräsentiert.
Die vorgebrachten Forderungen mündeten
dann zwar nicht in entsprechende Gesetze,                                 Otto Blankenstein,
                                                                          von 1904–1919
doch verbesserte sich die Situation für den
                                                                          Vorstandsmitglied des
Sport und seine Stätten in den 1920er Jahren                              Saale-Regattavereins
spürbar. Unter den neuen politischen Bedin-                               und seit 1921 Leiter
                                                                          der Kanu-Abteilung des
gungen der Weimarer Republik sowie durch                                  Rudervereins Böllberg
die Reformbestrebungen in der Pädagogik

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