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Ausgabe 1.15 Denkmalpflege in Westfalen-Lippe Zur historischen Bedeutung des Strafgefängnisses in Münster Die ehemalige „Polizeiunterkunft Staatsminister Severing“ in Bochum
© 2015 Ardey-Verlag Münster Alle Rechte vorbehalten Layout: Matthias Grunert, Münster Druck: DruckVerlag Kettler, Bönen Printed in Germany ISSN 0947-8299 21. Jahrgang, Heft 1/15 Erscheinungsweise 2mal jährlich zum Preis von 4,50 Euro (Einzelheft) zuzüglich Versand über den Ardey-Verlag Münster An den Speichern 6 48157 Münster Herausgeber: LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen Redaktion: Dr. Jost Schäfer (Leitung) Dr. David Gropp Dr. Barbara Pankoke Dr. Dirk Strohmann Anschrift: LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen Fürstenbergstr. 15 48147 Münster dlbw@lwl.org Die Autoren der LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen: Wiss. Bibl. Sabine Becker M. A. Anne Bonnermann M. A. Dr. Dimitrij Davydov Anne Herden-Hubertus M. A. Dr. Fred Kaspar Katharina Kirchhoff M.A. Dipl.-Ing. Maria Nitzschke Dr. Barbara Pankoke Dr. Jost Schäfer Dipl.-Ing. Heike Schwalm Dr.-Ing. Barbara Seifen Dr. Knut Stegmann Dr. Dirk Strohmann Elisa Hoppe M. A. Hanegge 10 33813 Oerlinghausen Dr. Baoquan Song Institut für Archäologische Wissenschaften der Ruhr-Universität Bochum Am Bergbaumuseum 31 44791 Bochum Diese Zeitschrift steht zum Download auf unserer Homepage bereit www.lwl.org/dlbw
Inhalt Seite 3 Editorial Aufsätze Seite 4 Frustra legis auxilium quaerit qui in legem commitit? Zu den Folgen rechtswidrigen Verhaltens im Denkmalrecht Dimitrij Davydov Seite 9 Zur historischen Bedeutung des Strafgefängnisses in Münster Jost Schäfer Seite 18 Das westfälische Bauernhaus als Kulturgut Elisa Hoppe Seite 24 Sanierung der Fassaden und Dachflächen des Erbdrostenhofes in Münster Barbara Seifen Seite 30 Das Autohaus S. Fuhrken in Bad Oeynhausen Ein moderner Funktionsbau für moderne Fahrzeuge Anne Herden-Hubertus Seite 34 Die ehemalige „Polizeiunterkunft Staatsminister Severing“ in Bochum Maria Nitzschke Seite 38 Luftbildarchäologie und Denkmaltopographie Baoquan Song Berichte aus der Denkmalpflege Seite 42 Bochum: Trauerhalle Ost auf dem Zentralfriedhof Freigrafendamm Knut Stegmann Seite 45 Gütersloh: Orte des Erinnerns und Gedenkens – Die Gedenkstätte für die ermordeten Psychiatrie-Patientinnen und -Patienten in der Zeit des Nationalsozialismus im LWL-Klinikum Barbara Pankoke Seite 47 Steinfurt: Lückenschluss in der Konzertgalerie im Bagno Dirk Strohmann Mitteilungen Seite 48 Rückblick: Fachtagung „Denkmalzukunft JVA Münster?“ Seite 50 LWL gründet „Westfälischen Kulturlandschaftskonvent“ Seite 50 „… in letzter Minute gerettet“ Ausstellung der Volontärinnen und Volontäre der Denkmalpflege Seite 51 Quo vadis Denkmalrecht? Kulturerbe zwischen Pflege und Recht. Tagung am 15.–17. Juli 2015 Seite 52 Neuerscheinungen des Amtes Seite 52 Neuerwerbungen der Bibliothek in Auswahl Seite 53 Personalia
3 Editorial ter Kolleginnen und Kollegen stellen zu können: Ich danke allen im Hause für ihr Engagement für die Sache, ihr Vertrauen in meine Arbeit, ihre Loya- lität und ihre Veränderungsbereitschaft! Tatsächlich brachten die letzten Jahre eine Reihe größerer organisatorischer Änderungen mit sich, insbesondere nach der am 1. April 2011 erfolgten Zusammenführung des LWL-Amtes für Denkmal- pflege in Westfalen mit dem LWL-Amt für Land- schafts- und Baukultur in Westfalen zum heutigen Kulturdienst. Vier komplementär entwickelte Fachreferate kümmern sich heute um die Belange der gebauten und gestalteten Umwelt und der Denkmalpflege: „Inventarisation und Baufor- schung“, „Praktische Denkmalpflege“, „Restaurie- rung und Dokumentation“ und „Städtebau und Landschaftskultur“. Die direkt der Leitung zu- Heute darf ich dieses Editorial dazu nutzen, mich geordneten Organisationseinheiten „Vermittlung von Ihnen als Landeskonservator für Westfalen- und Baukultur“ sowie „Justitiariat“ bündeln Ser- Lippe zu verabschieden: Nach knapp acht Jahren vicefunktionen für alle Referate: Ich bin sicher, dass als Leiter der Denkmalfachbehörde des Land- das Amt strukturell und personell zukunftssicher schaftsverbandes Westfalen-Lippe, die heute mit die anstehenden Aufgaben der kommenden Jahre einem erweiterten Aufgabenbereich als LWL- angehen kann. Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur fir- Den positiven Entwicklungen innerhalb des Amtes miert, werde ich zum 1. Mai 2015 nach Wiesbaden stehen besorgniserregende Fehlentwicklungen im wechseln, um dort als Präsident die Leitung des Bereich der Denkmalförderung und Denkmalpoli- hessischen Landesamts für Denkmalpflege zu über- tik auf Landesebene gegenüber: Erodierte direkte nehmen. In den vergangenen Jahren durfte ich die Fördermöglichkeiten verschlechtern die Überle- vielfältige, sehr heterogene Denkmallandschaft in benschancen kulturell bedeutsamer Denkmäler, Westfalen und Lippe kennenlernen – vom Tecklen- die keine eigene wirtschaftliche Tragkraft entwi- burger Land bis zum Siegerland, vom Westmüns- ckeln können. Diskussionen über eine Evaluierung terland bis zum Weserbergland rund um Höxter, des Denkmalschutzgesetzes zielen – zumindest im vom westfälischen Ruhrgebiet bis nach Minden- Bereich der Baudenkmalpflege – derzeit nicht auf Lübbecke. Bei zahlreichen Landräten, Bürgermeis- eine Behebung vorhandener struktureller Defizite, tern, Baudezernenten und Denkmaleigentümern sondern offenkundig eher auf eine Schwächung durfte ich für die Belange von Denkmalschutz und der Position des unabhängigen und daher manch- Denkmalpflege werben – mal mit mehr, mal mit mal auch unbequemen Fachamtes: Ich wünsche weniger Erfolg für die Denkmäler vor Ort. meiner Nachfolgerin, meinem Nachfolger, dass sich Die Aufgaben der LWL-Denkmalpflege, Land- das Land wieder an die Erfolge und Stärken der schafts- und Baukultur werden wahrgenommen Denkmalpolitik der 1980er- und frühen 1990er- von einem interdisziplinär besetzten Team von Jahre in NRW erinnert und die Potentiale von Kolleginnen und Kollegen, die mit hoher fachli- Denkmälern für die städtebauliche Entwicklung cher Kompetenz, Ideenreichtum und intrinsischer gerade wirtschaftlich schwieriger Regionen nutzt. Motivation denkmalkundliche Beiträge erarbei- Mir wird meine Dienstzeit beim Landschaftsver- ten, kreative Vorschläge für substanzbewahrende band Westfalen-Lippe als eine beruflich intensive Nutzungen von Baudenkmälern einbringen, für und herausfordernde, menschlich und fachlich baukulturelle Belange werben, rechtliche Hin- bereichernde Zeit in Erinnerung bleiben. Ich freue weise geben und fachlich die Entwicklung von Kul- mich darauf, dass mich die in dieser Zeit entstande- turlandschaften begleiten. Die Qualität der Arbeit nen Freundschaften und beruflichen Kontakte im- eines Fachamtes steht und fällt mit der Kompetenz mer wieder nach Westfalen-Lippe führen werden. seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Ich bin froh und glücklich darüber, dass es in den letzten Jahren gelungen ist, den Generationswechsel ins- besondere in den Bereichen der Praktischen Denk- malpflege und der Restaurierung konstruktiv zu gestalten und junge, hochqualifizierte Kollegin- nen und Kollegen an die Seite bewährt-kompeten- Dr. Markus Harzenetter, Landeskonservator
4 Dimitrij Davydov Frustra legis auxilium quaerit qui in legem commitit? Zu den Folgen rechtswidrigen Verhaltens im Denkmalrecht Die auf das römische Recht zurückgehende Regel „Frustra legis auxilium quaerit qui in legem commitit“1 sollte einer missbräuchlichen Rechtsanwendung einen Riegel vorschieben. Ihr lag der nachvollziehbare Gedanke zugrunde, dass niemand aus einem gesetzeswidrigen Verhal- ten einen Vorteil schöpfen sollte. In der Praxis der öffentlichen Verwaltung – auch im Bereich des Denkmalschutzes – ist jedoch nicht selten das Gegenteil der Fall: Derjenige, der die vor- geschriebenen Verfahren umgeht oder die gesetzlichen Verpflichtungen missachtet, erlangt im Ergebnis eine Rechtsposition, die einem rechtstreuen Bürger bei strikter Gesetzesanwen- dung verwehrt gewesen wäre. Die bestehenden gesetzlichen Regelungen bieten, jedenfalls bei vordergründiger Betrachtung, kaum Instrumente zur Abwehr rechtsmissbräuchlichen Ver- haltens. Es darf jedoch der Sinn und Zweck der denkmalrechtlichen Bestimmungen – der Pflichten und der Rechte gleichermaßen – nicht aus den Augen verloren werden. Erlaubnisverfahren Abs. 1 Satz 1 BauO NRW) enthält lediglich die all- Dass die Einzelfallgerechtigkeit in der Verwal- gemeine Aussage, dass die Errichtung, die Ände- tungspraxis der Denkmalbehörden mitunter an rung, die Nutzungsänderung und der Abbruch ihre Grenzen stößt, demonstriert der Umgang der baulicher Anlagen sowie anderer Anlagen und Ein- Denkmalbehörden mit den Verstößen gegen die richtungen im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 2 der Bau- denkmalrechtliche Erlaubnispflicht. Die verbrei- genehmigung bedürfen, ohne dass daraus der tete Vorgehensweise, die denkmalrechtliche Er- Zeitpunkt der behördlichen Prüfung – vor Beginn laubnis auch noch nach der Ausführung des er- der Baumaßnahme – zwingend abzuleiten wäre. laubnispflichtigen Bauvorhabens zu erteilen, wird Erst aus § 75 Abs. 5 BauO NRW ergibt sich, dass mit kaum kritisch reflektiert. Dabei ist die Nachholung der Bauausführung vor Zugang der Baugenehmi- des Erlaubnisverfahrens nicht nur rechtspolitisch – gung nicht begonnen werden darf. Der Wortlaut wegen der damit scheinbar suggerierten Beliebig- des Denkmalschutzgesetzes ist eindeutiger: Ge- keit des Zeitpunkts der denkmalfachlichen Beurtei- mäß § 9 Abs. 1a DSchG NRW bedarf der Erlaubnis lung – zweifelhaft, sondern es fehlt auch an greif- der Unteren Denkmalbehörde, wer Denkmäler ver- baren Anhaltspunkten für ihre rechtsdogmatische ändern oder beseitigen, ihre Nutzung ändern oder Begründung. sie an einen anderen Ort verbringen „will“. Ge- Im Bauordnungsrecht ist die nachträgliche Billi- genstand der denkmalrechtlichen Prüfung ist so- gung (Legalisierung) von Schwarzbauten gängige mit stets eine geplante, in der Zukunft liegende Praxis. Zwar dient die Baugenehmigung grund- Maßnahme und nicht eine bereits ausgeführte. sätzlich dazu, die Rechtmäßigkeit des Bauvorha- Ob das Denkmalschutzgesetz nicht dennoch die bens vorab zu prüfen.2 Stellt sich jedoch im Nach- Möglichkeit einer nachträglichen Erlaubnisertei- hinein heraus, dass einem ohne Genehmigung aus- lung eröffnet, hängt mit der Funktion des in geführten genehmigungspflichtigen Bauvorhaben § 9 DSchG NRW verankerten präventiven Besei- öffentlich-rechtliche – insbesondere bauplanungs- tigungs- und Veränderungsverbots zusammen. und bauordnungsrechtliche – Vorschriften nicht Diese besteht darin, die beabsichtigten Maßnah- entgegenstehen (§ 75 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW), be- men gerade einer vorherigen Denkmalverträglich- steht kein Grund, dem Bauherrn eine verbindliche keitsprüfung zu unterziehen5 und gegebenenfalls Feststellung der Vereinbarkeit des Vorhabens mit im Wege von Nebenbestimmungen sicherzustel- den Bauvorschriften zu verweigern.3 Die rechtmä- len, dass den Zielen der Denkmalpflege Rechnung ßigen Zustände werden dann durch die Nachho- getragen wird. Denn nur auf diese Weise können lung der unterbliebenen Verfahrensschritte herge- Änderungswünsche des Bauherrn rechtzeitig, also stellt.4 Diese Vorgehensweise auf die Fälle der ille- vor der ggf. drohenden Vernichtung historischer galen Ausführung von erlaubnispflichtigen Maß- Bausubstanz, in fachlich einwandfreier Weise ge- nahmen im Denkmalrecht zu übertragen, liegt steuert werden.6 Die Denkmalbehörde soll sich zunächst nicht fern. Bei näherer Betrachtung er- vorab den Eindruck verschaffen können, so dass sie geben sich jedoch Zweifel an der Vergleichbarkeit in die Lage versetzt wird, zu entscheiden, ob die des bauordnungsrechtlichen Genehmigungsvorbe- begehrte Maßnahme ohne jede Einschränkung halts mit seiner denkmalrechtlichen Parallelvor- oder mit Nebenbestimmungen oder aber über- schrift. haupt nicht zugelassen werden kann. So stellt das Bestimmte Nuancen lassen sich bereits auf der Amtsgericht Düsseldorf zutreffend fest, eine An- Ebene des Gesetzeswortlauts feststellen. Der bau- zeige an die Untere Denkmalbehörde mit dem Ziel ordnungsrechtliche Genehmigungstatbestand (§ 63 der nachträglichen Genehmigung macht keinen
5 Sinn mehr, wenn eine Veränderung oder gar Be- derjenige, der ein Bau- oder Bodendenkmal zer- seitigung des Denkmals bereits stattgefunden stören oder beschädigen will, vorab die notwendi- hat.7 gen wissenschaftlichen Untersuchungen, etwa Ein weiterer Unterschied zwischen dem baurechtli- eine archäologische Rettungsgrabung oder eine chen Genehmigungsverfahren und dem denkmal- bauhistorische Befunddokumentation, auf eigene rechtlichen Erlaubnisverfahren betrifft das Prüf- Kosten sicherstellen muss. Dem Verursacherprinzip programm der jeweils zuständigen Behörde. Prü- liegt offensichtlich der Kompensationsgedanke zu- fungsgegenstand der für die Erteilung der Bauge- grunde: Wenn der Begünstigte einer denkmal- nehmigung zuständigen Bauaufsichtsbehörde sind rechtlichen Erlaubnis, die eine Zerstörung oder Be- Umstände, die typischerweise selbst nach der Aus- schädigung eines Denkmals gestattet, dem kultu- führung der Baumaßnahme feststellbar sind. So rellen Erbe einen Schaden zufügt, ist er zumindest lässt sich regelmäßig auch noch nachträglich er- mitverantwortlich für die Bewahrung dessen, was mitteln, ob z. B. ein Neubau mit den Festsetzungen durch die Baumaßnahmen in Mitleidenschaft ge- eines qualifizierten Bebauungsplans im Einklang zogen wird.9 Führt der Eigentümer oder Besitzer steht (§ 31 Abs. 1 BauGB) oder sich in die Eigenart eines Denkmals einen erlaubnispflichtigen Eingriff der näheren Umgebung einfügt (§ 34 Abs. 1 Satz 1 aus, ohne die Erlaubnis eingeholt zu haben, nimmt BauGB), ob die vorgeschriebenen Abstandsflächen er der Unteren Denkmalbehörde und dem Denk- (§ 6 BauO NRW) oder Mindestraumhöhen (§ 48 malpflegeamt des Landschaftsverbandes dadurch Abs. 1 BauO NRW) eingehalten werden usw. Dem- die Möglichkeit, vor Beginn der Maßnahme zu ent- gegenüber ergibt sich für das Prüfprogramm der scheiden, ob und in welchem Umfang vorherige Denkmalbehörden im denkmalrechtlichen Erlaub- oder maßnahmenbegleitende bauhistorische oder nisverfahren ein anderes Bild. Die hier gebotene archäologische Untersuchungen erforderlich sind. Abwägung zwischen den Belangen des Denkmal- Das Anliegen des Gesetzgebers, den Verursacher schutzes und den gegenläufigen privaten und öf- des Eingriffs wenigstens für die Sicherung des fentlichen Interessen setzt stets eine einzelfallbe- Denkmals als Sekundärquelle in Anspruch zu neh- zogene Ermittlung und Gewichtung der konkret men, wird damit vereitelt. betroffenen Interessen voraus. Die Spezifik der im Die Übertragung der baurechtlichen Praxis der Denkmalrecht entscheidungsrelevanten Umstände nachträglichen Legalisierung von Schwarzbauten besteht indes darin, dass sie vielfach im Nachhinein auf das denkmalrechtliche Erlaubnisverfahren ist nicht mehr ermittelt werden können. Denn je nach nach alledem geeignet, den rechtswidrig agieren- geplantem Eingriff kann die Bewertung seiner den Bauherrn gegenüber dem rechtstreuen Bürger Schwere und Tragweite z. B. bauarchäologische zu bevorzugen, da sie die Möglichkeit eröffnet, die Voruntersuchungen erforderlich machen, in deren erlaubnispflichtige Maßnahme entweder über- Rahmen der Zeugniswert des Denkmals erst hinrei- haupt oder jedenfalls erheblich schneller und un- chend präzisiert wird. Für die Abwägung relevant ter Umgehung von aufwändigen Nebenbestim- kann auch der Erhaltungszustand der denkmal- mungen zu realisieren. Die nachträgliche Erlaubnis- werten Substanz sein: Ist diese abgängig und nicht erteilung entfaltet zugleich eine negative Vorbild- mehr zu retten, kann dem Wunsch nach Substanz- wirkung, die durch die in § 41 DSchG NRW einge- erneuerung aus denkmalfachlicher Sicht nichts räumte Möglichkeit, Verstöße gegen die Verfah- entgegengesetzt werden; andernfalls gilt der Vor- renspflicht mit einem Bußgeld zu ahnden, erfah- rang der Substanzerhaltung. Gerade im Abbruch- rungsgemäß nicht eingedämmt wird. Es kann da- verfahren führt die Feststellung, dass ein Denkmal mit im Ergebnis schwerlich davon die Rede sein, in seiner Gesamtheit – oder zumindest hinsichtlich dass durch Nachholung des Erlaubnisverfahrens seiner charakteristischen, den Zeugniswert konsti- rechtmäßige Zustände hergestellt werden.10 tuierenden Merkmale – technisch nicht mehr in- standgesetzt werden kann, so dass am Ende einer Zumutbarkeitsprüfung Sanierung des Denkmals ein Nachbau entstünde, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Be- zur Erlaubnisfähigkeit des Abbruchs.8 Dass dem so schränkung der Belastung des Denkmaleigen- ist, muss der Antragsteller im Rahmen des ord- tümers auf ein erträgliches Maß durchziehen – zu nungsgemäßen – also vorherigen – Erlaubnisver- Recht – wie ein roter Faden das gesamte Denkmal- fahrens grundsätzlich selbst darlegen und gegebe- recht und begrenzen die Eingriffsbefugnisse der nenfalls beweisen. Aus der nachträglichen Per- Denkmalbehörden. So folgt beispielsweise aus § 7 spektive lässt sich allerdings nicht mehr mit Sicher- Abs. 1 DSchG NRW, dass dem Denkmaleigentümer heit feststellen, ob die bereits beseitigte Substanz keine Instandsetzungs- oder Instandhaltungsarbei- zum Zeitpunkt des Eingriffs erhaltungsfähig war ten abverlangt werden können, die ihm nicht zu- oder nicht. mutbar sind.11 Diese rechtstaatlich gebotenen In- Einen wesentlichen Unterschied zwischen dem strumente zur Herstellung einer Balance zwischen bauordnungsrechtlichen Genehmigungs- und dem dem Interesse der Öffentlichkeit an der Erhaltung denkmalrechtlichen Erlaubnisvorbehalt macht des kulturellen Erbes und den berechtigten Anlie- schließlich das in § 29 Abs. 1 DSchG NRW ausdrück- gen des Denkmaleigentümers erweisen sich jedoch lich verankerte Verursacherprinzip aus, wonach bei näherer Betrachtung als missbrauchsanfällig.
6 Als eine Achillesferse stellt sich dabei das etablierte mit hatte der Kläger mit seiner Argumentation, die Schema für die Ermittlung der wirtschaftlichen Zu- Erhaltung der Kapelle sei aus ihren Erträgen nicht mutbarkeit dar, das einerseits im Zusammenhang finanzierbar, im Ergebnis keinen Erfolg. mit dem Erlass von Erhaltungsanordnungen der Fraglich ist allerdings, ob die Argumentation des Denkmalbehörden (§ 7 Abs. 2 DSchG NRW), ande- Bundesverfassungsgerichts auch auf weitere Fälle rerseits im Zusammenhang mit der Bescheidung der bewussten und zielgerichteten Herbeiführung von Erlaubnisanträgen eingriffswilliger Denkmal- der Ertragslosigkeit übertragbar ist, also beispiels- eigentümer (§ 9 Abs. 1 a DSchG NRW) angewandt weise auf den Fall der eigentumsrechtlichen Auf- wird. Die Rechtsprechung geht nämlich davon aus, spaltung einer wirtschaftlichen Gesamtheit, die – dass die Zumutbarkeit der wirtschaftlichen Belas- anders als im „Schlosskapellenfall“ – nicht insge- tung des Denkmaleigentümers nicht subjektiv, samt unter Denkmalschutz steht. Wendet man die etwa anhand seiner wirtschaftlichen Verhältnisse, Rechtsfigur des „dem Denkmalschutz aufgeschlos- sondern objektiv-objektbezogen, anhand der Er- senen Eigentümers“ konsequent an, müsste jeder träge und des Gebrauchswertes des konkreten Versuch, die Ertragschancen eines Denkmals, etwa Denkmalobjekts ermittelt werden muss.12 Auf den durch Ausparzellierung von Baugrundstücken, zu Punkt gebracht, lautet die Forderung, ein Denkmal minimieren, als rechtsmissbräuchlich betrachtet müsse sich auf Dauer „selbst tragen“, damit seine werden. Die Konsequenz wäre dann, dass die Ein- Erhaltung zumutbar ist.13 Dabei zeichnet sich aller- nahmen aus der Grundstücksveräußerung nicht dings die Gefahr ab, dass einem störenden Denk- mehr als „sonstiges Vermögen“ des Denkmal- mal sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der eigentümers angesehen werden dürften, sondern Ausgabenseite zur „Untragbarkeit“ verholfen auf der Ertragsseite dem Denkmal zugerechnet werden kann. werden müssten. Bei der Ermittlung der Einnahmen ist es grundsätz- Bei der Ermittlung der wirtschaftlichen Belastung lich sachgerecht, das Ertragspotential des gesam- werden nach gefestigter Rechtsprechung sämtli- ten im Eigentum des Betroffenen stehenden che laufenden und einmaligen Kosten, die für das Grundstücks in den Blick zu nehmen; dies ist mitt- Objekt anfallen, berücksichtigt.17 Geht es dabei um lerweile auch in der Rechtsprechung anerkannt.14 Aufwendungen, die notwendig sind, um das Denk- Diese Anforderung wird jedoch in der Praxis teil- mal in einen gebrauchsfähigen Zustand zu verset- weise durch die – denkmalrechtlich grundsätzlich zen, insbesondere um Kosten der Beseitigung von erlaubnisfreie – Grundstücksteilung unterlaufen, Substanzschäden, stellt sich die Frage, inwieweit indem Denkmalgrundstücke geschaffen werden, eine vorsätzliche oder zumindest fahrlässige Ver- die weitgehend auf die Grundfläche des Denkmals nachlässigung der Denkmalsubstanz dem nicht er- reduziert und deshalb einer wirtschaftlichen Ver- haltungswilligen Eigentümer zugutekommen wertung kaum noch zugänglich sind. Das Bundes- kann. Im Zusammenhang mit den Erhaltungsan- verfassungsgericht hat der bewussten Reduzie- ordnungen der Denkmalbehörden (§ 7 Abs. 2 rung von Denkmalgrundstücken in seiner „Schloss- DSchG NRW) ergibt sich aus § 7 Abs. 1 Satz 3 DSchG kapellenentscheidung“, bei der es um die Zumut- NRW, dass Denkmaleigentümer und sonstige Nut- barkeit der Erhaltung einer aus einer denkmalge- zungsberechtigte sich auf solche Belastungen schützten Gesamtanlage durch Grundstückstei- durch erhöhte Erhaltungskosten nicht berufen lung „herausgeschnittenen“ Schlosskapelle ging, können, die dadurch verursacht worden sind, „dass einen Riegel vorgeschoben.15 Dabei verwies es auf Erhaltungsmaßnahmen entgegen dem DSchG oder seine bisherige Rechtsprechung zum Verhältnis entgegen anderen öffentlich-rechtlichen Bestim- von Denkmalschutz und Eigentumsfreiheit: Die Er- mungen unterblieben sind.“ Damit ist sicherge- haltung des Denkmals sei dem Betroffenen erst stellt, dass die Zumutbarkeitsschwelle in Fällen des dann nicht zumutbar, wenn selbst aus der Sicht ei- § 7 Abs. 2 DSchG sich zu Lasten des Denkmaleigen- nes dem Denkmalschutz gegenüber aufgeschlosse- tümers verschiebt, wenn der Instandsetzungsbe- nen Denkmaleigentümers keine wirtschaftlich darf des Denkmals auf den gesetzwidrig unterlas- sinnvolle Nutzungsmöglichkeit mehr bestehe und senen Bauunterhalt zurückzuführen ist.18 das Denkmal auch praktisch nicht zu veräußern Den in § 7 Abs. 1 Satz 3 DSchG NRW zum Ausdruck sei.16 Im „Schlosskapellenfall“ gab gerade die vom kommenden Rechtsgedanken überträgt die Recht- Bundesverfassungsgericht verwendete Rechtsfigur sprechung auf das denkmalrechtliche Erlaubnisver- des „dem Denkmalschutz aufgeschlossenen Eigen- fahren, indem wirtschaftlichen Belastungen, die tümers“ den Ausschlag. So führte das Gericht aus, aus vorausgegangenen Verletzungen denkmal- ein dem Denkmalschutz aufgeschlossener Eigentü- rechtlicher Pflichten resultieren, im Rahmen der mer würde eine unter Denkmalschutz gestellte Ge- hier gebotenen Interessenabwägung die Anerken- samtanlage nicht zu dem Zweck, die Voraussetzun- nung versagt wird.19 Zur Begründung führt das gen der vermeintlichen Unzumutbarkeit der Erhal- OVG NRW aus, der Eigentümer eines Denkmals tung eines Teils des Denkmals zu schaffen, eigen- könnte sonst „bei hinreichend langer Vernachlässi- tumsrechtlich aufspalten; eine dem Denkmal- gung des Denkmals regelmäßig die teilweise oder schutz aufgeschlossene Person würde eine derar- völlige Aufgabe des Denkmalschutzes erzwingen.“ tige Eigentumsposition auch nicht erwerben. Da- Da das OVG NRW in diesem Zusammenhang neben
7 § 7 Abs. 1 Satz 3 DSchG NRW stets auch § 27 DSchG von Amts wegen und nicht etwa auf Antrag des NRW zitiert, ist anzunehmen, dass nicht nur eine Betroffenen vorsieht, wird ein Antragsrecht und, passive Vernachlässigung der Denkmalsubstanz, damit einhergehend, ein einklagbarer Anspruch sondern – erst Recht – ihre aktive Schädigung zur des Denkmaleigentümers auf Löschung der Eintra- partiellen oder vollständigen Aberkennung der da- gung analog § 3 Abs. 4 DSchG grundsätzlich aner- raus erwachsenden Kosten im Rahmen der Zumut- kannt. Denn eine Gesetzesauslegung, die einen barkeitsprüfung führen muss. solchen Anspruch verneinen würde, würde den Ei- Die Verantwortung des Denkmaleigentümers für gentümer in unverhältnismäßiger Weise in An- die Höhe des Erhaltungsaufwands kann unter Um- spruch nehmen, ohne dass dies auch weiterhin ständen durch weitere subjektive Faktoren, etwa durch das die Eintragung begründende besondere ein Fehlverhalten des Betroffenen beim Erwerb öffentliche Interesse gerechtfertigt wäre.23 des Denkmals, verschärft werden. Denn das Bun- Zweifelhaft ist jedoch, ob der Eigentümer eines be- desverfassungsgericht geht davon aus, dass bei der schädigten und vermeintlich abgängigen Denk- Beurteilung dessen, was dem Denkmaleigentümer mals durch die Fortdauer der Unterschutzstellung im Interesse des Gemeinwohls zugemutet werden auch dann unverhältnismäßig belastet ist, wenn er kann, auch maßgeblich ist, ob er die entspre- die Umstände, die seiner Auffassung nach zum chende Belastung oder zumindest das Risiko einer Untergang der Denkmaleigenschaft geführt ha- solchen Belastung beim Grundstückserwerb ge- ben, selbst zu verantworten hat, also das Denkmal kannt hat.20 Daraus ergeben sich nach der Auffas- mutwillig beschädigt hat oder sehenden Auges hat sung des VG Köln über die ansonsten angezeigte verfallen lassen. Das OVG NRW hat im Jahre 2007 Kürzung der geltend gemachten Erhaltungsauf- die Grenzen der analogen Anwendung des § 3 wendungen hinausgehende Konsequenzen: Wird Abs. 4 DSchG NRW aufgezeigt: Ein Anspruch auf ein bestimmungsgemäß genutztes Denkmal in Löschung der Eintragung sei dann ausgeschlossen, Kenntnis der Denkmaleigenschaft und seiner ge- wenn Veränderungen, auf die sich der Betroffene gebenen Sanierungsbedürftigkeit günstig mit der beruft, durch Verstöße gegen die Erhaltungspflicht offenkundigen Absicht erworben, es nicht zu er- (§ 7 Abs. 1 Satz 1 DSchG) oder das Veränderungs- halten, sondern das Grundstück bestmöglich zu verbot (§ 9 Abs. 1 DSchG) eingetreten sind.24 Auch verwerten und wird das Denkmal anschließend in dieser Einschränkung kommt die bereits ange- über Jahre hinweg dem Verfall anheim gegeben, sprochene Erwägung zum Ausdruck, dass es dem lässt sich mit dem üblichen Prüfungsschema kein Denkmaleigentümer verwehrt sein muss, durch ge- sachgerechtes Ergebnis erzielen. In einem derarti- zielte Vernichtung oder auch nur durch hinrei- gen Fall kann sich der Eigentümer nach Auffassung chend lange Vernachlässigung des Denkmals die des Gerichts grundsätzlich nicht darauf berufen, Zurücknahme oder völlige Aufgabe des Denkmal- dass die Erhaltungs- und Unterhaltungskosten des schutzes zu erzwingen. Man könnte zwar einwen- Denkmals aus den erzielbaren Erträgen nicht ge- den, beim § 3 Abs. 1 DSchG NRW handele es sich deckt werden könnten.21 nicht um eine Sanktionsnorm, die sicherstellen soll, Damit zeigt sich, dass die objektiv-objektbezogene dass ein untergegangenes Denkmal weiterhin Zumutbarkeitsprüfung – zur Vermeidung von evi- rechtlich als existierend behandelt werden soll. Al- dent ungerechten, den Rechtsmissbrauch begüns- lerdings geht es hier auch nicht um eine Verschie- tigenden Ergebnissen – in unterschiedlichen Fällen bung der behördlichen Beurteilungsmaßstäbe im einer Korrektur bedarf.22 Löschungsverfahren, sondern um eine Einschrän- kung der subjektiven Rechtsposition, mit der Kon- Untergang der Denkmaleigenschaft sequenz, dass die Löschung nicht einklagbar sein Außerhalb der Zumutbarkeitsprüfung taucht die soll, wenn die Denkmalbehörden zum Ergebnis ge- Frage nach den Folgen vorausgegangener Rechts- langen, dass die Voraussetzungen des § 3 Abs. 4 verstöße auch im Zusammenhang mit dem Fortfall DSchG nicht vorliegen. der Denkmaleigenschaft auf. Generell gilt, dass die Wenn die vorausgegangene aktive oder passive den Denkmalwert begründende Bedeutung eines Substanzschädigung im Rahmen des Löschungsver- Objekts entfällt, wenn die Originalsubstanz zer- fahrens zu Lasten des Antragstellers berücksichtigt stört oder so stark verändert ist, dass daran die his- werden muss, leuchtet nicht ein, dass dieses Ver- torischen Ereignisse, Entwicklungen oder Zusam- halten im Rahmen des denkmalrechtlichen Erlaub- menhänge, für die das Denkmal Zeugnis abgelegt nisverfahrens folgenlos bleiben soll. Dennoch hat hat, selbst für einen fachkundigen Betrachter nicht das OVG NRW in einem Abbruchverfahren im mehr ablesbar sind. In diesem Fall muss der Unter- Jahre 200925 den Anspruch auf die Beseitigung ei- schutzstellungsakt rückgängig gemacht werden: nes sanierungsbedürftigen Fachwerkhauses mit Bei einer vorläufigen Unterschutzstellung ist die der Erwägung bestätigt, die Sanierung des Objekts Unterschutzstellungsanordnung von Amts wegen würde faktisch zur Herstellung eines Neubaus füh- aufzuheben, bei einer endgültigen Unterschutz- ren und damit die Denkmaleigenschaft entfallen stellung die Eintragung in die Denkmalliste von lassen. Den Einwand der Denkmalbehörde, den Amts wegen zu löschen (§ 3 Abs. 4 DSchG NRW). schlechten bautechnischen Zustand habe der Klä- Obwohl das Gesetz eine Löschung der Eintragung ger selbst zu verantworten, hat das Gericht dabei
8 nicht gelten lassen: Es sei fraglich, ob der Rechts- Bau- und Bodendenkmälern und sonstigen Be- gedanke des § 7 Abs. 1 Satz 3 DSchG NRW, wonach standteilen des kulturellen Erbes gerichtet sind. sich ein Eigentümer nicht auf die dem öffentlichen Die Wirksamkeit dieser Regelungen hängt nicht al- Recht widersprechende Unterlassung von Erhal- lein von der Bereitschaft der Vollzugsbehörden ab, tungsarbeiten berufen kann, im Zusammenhang gegen erst drohende Gefahren einzuschreiten, überhaupt anwendbar ist. Aus § 27 Abs. 2 DSchG sondern letztlich auch von ihrer Intoleranz gegen- NRW folge nämlich, dass nur bei widerrechtlicher über schon eingetretenen Schäden. und schuldhafter Beschädigung und Zerstörung ei- nes Denkmals die Wiederherstellung ungeachtet Anmerkungen des Umstandes gefordert werden könne, dass die 1 Wörtlich: „Vergebens sucht die Hilfe des Gesetzes, wer Denkmalaussage mit dem Denkmal untergegan- selbst gegen das Gesetz verstößt“, s. Detlef Liebs (Hg.), gen sei. Mit dieser Argumentation setzt sich das Lateinische Rechtsregeln und Sprichwörter, 7. Aufl. 2007, OVG freilich über seine eigene, im Zusammenhang S. 88. mit § 9 mit der Zumutbarkeitsprüfung angestellte 2 Es entspricht dem Wesen einer Genehmigung/Erlaub- Erwägung hinweg, es könne nicht zugelassen wer- nis, dass die behördliche Kontrolle vor Beginn der verfah- den, dass eine hinreichend lange Vernachlässigung renspflichtigen Maßnahme erfolgen muss. Andernfalls des Denkmals Früchte trägt. Denn aus der Sicht des hätte es der Gesetzgeber bei einer bloßen Anzeige be- abbruchwilligen Eigentümers ist es gleich, ob er wenden lassen können. das pflichtwidrig vernachlässigte Denkmal nun un- 3 Vgl. OVG NRW, Urteil v. 18. 10. 2011 – 10 A 26/09 – ter Berufung auf die vermeintlich fehlende Zumut- NRWE. barkeit der Erhaltungskosten oder unter Berufung 4 Vgl. Christian-W. Otto, in: Finkelnburg/Ortloff/Otto, Öf- auf die vermeintlich fehlende Instandsetzungsfä- fentliches Baurecht, Band II, 6. Aufl. München 2010, S. 173. higkeit des Objekts beseitigen kann. 5 Vgl. Dimitrij Davydov, Die Denkmalverträglichkeits- prüfung, in: Denkmalpflege in Westfalen-Lippe 1/2012, Schlussbetrachtung S. 20 ff. Die Analyse der aktuellen Verwaltungspraxis zeigt, 6 OVG NRW, Beschluss v. 7. 11. 2005 – 10 B 1858/05 – EzD dass längst nicht immer derjenige, der gegen das 2.2.6.2 Nr. 41 Denkmalschutzgesetz verstößt, deshalb Einbußen 7 AG Düsseldorf, Urteil v. 28. 9. 1989 – 301 OWi/912 Js in der rechtlichen Durchsetzung seiner Interessen 308/88 – EzD 2.2.8 Nr.12. befürchten muss. Damit bleiben sowohl die wün- 8 Vgl. OVG NRW, Beschluss v. 31. 5. 2012 – 2 A 931/11 – schenswerte Einzelfallgerechtigkeit als auch die NRWE. rechtsstaatlich gebotene Gleichbehandlung bis- 9 So BayVGH, Urteil v. 4. 6. 2003 – 26 B 00.3684 – EzD 2.3.5 weilen auf der Strecke. Gleichwohl kann man aus Nr. 3 mit Anmerkung von Dieter J. Martin; ebenso OVG der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- LSA, Urteil v. 16. 6. 2010 – 2 L 292/08 – EzD 2.3.4 Nr. 13. richts zum Eigentumsgrundrecht Anhaltspunkte 10 Aus der Unzulässigkeit einer nachträglichen Erlaubnis- für eine angemessene Berücksichtigung vorausge- erteilung folgt allerdings nicht, dass die Untere Denkmal- gangenen Fehlverhaltens im denkmalrechtlichen behörde in Zweifelsfällen immer die Wiederherstellung Verfahren entnehmen. Insbesondere die vom Bun- des vorherigen Zustandes (§ 27 Abs. 1 DSchG NRW) for- desverfassungsgericht verwendete und mittler- dern muss. Bei der Entscheidung gem. § 27 Abs. 1 DSchG weile auch von den Obergerichten übernommene NRW handelt es sich vielmehr um eine Ermessensent- Rechtsfigur eines als Leitbild gedachten „dem scheidung. Der Unteren Denkmalbehörde bleibt es im Denkmalschutz aufgeschlossenen Eigentümers“ Rahmen der Ermessensausübung unbenommen, den her- lässt sich zur Vermeidung eines die Sozialbindung beigeführten Zustand zu dulden. Zwar wird dadurch ein des Eigentums aushebelnden, missbräuchlichen Rechtsstatus herbeigeführt, der den Wirkungen einer Umgangs mit dem kulturellen Erbe fruchtbar ma- denkmalrechtlichen Erlaubnis nahe kommt. Gleichwohl chen. Im Übrigen dürfen im Verwaltungsvollzug würde eine lediglich geduldete Maßnahme im Gegensatz der – auch im öffentlichen Recht anwendbare26 – zu einer erlaubten keine Vorbildwirkung entfalten und Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB)27 und bei künftigen Erlaubnisverfahren nicht als Bezugsfall her- das mit diesem Grundsatz verbundene Rechtsinsti- angezogen werden können. tut der Verwirkung28 nicht aus den Augen verloren 11 Vgl. OVG NRW, Beschluss v. 22. 8. 2007 – 10 A 3453/ werden: Wer die in § 1 Abs. 1 Satz 1 DSchG NRW 06 – NRWE. niedergelegten Ziele des Denkmalschutzes in vor- 12 Vgl. OVG LSA, Beschluss v. 29. 1. 2008 – 2 M 358/07 – werfbarer Weise unterläuft und die Denkmalbe- LKV 2008 S. 418; BayVGH, Urteil v. 27. 9. 2007 – 1 B 00.2474 hörden vor vollendete Tatsachen stellt, kann nicht – juris. erwarten, die ihm nach dem Denkmalschutzgesetz 13 Vgl. OVG NRW, Urteil v. 13. 9. 2013 – 10 A 1069/12 – gegenüber der öffentlichen Hand zustehenden NRWE. Rechte voll ausschöpfen zu können. 14 Vgl. OVG LSA, Urteil v. 15. 12. 2011 – 2 L 152/06 – juris; Denkmalschutzrecht ist in erster Linie Gefahrenab- BayVGH, Urteil v. 27. 1. 2010 – 2 B 09.250 – juris; OVG Nds., wehrrecht. Seinen Kernbereich machen deshalb Urteil v. 24. 3. 2003 – 1 L 601/97 – EzD 2.2.6.3 Nr. 7: Das Ge- hoheitliche Gebote und Verbote aus, die an Eigen- richt betrachtete das 5.649 m² große Grundstück mit der tümer und sonstige Verfügungsberechtigte von 1909 errichteten Villa als einen einheitlichen Vermögens-
9 gegenstand. Deshalb hielt das Gericht es für sachgerecht, 18. 10. 2010 – 1 B 06.63 – juris). den Eigentümern anheimzustellen, dass sie Teile des 19 Vgl. OVG NRW Urteil v. 4. 5. 2009 – 10 A 699/07 – BRS Grundstücks „zum Vorteil des Denkmals“ als Bauland ein- 74 Nr. 216 = NRWE. setzen. 20 BVerfG, Beschluss vom 14. 4. 2010, wie Anm. 15; zum 15 BVerfG, Beschluss v. 14. 4. 2010 – 1 BvR 2140/08 – EzD Problem „Abbruchfall nach Schnäppchenkauf“ s. a. OVG 1.1 Nr. 24 mit Anmerkung von Jörg Spennemann. RP, Urteil v. 2. 12. 2009 – 1 A 10547/09 – EzD 2.2.6.1 Nr. 37 16 BVerfG, Beschluss v. 2. 3. 1999 – 1 BvL 7/91 – EzD 1.1 mit Anmerkung von Jan Nikolaus Viebrock. Nr. 7 mit Anmerkung von Dieter J. Martin. 21 VG Köln, Urteil v. 30. 6. 2006 – 4 K 5206/05 – NRWE. 17 Vgl. OVG NRW, Urteil v. 13. 9. 2013 – 10 A 1069/12 – 22 Vgl. Dieter J. Martin, Abbruch – Zu einem zentralen NRWE. Thema des Denkmalschutzes, in: NVwZ 2014, S. 26 f.; auch 18 Vgl. VG Düsseldorf, Urteil v. 14. 11. 2013 – 9 K 1024/13 Jörg Spennemann spricht von einem „objektbezogenen – NRWE. Teilweise wird einschränkend argumentiert, Maßstab mit subjektiven Einschlägen“, in: Spennemann/ nicht jede Nachlässigkeit des Denkmaleigentümers führe Martin/Mieth, Die Zumutbarkeit im Denkmalrecht. Eigen- zu einer Verschiebung der Zumutbarkeitsgrenze, sondern tumsgrundrecht und Denkmalschutz in der Praxis. Stutt- nur solche Pflichtverletzungen, die schuldhaft begangen gart 2014, S. 38. worden sind (so Hansjörg Wurster/Torsten Hartleb in: 23 Vgl. OVG NRW, Urteil v. 26. 8. 2008 – 10 A 3250/07 – ju- Hoppenberg/De Witt, Handbuch des Öffentlichen Bau- ris. rechts, 2011, Teil D, RdNr. 256). Dies setzt im Einzelfall vor- 24 Vgl. OVG NRW, Beschluss v. 12. 3. 2007 – 10 A 1544/05 aus, dass die vom Betroffenen in der Vergangenheit un- – NRWE. terlassenen Unterhaltungsmaßnahmen diesem auch zu- 25 OVG NRW, Urteil vom 4. 5. 2009, wie Anm. 19. mutbar gewesen sind. Es bedarf allerdings keiner rück- 26 BVerwG, Urteil v. 22. 1. 1993 – 8 C 46.91 – juris. wirkenden behördlichen Ermittlung der Zumutbarkeit, 27 Vgl. Dieter J. Martin in: Martin/Krautzberger, Hand- wenn von dem Betroffenen in der Vergangenheit keine buch Denkmalschutz und Denkmalpflege, 3. Auflage. Anstrengungen unternommen worden sind, um die Zu- München 2010, Teil G, RdNr. 169. mutbarkeit herbeizuführen, insbesondere keine Förde- 28 Vgl. Joachim Sanden, Die Verwirkung im Verwal- rung beantragt worden ist (vgl. BayVGH, Urteil vom tungsrecht, in: VerwArch 2014, S. 467 f., 474–476. Jost Schäfer Zur historischen Bedeutung des Strafgefängnisses in Münster1 Das historische Zellengefängnis in Münster entstand nach Plänen des Jahres 1843 von Carl Ferdinand Busse (1802 –1868), eines Mitarbeiters Karl Friedrich Schinkels in der preußischen Oberbaudeputation, für bis zu 370 Strafgefangene. Die Fertigstellung und der Bezug seines ersten funktionsfähigen Zellenflügels mit Gefangenen kann in das Jahr 1851 datiert werden. Entgegen der nur unwesentlich früher errichteten Bochum (seit 1897 in Betrieb) und Werl (ab 1906). Anstalt in Berlin-Moabit (1842–1849), ebenfalls Für das Rheinland soll die Remscheider Anlage nach den Plänen Busses, hat das Münsteraner (1902–1905) erwähnt werden. Daneben existierten Strafgefängnis mit seinem panoptischen Typus und auch schon seit dem 19. Jahrhundert bereits neu er- seinen charakteristischen Architekturformen die baute Untersuchungsgefängnisse, die hier aber letzten 160 Jahre überlebt. Berlin-Moabit, dem von ebenso nicht berücksichtigt werden wie z. B. zu Ge- Anbeginn der üble Geruch eines politischen Ge- fängniszwecken umgenutzte Klöster in der Folge fängnisses anhaftete, wurde bereits in den 1950er- der Säkularisation. Jahren niedergelegt. Damit kann Münster für sich Bereits 1969 verzeichnete das „Handbuch der beanspruchen, das älteste und auch weitgehend in deutschen Kunstdenkmäler – Westfalen“2 das ehe- seiner historischen Substanz erhaltene Zellenge- malige neue Zuchthaus Münsters – die JVA – als be- fängnis preußischer Zeit in Deutschland zu besit- deutendes Denkmal des 19. Jahrhunderts. Dort zen. Älter, wenn man ein Ranking will, ist wohl nur heißt es in den typischen kurzen Formulierungen: noch die „Landesstrafanstalt Bruchsal“ bei Karls- „Symmetrischer Gebäudekomplex aus dunkelro- ruhe, die im Jahr 1848 in Betrieb ging, allerdings ten Ziegeln von 1848 bis 1851 nach Plänen des außerhalb Preußens in Baden Württemberg. Seit Schinkel-Mitarbeiters Carl Ferdinand Busse, Berlin. 1984 ist die Justizvollzugsanstalt Münster ein ein- Grundform ein unregelmäßiges Fünfeck. Der kas- getragenes Baudenkmal. (Abb. 1) In Westfalen ge- tellartige zinnenbekrönte Mittelbau mit Turm und sellen sich zwei weitere, später entstandene Straf- vier radial angeordneten Flügeln verrät wie die Ne- gefängnisse hinzu, die gleichfalls eingetragene bengebäude den Einfluss der von englischer Gotik Denkmäler sind: Es handelt sich um diejenigen in bestimmten historisierenden Schloßbauten Schin-
10 kels. Wohl die künstlerisch bedeutendste erhaltene achsialer Uhrenturm. An der Straße vor der Schutz- Architektur des 19. Jh. in Münster.“ Das Gutachten mauer Dreiflügelbau mit zwei symmetrisch ange- des damaligen Westfälischen Amtes für Denkmal- ordneten, dreigeschossigen Ziegelsteinbauten mit pflege3 ergänzt im Jahr 1984: „Wesentliche cha- Firattürmen, dazwischen Verbindungstrakt mit rakteristische Merkmale des Denkmals: Erhaltenes Haupteingang … verschiedene Umbauarbeiten. Beispiel preußischer Gefangenenanstalten … Nach Nach 1950 Ergänzungsbauten. Das an der Nord- dem Untergang der nach dem gleichen Muster er- ostecke gelegene ehem. Wärterwohnhaus ist als richteten Anlage in Berlin-Moabit und Zweifeln am einziges erhalten.“ Erhalt der gleichzeitigen Anlage in Ratibor (Schle- Die Luftaufnahme der Zeit um 1920 zeigt die An- sien/Polen) ist der Baukomplex ein Werk von über- lage an der Gartenstraße in der heute nicht mehr regionalem Rang und daher von besonderer Be- so vorhandenen Vollständigkeit ihrer Gebäude des deutung für Münster … Der Architekt C. F. Busse 19. Jahrhunderts in Backstein: Bereits in die damals war 1830 Assistent Schinkels, später Geheimer Bau- junge städtebauliche Erweiterung der Stadt inte- rat und seit 1837 Mitglied der das preußische Bau- griert, richtet sich das Strafgefängnis nordwestlich wesen steuernden Oberbaudeputation in Berlin, aus. Deutlich erkennbar sind die beiden Kopfbau- insbesondere zuständig für die Staatsbauten der ten als Flanken des Eingangs, wobei im linken die Rheinprovinz, Westfalens und Schlesiens. Er war Wohnung des Direktors, im rechten (Abb. 2) die von König Friedrich Wilhelm IV. nach England ge- des Anstaltsgeistlichen untergebracht war. Durch- schickt worden, um dort das seit 1840 im Bau be- schreitet man hinter der Schleuse den Vorhof zum findliche, damals modernste Gefängnis in Penton- inneren Eingangsturm mit dem Gefängnislazarett ville zu studieren, errichtete dann nach diesem in den oberen Geschossen, so gelangt man in den Muster einer sternförmigen Anlage den ersten Verwaltungstrakt mit dem Kirchenraum, gleich- preußischen Großbau dieser Art, die Strafanstalt in falls im oberen Geschoss. (Abb. 3) Weiter gelangt Berlin-Moabit (ab 1842) und rasch danach ab 1845 man in die Zentrale mit dem Panoptikum, auf das (Pläne 1843) die ganz ähnliche in Münster.“ Natür- die vier Gefängnisflügel zuführen. Am Flügel vier lich war zu dieser Zeit – 1984 – schon nicht mehr je- erkennt man deutlich eine frühe Erweiterung des der Stein originaler Bestandteil der 1850er-Jahre, 19. Jahrhunderts; mehrere separate und sich er- waren doch schon im 19. Jh. Ergänzungsbauten gänzende Baublöcke des 19. Jahrhunderts beher- und Erweiterungen von Zellenflügeln vorgenom- bergen verschiedene Arbeitsräume, von denen der men oder auch Zerstörungen von Bombardements oben links stehende wohl der älteste, schon aus im Zweiten Weltkrieg beseitigt und später auch dem Jahr 1851 stammende, ist. Gestalterische Qua- moderne Anbauten durchgeführt worden. Auch litäten der Architektur, die gerade jenseits der An- dies berücksichtigte das Gutachten zur Unter- forderungen nach der besonderen Funktion eines schutzstellung 1984 in seiner knappen Beschrei- Strafgefängnisses liegen, zeigen sich an vielen bung: „Mittelbau von vier radial anschließenden Merkmalen: Dazu gehören die sich sogleich ein- Zellenflügeln umgeben, z. T. baulich verändert; stellende Assoziation englischer Schlossarchitektur, 1 Münster, Luftaufnahme Gefängnis. 1923.
11 die vielen Rundtürmchen und Zinnenkränze, aber nungen für das Gefängnis deutlich weiter zurück: auch etwa die typischen Konsolen aus Gusseisen, Bereits 1838 hatte Bauinspektor Teuto erste unaus- die im Inneren die Galerien stützen. (Abb. 4) Wie geführte Pläne für ein neues Gefängnis vorgelegt, sorgfältig die Planung und Ausführung zu bewer- die aber liegen blieben, da sie u. a. den notwendi- ten sind, dafür spricht auch die mittlerweile über gen Kapazitäten für die Unterbringung von Delin- 160 Jahre währende Benutzbarkeit, wenn auch na- quenten nicht genügten.4 türlich die Anforderungen an Unterbringung, Hy- Aus dem Jahr 1858 stammt der älteste Situations- giene, Zellengröße etc. keineswegs mit den mo- plan der neuen Strafanstalt bei Münster (Abb. 5), dernsten Anforderungen Schritt halten konnten der anschaulich macht, dass – wie auch verlangt – und können. ein damals neu zu errichtendes Gefängnis deutlich 1851 wurde der erste funktionsfähige Flügel der außerhalb einer Stadt und dort auch möglichst Münsteraner Strafanstalt in Betrieb genommen – übersichtlich auf freiem Gelände stehen müsse. Da- also in dem Jahr, in dem die erste Weltausstellung neben bestanden innerhalb der Promenade noch in London stattfand und für die Joseph Paxton sei- der Zwinger, der als Kerker diente und das baro- nen berühmten Glaspalast entworfen hatte. Und cke, nach Plänen Johann C. Schlauns errichtete 1853 war mit dem errichteten Arbeitshaus die ge- Zuchthaus (Abb. 6, 7), das noch bis 1914 bestanden samte Anlage funktionsfähig. Doch gehen die Pla- hat. Die Zustände, die in beiden – im Zwinger und 2 Münster, Gefängnis von der Gartenstraße aus. Links und rechts sogenannte Beamtengebäude. 2010. 3 Münster, Gefängnishof mit Blick vom Flügel 4 (rechts) in Richtung Verwaltungstrakt mit Kapelle im Obergeschoss. 2010.
12 im Zuchthaus – noch vor Errichtung der neuen (oft aus Dorfschützen bestehend), das u. a. die un- Strafanstalt geherrscht haben, sind uns durch ei- gewünschte Kommunikation zwischen den Gefan- nen Augenzeugen überliefert: 1802 hat Justus Gru- genen ebenso nicht verhinderte wie das Ausbre- ner – aus nicht bekannten Gründen – eine Schrift chen derselben. Um der Haft einen Teil ihrer Grau- veröffentlicht mit dem Titel: „Versuch über die samkeiten zu nehmen, hält Gruner es z. B. für not- recht- und zweckmäßige Einrichtung öffentlicher wendig, die Inhaftierten zu beschäftigen und ih- Sicherungsinstitute deren jetzigen Mängel und nen auch die Religionsausübung zu ermöglichen. Verbesserungen. Nebst einer Darstellung der Ge- Aus all den festgestellten Mängeln zieht er den fangen- Zucht- und Besserungshäuser Westpha- Schluss, daß alle Gefängnisse Westphalens … lens“ (Frankfurt/Main 1802), die er dem Preußi- durchaus recht= und zweck=widrig sind. Deswe- schen König Friedrich Wilhelm III. widmete. Gruner gen müssten entsprechende radikale Verbesserun- war wohl der erste in Preußen, der vor Ort diese gen verfolgt werden, die – von ihm als Pflicht des Einrichtungen in Augenschein nahm, sie beschrieb, Staates verstanden – auf Reinlichkeit und Tempe- anprangerte, kritisierte oder auch lobte und Ver- rierung zielten, auf Verbesserung von Nahrung besserungsvorschläge für den Bau künftiger „Ge- und Bekleidung, auf körperliche Bewegung und fängnisse“ unterbreitete. Besuch der Kirche. Eine bessere Bewachung be- Im Allgemeinen prangert Gruner all die von ihm wirke aber auch die strengste Absonderung unter festgestellten Missstände an, hebt die katastro- den Inquisiten. Mögliche Kommunikation unter- phalen Luft-, Raum- und Lichtverhältnisse hervor, einander oder gar gemeinschaftliche Unterbrin- beklagt die äußerst schlechte Nahrung und feh- gung mehrerer Gefangener sollten unbedingt un- lende Hygiene im Allgemeinen. Für ihn ist die Art terbunden werden, da als deren Folge nur eine der Unterbringung der Delinquenten demgemäß stärkere Kriminalisierung der in Freiheit zu entlas- nicht rechtmäßig, aber auch nicht zweckmäßig; senen Insassen erwartet werden müsse. denn auch eine sichere Verwahrung sei nicht gege- Was Gruner in Münster noch im Jahr 1802 vorfand, ben. Ungeschultes, bestechliches Wachpersonal waren das Zucht= und Besserungshaus, eine Zwei- 4 Münster, Gefängnis. Detail der Galerien mit gusseiser- 5 Situations-Plan der neuen Strafanstalt bei Münster. nen Konsolen. 2010. Münster den 2ten November 1858.
13 flügelanlage Johann Conrad Schlauns aus den Jah- gerecht werden konnte: Es bleibt nämlich eine ren 1734–1738 sowie der mittelalterliche Zwinger, stete Korrespondenz unter den Gefangenen, die der mit seinem im Kreis angeordneten Kerkern als sowohl durch Rufen aus den Löchern über den Gefangenhaus zu Münster diente. Für das Zucht= Thüren, als von der oberen Etage in die untere … und Besserungshaus fand Gruner lobende Worte; offen. Es gibt daher kein Mittel die Complizen denn dies ist unstreitig, im Ganzen, das vortreff- eines Verbrechens von Einander zu trennen und lichste Strafinstitut Westphalens, sowohl in Hin- die ganze schwere Haft ist hier vergebens und sicht auf das Bestrafen als auch auf die Besserung unzweckmäßig. der Inhaftierten. Das Gebäude in einer etwas ent- Wie gesagt, beschränkte sich Gruner nicht nur auf legenen Gegend der Stadt werde durch eine die Beschreibung und das Anprangern unzurei- Schildwache, der drei Knechte zur Seite standen, chender Zustände, sondern machte auch konstruk- bewacht. Die Aufteilung gewähre dem Wacht- tive Vorschläge. So betonte er u.a., dass das Äußere meister eine Wohnung und eine stockweise Unter- eines Zuchthauses (oder auch Gefängnisses) ab- teilung in weibliche und männliche Schlafkam- schreckende Wirkung erzielen müsse, indem es mern. Besonders führt Gruner an, wie sauber und sehr fest sein und abgesondert liegen solle und die ordentlich und wie gut gelüftet und hygienisch die Simbole der Gefangenschaft an sich tragen und so- Räume seien – In allen Bettstellen sind Betten mit viel möglich einen widrigen Eindruck erregen Leinwand überzogen, die … sehr rein gehalten müsse. Außerhalb oder zumindest abseits alltägli- wurden. Die Abtritte jeder Etage liegen am einen chen örtlichen Lebens gelegen, sollte jede neu zu Ende des Gebäudes und haben einen Abfluß, wo- erbauende Strafanstalt auf jeden Fall entstehen. durch der üble Geruch größtentheils vermieden Sich selbst sah Gruner in gedanklicher Tradition des wird. – Gruner sah die Gefangenen mit Arbeit be- Engländers John Howard (1726–1790), dessen Le- schäftigt, wenngleich – wie er auch selber beklagt benswerk die systematisch begründete Reform der – diese kaum zum wirtschaftlichen Unterhalt des Staatsgefängnisse war. Mit seinen Schriften, die Hauses beitragen konnte. Beköstigung und Ge- auf direktem Erleben als Strafgefangener und da- sundheitspflege erwähnt er hier positiv. Auch die Differenzierung in Besserungs=oder Zuchthausge- fangene, also der Unterscheidung nach geringfü- gigen Vergehen und krassen Verstößen gegen die Gesetze mit der Folge kürzerer oder längerer In- haftierung, tritt ihm in Westfalen hier zum ersten Mal entgegen. Über die Qualifikation des Lei- tungs- bzw. Wachpersonals erfährt man von Gru- ner allerdings nichts Besonderes, doch erwähnt er, dass im Vorhof … eine Wachtstube steht, in der täglich einige zwanzig Mann fürstlicher Militz, zur völligen Sicherung sind. Die Leitung eines Gefäng- nisses lag zunächst in Händen eines Offiziers, die Aufsicht über das Wachpersonal in den Händen ei- nes Unteroffizieres. Die Bewachung der Inhaftier- ten fand also durch Patrouillengänge oder auch durch militärischen Appell statt – und eben noch nicht durch ein Überwachungsprinzip, nach dem 6 Münster, Zuchthaus von J. C. Schlaun. Um 1900. sich u. a. effektiv Personal einsparen ließ und das vor allem oberstes architektonisches Konstrukti- onsprinzip werden und wie es vom englischen So- zialreformer Jeremy Bentham (1748–1835) erfun- den und nach dem Eastern State Penitentiary in Philadelphia/USA (1829) dann im Pentonville Pri- son von London (1842) als das panoptische System einer Überwachungsarchitektur umgesetzt wer- den sollte. Die schwere Haft der Kriminalgefangenen im Zwinger von Münster – das sei hier noch ergänzt – beurteilt Gruner dagegen deutlich schlechter: Die mittelalterlichen Gemäuer mit ihren beiden run- den Etagen beherbergten 16 einzelne Kerker, in denen die Gefangenen zwar den Umständen ent- sprechend „hygienisch“ untergebracht waren, das Überwachungssystem aber in keiner Weise befrie- digte und seinen eigentlichen Aufgaben nicht 7 Münster, Promenade, sogenannter Zwinger. Um 1900.
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