"REDUZIERUNG FREIHEITSENT ZIEHENDER MASSNAHMEN (FEM) IN EINRICHTUNGEN DER EINGLIE DERUNGSHILFE" - ABBILDUNG DER INHALTE EINES ...
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„Reduzierung freiheitsent ziehender MaSSnahmen (FEM) in Einrichtungen der Eingliederungshilfe“ Abbildung der Inhalte eines Qualifizierungsprojekts in Rheinland-Pfalz
Impressum Inhalt Herausgeber: Ministerium für Soziales, Arbeit, 1. Einleitung – von der Konzeption über die Fachtage hin zur Broschüre .............................................. 8 Gesundheit und Demografie Rheinland-Pfalz Referat für Öffentlichkeitsarbeit 2. Warum werden freiheitsentziehende Maßnahmen (eigentlich) angewandt? ................................. 10 Bauhofstraße 9 55116 Mainz 3. FEM – Definition, Formen und Folgen ...................................................................................................... 14 www.msagd.rlp.de 4. Das Alternativengespräch – die richtigen Fragen sind der Schlüssel .................................................. 18 Gestaltung: Monika Kaemper – Kommunikationsdesign Druck: Druckerei Adis GmbH 5. Qualitätskriterien in Hinblick auf die Vermeidung und Anwendung von FEM ................................. 24 Stand: Mai 2020 6. Personzentriertes Denken und Handeln bei herausforderndem Verhalten ...................................... 26 7. Ohne Führung geht es nicht: Auf dem Weg zu einer FEM-freien Einrichtung .................................. 30 8. Hilfsmittel und technische Systeme ......................................................................................................... 34 Bildnachweise 9. Menschen mit geistiger Behinderung und dementiellen Veränderungen ......................................... 38 CareBasic Pflegeoverall von Suprima – www.suprima-gmbh.de Pflegebody von Suprima – www.suprima-gmbh.de 10. PeDeS – Personzentrierte DeeskalationsStrategien in der Betreuung Schutzhandschuh von Suprima – www.suprima-gmbh.de von Menschen mit geistiger Behinderung ............................................................................................... 42 Niedrigbett aldena von Mühle Müller Pflegebetten – www.muehle-mueller.de Pivot-Rail von rehastage GmbH – www.rehastage.de 11. Häufig gestellte juristische Fragen in Hinblick auf FEM ....................................................................... 46 FLM Sports Hoodie mit Protektoren von POLO Motorrad und Sportswear GmbH – www.polo-motorrad.de 12. „PIA vor Ort“ – Personenzentriertes Handeln für Menschen mit geistiger Behinderung ............. 54 Full Protector Race Suit von Komperdell – www.komperdell.com Starlight® Secure Evo, von ATO FORM GmbH – www.ato-form.com 13. Das Bundesmodellprojekt „Ich will mich“................................................................................................ 60 GEFA Fallschutzsack von GEFA Hygiene-Systeme – www.gefatex.de Safe Landing von Rölke Pharma GmbH – www.roelkepharma.de 14. In uns hat sich etwas bewegt – freiheitssensible Behindertenarbeit in der GFB ............................. 66 Türwächter VarioMent Plus von Lehmann Electronic GmbH – www.aal-homecare.com Keruve Ortungssystem von Keruve – www.keruve.de 15. Der Prozess der Entfixierung im Haus Soonwald – Haltung der Optiseat, Optiscan von Daza Opticare GmbH – www.daza.nl MitarbeiterInnen und Führungsverhalten sind zentral ......................................................................... 68 Safebed von Rölke Pharma GmbH – www.roelkepharma.de Funk-Sensormatte Step-Control von Ludwig Bertram GmbH – www.russka.de Leitfragen für das Alternativgespräch .............................................................................................................. 74 Potac Kugeldecke, Protac SenSit, Protac MyBaSe, von PROTAC; Vertriebspartner in Deutschland – www.san-kraft.de Autorenverzeichnis .............................................................................................................................................. 76
GruSSwort Liebe Leserinnen und Leser, gibt Denkanstöße, bisherige Handlungsweisen zu durchbrechen. Zudem macht sie Mut, gemeinsam die Anwendung von freiheitsentziehenden mit dem Team der Einrichtung neue Wege zu Maßnahmen stellt für mich einen der denkbar gehen, um freiheitsentziehende Maßnahmen zu schwersten Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte reduzieren oder gar zu vermeiden. Hierzu infor eines Menschen dar. miert die Broschüre mit vielen guten Praxis beispielen und aktuellen Fachaufsätzen. Es ist ein schwieriges Thema, insbesondere für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Einrichtungen Ich hoffe sehr, dass diese Information ein Gewinn der Eingliederungshilfe, die in den Wohnangeboten für die Menschen ist, für die Sie täglich arbeiten, immer wieder mit Herausforderungen auf diesem und zögern Sie bitte nicht, die Inhalte und Themen Gebiet konfrontiert sind. Für sie gibt es viele Fragen, in Ihrer nächsten Teambesprechung zu diskutieren. angefangen von rechtlichen Voraussetzungen bis hin zu Alternativen, die zum Teil unbeantwortet bleiben und im täglichen Dienstbetrieb nicht umfassend besprochen werden. Ihre Im Nachgang zu den Fachtagen, die als Schulungs- und Fortbildungsmodul aufgebaut waren, möchte ich daher den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Eingliederungshilfe diese Broschüre an die Hand geben. Sabine Bätzing-Lichtenthäler Praxisnah vermittelt sie aktuelles Wissen über Ministerin für Soziales, Arbeit, freiheitsentziehende Maßnahmen, informiert Gesundheit und Demografie kompakt über die rechtlichen Grundlagen und des Landes Rheinland-Pfalz 4 5
Zum Projekt der Reduzierung von freiheitsentziehenden MaSSnahmen in Einrichtungen der Eingliede- rungshilfe in Rheinland-Pfalz Die Entstehung dieser Broschüre sowie die Evangelischen Hochschule in Freiburg Praxiserfahrung ist es zu verdanken, dass sich die ausgerichteten Fachtage zur Reduzierung (Breisgau) Fach- und Führungskräfte in knapp der Hälfte freiheitsentziehender Maßnahmen sind Ausdruck aller Einrichtungen der Eingliederungshilfe in einer großen Notwendigkeit sich einem • Dieter Lang, Geschäftsführer der Diakonissen Rheinland-Pfalz kompetent, dialogisch und schwierigen aber wichtigen Thema zu widmen. Bethesda Landau alltagsnah dem Thema der Reduzierung freiheits entziehender Maßnahmen zuwenden konnten. Wir von inverso. möchten uns für den • Marianne Martin, bso. - Beratung in Projektauftrag bei Frau Ministerin Bätzing- Sozialen Organisationen / Hessischer Die Broschüre ist mit dem Anspruch entstanden, Lichtenthäler und den Mitarbeiterinnen und Konsulentendienst ein praxisnahes Instrument als Ergänzung zur Mitarbeiter des Ministeriums für Soziales, Arbeit, Schulung zu liefern. Dabei stand im Vordergrund, Gesundheit und Demografie des Landes • Dr. Martin Jochheim, bso. - Beratung in den Menschen, die von FEM betroffen sind, Rheinland-Pfalz bedanken. Einen besonderen Sozialen Organisationen / Hessischer wertschätzend gegenüber zu treten. Dank richten wir darüber hinaus an Herrn Konsulentendienst Matthias Rösch, Landesbeauftragter für die Alle Autoren wurden gebeten, ihre Beiträge Belange behinderter Menschen in Rheinland-Pfalz • Christine Seebohm, seebohm-qs - entsprechend zu gestalten, so dass ein direkter und an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Qualitätsmanagement zur Pflege in Nutzen für die tägliche Praxis gegeben ist. Dafür, Beratungs- und Prüfbehörde des Landes Einrichtungen der Eingliederungshilfe dass dies so gut gelungen ist, möchten wir uns bei Rheinland-Pfalz. den Autoren dieser Broschüre bedanken. • Katja Becker - Referentin - Lebenshilfe für Ein weiterer Dank gilt all den Expertinnen und Menschen mit geistiger Behinderung, Viel Freunde beim Lesen! Experten, die wir für die Vorbereitung und Brandenburg André Hennig & Madeleine Viol Durchführung der Fachtage sowie die Erstellung dieser Broschüre gewinnen konnten: • Tobias Schmitt - Facharzt für Neurologie sowie für Psychiatrie und Psychotherapie, Brandenburg • Prof. Dr. habil. Thomas Klie, Deren Expertise sowie auch deren so wichtige 6 7
finden. Dort wird jedoch häufig eine FEM ange- daran teil. Das Wissen über die Reduzierung von wandt, um Gefahren im Zuge einer Auto- oder Fixierungsmaßnahmen in diese Einrichtungen zu Fremdaggression, enthemmten Verhaltens oder tragen, dort Handlungskompetenz zu entwickeln unwillkürlichen Selbstverletzung zu reduzieren, und Organisations- sowie weitere Personalent- was so wiederum sehr selten in der Altenhilfe zu wicklungsmaßnahmen anzustoßen, war das Ziel finden ist. der Fachtage. Die Projekte „ReduFix Praxis“ sowie „Mehr-Freiheit-wagen“ konnten nachweisen, dass Ein Projekt in Rheinland-Pfalz – Auf der Suche die Teilnahme an Fortbildungen das entschei- nach Denk- und Handlungsansätzen für die dende Moment zur Veränderung in den Einrich- Eingliederungshilfe tungen war, flankiert durch Maßnahmen der Das Land Rheinland-Pfalz engagiert sich bereits Organisationsentwicklung. seit 2008 für eine Reduzierung freiheitsentzie- hender Maßnahmen und beauftrage im Jahr Auf die Fachtage folgt diese Broschüre 2016 das Institut inverso. mit der Durchführung Das Projekt zielt auf Nachhaltigkeit. Daher ist es von Fachtagen für rheinland-pfälzische Einrich- sinnvoll, etwas über das Projekt hinaus Bleibendes tungen der Eingliederungshilfe. Für diese Fachtage zu gestalten. Neben weiteren Fortbildungs- und 1. Einleitung – von der Konzeption bedurfte es jedoch einer fundierten Wissensbasis, einerseits um dem Anspruch der Evidenzbasierung Beratungsangeboten, die aus diesem Projekt ent wachsen sind, neben Schulungsangeboten für über die Fachtage hin zur Broschüre zu entsprechen, aber auch um Glaubwürdigkeit in den Einrichtungen zu erreichen. Aktuell besteht Betreuungsbehörden und -vereine, entstand diese Broschüre. in Deutschland an vielen Stellen fragmentiertes André Hennig Wissen sowie Praxiserfahrungen zur Reduzie- rung freiheitsentziehender Maßnahmen (FEM) Verweise: im Bereich der Eingliederungshilfe. Es bedurfte einer Verbindung von Beispielen guter Praxis, dem Es begann mit einem Projekt in der Altenhilfe … deutschlandweit gelebte Praxis und konzeptio- aktuellen Wissen der Heil- und Sonderpädagogik, In den Jahren 2004 bis 2006 wurde erstmals in neller Bestandteil der meisten Einrichtungen der Erfahrungen der Aufsichtsbehörden, auch aus www.redufix.de Deutschland wissenschaftlich fundiert auf die stationären Altenhilfe. anderen Bundesländern, der Erkenntnisse des Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen Projekts ReduFix, angereichert durch spezifisches fokussiert. In dem Projekt „ReduFix – Reduktion Ein blinder Fleck? – FEM in Einrichtungen der rechtliches Wissen sowie um Aspekte der Organi- von Fixierungen“ zur Reduktion körpernaher Fixie- Eingliederungshilfe sationsentwicklung. Durch mehrere Expertendis- rung, durchgeführt vom Freiburger Innovations- Entgegen der Erfahrungen und wissenschaftlichen kurse, eine fundierte Literatursichtung und einem und Forschungsverbund e.V. der Evangelischen Untersuchungen in der Altenhilfe findet sich in finalen Expertenworkshop wurden Denk- und Hochschule Freiburg, „wurde untersucht, ob durch Hinblick auf die Anwendung von FEM in Einrich- Handlungsansätze identifiziert, die Einrichtungen gezielte Interventionen Freiheitsentziehende tungen der Eingliederungshilfe sehr wenig und in Rheinland-Pfalz dabei unterstützen können, Maßnahmen (FEM) bei demenzerkrankten Heim- eine valide Datenbasis fehlt gänzlich. freiheitsentziehende Maßnahmen bei Menschen bewohnern zu verhindern oder zu reduzieren sind, mit Behinderung zu reduzieren. ohne dass es dabei zu negativen Konsequenzen für Altenhilfe und Eingliederungshilfe schwer die Bewohnerin oder den Bewohner kommt“ (Viol vergleichbar Fachtage für Einrichtungen der Eingliederungs- www.leitlinie-fem.de 2018 – redufix.de). In „45 Altenpflegeheimen Die Gründe für die Anwendung von FEM in Ein- hilfe in Rheinland-Pfalz aus Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen richtungen der Alten- sowie der Eingliederungs- Basierend auf den ausgewählten Denk- und konnte das Projekt zeigen, dass die Interventionen hilfe sind teilweise ähnlich jedoch auch teilweise Handlungsansätzen wurde allen Einrichtungen der wirken: In der sog. Interventionsgruppe wurden grundverschieden. So zählt eine Sturzgefährdung Eingliederungshilfe in Rheinland-Pfalz das An- bei insgesamt 20,8 % der Personen die Fixierung in den allermeisten Fällen und seltener eine gebot der kostenfreien Teilnahme an regionalen vollständig beendet“ (Viol 2018 – redufix.de). Das Hinlauf-/Weglauftendenz zu den Gründen für FEM Fachtagen gemacht. Von den 230 Einrichtungen ReduFix-Konzept sowie etwas später auch das in der Altenhilfe. Diese Gründe lassen sich auch, der Eingliederungshilfe für erwachsene Menschen Konzept „Mehr Freiheit wagen“ sind mittlerweile doch weit seltener, in der Eingliederungshilfe mit Behinderung nahmen letztendlich 101 (44%) 8 9
Es wird ersichtlich, dass das Gesetz eine erheb- Praxistipp liche gesundheitliche Gefährdung bis hin zum Häufig ist es hilfreich, diese „Haftungsmythen“ im Tod zur Voraussetzung für die Anwendung einer Team mal mit der Wirklichkeit abzugleichen: „Wer FEM macht. Damit sind die zuvor aufgeführten wurde in unserem Haus aufgrund einer Verletzung Begründungen, die so häufig in der Praxis getä- einer Bewohnerin oder eines Bewohners jemals tigt werden, nicht ausreichend und benötigen in Haftung genommen oder ist ins Gefängnis ge- einer Präzisierung. Es bedarf der Beantwortung kommen?“ Sicher werden dann die ein oder ande- der Fragen, welche konkreten Gefahren durch ein ren Beispiele aus irgendwelchen anderen Häusern Weglaufen/Hinlaufen, Stürzen, enthemmtes Ver- genannt, in denen „schlimme Dinge“ passiert sind. halten, etc. eigentlich entstehen. Wir alle kennen Oder es wird erwähnt, dass die Polizei ja bereits Bewohnerinnen und Bewohner, die bereits un- mal zur Befragung im Haus war oder die Kranken- zählige Male gestürzt sind, aber sich nicht verletzt kasse einen Fragebogen zur Beantwortung vorlegt haben. Auch ein enthemmtes Verhalten ist noch hat. Unserer Erfahrung nach benötigt es an dieser keine „erhebliche Gesundheitsgefährdung“; daher Stelle einen „unaufgeregten“ Begleiter des Teams, die Notwendigkeit zur Präzisierung des Risikos, der dabei hilft, folgendes zu unterscheiden und zu um dem Anspruch des Gesetztes zu entsprechen. erkennen: 2. Warum werden freiheitsent Eine solche Präzisierung und auch Beschreibung der Gefahr vorzunehmen, ist eine fachliche Auf- • Bei den „schlimmen Dingen“ aus anderen Einrichtungen handelt es sich in der Regel um ziehende MaSSnahmen (eigentlich) gabe und muss von Fachkräften geleistet werden. Diese sollten bei Ihrer Einschätzung der Gefahr vorsätzliche Straftaten, auf die durchaus „Gefängnis“ folgen kann und nicht um angewandt? für die Bewohnerinnen und Bewohner bestenfalls „Fahrlässigkeiten“, um die die Mitarbeiterinnen André Hennig eben nur diese in Ihre „Urteilsfindung“ einfließen und Mitarbeiter sich eigentlich sorgen. lassen, was gar nicht so leicht ist. • Eine Prüfung einer Angelegenheit durch die Polizei oder die Krankenkasse ist noch keine Illegitime „Hintergründe“ für FEM Verurteilung. Über viele Fortbildungen und Fallbesprechungen, In der Diskussion über freiheitsentziehende Entweder zeigen Bewohner dieses Verhalten in denen von den Mitarbeitern der Einrichtungen Maßnahmen (FEM) verschmelzen nicht selten bereits oder die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchaus kontrovers diskutiert wurde, entstand „Es könnte doch aber passieren, dass …“ unterschiedliche Begründungen für oder gegen nehmen an, dass dieses Verhalten entstehen wird. ein Wissen über weitere „Hintergründe“, die Es sind immer wieder einzelne Mitarbeiter in deren Anwendung. Diese unterschiedlichen Diese Begründung ist auf den ersten Blick sowohl häufig auch in die Erörterung der FEM eingebracht Teams anzutreffen, die mehr Gefahren sehen Vorder- und Hintergründe, wie wir sie in diesem juristisch legitim als auch fachlich richtig. Dabei werden, die jedoch „eigentlich“ keine Relevanz für als andere. Im Sinne eines „es könnte doch aber Beitrag nennen, werden im Folgenden zu differen- ist der § 1906 BGB relevant. die fachliche Einschätzung besitzen sollten: passieren, dass …“ werden mögliche Gefahren für zieren gesucht, damit einzelne Mitarbeiterinnen den Bewohner in die Diskussion eingebracht, die und Mitarbeiter, Teams und auch Führungskräfte „Wir stehen mit einem Bein im Gefängnis“ schwer zu entkräften sind. Das einzelne Mitarbei- klarer für sich herausarbeiten können, welchen Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) - § 1906 Die Angst vor Haftung oder Strafe hält sich ter mehr Gefahren sehen als andere, kann ein Ver- Zwecken eine FEM dienen kann: (1) Eine Unterbringung des Betreuten durch den „wacker“ in den Köpfen vieler Mitarbeiterinnen weis auf Erfahrungen aus deren Berufsbiografie Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden und Mitarbeiter und wird mit dem Satz „wir sein oder auch auf deren Persönlichkeitsstruktur, Legitime „Vordergründe“ für FEM ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des stehen mit einem Bein im Gefängnis“ versinn haben jedoch nichts in der Erörterung des Bewoh- Fragt man nach dem Grund für die Anwendung Betreuten erforderlich ist, weil bildlicht. Daher könnte der eigene Schutz vor ners verloren. Würde aus diesen Ängsten heraus von FEM werden in der Regel zunächst Risiken 1. auf Grund einer psychischen Krankheit Haftung oder Strafe durchaus unbewusst Eingang eine FEM angewendet, wäre dies eine vorsorgliche benannt, die aus dem Verhalten eines Bewohners oder geistigen oder seelischen Behinderung in die fachliche Einschätzung pro oder contra FEM, was rechtlich nicht legitim ist. Einrich- resultieren können: des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich einer FEM einfließen, konterkariert jedoch die tungen, Teams, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter • Weglaufen/Hinlaufen selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Fachlichkeit (siehe dazu auch Klie Seite 46). haben die Aufgabe, Bewohnerinnen und Bewoh- • Sturzgefährdung Schaden zufügt, oder… ner vor den Gefahren zu schützen, die mit hoher • Enthemmtes Verhalten Wahrscheinlichkeit eintreten werden. „Die Risiken • Autoaggression müssen konkret und nicht abstrakt sein“ (siehe • Unwillkürliche Selbstverletzungen dazu auch das Alternativengespräch Seite 18). • Fremdaggression • Sachaggression 10 11
Unkenntnis über Alternativen Wir hoffen mit dieser Darstellung ein Stück weit Einrichtungen sind grundsätzlich verpflichtet ihr dahingehend motiviert zu haben, die Begrün- Handeln am aktuellen Wissensstand zu orientie- dungen für eine FEM kritisch im Team oder der ren. Dazu gehört auch das Wissen um Hilfsmittel Einrichtung zu prüfen und zu schauen, ob sich und technische Unterstützungssysteme, deren weitere Gründe unbemerkt von „hinten“ in die Markt stetig wächst. Teils sind diese jedoch in den fachliche Einschätzung eingeschlichen haben. Einrichtungen nicht bekannt und können damit auch nicht Teil der Alternativenprüfung sein. Die Literatur Erfahrung zeigt, dass das Wissen um diese Alter- Heijkoop, Jacques (2014): Herausforderndes Ver- nativen in den Einrichtungen sehr unterschiedlich halten von Menschen mit geistiger Behinderung. ist. Ein Besuch von Fachmessen (z.B. Altenpflege- Neue Wege der Begleitung und Förderung. Beltz messe) oder die Recherche in Fachdatenbanken Juventa (z.B. Rehadat-Hilfsmittel) bis hin zur freien Schlagworte im Internet kann hier hilfreich sein. Symptombekämpfung statt Ergründung von Ursachen Teilweise ist das Verhalten der Menschen massiv störend, greift auf andere Bewohnerinnen und Bewohner über, bringt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Ohnmacht hinein und gefährdet den Mensch nicht zuletzt selbst. Teilweise steht die Unterbindung des Verhaltens so sehr im Fokus, dass eine Ergründung der Ursachen für dieses Ver- halten vernachlässigt wird. Heijkoop untersuchte diese teilweise systemimmanente Reaktionsweise von Einrichtungen, und beschrieb es als „Desinfi- zieren“ von Problemverhalten: • „direkt körperlich mit schnell wirkenden Medikamenten, Festbinden und dergleichen; • sozial, durch Absonderung, Zurückhalten, Festhalten, ständig in der Nähe des Betroffenen bleiben; • psychisch, durch Warnungen und Absprachen eventuell mit der Ankündigung von Belohnung oder Strafe; indem man dem Betroffenen das Heft aus der Hand nimmt, indem die Betreu- ung verstärkt wird; • Räumlich, indem man die Orte, die der Be- troffene im Haus und außerhalb allein auf- suchen darf, stark begrenzt“ (vgl. Heijkoop). 12 13
komplizierte Konstrukt hat Prof. Dr. Klie auf Seite Folgen freiheitsentziehender Maßnahmen 46 eindeutig juristisch bewertet. Freiheitsentziehende Maßnahmen gehen not- wendigerweise mit einer reduzierten Bewe- Einkonditionierte FEM gungsmöglichkeit und einer Beeinträchtigung Damit sind FEM gemeint, die seitens der Be- des Selbstbestimmungsrechts einher. In dessen wohnerinnen und Bewohner gewünscht werden, Folge wiederum können eine Vielzahl an Neben- obwohl diese mit immensen Folgen einhergehen wirkungen bzw. Sekundärgefahren entstehen, die können. Der Wunsch der Menschen nach diesen nachstehend kurz skizziert werden: FEM, resultiert häufig aus einer (jahre)langen Ge- wöhnung an diese Maßnahme, oft im häuslichen • So kann es zu Quetschungen, Nervenver- Kontext. Diese Gewöhnung hat sich über die Jahre letzungen, Ischämien, Strangulation (v.al. bei zu einer Abhängigkeit entwickelt, so dass diese Versuchen sich zu befreien) und plötzlichem Maßnahmen seitens der Bewohnerinnen und Be- Herztod kommen (Parker 1997, Berzlanovich wohner z.B. zum Einschlafen oder zur Beruhigung 2007, BfArm 2004, Mohsenian 2003). eingefordert werden. Behält man den Menschen • Indirekte Folgen freiheitsentziehender Maß- 3. FEM – Definition, Formen die Maßnahme vor, entstehen teils riesige Ängste, nahmen sind eine Kraft- und Balancemin- Verunsicherungen oder Aggressionen. Eine juri- derung durch Immobilisierung, eine Zunahme stische Einordnung findet sich auf Seite 49. an Verhaltensauffälligkeiten, Harninkontinenz, und Folgen André Hennig Kaschieren von Türen medizinische Komplikationen wie z.B. Kon- trakturen, Dekubitus und Infektionen mit der Die Idee, Aus- und Eingänge mittels Folien oder Konsequenz einer drastischen Verschlechte- Vorhängen zu kaschieren, demnach absichtsvoll rung des Allgemeinzustands, der Lebensqualität Bewegungsräume, die den Bewohnerinnen und und letztlich erhöhter Mortalität (Evans 2002). Definition von FEM 3. Die Person muss noch die Fähigkeit zur willens Bewohnern zustehen, zu verwehren, stellt aus Sicht • Aus pflegewissenschaftlicher Sicht, sind FEM In Einrichtungen der Eingliederungshilfe findet gesteuerten Fortbewegung besitzen. des Autors eine FEM dar. Einige wenige Amtsrichte- zur Sturzvermeidung kontraproduktiv, schützen eine Vielzahl an unterschiedlichen freiheitsent rinnen und Amtsrichter bewerten dies anders. nicht, sondern stellen selbst eine Gefährdung ziehenden Maßnahmen Anwendung. Formen von FEM dar. So schreibt der pflegerische Experten- Konkret werden in der Praxis folgende freiheits- Vorenthalten standard zur Sturzprophylaxe durch FEM: Nach einer international konsentierten Definition entziehende Maßnahmen angewandt: In seltenen Fällen werden den Bewohnerinnen „Der Schutz vor Stürzen wird in der Praxis häufig des Joanna Briggs Instituts, Adelaide, Australien • Geschlossene Türen (teilweise auch als und Bewohnern Ihre Gehhilfen (Rollator, etc.) als ein Argument herangezogen, um den Einsatz umfasst eine freiheitsentziehende Maßnahme jeden Maßnahme einer Unterbringung) „versteckt“, damit sie an Ort und Stelle ver- von FEM zu rechtfertigen. Dem steht die Aussage Gegenstand, Material oder Vorrichtung an oder • Bettgitter bleiben. Auch die Maßnahme, Kleidung oder im Expertenstandard zur Sturzprophylaxe gegen- in der Nähe einer Person, welche(-r/-s) sich nicht • Gurte (Rumpf, Fuß/Arm, Kopf, etc.) Hausschuhe für den Menschen unauffindbar zu über, dass diese Maßnahmen keinesfalls zu eigenständig entfernen oder von der Person selbst- • festgestellte Rollstuhlbremsen machen, wohlwissend darum, dass er sich ohne diesem Zweck eingesetzt werden sollen“ ständig und leicht kontrollieren lässt. FEM schränken • Sitzhosen diese nicht aus seinem Zimmer bewegt, stellt aus (DNQP 2013, S. 109). Körperbewegungen oder Positionswechsel ein, die • Time-Out-Räume Sicht des Autors eine FEM dar und wäre darüber • Weitere Folgen von FEM, die in der Literatur eine Person willentlich ausführen möchte (Evans et hinaus nicht mit den Grundsätzen der Behinder- beschrieben werden, sind Obstipation, Entmi- al. 2002). Darüber hinaus gibt es weitere Maßnahmen, die tenrechtskonvention vereinbar. neralisierung der Knochen (Abnahme der weniger eindeutig eine FEM darstellen und deren Knochendichte), Muskelatrophie und nicht zu- Demnach sind Gegenstände, wie z.B. ein Bett- Genehmigungsnotwendigkeit seitens der Amts- Tiefe Sessel und Co. letzt die sozial-psychologische Beeinträchti- gitter nicht an sich bereits eine FEM, sondern richterinnen und Amtsrichter durchaus unter- Sitzmöbel, wie beispielsweise tiefe und weiche gung, Nähe oder Distanz zu anderen Menschen bedürfen folgenden „Charakters“: schiedlich beurteilt wird. Sessel, ein schwerer und dadurch nicht verschieb- erstens nicht wählen, zweitens dieser auch 1. Entweder müssen die Maßnahmen gegen den barer Stuhl oder auch ein Niederflurbett auf die nicht entkommen zu können. Willen sein oder bei einer Person angewendet Medikamente tiefste Position zu stellen, mit dem Wissen, dass werden, die nicht mehr einwilligungsfähig ist. Der Zweck und dessen Rechtmäßigkeit entschei- die Bewohnerin oder der Bewohner daraus nicht 2. Die Maßnahmen dürfen von der Person nicht den darüber, ob Medikamente eine FEM darstel- aufstehen kann, stellt ebenfalls eine FEM dar. selbst zu öffnen sein. len bzw. als FEM nicht anwendbar sind. Dieses 14 15
Nur über die Kenntnis dieser Folgen und Neben- Parker K, Miles S (1997): Deaths Caused by wirkungen von FEM kann die notwendige fach- Bedrails. In: J Am Geriatr Soc 45: S. 797-802 liche Abwägung des Nutzens und des Risikos einer FEM erfolgen. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin- produkte (2004): Stellungnahme zu Fixierungs- Literatur systemen und Empfehlungen zur Anwendung von Evans, David; Wood, Jacquelin; Lambert, Leonnie Fixierungssystemen. Unter: https://www.bfarm. (2002): A review of physical restraint minimiza- de/SharedDocs/Risikoinformationen/Medizinpro- tion in the acute and residential care settings. In dukte/DE/fixierungssysteme_Stellungnahme_Uni- JAN – Journal of advanced Nursing. Volume40, Witten.html (Stand 30.03.2018) Issue6 Pages 616-625 Mohsenian C, et al. (2003): Todesfälle im Zusammenhang mit mechanischer Fixierung in DNQP (Deutsches Netzwerk für Qualitätsent- Pflegeinstitutionen. In: Zeitschrift für Geronto wicklung in der Pflege (Hrsg.)(2013): Experten- logie und Geriatrie 36:2003. S. 266-273 standard Sturzprophylaxe in der Pflege. 1. Aktuali- sierung 2013. Osnabrück Berzlanovich, Andrea (2007), Risiken bei der Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen Fachtagung des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen am 22.07.2007 in Eching – „FreiMut –Verantwor- tungsvoller Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen in der stationären Altenpflege“ 16 17
Teilhabe der Bewohnerinnen und Bewohner, Diese Frage ist zentral und darf nicht aus dem respektive der Betreuerin/des Betreuers bzw. Blick geraten. Dies schließt eine Betrachtung der Angehörigen dessen, wie sehr sich die Mitarbeiterinnen und Vor dem Hintergrund des Inklusionsanspruchs Mitarbeiter durch die Situation selbst auch beein- empfinden viele die Durchführung einer Bespre- trächtigt fühlen, nicht aus. Diesen Gefühlen (z.B. chung über und nicht mit den Bewohnerinnen „ich habe Angst vor dem nächsten Dienst“) sollte und Bewohnern bereits als inakzeptabel. Es stellt ein wertschätzender Raum gegeben werden, um jedoch aus unserer Sicht „keinen Widerspruch dann wieder den Fokus auf die Bedürfnisse der zum Inklusionsgedanken“ dar, dass sich Mitar- Bewohnerin bzw. des Bewohners zu richten. beiterinnen und Mitarbeiter zunächst ohne die Bewohnerinnen und Bewohner, deren Angehörige Risiken müssen konkret und nicht abstrakt sein und gesetzlichen Betreuerinnen und Betreuer Irgendwann wird in dem Alternativengespräch über eine Sache austauschen. Es ermöglicht viel- die Gefährdung, das Risiko, welches im Raum mehr häufig in der Komplexität des Themas eine steht durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ortsbestimmung des Teams. Zudem fördert es thematisiert werden (z.B. andere Bewohnerinnen eine Aussprache der mit dem Thema verbundenen und Bewohner werden verletzt; ein Sturz wird 4. Das Alternativengespräch – Gefühle. In weiteren Besprechungen kann dann die Einbindung der Bewohnerinnen und Bewohner stattfinden; die Menschen werden sich „über- fressen“; sie werden im Straßenverkehr verletzt). die richtigen Fragen sind sowie deren Betreuerinnen und Betreuer und der Da ein vorsorgliches Fixieren, im Sinne eines „es Angehörigen erfolgen. könnte passieren, dass“ rechtlich nicht legitim ist, bedarf es zur Rechtfertigung immer einer kon- der Schlüssel Christine Seebohm, André Hennig Ziel des Alternativengesprächs Der Fokus des Gesprächs ist zugleich auch das kreten und belegbaren Gefährdung. Es hat sich als sehr wertvoll erwiesen, eine oft anzutreffende Ziel, nämlich ein alternatives Denken und/oder „frei schwebende Gefährdung“ im Alternativenge- Handeln zum Bisherigen zu erreichen und ein spräch zu „erden“: individualisiertes sowie konkretes Konzept zu Die Qualität von Besprechungen jedweder Art eine aus vielen Ansätzen zusammengefügte, die entwickeln: • Was wird ganz konkret passieren, wenn die FEM hängt entscheidend von den Fragen ab, die ge- einerseits der „Psychologie“ (siehe dazu auch • wie bestehende Fixierungen gänzlich oder entfernt wird/nicht verwendet wird? stellt werden. Denn „wie die Frage gestellt wird, 2. Gründe für die Anwendung von FEM) und den temporär reduziert werden können oder • Was führt zu der Überlegung Freiheitsent- ist entscheidend dafür, welche Richtung man fachlich-juristischen Ansprüchen an FEM Rech- • wie bestehende Fixierungen durch eine mildere ziehende Maßnahmen anzuwenden? einschlägt, um die Antworten zu finden“ (Anto- nung trägt. Form ersetzt werden können oder novsky). Werden beispielsweise in Hinblick auf • im Sinne einer Risikoabwägung (z.B. Selbst- Sofern das Team hier sehr unentschieden ist, hieße herausforderndes Verhalten von Bewohnerinnen Moderation des Alternativengesprächs verletzungen auf ein erträgliches Maß zu das, dass es zunächst ausprobiert werden müsste, und Bewohnern Fragen zur Vermeidung des Die Moderation des Alternativengesprächs, reduzieren) bewusst unterlassen werden können. da es sonst einem vorsorglichen Fixieren entspre- Verhaltens oder zur Ergründung der möglichen bestenfalls durch eine außerhalb des Teams chen würde. Aus der Praxis wissen wir, dass FEM Ursachen gestellt? befindliche Person (z.B. psychologischer Dienst, Zentrale Fragen teilweise über sehr lange Zeit Anwendung finden Case-Manager, Konsulentendienst), ist sehr be- Entsprechend des Auftrags jeder Einrichtung der und der Grund für die damalige Anwendung mitt- Sicher werden alle Mitarbeiterinnen und Mitar- deutend. Das Thema FEM wird notwendigerweise Eingliederungshilfe bedarf es während des Alter- lerweile nur noch „nebulös“ rekonstruierbar ist, die beiter von Einrichtungen der Eingliederungshilfe viele Perspektiven (Bewohnerin und Bewohner, nativengesprächs erfahrungsgemäß immer wieder FEM in einer anderen Einrichtung oder zu Hause, große Erfahrung mit Fallbesprechungen besitzen. Mitbewohnerin und Mitbewohner, Mitarbeiterin der Frage: demnach in einem anderen Setting begonnen Aufbauend auf diesem Erfahrungsschatz wird im und Mitarbeiter, etc.) und konfligierende Werte wurde. Da Menschen sich körperlich und geistig Folgenden ein Ansatz zur Erörterung der Anwen- (Freiheitsrecht, Haftungsrecht, Lebensqualität, • Was möchte die Bewohnerin oder der weiterentwickeln, sich beispielsweise Bewälti- dung von freiheitsentziehenden Maßnahmen Unversehrtheit) in der Diskussion entstehen Bewohner? gungstechniken und Bedürfnisse auch verändern, vorgestellt, das „Alternativengespräch“ (eine lassen. Um daraus keinen „undurchdringlichen • Welches ist ihre bzw. sein mutmaßlicher Wille ist es eine Aufgabe der Einrichtungen, dessen was Kopiervorlage für die leitenden Fragen des Alter- Dschungel“ werden zu lassen, wird eine externe in dieser Sache? konkret ohne FEM passieren könnte, anzuzweifeln nativengesprächs findet sich in Anlage A). Es ist Moderation empfohlen. und kontrolliert zu „erproben“. keine neu erdachte Besprechungsform, sondern 18 19
Verstehenshypothesen bilden Warum handelt/empfindet die Bewohnerin es außerordentlich wichtig, dass auch der Fokus (z.B. Facharzt, Supervision, Fortbildung etc.) Eine weitere, sehr bedeutende Frage wird im bzw. der Bewohner so? Auf der Ebene: darauf gerichtet wird: kann noch eingebunden werden, um eine FEM Prozess des Alternativengesprächs auftauchen, • der Lebensgeschichte • Welches sind die Folgen von FEM? zu verhindern? nämlich die nach dem Grund, dem „warum“ die • des emotionalen Entwicklungsstandes • Was passiert auf der psychischen, sozialen und • Wie können wir weitere biografische Informa- Bewohnerin bzw. der Bewohner dieses Verhalten • der Lebens-/Arbeitssituation körperliche Ebene durch die FEM? tionen über den Menschen erhalten? zeigt. Hilfreich dabei ist auch die Frage zu beant- • des Systems (Werte, Rollen, Strukturen) • Welchen „Preis bezahlt“ der Bewohner für • In welcher Form bedarf es einer Einbindung worten: • der sozialen Grundbedürfnisse (Bindung, die geistige oder körperliche Bewegungsein- derAngehörigen bzw. der gesetzlichen Betreue- Teilhabe, Beschäftigung, Sexualität) schränkung? rinnen und Betreuer in Hinblick auf die Anwen- In welchen Situationen entsteht das Verhalten? • der körperlichen Grundbedürfnisse (Schmerz- dung von Alternativen? Die Erfahrung zeigt, dass Teams relativ schnell freiheit, Vitalzeichen, Ausscheidung, Sexualität) Erst über die Beantwortung dieser Fragen entsteht erste Verstehenshypothesen nennen können (z.B. ein umfassenderes Bild, das nun erst eine pro- Was noch, was noch, was noch? „der Mensch möchte Aufmerksamkeit“; „er oder Welche Veränderungen wirkten in den letzten fessionelle Abwägung der Folgen mit (siehe dazu Oft greifen Menschen auf Routinen im Denken sie genießt das Gefühl von Macht“; „er oder sie Wochen auf die Bewohnerin, auf den Bewohner auch Folgen von FEM, Seite 15) oder ohne FEM und Handeln zurück und nennen bei der Be- schätzt seine bzw. ihre Fähigkeiten falsch ein“; (z.B. veränderter Tagesablauf, Medikation, ermöglicht. Es sollte auch an dieser Stelle noch sprechung von Bewohnerinnen und Bewohnern „nur darüber spürt er oder sie sich“; „da besteht Infektion, Krankenhausaufenthalt)? einmal darauf hingewiesen werden, dass Teams immer wieder gleiche Hypothesen und erdenken ein Entwicklungsdefizit“). Diese wurden zumeist Für die Erarbeitung von Alternativen bedarf es und Einrichtungen nicht dafür verantwortlich ähnliche Maßnahmen. Die einfache Frage „was bereits häufig im Team ventiliert und erwerben demnach auch häufig eines veränderten Verständ- sind, dass „nichts passiert“, sondern dafür fachlich noch“ sollte seitens der Moderatorin bzw. des Mo- darüber eine „quasi-Objektivität“. Etwas theore- nisses dessen, was zu dem Verhalten führte. richtig gehandelt zu haben (lege artis), wozu auch derators immer wieder in den einzelnen Phasen tisch betrachtet ist es interessant, dass das, was der Abwägungsprozess gehört. des Alternativengesprächs gestellt werden. Diese als vermeintlicher Grund für das Verhalten des Suche nach Ausnahmen Frage befördert ein freies Denken außerhalb des Bewohners angenommen wird, auch die Suche Die Dynamik von Besprechungen bewirkt zuwei- Alternativen erdenken bereits Gedachten. Ein „mehr desselben“ bringt nach Alternativen entscheidend prägt. Demnach len eine ausschließliche Fokussierung auf das Basierend auf allen bisherigen Fragen, die das Ziel jedoch häufig nicht die gewünschte Veränderung. öffnen oder begrenzen die Art und Anzahl der herausfordernde Verhalten an sich. Eine weitere hatten, alternatives Denken zu fördern, Risiken Diese Kraft wohnt der Frage „was noch“ inne Verstehenshypothesen auch die Möglichkeit neue Frage, die den Blick wieder öffnet, ist die nach der realistisch einzuschätzen, Ausnahmen des heraus- und sollte im Alternativengespräch viel Raum Wege zu erarbeiten. Häufig wird beispielsweise Ausnahme: fordernden Verhaltens zu erkennen und neue Ver- bekommen, auch auf die Gefahr hin, dass hierauf der Blick auf sich selbst bei der Bildung von Ver- • Wann zeigt der Bewohner das Verhalten nicht? stehenshypothesen zu bilden sollten im Prozess zunächst „Stille“ im Team folgt. Diese Stille gilt es stehenshypothesen ausgespart (z.B. das Team, die • Welche Bedürfnisse sind dann befriedigt? des Alternativengesprächs nun auch Alternativen auszuhalten und auf die „Kreativität“ der Mitar- Bezugsbetreuerinnen und Betreuer, das Konzept). • Wie können diese Situation vermehrt oder erdacht und entwickelt werden: beiterinnen und Mitarbeiter zu vertrauen. Hypothesen können ja nur auf der Grundlage verlängert werden? • Was braucht die Bewohnerin, der Bewohner? dessen, was über den Mensch bekannt ist, gebildet • Wie können notwendige Persönlichkeitsent- Appell an den Humanismus werden. Die Abwägung oder „und dann passiert etwas“ wicklungen befördert werden? Gerade in Fällen in denen Teams gefühlt schon Über die Zeit und auch vor dem Hintergrund • Wie kann die Lebens- und Arbeitssituation hundertfach miteinander gesprochen und „alles Vor dem Hintergrund dürfen folgende Fragen unreflektierter Haftungsängste („wir stehen mit bedürfnisorientierter gestaltet werden? ausprobiert“ haben, kommt ab und zu eine grund- durchaus gestellt werden: einem Bein im Gefängnis“) entwickelt sich in • Wie kann das den Menschen umgebende legende Haltung sozialer Arbeit in Bedrängnis: Teams ab und an eine ausschließliche Fokussierung System verändert werden? Die grundlegende Überzeugung, dass Menschen Ist die Biografie weitumfänglich bekannt und darauf, was passieren könnte, wenn eine FEM • Wie können soziale und körperliche Bedürfnisse sich entwickeln und dies grundsätzlich in Richtung besprochen? nicht angewendet werden sollte oder der Einsatz anders, besser oder intensiver befriedigt werden? positiver Verhaltensweisen wollen und können. eingeschränkt würde (z.B. Stürze, Selbstverlet- • Mit welchen Fähigkeiten der Menschen (z. B. Dieser psychologische Humanismus geht in Hin- Was wissen wir aus der vorherigen Lebens- zungen, Fremdgefährdungen, etc.). Ein Argument, kognitive, motorische, soziale, emotionale, blick auf herausforderndes Verhalten davon aus, welt/Wohngruppe über den Bewohner? welches sehr häufig benannt wird ist „und dann soziale Fähigkeiten) lässt sich das Thema dass Menschen konstruktive anstatt destruktive passiert etwas“. Die Angst vor dem, was dann positiv beeinflussen? Verhaltensweise wählen, wenn es Ihnen möglich Grundsätzlich sollten die Bewohnerinnen und droht wird damit geschürt. Diese Argumentation • Wie sollten wir uns verändern? ist oder ermöglicht wird. Ein Humanismus-Appell Bewohner im Rahmen des Alternativengesprächs ist schwer zu entkräften und wirkt teils bleiern auf • Macht eine neue medizinische oder psycholo- an jeden Einzelnen des Teams kann helfen, wenn auf verschiedenen Ebenen betrachtet und Hypo- die Dynamik der Besprechung. Sofern sich Teams gische Betrachtung Sinn? Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich in der Kom- thesen für das Verhalten gebildet werden: in diese „Sackgasse“ hinein bewegt haben, ist • Welche andere fachliche Unterstützung plexität des „Falls“ verlieren und „der Glaube“ droht verloren zu gehen. 20 21
Weitere Fragen bei Entscheidung für FEM Sofern FEM Anwendung finden sollen bzw. bereits angewandt werden, sollte sich das Team mit fol- genden Fragen auseinandersetzen: • Welche Alternativen wurden bisher angewen- det, über welchen Zeitraum und wurden diese dokumentiert? • Welches sind die notwendigen Sicht- und Kontrollzeiten? • Ist in der Teilhabe oder Pflegeplanung die handlungsleitende Anwendung und Dauer der FEM aufgenommen? • Muss ein Antrag beim Amtsgericht zur Verlän- gerung der eingesetzten FEM gestellt werden? Der Ansatz des „Alternativengesprächs“ ist ein aus der Praxis und aus der Erfahrung aus unzähligen Besprechungen mit Teams entstanden. Er greift auf die grundlegende Erkenntnis zurück, dass sich Situationen grundsätzlich nur über zwei Wege verändern lassen: Anders denken; Anders handeln. Wir vertrauen auf die Kraft der Fragen, Teams auf diese Wege zu bringen. 22 23
• „Wann habe Sie das erste Mal einen Menschen diese in Ihrer Einrichtung bereitgestellt. Wie in einer Fixierung gesehen und was hat das in ist der Weg? Besprechung (Alternativenge- Ihnen ausgelöst?“ spräch siehe Seite 18): Verhalten betrachten • „Wie gehen Sie mit diesem Erleben bisher um, und erklären, Angebote, Zeitschiene der wie wird im Team darüber gesprochen?“ Erprobung … • benennen Sie Verantwortlichkeiten für die Vielleicht hören Sie Aussagen wie: verschiedenen Schritte • „das gehört hier zum Alltag…“ • wenn eine FEM in Ihrer Einrichtung angewen- • „das muss man aushalten…“ det wird, muss folgendes eingehalten werden: • „das gehört doch zum Beruf…“ - Deeskalationsmethoden oder andere päda- • „da gewöhnt man sich dran…“ gogische interne Konzepte aufnehmen • „ich bin schuld, wenn ansonsten etwas - Schulung von Mitarbeiterinnen und Mitar- passiert“ beitern; Begleitung und Schutz… • „der Mensch muss fixiert werden, weil…“ - Informationspflichten z.B. gegenüber gesetz- lichen Betreuerinnen und Betreuern Geben Sie diesem Erleben Raum - Antrag Amtsgericht/Gutachten/Beschluss 5. Qualitätskriterien in Hinblick auf Notwendig für diesen Schritt ist eine offene Ge- - Dokumentationspflichten sprächskultur innerhalb der Einrichtung, eine klare gelebte Aussage der Leitungsebene gegenüber der Beispiele für Dokumentationspflichten: die Vermeidung und Anwendung Anwendung von Freiheitsentziehenden Maßnah- men in der Einrichtung sowie die Möglichkeit der FEM müssen immer begründet und dokumentiert werden. von FEM N Christine Seebohm Reflektion im Team und kontinuierliche Schu- lungen zur Vermeidung von Freiheitsentziehenden • Alle freiheitsentziehenden Maßnahmen Maßnahmen. müssen begleitet werden. Eine Kontrolle während der Durchführung muss nach Nutzen Sie zudem interne, z. B. Mitarbeiter des fachlicher Einschätzung erfolgen, mindestens Das Bestreben aller Mitarbeiterinnen und Mitar- kontinuierlich für dieses Thema sensibilisiert Psychologischen Dienstes oder externe Hilfesy- jedoch stündlich. Die Art der Kontrolle wird beiter, einschränkende Maßnahmen weitestge- und fortgebildet. steme. vorher festgelegt, z.B. permanente Sichtkon- hend zu vermeiden, sollte durch ein handlungsan- • Die Anzahl der freiheitsentziehenden Maßnah- trolle über eine Live Kamera (nach richterlicher leitendes Konzept in der Einrichtung unterstützt men in der Einrichtung ist reduziert. Wichtig ist, dass alle Mitarbeiterinnen und Mit- Genehmigung). werden. • Rechtssicherheit bei der Anwendung von FEM arbeiter ein Bewusstsein dafür entwickeln, was • Sichtkontrollen während der Nacht ergeben für die in der Einrichtung lebenden Menschen eine Fixierung für einen Menschen bedeuten kann, sich aus der Teilhabe- und/oder Pflegeplanung Mit einem vorliegenden Konzept soll der Umgang sowie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aber auch dafür, was es in ihnen selbst auslöst, • Alle Zeiträume, auch während der Nacht, in mit freiheitsentziehenden Maßnahmen (FEM) ist sichergestellt. wenn sie einen anderen Menschen in dessen Frei- denen eine FEM kurz geöffnet wird, z.B. bei eindeutig und transparent dargestellt werden. • Für alle betroffenen Mitarbeiterinnen und Mit- heit beschränken. einem Positionswechsel, beim Wechsel einer Zudem soll es den ausführenden Mitarbeiterinnen arbeiter ist mit diesem Konzept eine einheit- Inkontinenzversorgung u.ä. müssen genau und Mitarbeitern Sicherheit vermitteln. liche Grundlage zu diesem Thema geschaffen. Empfehlungen zu möglichen Konzeptinhalten: dokumentiert werden. Treffen Sie Aussagen zur Grundhaltung und Ziel • Bei einer Fixierung von unruhigen Bewohnern, Sie legen hiermit das Ziel und die Haltung Ihrer Zu Beginn der Überlegungen zu einem solchen der Einrichtung zur Vermeidung und Anwendung mittels Gurtsystemen gemäß dem Hersteller- Einrichtung dar. Sie treffen mögliche Aussagen, Konzept, sollte die Tradition der Einrichtung zur von Freiheitsentziehenden Maßnahmen. hinweis, ist eine ununterbrochene Beaufsichti- wie z.B.: bisherigen Anwendung von Freiheitsentziehenden gung notwendig. • Die Menschenwürde ist geachtet und ein Maßnahmen betrachtet werden, denn diese Tradi- Beschreiben Sie zum Beispiel: größtmögliches Maß an Freiheit des Menschen tion beeinflusst das Erleben und die Handlung der • was eine FEM/oder beschränkende Maßnahme ist ist erhalten. heute ausführenden Mitarbeiter. • was keine FEM ist • Handlungsalternativen werden angeboten, • was die Einrichtung unternimmt, um möglichst angewendet und reflektiert. Stellen Sie Fragen zur bisherigen Erlebenswelt der eine FEM zu verhindern • Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden Mitarbeiterin und des Mitarbeiters: z.B.: • benennen Sie Alternativen und wie werden 24 25
Die Inklusive Perspektive auf den Klienten weise der betroffenen Systeme und Strukturen Personzentrierte Betreuung und Beratung macht (Erarbeitung des Istzustandes mit Hilfe der Folien den Inklusionsgedanken zum Ausgangspunkt 2-4). der Wahrnehmung des Klienten. Der Begriff der Sozialen Inklusion beschreibt die bewertungsfreie 3. Im dritten Schritt werden die den behinderten Wahrnehmung von Unterschiedlichkeit und Viel- Menschen umgebenden Mitmenschen, Systeme falt von Menschen mit und ohne Behinderung. An und Strukturen daraufhin beleuchtet, inwiefern sie die Stelle der bisher vorherrschenden Bewertung die Grundbedürfnisse des behinderten Menschen von „Normalität“, die faktisch alle „ab-normal“ befriedigen können (Abgleich von Ist-Zustand und scheinenden Menschen ausschließt, sollen ver- Bedürfnissen des behinderten Menschen). schiedene Lebensformen und Verhaltensweisen gleichberechtigt nebeneinander treten, ohne 4. Im vierten Schritt werden Veränderungsmög- dass diese als etwas „Besonderes“ angesehen lichkeiten im Verhalten der Mitmenschen und würden. Die Inklusive Perspektive, d.h. die Per- in der Organisation der Systeme und Strukturen spektivübernahme gegenüber dem Menschen mit erarbeitet (Handlungsempfehlungen). 6. Personzentriertes Denken und Behinderung verbunden mit der Bereitschaft, die konkreten Lebensverhältnisse zu seinen Gunsten Die vier Folien zu verändern, ist neben dem Personzentrierten Die vier Folien, die wir benutzen, sollen die Situ- Handeln bei herausforderndem Ansatz der zweite Brennpunkt, wie in einer Ellipse, auf den personzentrierte Betreuung und Beratung ation des Menschen mit Behinderung erhellen. Im Zentrum steht er selbst mit seiner Lebensge- Verhalten Dr. Martin Jochheim, Marianne Martin fokussiert. Die Erarbeitung von Verstehenshypo- thesen für das herausfordernde Verhalten und die schichte, seinem Gewordensein. Darum herum gruppieren sich die Menschen, die ihn betreuen Ableitung von Handlungsempfehlungen sind ein bzw. mit ihm leben, das Funktionieren der Syste- wesentlicher Teil des kollegialen Austausches oder me, an denen er Anteil hat, und die Struktur dieser einer Fachberatung. Systeme. Was heißt „personzentriert“ Denken und • das Axiom der Aktualisierungstendenz als einer Handeln? jedem lebendigen Organismus innewohnenden Das 4 Schritte - 4 Folien - Modell Folie I: Der behinderte Mensch im Mittelpunkt. Die personzentrierte Beratung und Betreuung Kraft für Wachstum und Erhaltung, einschließ- Das 4 Schritte - 4 Folien - Modell ist ein analy- Seine Geschichte und sein (Selbst-)Erleben in orientiert sich in ihren Grundlagen am Personzen- lich der Einsicht, dass für konstruktive Persön- tisches Hilfsmittel, das wir erarbeitet haben, um der Gegenwart trierten Ansatz (PZA) nach Carl Rogers. lichkeitsveränderungen zwar die Berater hilf- die Hintergründe des herausfordernden Verhal- Wir informieren uns über die Lebensgeschichte reiche Rahmenbedingungen anbieten, aber die tens eines behinderten Menschen zu verstehen der Klientin bzw. des Klienten, seine körperliche, Dazu gehören Aktualisierungstendenz im Klienten die Verän- und die Inklusive Perspektive methodisch hand- psychische, emotionale und geistige Entwicklung • die drei „Kernbedingungen“ auf Seiten der derung bewirkt, habbar zu machen. Wir nutzen dieses Modell um und die Bildungsgeschichte. Beraterin, auf Seiten des Beraters (Empathie, • das personzentrierte Menschenbild, das einen die Inklusive Perspektive auf die Klientin bzw. den unbedingte Wertschätzung, Kongruenz), um Menschen als Person sieht, als Lebewesen, das Klienten zu entwickeln (s. dazu S. 28). Folie II: (Mit-) Menschen und ihr Verhalten die unbedingte Beratungsbeziehung zu gestalten, gleichermaßen in sich selbst und für sich selbst Dazu gehören Eltern, Geschwister, Familien- • die weiteren von Carl Rogers formulierten steht wie es auf Beziehung angewiesen und Die vier Schritte angehörige, Betreuerinnen und Betreuer in der „notwendigen und hinreichenden Bedin- davon abhängig ist (substantialer und rela- 1. Im ersten Schritt der Analyse steht die Per- Wohnstätte, Werkstatt für behinderte Menschen gungen“ für Persönlichkeitsentwicklung mit tionaler Personbegriff), spektive des behinderten Menschen auf dem (WfbM), Tagesstruktur; gesetzliche Betreuerinnen Hilfe einer Beratungsbeziehung: Psycholo- • „the need for positive regard“ (das Bedürfnis Hintergrund seiner Lebensgeschichte im Zentrum, und Betreuer; Mitbewohnerinnen und Mitbe- gischer Kontakt zwischen Klientin bzw. Klient nach wertschätzender Wahrnehmung) als und es wird versucht, aus dieser Sicht heraus sein wohner; Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der und Beraterin bzw. Berater, die Klientin, der anthropologische Grundeinsicht in die Bedürf- Verhalten zu verstehen (Bilden von Verstehenshy- WfbM; Freundinnen und Freunde; Ärztinnen und Klient ist in einem Zustand der Inkongruenz, die nisstruktur des Menschen. pothesen mit Hilfe von Folie 1). Ärzte und andere Behandlerinnen und Behandler. Kommunikation von Empathie und bedin- Wir versuchen zu eruieren, wo sich konflikthafte gungsloser Wertschätzung wird wenigstens in 2. Im zweiten Schritt betrachten wir die Verhal- oder hilfreiche Beziehungen zeigen und ob das einem minimalen Ausmaß erreicht, tensweisen der Menschen, die mit dem Menschen Verhalten der Betreuerinnen und Betreuer person- mit Behinderung umgehen, und die Funktions- angemessen ist. 26 27
Folie III: Systeme Grundbedürfnisse behinderter Menschen turen und Regeln für ein gemeinsames Miteinander Vertrauen auf Entwicklungsmöglichkeiten Wir überprüfen die Wohnstätte auf ihre Einrich- Wir gehen davon aus, dass herausforderndes und verlässliche Absprachen. Schließlich suchen Zutrauen in die Entwicklungschancen des Men- tungsgegenstände, lassen uns die Architektur Verhalten oftmals mit nicht befriedigten Grund- Menschen lustvoll fließende Energie im Körper, schen mit Behinderung erhöhen seine Möglich- erläutern, bewerten Größe, Helligkeit und Ge- bedürfnissen der Menschen mit Behinderung die sich in Sexualität, Sinnlichkeit, Erotik und dem keiten, ein neues Verhalten auszuprobieren und räusche. Wir fragen nach dem Betreuungsschlüs- zusammenhängt, ein Zustand, auf den diese Men- Wunsch nach Berührung und körperlicher Nähe festgefahrene Muster loszulassen. Dieses Zu- sel für den Klienten, besichtigen den Arbeitsplatz schen mit heftigen Verhaltensweisen als Notbe- ausdrückt, und aus unserer Sicht ein wichtiger Teil trauen muss von außen kommen, damit es in der in der Werkstatt, nehmen die Gestaltung der helf reagieren, weil ihnen andere Verhaltensmög- menschlichen Erlebens ist. Klientin bzw. im Klienten wirken kann. Räume unter die Lupe, begutachten die Gruppen- lichkeiten versperrt sind. Mit der Humanistischen größe und fragen nach den Freizeitangeboten. Psychologie (Abraham Maslows Bedürfnispy- Personzentrierte Konsequenzen für eine gelin- Selbstverantwortung ramide) gehen wir von Grundbedürfnissen aus, gende Unterstützung/Betreuung Der Mensch hat Verantwortung für sich selbst in Folie IV: Strukturen die sich vielfach ausdrücken: In den Bedürfnissen Gleichgewicht zwischen Rahmen und Spielraum dem Maß, in dem er sie übernehmen kann. Dies Hierher gehören Fragen nach den Dienstplänen, nach körperlicher und psychischer Integrität, Soviel Rahmen wie nötig, soviel Spielraum wie steigert sein Selbstwertgefühl. Wochenend- und Nachtdiensten, Krankheits- und nach Selbststeuerung (z.B. eigene Strukturen und möglich. Ein zu enger Rahmen ist hinderlich für Urlaubsvertretung, Stellenbesetzungen, Bildung Regeln), Selbstbestimmung (z.B. Freiräume ohne die Entwicklung von Eigeninitiative, zu wenig Rah- Literatur in Auswahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Super- Kontrolle), Selbstentfaltung (z.B. Räume für Krea- men wirkt unübersichtlich und führt zu Orientie- Došen, Anton: Psychische Störungen, Verhalten- visionsangebote etc. Wir fragen nach dem Be- tivität), Selbstwirksamkeit (z.B. eine Aufgabe, die rungslosigkeit sprobleme und intellektuelle Behinderung. Ein treuungskonzept, nach der Zusammenarbeit der befriedigt), dem Wunsch nach verbindlichen Ab- integrativer Ansatz für Kinder und Erwachsene. Hilfesysteme, klären die medizinische und psy- sprachen (Zuverlässigkeit), körperlicher Bewegung Klarheit Göttingen (Hogrefe) 2010 chotherapeutische Behandlung und widmen uns und gesundem und ausreichendem Essen; Men- Keine Diskussion über Fakten, die nicht zu ändern Fragen der Organisationskultur in der Wohnstät- schen brauchen aus unserer Sicht u.a. verbindliche sind. Keine Illusionen über Wahlmöglichkeiten Jochheim, Martin: „Als ob man der Andere te/WfbM/Tagesstruktur (was darf angesprochen Beziehungen (wichtige Andere), bedingungslose wecken, wo keine sind. sei.“ Personzentrierte Beratung mit Inklusiver werden, was nicht?). Wertschätzung (Liebe), ehrliche Kontakte, Struk- Perspektive bei herausforderndem Verhalten von Erleben als zentraler Faktor Menschen mit Behinderung. In: Gesprächspsycho- Verstehen der Klientin bzw. des Klienten aus seinem therapie und Personzentrierte Beratung 45 (2014) subjektiven Erleben heraus. 231 – 240, (auch als Download unter: http://www. bso-hessen.com/wa_files/2014-4-gpb_als_ob- Ressourcenorientierung man_der_andere_sei.pdf) Kritik führt Energie in die unerwünschten Bereiche und ist daher nicht hilfreich. Die Maßnahmen Pörtner, Marlis: Erstnehmen – Zutrauen – Ver- orientieren sich ausschließlich an den Stärken der stehen: Ein personzentriertes Alltagskonzept Klientin bzw. des Klienten. für den Umgang mit psychischen Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung. Vortrag vom Kleine Schritte würdigen 5.11.1999. Materialien der DGSGB. Band 2. Berlin Jeder noch so kleine Veränderungsschritt ist zu 2000. (auch als Download unter: http://dgsgb.de/ würdigen. Zeigt er doch die Entwicklungsmöglich- index.php?volume=3-938931-01-9) keiten der Klientin bzw. des Klienten. Senckel, B.: Die entwicklungsfreundliche Bezie- Der Weg ist das Ziel hung. Ein Angebot für Menschen mit schwerer Selbstwirksamkeitserfahrungen sind oft wichtiger Verhaltensauffälligkeit. In: Geistige Behinderung für Entwicklung als die eigentliche Zielerreichung. 40, 2001, S. 337-349 (auch als Link, unter: www. Neue Aspekte und Erfahrungen eröffnen oft den efbe-online.de) Blick für neue Perspektiven. Schaubild aus: M. Jochheim: Konsulentendienst. (aaO.) 28 29
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