So schützt die Schweiz ihre Pharmakonzerne - #82 Sommer 2021 - Alliance Sud

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So schützt die Schweiz ihre Pharmakonzerne - #82 Sommer 2021 - Alliance Sud
#82 Sommer 2021

             STEUERPOLITIK

So schützt die Schweiz
ihre Pharmakonzerne
                  SEITE 10

Das Magazin von              Swissaid   Fastenopfer   Brot für alle   Helvetas   Caritas   Heks
So schützt die Schweiz ihre Pharmakonzerne - #82 Sommer 2021 - Alliance Sud
AUFTAKT

                        Konstante Veränderung

                                                                                                                Foto: Daniel Rihs
Die einzige Konstante im Leben, so lehrte           mit der Agenda 2030 auf einen politischen
Heraklit, ist die Veränderung. Trotzdem ist         Kurs verpflichtet, der sich nicht bloss an
es schon fast 13 Jahre her, dass ich meine          kurz­fristigen nationalen Eigeninteressen aus-
erste Stelle bei Alliance Sud antrat. Nun ist aus   richtet, sondern dem langfristigen Wohl­
familiären Gründen die Zeit gekommen,               ergehen der Menschen und des Planeten dient.
um Abschied zu nehmen – ein guter Moment, um        Umso erstaunlicher ist, mit wieviel Leiden-
gleichzeitig zurück und vorwärts zu schauen.        schaft sich heute gewisse BundesrätInnen
                                                    und ParlamentarierInnen darüber ärgern,
Als ich 2008 bei Alliance Sud die Fachverant-       wenn sich die NGOs im Namen der Menschen-
wortung für das Dossier «Steuerpolitik» über-       rechte und des Umweltschutzes in die
nahm, glaubte Finanzminister Hans-Rudolf            ­Schweizer Politik einmischen.
Merz noch, das Schweizer Bankgeheimnis sei
so unverrückbar wie das Gotthardmassiv.             Alliance Sud eckte damals wie heute politisch an.
Steuerhinterzieher und korrupte Potentaten          Sie sollte sich auch von den jüngsten Retour­
aus Entwicklungsländern, die ihre Vermögen          kutschen gegen eine entwicklungspolitisch
in der Schweiz verstecken wollten, hatten freie     aktive Zivilgesellschaft nicht beeindrucken
Bahn. Dann kam die globale Finanz- und              lassen. Eine sozial gerechte und ökologisch
Wirtschaftskrise: Sie gab vielen der Millenniums-   tragfähige Entwicklung der Welt braucht
Entwicklungsziele, die bis 2015 hätten erfüllt      dringender denn je eine Schweiz, die jegliche
sein sollen, den Dolchstoss; dafür brachte sie      Politik – von der Aussenpolitik über die
Bewegung in den Kampf gegen die Steuerflucht.       ­Klimapolitik bis zur Wirtschaftspolitik –
                                                     ­kohärent an diesem Ziel ausrichtet. Dafür wer-
Plötzlich waren auch die mächtigen Industrie-         den sich das Team, die Trägerorganisationen
länder daran interessiert, gegen Steuersünder         und die Verbündeten von Alliance Sud, denen
vorzugehen. Sie brauchten dringend mehr               ich hier von ganzem Herzen für die wunder-
Staatseinnahmen, um ihre milliardenschweren           bare Zusammenarbeit danken möchte, auch
Rettungspakete für die Banken zu finanzieren.         in Zukunft stark machen – mit Herzblut,
Alliance Sud musste allerdings jahrelang weiter-      unermüdlichem Einsatz und der Kraft der
kämpfen, bis die Schweiz den automatischen            richtigen Argumente.
Informationsaustausch in Steuerfragen endlich
auch auf die Entwicklungsländer ausdehnte.
Gegen die unseligen Anreize für multinationale
Unternehmen, ihre Gewinne aus ärmeren
Ländern weitgehend unversteuert in die Schweiz
zu verschieben, kämpft sie immer noch.

Als ich 2015 die Nachfolge von Peter Niggli als
Geschäftsleiter von Alliance Sud antreten
durfte, lösten gerade die Ziele für nachhaltige
Entwicklung die Millenniums-Entwicklungs-                         Mark Herkenrath
ziele ab. Die reichen Industrieländer haben sich                  Geschäfsleiter Alliance Sud

2                                                                                       #82     Sommer   2021
So schützt die Schweiz ihre Pharmakonzerne - #82 Sommer 2021 - Alliance Sud
INHALT                                  IMPRESSUM

                                             global – Politik für eine gerechte Welt
                                             erscheint viermal jährlich.

                                             Die nächste Ausgabe von «global» erscheint
                                             Anfang Oktober 2021.

                                             Herausgeberin:
                                             Alliance Sud
                         INS BILD GESETZT    Arbeitsgemeinschaft Swissaid, Fastenopfer,
                  Amazona Warmikuna          Brot für alle, Helvetas, Caritas, Heks

                                             Monbijoustrasse 31, Postfach, 3001 Bern
                          6                  T +41 31 390 93 30
                                             F +41 31 390 93 31
                                             global@alliancesud.ch
                       ENTWICKLUNGSPOLITIK   www.alliancesud.ch

                       «Es liegt noch ein    Social Media:
                                             facebook.com/alliancesud
                      langer Weg vor uns»    twitter.com/AllianceSud

                                8            Redaktion: Marco Fähndrich (mf ), Kathrin Spichiger (ks)
                                             T +41 31 390 93 34 / 30

                                             Bildredaktion: Daniel Rihs
                          STEUERPOLITIK      Grafik: Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik, Zürich
                                             Druck: Valmedia AG, Visp
                 So schützt die Schweiz      Auflage: 2700

                 ihre Pharmakonzerne
                                             Tarife / Beilagen: siehe Website

                                             Bild Titelseite: Ein kleiner Stich für uns, kolossale Gewinne
                           10                für «Big Pharma».
                                             Foto: Keystone/Image Source

                  HANDEL UND INVESTITIONEN
           Ein Gesetz, das Wirtschaft und
             Menschenrechte verknüpft
                         14
                                                               WIR SIND ALLIANCE SUD
                          AGENDA 2030        Präsidium                     POLITIK
                  «Ungleichheiten sind       Bernd Nilles,
                                             Geschäftsleiter
                                                                           Entwicklungszusammenarbeit
                                                                           Kristina Lanz
                 im System verwurzelt»       ­Fastenopfer                  T +41 31 390 93 40
                                                                           kristina.lanz@alliancesud.ch
                                             Geschäftsstelle
                           16                Mark Herkenrath               Steuer- und Finanzpolitik
                                                                           Dominik Gross
                                             (Geschäftsleiter),
                                             Kathrin Spichiger             T +41 31 390 93 35
                                                                           dominik.gross@alliancesud.ch
               UNTERNEHMEN UND ENTWICKLUNG   (Mitglied der GL),
                                             Matthias Wüthrich             Klima und Umwelt
          Ein Jahrzehnt der Inkonsequenz     Monbijoustr. 31,              Vakant
                                             Postfach, 3001 Bern           Handel und Investitionen
                         18                  T +41 31 390 93 30            Isolda Agazzi
                                             F +41 31 390 93 31            T +41 21 612 00 95
                                             mail@alliancesud.ch           isolda.agazzi@alliancesud.ch
                       ENTWICKLUNGSPOLITIK   Regionalstelle Lausanne       Unternehmen und

                «Wie kann ein Eigentum       Isolda Agazzi
                                             (Mitglied der GL),
                                                                           Entwicklung
                                                                           Laurent Matile
                   etwas besitzen?»          Laurent Matile,
                                             Mireille Clavien
                                                                           T +41 21 612 00 98
                                                                           laurent.matile@alliancesud.ch

                          20                 T +41 21 612 00 95
                                             F +41 21 612 00 99
                                                                           Medien und Kommunikation
                                                                           Marco Fähndrich
                                             lausanne@alliancesud.ch       T +41 31 390 93 34
                                             Regionalstelle Lugano         marco.faehndrich@alliancesud.ch
                         SÜD-PERSPEKTIVE     Lavinia Sommaruga
                 Die Macht der Bildung       (Mitglied der GL)
                                             T +41 91 967 33 66
                                                                           INFODOC
                                                                           Bern
                          23                 F +41 91 966 02 46
                                             lugano@alliancesud.ch
                                                                           Alina Burri, Petra Schrackmann,
                                                                           Jérémie Urwyler, Joëlle Valterio
                                                                           T +41 31 390 93 37
                                                                           dokumentation@alliancesud.ch
                            INFODOC
                                                                           Lausanne
                Eine Utopie im Wandel –                                    Pierre Flatt (Mitglied der GL),
                                                                           ­Ermeline Jaggi,
                 50 Jahre Alliance Sud                                      Amélie Vallotton Preisig
                                                                            T +41 21 612 00 86
                           26                                               documentation@alliancesud.ch

#82   Sommer   2021                                                                                           3
So schützt die Schweiz ihre Pharmakonzerne - #82 Sommer 2021 - Alliance Sud
AUF DEN PUNKT

Ein Hoch auf die Zivilgesellschaft        AkademikerInnen, JournalistInnen           drohen Zwangs- und Bussgelder.
Im diesjährigen «State of Civil Society   und PraktikerInnen aus aller Welt.         Eine zivilrechtliche Haftung gibt es
Report» schaut die zivilgesellschaft­     Ungleichheiten zeigen sich beispiels­      allerdings nicht. LM
liche Allianz CIVICUS auf die Trends      weise im spärlichen Zugang
der letzten 10 Jahre zurück.              zur Finanzierung für lokale Organi­
Während Protestbewegungen jünger,         sationen, in den ungleichen An-            Klimaklage gegen «Big Oil»:
digitaler und vernetzter geworden         stell­ungs­bedingungen und der unter-      wegweisendes Urteil
sind, sind auch Nationalismus, Popu-      schiedlich gewerteten Expertise            In den Niederlanden ist erstmals
lismus, Repression und Desinfor­                                                     ein multinationaler Konzern
mation weltweit auf dem Vormarsch.                                                   per Gerichtsurteil dazu verpflichtet
Ende 2020 lebten 87% der Welt­                                                       worden, einen Beitrag zur Um­
bevölkerung in Ländern mit massiven                                                  setzung der Pariser Klimaziele zu
zivilgesellschaftlichen Einschrän­        von lokalen und internationalen            leisten. Das britisch-niederlän-
kungen. Im Corona-Jahr zeigten sich       ExpertInnen. Auch in den Bildern           dische Unternehmen Shell, Europas
sowohl die Kraft der Zivilgesellschaft    und in der Sprache zeigen sich             grösster Ölkonzern, muss seinen
wie auch die damit einhergehende          Formen von Rassismus und Kolonia­          CO₂-Ausstoss in den kommenden
steigende Repression in verschiedenen     lismus. Die AutorInnen plädieren           neun Jahren nahezu halbieren;
Ländern – von Myanmar über Belarus        deshalb für mehr Ehrlichkeit, Offen-       das entschied Ende Mai ein Gericht in
und Algerien bis nach Hongkong.           heit und Reflexion im Umgang               Den Haag und hiess damit die
                                          mit der kolonialen Vergangenheit und       Klage der Umweltschutzorganisation
                                          mit den Machtasymmetrien in der            Milieudefensie, anderer Gruppen
                                          internationalen Zusammenarbeit. KL         und mehr als 17 000 BürgerInnen gut.
                                                                                     Sie hatten von Shell eine Reduktion
Gleichzeitig schaffte es die «Black-                                                 des Treibhausgas-Ausstosses um 45
Lives-Matter»-Bewegung, mitten in der     Der lange Weg zur                          Prozent im Vergleich zu 2019
Krise das Thema des strukturellen         Konzernverantwortung                       verlangt, weil das Unternehmen gegen
Rassismus weltweit auf die Agenda zu      Die EU-Kommission hatte vor                die globalen Klimaziele verstosse.
bringen. Während durch Mass­              Monaten angekündigt, dass spätes­          Shell will gegen das Urteil in erster
nahmen zur Pandemiebekämpfung der         tens im Juni 2021 ein Entwurf für          Instanz Berufung einlegen.
zivilgesellschaftliche Spielraum          ein europäisches Unternehmensver­
immer mehr eingeschränkt wurde,           antwortungsgesetz vorgelegt ­
tauchten vielerorts kleine gemeinde­      werden soll. Das EU-Parlament hatte
basierte Organisationen und Nach-         darüber hinaus in einem Bericht            Weltweit sind laut dem letzten
barschaftshilfen auf, die die durch       die Notwendigkeit einer solchen Sorg-      «Global Climate Litigation Report»
Staats- und Marktversagen ent­            faltspflicht für Konzerne nicht            der UNO mehr als 1500 Klima-
standenen Lücken füllten und Hilfe        nur unterstrichen, sondern bei Nicht-      klagen in rund 40 Ländern hängig.
für die Bedürftigsten leisteten.          einhaltung von Menschenrechten             In Deutschland hat Ende April das
Die Zivilgesellschaft lässt sich nicht    und Umweltstandards auch ein Im-           Bundesverfassungsgericht der Klima-
unterkriegen. KL                          portverbot gefordert. Nun wurde            jugend Recht gegeben und die
                                          auf Druck der Industrieverbände in         Politik zu effektiverem Klimaschutz
                                          Brüssel der Entwurf für ein Gesetz         verurteilt. In der Schweiz hatte
Wer «hilft», ist nicht immun              bis auf Weiteres zurückgestellt.           das Bundesgericht die Klimaklage der
gegen Kolonialismus                                                                  Klimaseniorinnen gegen den Bund
Der kürzlich erschienene Bericht          In Deutschland hat vier Monate vor         vor einem Jahr zwar abgewiesen, nun
von Peace Direct «Time to Decolonize      der Bundestagswahl die Grosse              wird aber der Europäische Gerichts-
Aid» zeigt anhand einer Reihe von         Koalition ihren Streit über das geplante   hof für Menschenrechte (EGMR) den
konkreten Beispielen, wie struktureller   Lieferkettengesetz beigelegt:              Fall prioritär behandeln.
Rassismus und Machtungleich-              Es soll Unternehmen verpflichten,
heiten auch in der internationalen        bei ihren internationalen Partnern         Nach dem «Nein» zum CO2-Gesetz
Zusammenarbeit ein Problem dar-           auf die Einhaltung von Menschen­           an der Urne ist die Schweizer
stellen. Die Studie basiert auf einer     rechten und auf Umweltschutzkri­           Klimapolitik weit davon entfernt,
breit angelegten Online-Konsul­           terien zu achten. Kommen die               ihren internationalen Verpflich­
tation mit EntscheidungsträgerInnen,      Firmen dieser Sorgfalt nicht nach,         tungen nachzukommen. MF

4                                                                                                      #82   Sommer    2021
So schützt die Schweiz ihre Pharmakonzerne - #82 Sommer 2021 - Alliance Sud
RUEDI WIDMER

                                                HAUSMITTEILUNG

         Auf Wiedersehen!                                  des EDA am Stockholm International Peace
         Nach 13 Jahren unermüdlichem Einsatz für          Research Institute (SIPRI) angetreten.
         eine sozial gerechte und ökologisch tragfähige    Ein Gewinn für das SIPRI, ein grosser Verlust
         Schweiz verlässt unser Geschäftsleiter            für Alliance Sud! Seit fast sieben Jahren
         Mark Herkenrath Alliance Sud per Ende Juli.       war Jürg unser klimapolitisches Gesicht.
         Im Auftakt (Seite 2) und im Interview (Seite 8)   Seinem tatkräftigen Engagement für eine Klima-
         lesen Sie, was er uns mit auf den Weg geben       politik der Schweiz, die ihrer globalen Ver­
         möchte. Sein Wirken bei Alliance Sud wird von     antwortung gerecht wird, gebührt ein riesiges
         allen Träger- und Partnerorganisationen           Dankeschön!
         ausserordentlich geschätzt. Mark hat Enormes
         geleistet und Alliance Sud über Jahre geprägt     Die beiden Stellen werden im Lauf des Jahres
         und weiterentwickelt. Hierfür möchten sich        neu ausgeschrieben. Der Vorstand von Alliance
         das Team und der Vorstand herzlich bei            Sud ist daran, die Modalitäten des Nachfolge­
         ihm bedanken. Sein scharfer Verstand, sein        prozesses festzulegen. In der Vakanzperiode
         politisch-strategisches Gespür und sein           wird sich das Team von Alliance Sud selb­
         persönliches Engagement werden uns fehlen!        ständig organisieren. Wir wünschen Mark und
                                                           Jürg von Herzen alles Gute! KS
         Ende April hat sich auch Jürg Staudenmann,
         unser Fachverantwortlicher für die Klima- und
         Umweltpolitik, zu neuen beruflichen Ufern
         aufgemacht und ein 1½-jähriges Secondment

#82   Sommer   2021                                                                                         5
So schützt die Schweiz ihre Pharmakonzerne - #82 Sommer 2021 - Alliance Sud
INS BILD GESETZT
Isadora Romero ist eine ecuadorianische
­Geschichtenerzählerin in Quito. In ihrer
 Arbeit befasst sie sich mit menschlichen
 Iden­titäten, Gender- und Umweltthemen.
 Sie ist Mitgründerin von Ruda Colectiva,
 einem lateinamerikanischen Fotografinnen-
 Kollektiv.

Die Serie «Amazona Warmikuna» taucht ein in
die Intimität der Sarayuku-Gemeinschaft des
Amazonas-Dschungels, wo Frauen eine funda-
mentale Rolle spielen. Dort kümmern sie sich,
wenn die Männer tagelang auf die Jagd gehen,
nicht nur um Haus und Kinder, sondern
stellen sich auch den grossen Bedrohungen durch
Bergbau und Ölförderung und lauschen dem
Herzschlag ihres Landes und seiner Gewässer.

Im Zusammenleben mit den Frauen entstehen
Isadora Romeros Beobachtungen wie Träume,
die sie nicht zu dokumentieren versucht,
­sondern zu evozieren, indem sie in jedem Bild
 eine Tür zu einer neuen Geschichte öffnet.

                                                                     Ein Mädchen berührt seine kleine Schwester,
                                                                     während die Frauen «Chicha» zubereiten,
                                                                     ein fermentiertes Getränk aus Maniok.

Nur zwei Stunden Strom, wenn es dunkel wird: Das Enkelkind
von Ena Santi − eine der Frauen, welche die Gemeinschaft führen –
spielt mit den Motten, sobald sie in der Nacht erscheinen.
Alle Fotos: Isadora Romero / Fairpicture

                                                                     Roxana, Daniela und Nayeli Santi nehmen ein Bad ausser-
                                                                     halb ihres Hauses in Sarayaku, eine kleine Gemeinschaft
                                                                     im ecuadorianischen Amazonas-Regenwald.

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So schützt die Schweiz ihre Pharmakonzerne - #82 Sommer 2021 - Alliance Sud
Wer mehr Maniok erntet, hat gewonnen:
                      Wettbewerb zwischen Frauen-Gruppen
                      in der ecuadorianischen Provinz Pastaza.

#82   Sommer   2021                                              7
So schützt die Schweiz ihre Pharmakonzerne - #82 Sommer 2021 - Alliance Sud
ENTWICKLUNGSPOLITIK

                         Nach 13 Jahren, zuerst als Experte und danach als Geschäftsleiter,
                   verlässt Mark Herkenrath Alliance Sud per Ende Juli. Abschiedsinterview über
                    die Agenda 2030 und die globale Innenpolitik der Schweiz. Marco Fähndrich

                            «Es liegt noch ein
                          langer Weg vor uns»
Mark Herkenrath ist Titularprofessor       Bundesrat Cassis hat sich aber                50,7% der Abstimmenden für eine
für Soziologie an der Universität Zü-      in der neuen aussenpolitischen                weltoffene und solidarische Schweiz
rich und forschte unter anderem zu         ­Strategie die Nachhaltigkeit                 ausgesprochen (Die Initiative schei-
den Entwicklungsfolgen der wirt-            auf die Fahne geschrieben…                   terte am Ständemehr). Die Bevölke-
schaftlichen Globalisierung und zum         Bundesrat Cassis distanzierte sich 2018,     rung hat ein berechtigtes Vertrauen in
zivilgesellschaftlichen Widerstand in       ein Jahr nach seinem Amtsantritt, so-        die sehr gut dokumentierten Fallre-
Lateinamerika und den USA gegen das         gar von der Agenda 2030! In einem In-        cherchen der NGOs; hingegen wackelt
panamerikanische Freihandelsab-             terview mit der «Basler Zeitung» är-         das Vertrauen in die Wirtschaftsver-
kommen ALCA. Er gehört bereits seit         gerte er sich darüber, dass er in seinem     bände und ihre Konzerne. Man glaubt
2008 zum Team von Alliance Sud und          Vorleben als Parlamentsmitglied nie          der Behauptung nicht mehr, dass die
war verantwortlich für den Fachbe-          zur Agenda 2030 konsultiert worden           Interessen der Wirtschaft immer auch
reich internationale Finanz- und Steu-      war. Zusammen mit dem UNO-Migra-             gut für die Schweiz seien. Das bereitet
erpolitik, bevor er im Jahr 2015 die Ge-    tionspakt kanzelte er die Agenda als ein     bürgerlichen Kreisen in der Politik na-
schäftsleitung übernahm.                    Machwerk der Diplomatie ab, das im           türlich Kopfschmerzen.
                                            Widerspruch zu innenpolitischen Ent-
global: Im Jahr 2015 wurde die              scheiden stehe. Inzwischen scheint er        In der internationalen Zusammen-
Agenda 2030 für nachhaltige                 aber besser begriffen zu haben, dass         arbeit setzt die Schweiz immer
Entwicklung verabschiedet, was              eine gerechte und nachhaltige Welt           mehr auf Partnerschaften mit dem
damals international als                    auch im Interesse der Schweiz ist.           Privatsektor. Alliance Sud hat
grosser Meilenstein gefeiert wurde.                                                      immer wieder auf die Risiken hin-
Bis jetzt hat aber der Bundesrat           Die Schweizer Zivilgesellschaft               gewiesen, gibt es aber nicht auch
kaum etwas umgesetzt und die               hat mit der Konzernverantwortungs-            Chancen?
Nachhaltigkeitsziele sind in               ­initiative an der Urne einen                 Klar gibt es auch Chancen, zum Bei-
der Bevölkerung wenig bekannt.              ­Achtungserfolg erzielt. Nach der            spiel neue Arbeitsplätze, Investitionen
Woran liegt das?                             Abstimmung möchten bürger-                  und umweltschonende Technologien.
Mark Herkenrath: Der Bundesrat setzt         liche PolitikerInnen den Hand-              Das darf aber nicht dazu verleiten, die
sich viel zu wenig für die Agenda 2030       lungsspielraum der NGOs                     Risiken auszublenden. Ausländische
ein. Er will keine zusätzlichen Gelder       ­einschränken (siehe global #81).           Konzerne drängen in den Entwick-
für die Umsetzung der Agenda spre-            Sind die NGOs zu mächtig                   lungsländern oft einheimische Firmen
chen und möchte die globale nachhal-          geworden?                                  aus dem Markt und verlagern ihre Ge-
tige Entwicklung einfach in die bishe-        (Schmunzelt.) Das tönt so, als seien die   winne unversteuert in Tiefsteueroasen
rige Politik integrieren. Er unternimmt       NGOs am Abstimmungssonntag mit             wie die Schweiz. Hinzu kommen Men-
auch zu wenig, um die Agenda 2030 öf-         ganzen Heerscharen zu den Urnen mar-       schenrechtsverletzungen und Um-
fentlich bekannt zu machen. Das sollen        schiert und hätten dort ihre Zettel ein-   weltprobleme. In der internationalen
die Nichtregierungsorganisationen             geworfen. Tatsächlich entscheidet in       Zusammenarbeit müsste es darum für
tun, obwohl sie jetzt auf Geheiss von         der Schweizer Demokratie am Schluss        Partnerschaften mit dem Privatsektor
Aussenminister Ignazio Cassis keine           immer noch die Stimmbevölkerung.           mindestens so strikte Auswahlkriterien
Bundesmittel mehr für Bildungs- und           Und die bildet sich durchaus ihre eigene   und Auflagen geben wie bei Partner-
Sensibilisierungsarbeit in der Schweiz        Meinung. Bei der Abstimmung zur Kon-       schaften mit den NGOs. Davon sind die
einsetzen dürfen.                             zernverantwortungsinitiative haben sich    DEZA und das SECO noch weit entfernt.

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So schützt die Schweiz ihre Pharmakonzerne - #82 Sommer 2021 - Alliance Sud
In den mächtigen Ländern
                                                                                  des Nordens gibt es wieder eine
                                                                                  starke Tendenz, kurzfristige
                                                                                  nationale Eigeninteressen höher
                                                                                  zu gewichten als das Wohl-
                                                                                  ergehen der Natur und
                                                                                  der Menschheit. Auch die inter-
                                                                                  nationale Zusammenarbeit
                                                                                  wird wieder zunehmend in den
                                                                                  Dienst wirtschafts- und migrations-
                                                                                  politischer Interessen gestellt.

Mark Herkenrath an einer Veranstaltung der zivilgesellschaftlichen
Plattform Agenda 2030. Foto: Martin Bichsel

WissenschaftlerInnen erheben im               len politischen Fragen dort recht ver-     rung und die Zukunft des Planeten
Zuge der Klimabewegung und                    pönt; sogar Gastartikel in der «NZZ»       auswirkt. Es liegt aber noch ein langer
der Pandemie vermehrt die Stimme,             oder in «Le Temps» ernteten manch-         Weg vor uns, bis das Gebot der globa-
um die Politik zu beeinflussen:               mal Stirnrunzeln. Das hat sich zum         len nachhaltigen Entwicklung in die
eine positive Entwicklung?                    Glück verbessert.                          Praxis umgesetzt ist. In den mächti-
Ja, das ist eine gute Entwicklung. In                                                    gen Ländern des Nordens gibt es wie-
einer funktionierenden Demokratie             Alliance Sud feiert dieses Jahr das 50.    der eine starke Tendenz, kurzfristige
sollen die Bevölkerung und ihre politi-       Jubiläum: In welche Richtung steuert       nationale Eigeninteressen höher zu
schen VertreterInnen fundierte Ent-           die Entwicklungspolitik und wird es        gewichten als das Wohlergehen der
scheidungen treffen. Dazu braucht es          diese auch in 50 Jahren noch ­brauchen?    Natur und der Menschheit. Auch die
Expertise. Gemeint sind neben der Ex-         Entwicklungspolitik wird es immer          internationale Zusammenarbeit wird
pertise der Wissenschaft auch das             geben: Eigentlich ist sie ja globale In-   wieder zunehmend in den Dienst wirt-
Fachwissen der NGOs und die ethische          nenpolitik. Die Agenda 2030 betont,        schafts- und migrationspolitischer
Expertise der Kirchen. Als ich noch           dass bei jeder politischen Entschei-       Interessen gestellt. Es braucht darum
hauptberuflich in der Wissenschaft tä-        dung mitberücksichtigt werden muss,        auch in Zukunft eine Alliance Sud, die
tig war, waren Äusserungen zu aktuel-         wie sie sich auf die ganze Weltbevölke-    Politik für eine gerechte Welt macht.

#82   Sommer     2021                                                                                                         9
Müssen wir diese bittere Pille wirklich schlucken?
     Die Bevölkerung zahlt, die Pharmaindustrie profitiert.
     Fotos: Keystone / Image Source

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STEUERPOLITIK

   Während den Ländern des globalen Südens im Kampf gegen die Pandemie Milliarden Impfdosen fehlen,
         verschieben Pharmakonzerne ihre exorbitanten Gewinne in Tiefsteuergebiete. Ganz legal:
      Der Patentschutz ist auch ein Auswuchs des schweizerischen Steuernationalismus. Dominik Gross

                       So schützt die Schweiz
                       ihre Pharmakonzerne
Nach einem Jahr Pandemie wurde in diesem Frühling klar:          globalen Gesundheitsrisiko geworden: Der Patentschutz
Die globale Pharmaindustrie gehört zu den grossen Corona-­       sorgt für eine künstliche Knappheit der Impfstoffe, treibt so
Gewinnerinnen. Das zeigen die aktuellen Geschäftszahlen          die Preise in die Höhe und erschwert eine faire und möglichst
und Gewinnprognosen vieler Pharmakonzerne. Ein besonde-          effektive Verteilung in der ganzen Welt.
res Augenmerk liegt dabei auf den Herstellern der Impfstoffe        Das geht primär auf Kosten der Menschen in einkom-
gegen Covid-19. So meldete Moderna kürzlich, die Firma           mensschwachen Ländern des globalen Südens, die sich
werde mit ihren Impfdosen in diesem Jahr einen Umsatz von        keine private und teure Gesundheitsversorgung leisten
19,2 Milliarden Dollar erzielen. Pfizer gab 26 Milliarden an,    können. Während in den reichen Ländern Nordamerikas
­BioNTech 15 Milliarden. Moderna verbuchte allein im ersten      und Europas gemäss dem Blog «Our World in Data» schon
 Quartal einen Reingewinn von 1,2 Milliarden Dollar, was einer   58 bzw. 43 Impfungen pro hundert EinwohnerInnen verab-
 Gewinnmarge von 65% entspricht. Dafür, dass die Impfstoff-      reicht wurden, sind es in Afrika erst zwei. Asien und Süd-
 hersteller zu Beginn der Pandemie beteuert hatten, mit der      amerika liegen mit einer Quote von 18 bzw. 24 dazwischen.
 Impfstoffherstellung keine Gewinnabsichten zu hegen, sind       Aber auch die breite Bevölkerung in reichen Ländern zahlt
 das erstaunliche Zahlen. Der Impfstoff aus diesem Haus ist      für die Patente der Pharmaindustrie drauf: Sie leistet mit
 denn momentan auch der teuerste auf dem Markt.                  ihren Steuern nicht nur einen entscheidenden Beitrag zu
                                                                 deren Forschung und Entwicklung, sondern ist wegen der
Bekommt die Pharmaindustrie mehr, als sie bezahlt?               künstlichen Verknappung der Produktion vieler Medika-
Wenn man sich allerdings die Geschäftsmodelle der Pharma-        mente mit höheren Kosten des gesamten Gesundheitswe-
riesen genauer anschaut, ist die Überraschung schon weni-        sens konfrontiert. Das Fazit von Public Eye stimmt in dieser
ger gross. Die NGO Public Eye hat diese kürzlich in einem        Hinsicht sehr bedenklich: «Wie sehr die Entwicklung
ausführlichen Bericht («Big Pharma takes it all») analysiert.    neuer Medikamente von öffentlichen Geldern abhängt,
Ein zentrales Instrument zur Gewinnmaximierung der               hat sich noch nie stärker gezeigt als in dieser Pandemie.
Pharmabranche ist die Patentierung der Wirkstoffe, die ih-
ren Medikamenten zu Grunde liegen. Während allein im Jahr
2020 in die Forschung und Entwicklung dieser Wirkstoffe
                                                                   Der Patentschutz sorgt für eine künstliche
durch intensive Kooperationen mit Universitäten gemäss
                                                                   Knappheit der Impfstoffe, treibt so die Preise in
Public Eye weltweit öffentliche Gelder in der Höhe von 93 Mil-
                                                                   die Höhe und erschwert eine faire und mög-
liarden Euro flossen, sollen die Patente dafür sorgen, dass
von den Erlösen aus dem Medikamentenverkauf ausschliess-           lichst effektive Verteilung in der ganzen Welt.
lich jene Konzerne profitieren, die die Wirkstoffe (mit-)ent-
wickelt haben. Dritte dürfen die Wirkstoffe ohne Lizenzkauf
bei den Eigentümern nicht herstellen und auch nicht verkau-      Da dies in den Preisfestsetzungsmechanismen politisch igno-
fen. Durchgesetzt werden diese Regeln seit 25 Jahren im Rah-     riert wird, zahlt die Bevölkerung gleich doppelt: Mit ihren
men des TRIPS-Abkommens über «handelsbezogene As-                Steuern subventioniert sie die Pharmakonzerne stark, gleich-
pekte geistiger Eigentumsrechte» (Trade-Related Aspects of       zeitig ist sie gezwungen, unregulierte und überhöhte Preise
Intellectual Property Rights), das 1995 auf Druck der reichen    für Medikamente zu bezahlen und damit zu den kolossalen
Länder des Nordens und gegen den Willen der meisten Län-         Gewinnen von Big Pharma beizutragen.»
der des Südens unterzeichnet wurde. Seither ist die Praxis          Damit aber nicht genug: Die Bevölkerung alimentiert die
der technologischen Nachahmung verboten. Spätestens in           Pharmaindustrie nicht nur mit ihren Steuern; den Konzernen
der Corona-Pandemie ist das TRIPS-Übereinkommen zum              gewährt das heutige internationale Konzernsteuersystem

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auch noch zahlreiche Vorteile zur Umgehung ihrer Steuer-         und KollegInnen gezeigt haben, weisen die Unternehmens-
pflicht. Die Konzerne können ihre eigenen Steuern auf Ge-        teile ausländischer Konzerne in der Schweiz im Vergleich zu
winne aus geistigem Eigentum, aber auch aus anderen For-         ihren exorbitant hohen Gewinnen in der Regel eine erstaun-
men von Unternehmensgewinnen, stark reduzieren, ohne             lich tiefe Lohnsumme ihrer Mitarbeitenden aus. Verglichen
dabei notwendigerweise geltendes Recht zu brechen. Diese         mit einheimischen Firmen liegen ihre Gewinnmargen um ein
Möglichkeiten sind aus der Sicht jener Länder, in denen die      Vielfaches höher. Damit liegt der Verdacht nahe, dass diese
Pharmakonzerne ihre Sitze haben und finanzstarke Tochter-        hohen Gewinne nicht in der Schweiz erarbeitet, sondern als
gesellschaften betreiben, auch ein Wettbewerb um ihre globa-     Buchhaltungsgewinne in die Schweiz verschoben werden.
len Gewinne. Vornehmlich kleine Länder des reichen Nordens
ohne grosse Absatzmärkte für Medikamente locken Unter-             Zentral bei der Nutzung von Patenten als
nehmen durch möglichst günstige Konditionen für den Im-            Steueroptimierungsvehikel ist der Umstand,
port von Patenten und eine tiefe Besteuerung von Gewinnen
                                                                   dass Patente nicht unbedingt dort angemeldet
aus geistigem Eigentum an. Davon profitieren wiederum die
                                                                   und angesiedelt werden, wo die Erfindung,
Konzerne, die ihre Steuern nicht primär dort bezahlen müs-
sen, wo sie durch die pharmazeutische Forschung und die Ent-
                                                                   die sie schützen, entwickelt wurde, sondern
wicklung neuer Wirkstoffe einerseits und den Verkauf ihrer         dort, wo sich das auch steuertechnisch lohnt.
patentierten Medikamente andererseits tatsächlich ihre Wert-
schöpfung erzielen, sondern dort, wo sie auf diese Gewinne       Bei diesen Gewinnverschiebungen machen sich die Konzerne
am wenigsten Steuern bezahlen.                                   Anomalien des heutigen internationalen Konzernsteuersys-
                                                                 tems zu Nutze. Dieses basiert auf dem sogenannten Fremdver-
Tiefsteuergebiet für geistiges Eigentum                          gleichsgrundsatz (arm’s length principle) und ist gleichzeitig
Die Schweiz mischt in diesem Verteilkampf um die Gewinne         seine zentrale Schwäche. Multinationale Konzerne werden so
der multinationalen Konzerne intensiv mit. Gemessen an           nicht als globale Einheit besteuert; das Steuerrecht behandelt
ihrer Bevölkerungszahl beherbergt sie von den 500 grössten       jede einzelne Konzerneinheit immer noch als eigenständige
Konzernen der Welt am meisten (14). Darunter die Basler          Firma. Zwischen den einzelnen Konzerneinheiten in den ver-
Pharmariesen Novartis und Roche, die Nummer 3 und 4 im           schiedenen Ländern finden allerdings tagtäglich unzählige Fi-
Ranking der grössten Pharmakonzerne der Welt und hinter          nanztransaktionen statt: im Zusammenhang mit Dienstleis-
sechs Rohstoffriesen und dem Nahrungsmittelkonzern               tungen, materiellen Gütern, Beteiligungsrechten, Darlehen
Nestlé die Nummer 7 und 8 der grössten Firmen mit Haupt-         und – für den Pharmasektor besonders relevant – eben auch
sitz in der Schweiz überhaupt. Ausserdem haben deren grosse      immateriellen Gütern wie Marken, Lizenzen und Patenten.
Konkurrenten aus dem Ausland fast ausnahmslos Tochter-              Zentral bei der Nutzung von Patenten als Steueroptimie-
gesellschaften und Zweigniederlassungen in der Schweiz.          rungsvehikel ist der Umstand, dass Patente nicht unbedingt
Gemäss der transnationalen Forschungsgruppe «Economists          dort angemeldet und angesiedelt werden, wo die Erfindung,
without Borders» um den kalifornisch-französischen Ökono-        die sie schützen, entwickelt wurde, sondern dort, wo sich das
men Gabriel Zucman entzieht die Schweiz anderen Ländern          auch steuertechnisch lohnt. Tochtergesellschaften auslän-
jährlich Gewinnsteuersubstrat in der Höhe von 98 Milliarden      discher Pharmafirmen, die in Zug oder anderen Tiefsteuer-
Franken. Daraus resultieren Steuereinnahmen in der Höhe          kantonen angesiedelt sind, können so als Patenthalter auf-
von 7,3 Milliarden Franken. Das heisst, dass 38% der Unter-      treten und Lizenzen für die Nutzung dieser Patente an
nehmenssteuereinnahmen von Bund, Kantonen und Ge-                andere Gesellschaften des gleichen Konzerns vergeben.
meinden aus Gewinnverschiebungen stammen. Diese 7,3 Mil-            Auffallend ist auch die atemberaubende Arbeitsprodukti-
liarden Steuereinnahmen in der Schweiz entsprechen               vität der Schweizer Pharmaindustrie: Gemäss dem Bran-
übrigens mehr als einem Drittel der gesamten Kosten, die in      chenverband Interpharma erzielt sie pro Arbeitsplatz fünf-
den 69 ärmsten Ländern der Welt insgesamt für deren Ge-          mal mehr Wertschöpfung als der gesamtwirtschaftliche
sundheitswesen anfallen (19,7 Milliarden Dollar).                Durchschnitt und liegt auch noch deutlich vor dem Finanz-
   In dieser Rechnung sind allerdings mutmassliche Gewinn-       sektor an der Spitze. Welchen Anteil an dieser Wertschöp-
verschiebungen aus vielen afrikanischen und asiatischen          fung konzerninterne Lizenzzahlungen, Gebühren und Zin-
Ländern gar nicht inbegriffen, weil dort die entsprechende       sen für bestimmte konzerninterne Dienstleistungen oder
Datenlage für solche ökonomischen Analysen oft zu schlecht       Kredite haben, weist Interpharma nicht aus, konstatiert aber
ist. Angesichts der Tatsache, dass auch viele dort tätige Roh-   stolz, dass zwei Drittel des gesamten Produktivitätswachs-
stoff- und Nahrungsmittelkonzerne ihre Handels- und Ver-         tums der Schweizer Volkswirtschaft zwischen 2008 und 2018
waltungseinheiten in der Schweiz stationiert haben, liegt die    dem Pharmasektor zu verdanken seien. Gleichzeitig be-
Vermutung nahe, dass auch aus diesen Ländern empfindliche        schäftigen sowohl Roche wie Novartis über 85% ihrer Ange-
Summen in die Schweiz verschoben werden. Wie Zucman              stellten im Ausland (Stand 2018).

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mens, also eine Reduktion des Gewinnanteils, der überhaupt
                                                                       versteuert werden muss. Dadurch reduziert sich der effektive
                                                                       Steuersatz auf den Gewinn eines Konzerns, der sich aus der
                                                                       Kombination der Bemessungsgrundlage und des gesetzlich
                                                                       festgeschriebenen Steuersatzes ergibt. Während der F&E-Ab-
                                                                       zug am Beginn der Wirkstoffproduktion ansetzt, tut das die
                                                                       Patentbox am Ende: Ersterer erlaubt den Abzug der Kosten für
                                                                       F&E von Gewinnen, die aus Produkten stammen, die auf die
                                                                       entsprechenden F&E-Investitionen zurückgehen. Zweitere
                                                                       erlaubt zu einem gewissen Prozentsatz (je nach Kanton ver-
                                                                       schieden) den Abzug von Gewinnen, die auf eine für die Patent-
                                                                       box qualifizierende Erfindung zurückgehen, vom gesamten
                                                                       steuerbaren Gewinn. De jure würden sich in der Schweiz nur
                                                                       Gewinne auf patentierten Erfindungen für die Patentbox qua-
                                                                       lifizieren, die auch in der Schweiz entwickelt wurden. De facto
                                                                       erweist sich die exakte Zuordnung einer bestimmten Innova-
                                                                       tion oder Erfindung zu einem bestimmten Forschungsstand-
                                                                       ort als schwierig.

                                                                       «No borders no nations» für Patente
                                                                       Die Pharmakonzerne können also ihr Patentmanagement
                                                                       ganz legal zur Steuerreduktion einsetzen. Erneut ist es die
                                                                       Firma, die gewinnt, und die öffentliche Hand, die verliert. Das
                                                                       zeigt die zentrale Bedeutung, die Patente für die Geschäftsmo-
                                                                       delle der Pharmakonzerne haben. Es zeigt aber auch die zent-
                                                                       rale Bedeutung der Patente für das Geschäftsmodell des
                                                                       Schweizer Fiskus: Die sich daraus ergebenden Tiefsteuerre-
                                                                       gime sollen – so das standortpolitische Kalkül – Anreize für die
                                                                       Konzerne schaffen, möglichst viele ihrer globalen Gewinne in
Die von der G7 im Juni beschlossene Mindeststeuer fällt global         der Schweiz zu verbuchen. Obwohl die Steuersätze hier gerin-
nicht ins Gewicht: Ob der Pharmasektor seine Gewinne in Europa         ger sind, soll angesichts der hohen Gewinnsummen, die dann
oder Nordamerika versteuert, ist für die Länder des Südens sekundär.   in der Schweiz versteuert werden müssen, am Ende auch
                                                                       mehr für den Schweizer Fiskus herausspringen. Diese steu-
                                                                       erpolitische Bedeutung des geistigen Eigentums mag auch
Es ist angesichts dieser Zahlen wenig erstaunlich, dass eine           teilweise erklären, weshalb sich der Bundesrat vehement
Mehrheit der Schweizer Politik speziell die Pharmaindustrie            gegen die vorübergehende Aufhebung des Patentschutzes
im Blick hat, wenn es darum geht, das Schweizer Konzern-               auf Covid-Impfstoffen einsetzt. Dies obwohl mittlerweile
steuermodell immer wieder mit den sich entwickelnden inter-            sogar die US-Regierung damit einverstanden ist, um die Pro-
nationalen Regeln einerseits und den Bedürfnissen der                  duktion der Impfstoffe anzukurbeln und ärmeren Ländern so
Schweizer Wirtschaft andererseits in Einklang zu bringen. So           einen besseren Zugang zu den Impfstoffen zu ermöglichen.
wurden mit der Einführung der letzten Unternehmenssteuer-                 In einem Interview mit der «Financial Times» beschwört
reform im Rahmen der STAF (Steuerreform und AHV-Finan-                 Roche-Chef Severin Schwan eine Verstaatlichung der Phar-
zierung) ab 2020 die alten, auch für die Pharma wichtigen,             mafirmen wie in der DDR und bekämpft einen Präzedenzfall,
international aber nicht mehr akzeptierten Steuerprivilegien           der eine generelle Aufweichung der jetzigen, sehr restrikti-
für Holding-, Domizil- und gemischte Gesellschaften durch              ven Politik zum geistigen Eigentum sowie Verluste für den
neue ersetzt, die den aktuellen Besteuerungsregeln der OECD            Fiskus gewisser Kantone und des Bundes zur Folge hätte. Die
(Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-              Leidtragenden dieses Steuernationalismus sind aber einmal
wicklung). In der STAF wurden vor allem zwei neue Steuerop-            mehr die Menschen im globalen Süden, die so noch länger auf
timierungsvehikel auf die Bedürfnisse der Pharmabranche                ihre Covid-Impfung warten müssen und notabene auf eine
ausgerichtet, einerseits der Abzug auf Forschung und Ent-              funktionierende öffentliche Gesundheitsversorgung ange-
wicklung (F&E-Abzug) und andererseits die Patentbox. Beide             wiesen sind. Genau diese untergraben auch Pharmakon-
Vehikel ermöglichen eine Reduktion der sogenannten Bemes-              zerne, wenn sie Gewinne dort abziehen und in Tiefsteuer-
sungsgrundlage für den steuerbaren Gewinn eines Unterneh-              gebiete wie die Schweiz verschieben.

#82   Sommer     2021                                                                                                               13
HANDEL UND INVESTITIONEN

                   Während die Menschenrechtsverletzungen zunehmen, wie die Beispiele
             von China und Myanmar zeigen, verfügt die Schweiz über keinerlei Rechtsgrundlagen,
                   um rasch gezielte wirtschaftliche Massnahmen zu ergreifen. Isolda Agazzi

      Ein Gesetz, das Wirtschaft und
       Menschenrechte verknüpft
In den letzten drei Jahren häufen sich die Berichte über die   Sie verfügt nicht über die Mittel und Möglichkeiten, jedes
Existenz von Internierungslagern für UigurInnen in der         eingeführte Produkt sowie seine einzelnen Komponenten
chinesischen Provinz Xinjiang und die dort praktizierte        lückenlos zurückzuverfolgen.»
Zwangsarbeit. Die Beweise lassen sich nicht mehr leugnen,
weshalb westliche Länder nun reagieren: Im März ver-           Schweiz verweist auf fehlende Gesetzesgrundlage
hängte die Europäische Union (EU) Sanktionen gegen chi-        Die Beispiele anderer Länder zeigen: Wo ein Wille ist, ist
nesische Beamte und ein staatliches Unternehmen. Nor-          auch ein Weg. In der Schweiz ist dieser Wille nicht vorhan-
wegen, das wie die Schweiz Mitglied der Europäischen           den. Sie ist politisch nicht bereit, ihre wirtschaftlichen In-
Freihandelsassoziation (EFTA) ist, hat sich den Sanktionen     teressen an der Achtung der Menschenrechte auszurich-
angeschlossen.                                                 ten, nicht einmal bei so eklatanten Verstössen wie jenen
   Grossbritannien verabschiedete bereits am 12. Januar neue   gegen die UigurInnen, die von immer mehr Rechtswissen-
Regeln, die den Import von Produkten verbieten, bei denen      schaftlern und Parlamenten aus aller Welt als Völkermord
der Verdacht besteht, dass sie das Ergebnis von Zwangsarbeit   eingestuft werden.
in Xinjiang sind. Kanada zog am selben Tag nach und kündigte
Importbeschränkungen für Produkte aus Xinjiang an. In im-
mer längeren Wertschöpfungsketten, in denen die Herstel-
lung eines Produkts nicht mehr von A bis Z an einem Ort er-
folgt, sondern die Komponenten in allen Erdteilen gefertigt
und montiert werden, kann der Nachweis, dass ein bestimm-
tes Teil aus Zwangsarbeit stammt, kaum oder gar nicht er-
bracht werden. Daher schloss sich die EU dem Ansatz an, sich
auf begründete Verdachtsmomente abzustützen.
   Die USA gehen sogar noch weiter: Mit dem «Uyghur Hu-
man Rights Policy Act» und dem «Uyghur Forced Labour
Prevention Act» hat der US-Kongress den Import von in
Xinjiang hergestellten Produkten faktisch ganz verboten.
Angesichts der Beweise für massive Menschenrechtsverlet-
zungen müssen nun die US-amerikanischen Unternehmen
und andere Akteure nachweisen, dass die in die USA impor-
tierten Produkte nicht aus Zwangsarbeit stammen – und
nicht umgekehrt.
   Die Schweiz ihrerseits verfolgt einen äusserst konserva-
tiven Ansatz und tut genau das Gegenteil: In seiner Antwort
auf die Motion von Ständerat Carlo Sommaruga, den Import
von Waren, die durch Zwangsarbeit in Xinjiang hergestellt
wurden, zu verbieten, verwies der Bundesrat auf die Schwie-
rigkeit einer vollständigen Rückverfolgbarkeit: «Die Über-
prüfung der Produktionsbedingungen im Ausland und so-               Xinjiang wird immer mehr zu einem «Freilicht-Gefängnis»:
mit der Einhaltung des Verbots von Zwangsarbeit kann                Die Polizei ist überall, Beten und Bärte sind in der
durch die Bundesverwaltung nicht gewährleistet werden.              Öffentlichkeit weitgehend verboten. Foto: Johannes Eisele / AFP

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Die einzige konkrete Massnahme, die der Bundesrat ergriffen      Sanktionen gegen 11 hochrangige Militärs und gegen die bei-
hat, besteht in der Organisation eines Runden Tischs mit Ver-    den von ihnen kontrollierten Konglomerate verhängt: die My-
tretern der in Xinjiang ansässigen Textilindustrie, «um sie      anmar Economic Corporation (MEC), die hauptsächlich in den
über die Situation zu informieren». Ein analoges Vorgehen ist    Bereichen Bergbau, Fertigung und Telekommunikation tätig
für die Maschinenindustrie geplant. Für Alliance Sud, Public     ist, und die Myanmar Economic Holdings Limited (MEHL), die
Eye und die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – die sich   u. a. in den Bereichen Bankwesen, Bauwesen, Bergbau, Land-
während der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen der            wirtschaft, Tabak und Lebensmittelverarbeitung aktiv ist.
Schweiz mit China in der so genannten China-Plattform zu-
sammengeschlossen und diese nach Bekanntwerden der In-           Rahmenwerk soll auch das Zollrecht umfassen
ternierungslager wiederbelebt haben – reicht das nicht. Die-     Was sollte angesichts dieser Untätigkeit respektive der vari-
ser Meinung ist auch die UNO; Ende März erinnerte sie die        ablen Geometrie der Ansätze getan werden? Die China-­
Schweiz und 12 weitere Länder an ihre Verpflichtung, «sicher-    Plattform hat beim emeritierten Professor Thomas Cottier,
zustellen, dass Unternehmen, die in ihrem Territorium oder       einem Spezialisten für internationales Handelsrecht, ein
ihrer Gerichtsbarkeit ansässig sind, bei all ihren Tätigkeiten   Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Sein Vorschlag: Die
die Menschenrechte respektieren». Eine Abmahnung, auf die        Schweiz soll ein neues Aussenwirtschaftsgesetz verab-
unser Land wahrscheinlich gerne verzichtet hätte.                schieden, das Wirtschaft und Menschenrechte miteinander
   Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) begründet die     verknüpft. Derzeit gilt das Bundesgesetz über aussenwirt-
Zurückhaltung der Schweiz mit dem Fehlen einer Gesetzes-         schaftliche Massnahmen von 1982. Es besteht aber haupt-
grundlage. Der Bundesrat beschränkt sich darauf zu wieder-       sächlich aus technischen Verfahrensbestimmungen, be-
holen, dass er von den einheimischen Unternehmen die Ein-        schränkt sich auf den Schutz der Schweizer Wirtschaft und
haltung einer Sorgfaltspflicht erwartet, verweigert sich aber    macht keine inhaltlichen Vorgaben für die Politik.
weitergehenden Massnahmen.                                          «Ein neues Aussenwirtschaftsgesetz würde als Rahmen-
   Im Fall von Myanmar, wo der Militärputsch vom 1. Februar      werk fungieren, das auf bestehende Gesetze verweist, welche
bereits mehr als 760 Tote gefordert hat, die Schweiz aber nur    entsprechend angepasst und weiterentwickelt werden müss-
geringe wirtschaftliche Interessen hat, sieht es etwas besser    ten. Dies gilt insbesondere für das Embargogesetz, das derzeit
aus. Dem Beispiel der EU und der USA folgend, hat die Schweiz    nur Massnahmen im Falle eines UN-Beschlusses oder Sanktio-
                                                                 nen der Haupthandelspartner, d. h. der EU oder der USA, er-
                                                                 laubt. Die Schweiz verfügt noch über keine Gesetzesgrundlage
                                                                 für eigenständige Wirtschaftssanktionen aufgrund von Men-
                                                                 schenrechtsverletzungen. Inwieweit dies mit anderen Geset-
                                                                 zen vereinbar wäre, wäre noch im Detail zu prüfen», so Cottier.
                                                                    Doch was wäre laut dem früheren Direktor des World
                                                                 Trade Institute der Mehrwert des neuen Gesetzes im Ver-
                                                                 gleich zu den bestehenden Gesetzen? «In der Schweiz gibt es
                                                                 bereits gesetzliche Grundlagen für Durchsetzungsmassnah-
                                                                 men bei Menschenrechtsverletzungen und Korruptions-
                                                                 straftaten: zum Beispiel das Embargogesetz, das Güterkon-
                                                                 trollgesetz, das Kriegsmaterialgesetz, das Rechtshilfegesetz,
                                                                 das Gesetz über unrechtmässig erworbene Vermögenswerte
                                                                 (Potentatengeldergesetz) und das Strafgesetzbuch. In das
                                                                 neue Gesetz müsste aber das gesamte Aussenwirtschafts-
                                                                 recht aufgenommen werden, also auch das Zollrecht und
                                                                 insbesondere das Bundesgesetz über die Gewährung von
                                                                 Zollpräferenzen zugunsten der Entwicklungsländer, das
                                                                 derzeit nicht an Bedingungen geknüpft ist. Die Bundesver-
                                                                 waltung müsste eine Auslegeordnung erstellen, die das be-
                                                                 reits Vorhandene und die Lücken beziehungsweise den Er-
                                                                 gänzungsbedarf sichtbar machen würde.»
                                                                    Damit würden die Kohärenz und Transparenz der schwei-
                                                                 zerischen Aussenwirtschaftspolitik sichergestellt und eine
                                                                 angemessene Reaktion auf eklatante Menschenrechtsver-
                                                                 letzungen ermöglicht, unabhängig davon, welche wirt-
                                                                 schaftlichen Interessen auf dem Spiel stehen.

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AGENDA 2030

       Stefano Zamagni, italienischer Wirtschaftswissenschaftler und Präsident der Päpstlichen Akademie
                  der Sozialwissenschaften, erklärt im Interview, weshalb ein Neuanfang mit der
            Zivilökonomie nicht mehr aufgeschoben werden kann. Lavinia Sommaruga und Valeria Camia

                        «Ungleichheiten sind
                       im System verwurzelt»

Stefano Zamagni (ganz rechts im Bild) und verschiedene Kardinäle stellen im Jahr 2009 die päpstliche Enzyklika «Caritas in Veritate» vor:
ein Aufruf, in der Wirtschaft auch die Bedürfnisse der Ärmsten zu berücksichtigen. Foto: Vincenzo Pinto / AFP

global: Professor Zamagni, bereits im          hängen von der Art und Weise ab, wie die       Angesichts der wachsenden Kluft
Juli letzten Jahres prognostizierte der        Regeln für wirtschaftliche, finanzielle        zwischen den Reichen und den neuen
«Sustainable Development Outlook               und politische Institutionen geschrie-         «mehrdimensionalen Armen» ist ein
2020», dass bis zu 100 Millionen               ben sind. Diese Regeln gehen auf das Jahr      Paradigmenwechsel notwendig.
Menschen in die Armut abrutschen               1944 zurück, als sich die wichtigsten In-      Daran erinnerte uns auch der interna-
werden, während laut einem Bericht             dustrieländer der westlichen Welt in           tionale Kongress «Die Wirtschaft des
von Oxfam gleichzeitig eine Zunahme            Bretton Woods trafen: Bereits in den           Franziskus», der vom 19. bis 21.
der Ungleichheiten in allen Ländern            1970er Jahren sahen wir die perversen          November 2020 in Assisi geplant und
der Welt zu verzeichnen sein wird.             Auswüchse dieser Regeln – ich denke da         dann virtuell mit Jugendlichen aus der
Ist Covid-19, das «Ungleichheitsvirus»,        an Steueroasen −; danach folgten wei-          ganzen Welt durchgeführt wurde.
daran schuld?                                  tere. Die Frage der Patentierung von Gü-       Ganz genau. Lassen Sie mich zunächst
Stefano Zamagni: Die Pandemie hat die          tern, die nicht privat, sondern Gemein-        betonen, dass die Begriffe «Armut» und
Ungleichheit verschärft, aber sie ist          güter sind, wurde überhaupt nicht              «Ungleichheit» nicht Synonyme sind.
nicht die Ursache. Die heutigen Un-            behandelt; die katastrophalen Folgen           Gleich zu sein, bedeutet nicht, das glei-
gleichheiten sind strukturell bedingt;         sehen wir heute, in Zeiten der Pandemie.       che Leben wie andere zu führen, son-
das heisst, sie sind im System verwur-         Die Spielregeln beinhalten Anreize für         dern sich entscheiden zu können, ande-
zelt. Sie sind nicht auf schlechtes Verhal-    Unternehmen, im Namen des Profits die          ren nicht gleich zu sein. Wenn wir die
ten von Individuen und gesellschaftli-         Umwelt zu verschmutzen und Regen-              Verwirklichung der Gleichheit und so-
chen Gruppen zurückzuführen, sondern           wälder abzuholzen.                             mit auch der Diversität erreichen wol-

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len, ist es zwingend notwendig, das der-   in zunehmender Zahl vom derzeitigen        konkretes Beispiel zu nennen: In Afrika
zeitige wirtschaftliche Paradigma          System der Marktwirtschaft negativ be-     gibt es das Wort «Ubuntu», das in den
aufzugeben, das von der Sentenz «homo      troffen sind. Nehmen wir die vergange-     europäischen Sprachen keine Überset-
homini lupus» (Der Mensch ist dem          nen Monate, in denen die Pandemie          zung hat und sich auf die Fähigkeit be-
Menschen ein Wolf ) ausgeht. Es zeigt      Giganten wie Google und Amazon er-         zieht, gegenseitige Solidarität mit ande-
uns, wie man den Reichtum vermehrt,        heblich bereichert hat. Diese Unterneh-    ren auszudrücken. Diese Reziprozität
aber nicht, wie man ihn umverteilt, und    men haben ihre Gewinne um Hunderte         ist zentral für das Paradigma der Zivil-
kann deshalb die grossen Probleme un-      Milliarden Dollar gesteigert. Für andere   ökonomie, die auch zum Gegenstand
serer Gesellschaften nicht lösen. Dies     UnternehmerInnen hingegen bedeuten         akademischer Forschung in Lateiname-
kann stattdessen durch die Übernahme       die Pandemie-bedingten wirtschaftli-       rika wird. Es bewegt sich etwas, auch
des Gedankens der Zivilökonomie ge-        chen Einschränkungen enorme Ver-           wenn es Zeit brauchen wird, um das
schehen, der von der Annahme ausgeht,      luste. Die Tatsache, dass wir uns in ei-   Erbe des kulturellen Kolonialismus zu
dass jeder Mensch von Natur aus ein        nem System befinden, das den einen         beseitigen, eines Kolonialismus, der so-
Freund eines anderen Menschen ist          oder anderen bereichert oder verarmt,      wohl in der Praxis als auch in der For-
(«homo homini natura amicus»). Wenn        wird immer deutlicher und ist selbst für   schung das Paradigma des «homo oeco-
ich von der Idee ausgehe, dass die ande-   die Geschäftswelt inakzeptabel.            nomicus» Kulturen auferlegt hat, für
ren potentielle Freunde sind, werde ich                                               die die Maximierung des Eigeninteres-
meine Beziehungen (auch ökonomische)       Wie Sie erwähnten, haben sowohl das        ses ein fremdes Konzept ist.
anders gestalten, ohne den Gesamt-         Paradigma der politischen Ökonomie
nutzen zu maximieren, sondern um das       als auch das Paradigma der Zivil­                          Stefano Zamagni ist Professor
Gemeinwohl anzustreben.                    ökonomie ihren Ursprung in Europa:                         Professor für Politische
                                           Kann letzteres auch in anderen                             Ökonomie an der Universität
Wo stehen wir in Bezug auf die             geografischen Kontexten funktionieren,                     von Bologna und für
Rezeption dieses Wirtschaftsmodells        etwa in Südamerika und anderen                             Internationale Politische
in der Zivilgesellschaft und in            armen Ländern der Welt?                    Ökonomie an der Johns Hopkins
der Geschäftswelt?                         Sicher, denn die Zivilökonomie beruht      U
                                                                                      ­ niversity (USA). Seit 2019 ist er Präsident
Ich glaube, wir können optimistisch        auf anthropologischen Voraussetzun-        der Päpstlichen Akademie der Sozial­
sein. Vor allem, weil paradoxerweise die   gen und Prinzipien der Organisation        wissenschaften und er hat zahlreiche Werke
ersten, die ihre Bedeutung verstehen,      wirtschaftlicher Tätigkeit, die auch im    veröffentlicht, darunter «L’economia civile»
die UnternehmerInnen selbst sind, die      globalen Süden vorhanden sind. Um ein      (mit L. Bruni) und «Disuguali».

                       Zivilökonomie – ein Neuanfang
        Die wiederkehrenden Wirtschaftskrisen der letzten       Institutionen zu stellen. Konkret bedeutet dies, den
        Jahre haben deutlich gemacht, wie dringend es ist,      Fokus bei jeder Entscheidung auf die Folgen für die
        über ein neues Wirtschafts- und Entwicklungsmo-         beteiligten ArbeiterInnen, die Umwelt, die Entloh-
        dell nachzudenken, das inklusiver, auf das Gemein-      nung und die Landnutzung zu richten.
        wohl ausgerichtet und auf das Glück der Menschen           Die Eckpfeiler der Zivilökonomie stehen auch im
        bedacht ist. Die Zivilökonomie will der Wirtschafts-    Zentrum der Agenda 2030, die 2015 von der UN-Ge-
        tätigkeit ermöglichen, «eine typisch menschliche        neralversammlung verabschiedet wurde. Deren 17
        Dimension zurückzugewinnen», wie der Wirt-              Ziele für nachhaltige Entwicklung unterstreichen die
        schaftswissenschaftler Luigino Bruni, Förderer und      Dringlichkeit eines Kurswechsels und fordern ein
        Mitbegründer der «School of Civil Economy», be-         stärkeres gemeinsames Engagement zum Schutz von
        tont. Der Staat, der Markt und die Zivilgesellschaft    Gesundheit, Bildung, Arbeit, Umwelt und kollekti-
        sind aufgerufen, Konzepte wie Reziprozität und Re-      vem Wohlbefinden. Dieser Aufruf richtet sich an alle:
        spekt vor der Person in den Mittelpunkt wirtschaft-     an die Regierungen, öffentliche Einrichtungen und
        lichen Handelns, aber auch der Arbeitsmarkt- und        an private Organisationen. Auch jede/r Einzelne ist
        Sozialpolitik, in der Technologie und den politischen   eingeladen, den Übergang aktiv mitzugestalten.

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UNTERNEHMEN UND ENTWICKLUNG

             Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen sind ein wiederkehrendes Problem.
               Lösungsansätze wären vorhanden: Im Juni 2021 jährt sich die Verabschiedung der
             UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (UNGP) zum 10. Mal. Laurent Matile

     Ein Jahrzehnt der Inkonsequenz
Zwangsarbeit in Fabriken, die für grosse internationale Mar-
ken produzieren und mit Internierungslagern für UigurInnen
in Xinjiang in Verbindung gebracht werden, oder Geschäfts-
verbindungen westlicher Unternehmen mit Konglomeraten,
die von der Militärjunta in Myanmar kontrolliert werden: Das
Thema Konzernverantwortung ist von grosser Aktualität, in
der Schweiz wie anderswo.
   Im Rahmen ihres Mandats zur Förderung der UNGP hat die
UNO-Arbeitsgruppe zu Unternehmen und Menschenrechten ein
Projekt gestartet, um die Weichen für ein neues «Aktionsjahr-
zehnt» (UNGP10+) zu stellen. Ziel ist es, eine Bestandesauf-
nahme des bisher Erreichten vorzunehmen, bestehende Lü-
cken und Herausforderungen unter die Lupe zu nehmen und
vor allem eine Vision und einen Fahrplan für eine breitere und
umfassendere Umsetzung der UNGP bis 2030 zu entwickeln.
Das Projekt wird unter anderem von der deutschen Regierung
und dem Eidgenössischen Departement für auswärtige An-
gelegenheiten (EDA) unterstützt.
   «Das 10-Jahre-Jubiläum soll ein echter Wendepunkt sein
und die Zukunft einläuten, die wir uns wünschen», sagt
Anita Ramasastry, Vorsitzende der Arbeitsgruppe. Klima-
und Umweltkrisen, in Verbindung mit anderen grossen glo-
balen Herausforderungen wie schrumpfendem Handlungs-               Arbeitsrechte sind auch Menschenrechte: Südafrikanische
spielraum für die Zivilgesellschaft (shrinking civic space),       Gewerkschaften protestieren 2018 in Kapstadt. Foto: Nic Bothma / EPA
Populismus, Korruption, Konflikte und Fragilität sowie die
noch unbekannten menschlichen Folgen der technologi-
schen Disruption: Die von Covid-19 ausgelöste sozioökono-
mische Krise hat bestehende gravierende Ungleichheiten und         Positiv zu vermerken ist, dass die UNGP einen weltweit an-
die strukturelle Diskriminierung offengelegt und noch ver-         erkannten Massstab darstellen, der festlegt, was Regierun-
stärkt. Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (­Sustainable     gen und Unternehmen tun müssen, um die Achtung der
Development Goals, SDGs) heben verantwortungsvolles Wirt-          Menschenrechte in der Wirtschaftswelt zu gewährleisten –
schaften als Teil der Lösung hervor. Die drei Säulen der           etwas, das es vor 2011 nicht gab. Eines der aussagekräftigs-
UNGP geben vor, welche Ansätze es in der Praxis braucht:           ten Beispiele ist das zentrale Konzept der Sorgfaltspflicht
Staaten müssen die Menschenrechte schützen; Unterneh-              von Unternehmen in Bezug auf die Menschenrechte. Dieses
men haben die Verantwortung, die Menschenrechte zu ach-            Konzept steht nun im Mittelpunkt der regulatorischen Ent-
ten; und Opfer müssen Zugang zu einem wirksamen Rechts-            wicklungen in Europa und geniesst wachsende Unterstüt-
behelf erhalten.                                                   zung seitens der Unternehmen und Investoren.
   Bis heute haben die UNGP zu erheblichen Fortschritten
beigetragen; allerdings bleibt noch viel zu tun, damit die darin   Lücken der UNGP aus afrikanischer Sicht
verankerte Vision von «greifbaren Ergebnissen für die betrof-      Gleichzeitig bleiben die Präventionsbemühungen inkonse-
fenen Individuen und Gemeinschaften verwirklicht und so zu         quent; nur wenige Regierungen gehen über Lippenbekennt-
einer sozial nachhaltigen Globalisierung beitragen kann».          nisse zu den UNGP hinaus und der Zugang zu Rechtsmitteln

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