So schützt die Schweiz ihre Pharmakonzerne - #82 Sommer 2021 - Alliance Sud
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#82 Sommer 2021 STEUERPOLITIK So schützt die Schweiz ihre Pharmakonzerne SEITE 10 Das Magazin von Swissaid Fastenopfer Brot für alle Helvetas Caritas Heks
AUFTAKT Konstante Veränderung Foto: Daniel Rihs Die einzige Konstante im Leben, so lehrte mit der Agenda 2030 auf einen politischen Heraklit, ist die Veränderung. Trotzdem ist Kurs verpflichtet, der sich nicht bloss an es schon fast 13 Jahre her, dass ich meine kurzfristigen nationalen Eigeninteressen aus- erste Stelle bei Alliance Sud antrat. Nun ist aus richtet, sondern dem langfristigen Wohl familiären Gründen die Zeit gekommen, ergehen der Menschen und des Planeten dient. um Abschied zu nehmen – ein guter Moment, um Umso erstaunlicher ist, mit wieviel Leiden- gleichzeitig zurück und vorwärts zu schauen. schaft sich heute gewisse BundesrätInnen und ParlamentarierInnen darüber ärgern, Als ich 2008 bei Alliance Sud die Fachverant- wenn sich die NGOs im Namen der Menschen- wortung für das Dossier «Steuerpolitik» über- rechte und des Umweltschutzes in die nahm, glaubte Finanzminister Hans-Rudolf Schweizer Politik einmischen. Merz noch, das Schweizer Bankgeheimnis sei so unverrückbar wie das Gotthardmassiv. Alliance Sud eckte damals wie heute politisch an. Steuerhinterzieher und korrupte Potentaten Sie sollte sich auch von den jüngsten Retour aus Entwicklungsländern, die ihre Vermögen kutschen gegen eine entwicklungspolitisch in der Schweiz verstecken wollten, hatten freie aktive Zivilgesellschaft nicht beeindrucken Bahn. Dann kam die globale Finanz- und lassen. Eine sozial gerechte und ökologisch Wirtschaftskrise: Sie gab vielen der Millenniums- tragfähige Entwicklung der Welt braucht Entwicklungsziele, die bis 2015 hätten erfüllt dringender denn je eine Schweiz, die jegliche sein sollen, den Dolchstoss; dafür brachte sie Politik – von der Aussenpolitik über die Bewegung in den Kampf gegen die Steuerflucht. Klimapolitik bis zur Wirtschaftspolitik – kohärent an diesem Ziel ausrichtet. Dafür wer- Plötzlich waren auch die mächtigen Industrie- den sich das Team, die Trägerorganisationen länder daran interessiert, gegen Steuersünder und die Verbündeten von Alliance Sud, denen vorzugehen. Sie brauchten dringend mehr ich hier von ganzem Herzen für die wunder- Staatseinnahmen, um ihre milliardenschweren bare Zusammenarbeit danken möchte, auch Rettungspakete für die Banken zu finanzieren. in Zukunft stark machen – mit Herzblut, Alliance Sud musste allerdings jahrelang weiter- unermüdlichem Einsatz und der Kraft der kämpfen, bis die Schweiz den automatischen richtigen Argumente. Informationsaustausch in Steuerfragen endlich auch auf die Entwicklungsländer ausdehnte. Gegen die unseligen Anreize für multinationale Unternehmen, ihre Gewinne aus ärmeren Ländern weitgehend unversteuert in die Schweiz zu verschieben, kämpft sie immer noch. Als ich 2015 die Nachfolge von Peter Niggli als Geschäftsleiter von Alliance Sud antreten durfte, lösten gerade die Ziele für nachhaltige Entwicklung die Millenniums-Entwicklungs- Mark Herkenrath ziele ab. Die reichen Industrieländer haben sich Geschäfsleiter Alliance Sud 2 #82 Sommer 2021
INHALT IMPRESSUM global – Politik für eine gerechte Welt erscheint viermal jährlich. Die nächste Ausgabe von «global» erscheint Anfang Oktober 2021. Herausgeberin: Alliance Sud INS BILD GESETZT Arbeitsgemeinschaft Swissaid, Fastenopfer, Amazona Warmikuna Brot für alle, Helvetas, Caritas, Heks Monbijoustrasse 31, Postfach, 3001 Bern 6 T +41 31 390 93 30 F +41 31 390 93 31 global@alliancesud.ch ENTWICKLUNGSPOLITIK www.alliancesud.ch «Es liegt noch ein Social Media: facebook.com/alliancesud langer Weg vor uns» twitter.com/AllianceSud 8 Redaktion: Marco Fähndrich (mf ), Kathrin Spichiger (ks) T +41 31 390 93 34 / 30 Bildredaktion: Daniel Rihs STEUERPOLITIK Grafik: Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik, Zürich Druck: Valmedia AG, Visp So schützt die Schweiz Auflage: 2700 ihre Pharmakonzerne Tarife / Beilagen: siehe Website Bild Titelseite: Ein kleiner Stich für uns, kolossale Gewinne 10 für «Big Pharma». Foto: Keystone/Image Source HANDEL UND INVESTITIONEN Ein Gesetz, das Wirtschaft und Menschenrechte verknüpft 14 WIR SIND ALLIANCE SUD AGENDA 2030 Präsidium POLITIK «Ungleichheiten sind Bernd Nilles, Geschäftsleiter Entwicklungszusammenarbeit Kristina Lanz im System verwurzelt» Fastenopfer T +41 31 390 93 40 kristina.lanz@alliancesud.ch Geschäftsstelle 16 Mark Herkenrath Steuer- und Finanzpolitik Dominik Gross (Geschäftsleiter), Kathrin Spichiger T +41 31 390 93 35 dominik.gross@alliancesud.ch UNTERNEHMEN UND ENTWICKLUNG (Mitglied der GL), Matthias Wüthrich Klima und Umwelt Ein Jahrzehnt der Inkonsequenz Monbijoustr. 31, Vakant Postfach, 3001 Bern Handel und Investitionen 18 T +41 31 390 93 30 Isolda Agazzi F +41 31 390 93 31 T +41 21 612 00 95 mail@alliancesud.ch isolda.agazzi@alliancesud.ch ENTWICKLUNGSPOLITIK Regionalstelle Lausanne Unternehmen und «Wie kann ein Eigentum Isolda Agazzi (Mitglied der GL), Entwicklung Laurent Matile etwas besitzen?» Laurent Matile, Mireille Clavien T +41 21 612 00 98 laurent.matile@alliancesud.ch 20 T +41 21 612 00 95 F +41 21 612 00 99 Medien und Kommunikation Marco Fähndrich lausanne@alliancesud.ch T +41 31 390 93 34 Regionalstelle Lugano marco.faehndrich@alliancesud.ch SÜD-PERSPEKTIVE Lavinia Sommaruga Die Macht der Bildung (Mitglied der GL) T +41 91 967 33 66 INFODOC Bern 23 F +41 91 966 02 46 lugano@alliancesud.ch Alina Burri, Petra Schrackmann, Jérémie Urwyler, Joëlle Valterio T +41 31 390 93 37 dokumentation@alliancesud.ch INFODOC Lausanne Eine Utopie im Wandel – Pierre Flatt (Mitglied der GL), Ermeline Jaggi, 50 Jahre Alliance Sud Amélie Vallotton Preisig T +41 21 612 00 86 26 documentation@alliancesud.ch #82 Sommer 2021 3
AUF DEN PUNKT Ein Hoch auf die Zivilgesellschaft AkademikerInnen, JournalistInnen drohen Zwangs- und Bussgelder. Im diesjährigen «State of Civil Society und PraktikerInnen aus aller Welt. Eine zivilrechtliche Haftung gibt es Report» schaut die zivilgesellschaft Ungleichheiten zeigen sich beispiels allerdings nicht. LM liche Allianz CIVICUS auf die Trends weise im spärlichen Zugang der letzten 10 Jahre zurück. zur Finanzierung für lokale Organi Während Protestbewegungen jünger, sationen, in den ungleichen An- Klimaklage gegen «Big Oil»: digitaler und vernetzter geworden stellungsbedingungen und der unter- wegweisendes Urteil sind, sind auch Nationalismus, Popu- schiedlich gewerteten Expertise In den Niederlanden ist erstmals lismus, Repression und Desinfor ein multinationaler Konzern mation weltweit auf dem Vormarsch. per Gerichtsurteil dazu verpflichtet Ende 2020 lebten 87% der Welt worden, einen Beitrag zur Um bevölkerung in Ländern mit massiven setzung der Pariser Klimaziele zu zivilgesellschaftlichen Einschrän von lokalen und internationalen leisten. Das britisch-niederlän- kungen. Im Corona-Jahr zeigten sich ExpertInnen. Auch in den Bildern dische Unternehmen Shell, Europas sowohl die Kraft der Zivilgesellschaft und in der Sprache zeigen sich grösster Ölkonzern, muss seinen wie auch die damit einhergehende Formen von Rassismus und Kolonia CO₂-Ausstoss in den kommenden steigende Repression in verschiedenen lismus. Die AutorInnen plädieren neun Jahren nahezu halbieren; Ländern – von Myanmar über Belarus deshalb für mehr Ehrlichkeit, Offen- das entschied Ende Mai ein Gericht in und Algerien bis nach Hongkong. heit und Reflexion im Umgang Den Haag und hiess damit die mit der kolonialen Vergangenheit und Klage der Umweltschutzorganisation mit den Machtasymmetrien in der Milieudefensie, anderer Gruppen internationalen Zusammenarbeit. KL und mehr als 17 000 BürgerInnen gut. Sie hatten von Shell eine Reduktion Gleichzeitig schaffte es die «Black- des Treibhausgas-Ausstosses um 45 Lives-Matter»-Bewegung, mitten in der Der lange Weg zur Prozent im Vergleich zu 2019 Krise das Thema des strukturellen Konzernverantwortung verlangt, weil das Unternehmen gegen Rassismus weltweit auf die Agenda zu Die EU-Kommission hatte vor die globalen Klimaziele verstosse. bringen. Während durch Mass Monaten angekündigt, dass spätes Shell will gegen das Urteil in erster nahmen zur Pandemiebekämpfung der tens im Juni 2021 ein Entwurf für Instanz Berufung einlegen. zivilgesellschaftliche Spielraum ein europäisches Unternehmensver immer mehr eingeschränkt wurde, antwortungsgesetz vorgelegt tauchten vielerorts kleine gemeinde werden soll. Das EU-Parlament hatte basierte Organisationen und Nach- darüber hinaus in einem Bericht Weltweit sind laut dem letzten barschaftshilfen auf, die die durch die Notwendigkeit einer solchen Sorg- «Global Climate Litigation Report» Staats- und Marktversagen ent faltspflicht für Konzerne nicht der UNO mehr als 1500 Klima- standenen Lücken füllten und Hilfe nur unterstrichen, sondern bei Nicht- klagen in rund 40 Ländern hängig. für die Bedürftigsten leisteten. einhaltung von Menschenrechten In Deutschland hat Ende April das Die Zivilgesellschaft lässt sich nicht und Umweltstandards auch ein Im- Bundesverfassungsgericht der Klima- unterkriegen. KL portverbot gefordert. Nun wurde jugend Recht gegeben und die auf Druck der Industrieverbände in Politik zu effektiverem Klimaschutz Brüssel der Entwurf für ein Gesetz verurteilt. In der Schweiz hatte Wer «hilft», ist nicht immun bis auf Weiteres zurückgestellt. das Bundesgericht die Klimaklage der gegen Kolonialismus Klimaseniorinnen gegen den Bund Der kürzlich erschienene Bericht In Deutschland hat vier Monate vor vor einem Jahr zwar abgewiesen, nun von Peace Direct «Time to Decolonize der Bundestagswahl die Grosse wird aber der Europäische Gerichts- Aid» zeigt anhand einer Reihe von Koalition ihren Streit über das geplante hof für Menschenrechte (EGMR) den konkreten Beispielen, wie struktureller Lieferkettengesetz beigelegt: Fall prioritär behandeln. Rassismus und Machtungleich- Es soll Unternehmen verpflichten, heiten auch in der internationalen bei ihren internationalen Partnern Nach dem «Nein» zum CO2-Gesetz Zusammenarbeit ein Problem dar- auf die Einhaltung von Menschen an der Urne ist die Schweizer stellen. Die Studie basiert auf einer rechten und auf Umweltschutzkri Klimapolitik weit davon entfernt, breit angelegten Online-Konsul terien zu achten. Kommen die ihren internationalen Verpflich tation mit EntscheidungsträgerInnen, Firmen dieser Sorgfalt nicht nach, tungen nachzukommen. MF 4 #82 Sommer 2021
RUEDI WIDMER HAUSMITTEILUNG Auf Wiedersehen! des EDA am Stockholm International Peace Nach 13 Jahren unermüdlichem Einsatz für Research Institute (SIPRI) angetreten. eine sozial gerechte und ökologisch tragfähige Ein Gewinn für das SIPRI, ein grosser Verlust Schweiz verlässt unser Geschäftsleiter für Alliance Sud! Seit fast sieben Jahren Mark Herkenrath Alliance Sud per Ende Juli. war Jürg unser klimapolitisches Gesicht. Im Auftakt (Seite 2) und im Interview (Seite 8) Seinem tatkräftigen Engagement für eine Klima- lesen Sie, was er uns mit auf den Weg geben politik der Schweiz, die ihrer globalen Ver möchte. Sein Wirken bei Alliance Sud wird von antwortung gerecht wird, gebührt ein riesiges allen Träger- und Partnerorganisationen Dankeschön! ausserordentlich geschätzt. Mark hat Enormes geleistet und Alliance Sud über Jahre geprägt Die beiden Stellen werden im Lauf des Jahres und weiterentwickelt. Hierfür möchten sich neu ausgeschrieben. Der Vorstand von Alliance das Team und der Vorstand herzlich bei Sud ist daran, die Modalitäten des Nachfolge ihm bedanken. Sein scharfer Verstand, sein prozesses festzulegen. In der Vakanzperiode politisch-strategisches Gespür und sein wird sich das Team von Alliance Sud selb persönliches Engagement werden uns fehlen! ständig organisieren. Wir wünschen Mark und Jürg von Herzen alles Gute! KS Ende April hat sich auch Jürg Staudenmann, unser Fachverantwortlicher für die Klima- und Umweltpolitik, zu neuen beruflichen Ufern aufgemacht und ein 1½-jähriges Secondment #82 Sommer 2021 5
INS BILD GESETZT Isadora Romero ist eine ecuadorianische Geschichtenerzählerin in Quito. In ihrer Arbeit befasst sie sich mit menschlichen Identitäten, Gender- und Umweltthemen. Sie ist Mitgründerin von Ruda Colectiva, einem lateinamerikanischen Fotografinnen- Kollektiv. Die Serie «Amazona Warmikuna» taucht ein in die Intimität der Sarayuku-Gemeinschaft des Amazonas-Dschungels, wo Frauen eine funda- mentale Rolle spielen. Dort kümmern sie sich, wenn die Männer tagelang auf die Jagd gehen, nicht nur um Haus und Kinder, sondern stellen sich auch den grossen Bedrohungen durch Bergbau und Ölförderung und lauschen dem Herzschlag ihres Landes und seiner Gewässer. Im Zusammenleben mit den Frauen entstehen Isadora Romeros Beobachtungen wie Träume, die sie nicht zu dokumentieren versucht, sondern zu evozieren, indem sie in jedem Bild eine Tür zu einer neuen Geschichte öffnet. Ein Mädchen berührt seine kleine Schwester, während die Frauen «Chicha» zubereiten, ein fermentiertes Getränk aus Maniok. Nur zwei Stunden Strom, wenn es dunkel wird: Das Enkelkind von Ena Santi − eine der Frauen, welche die Gemeinschaft führen – spielt mit den Motten, sobald sie in der Nacht erscheinen. Alle Fotos: Isadora Romero / Fairpicture Roxana, Daniela und Nayeli Santi nehmen ein Bad ausser- halb ihres Hauses in Sarayaku, eine kleine Gemeinschaft im ecuadorianischen Amazonas-Regenwald. 6 #82 Sommer 2021
Wer mehr Maniok erntet, hat gewonnen: Wettbewerb zwischen Frauen-Gruppen in der ecuadorianischen Provinz Pastaza. #82 Sommer 2021 7
ENTWICKLUNGSPOLITIK Nach 13 Jahren, zuerst als Experte und danach als Geschäftsleiter, verlässt Mark Herkenrath Alliance Sud per Ende Juli. Abschiedsinterview über die Agenda 2030 und die globale Innenpolitik der Schweiz. Marco Fähndrich «Es liegt noch ein langer Weg vor uns» Mark Herkenrath ist Titularprofessor Bundesrat Cassis hat sich aber 50,7% der Abstimmenden für eine für Soziologie an der Universität Zü- in der neuen aussenpolitischen weltoffene und solidarische Schweiz rich und forschte unter anderem zu Strategie die Nachhaltigkeit ausgesprochen (Die Initiative schei- den Entwicklungsfolgen der wirt- auf die Fahne geschrieben… terte am Ständemehr). Die Bevölke- schaftlichen Globalisierung und zum Bundesrat Cassis distanzierte sich 2018, rung hat ein berechtigtes Vertrauen in zivilgesellschaftlichen Widerstand in ein Jahr nach seinem Amtsantritt, so- die sehr gut dokumentierten Fallre- Lateinamerika und den USA gegen das gar von der Agenda 2030! In einem In- cherchen der NGOs; hingegen wackelt panamerikanische Freihandelsab- terview mit der «Basler Zeitung» är- das Vertrauen in die Wirtschaftsver- kommen ALCA. Er gehört bereits seit gerte er sich darüber, dass er in seinem bände und ihre Konzerne. Man glaubt 2008 zum Team von Alliance Sud und Vorleben als Parlamentsmitglied nie der Behauptung nicht mehr, dass die war verantwortlich für den Fachbe- zur Agenda 2030 konsultiert worden Interessen der Wirtschaft immer auch reich internationale Finanz- und Steu- war. Zusammen mit dem UNO-Migra- gut für die Schweiz seien. Das bereitet erpolitik, bevor er im Jahr 2015 die Ge- tionspakt kanzelte er die Agenda als ein bürgerlichen Kreisen in der Politik na- schäftsleitung übernahm. Machwerk der Diplomatie ab, das im türlich Kopfschmerzen. Widerspruch zu innenpolitischen Ent- global: Im Jahr 2015 wurde die scheiden stehe. Inzwischen scheint er In der internationalen Zusammen- Agenda 2030 für nachhaltige aber besser begriffen zu haben, dass arbeit setzt die Schweiz immer Entwicklung verabschiedet, was eine gerechte und nachhaltige Welt mehr auf Partnerschaften mit dem damals international als auch im Interesse der Schweiz ist. Privatsektor. Alliance Sud hat grosser Meilenstein gefeiert wurde. immer wieder auf die Risiken hin- Bis jetzt hat aber der Bundesrat Die Schweizer Zivilgesellschaft gewiesen, gibt es aber nicht auch kaum etwas umgesetzt und die hat mit der Konzernverantwortungs- Chancen? Nachhaltigkeitsziele sind in initiative an der Urne einen Klar gibt es auch Chancen, zum Bei- der Bevölkerung wenig bekannt. Achtungserfolg erzielt. Nach der spiel neue Arbeitsplätze, Investitionen Woran liegt das? Abstimmung möchten bürger- und umweltschonende Technologien. Mark Herkenrath: Der Bundesrat setzt liche PolitikerInnen den Hand- Das darf aber nicht dazu verleiten, die sich viel zu wenig für die Agenda 2030 lungsspielraum der NGOs Risiken auszublenden. Ausländische ein. Er will keine zusätzlichen Gelder einschränken (siehe global #81). Konzerne drängen in den Entwick- für die Umsetzung der Agenda spre- Sind die NGOs zu mächtig lungsländern oft einheimische Firmen chen und möchte die globale nachhal- geworden? aus dem Markt und verlagern ihre Ge- tige Entwicklung einfach in die bishe- (Schmunzelt.) Das tönt so, als seien die winne unversteuert in Tiefsteueroasen rige Politik integrieren. Er unternimmt NGOs am Abstimmungssonntag mit wie die Schweiz. Hinzu kommen Men- auch zu wenig, um die Agenda 2030 öf- ganzen Heerscharen zu den Urnen mar- schenrechtsverletzungen und Um- fentlich bekannt zu machen. Das sollen schiert und hätten dort ihre Zettel ein- weltprobleme. In der internationalen die Nichtregierungsorganisationen geworfen. Tatsächlich entscheidet in Zusammenarbeit müsste es darum für tun, obwohl sie jetzt auf Geheiss von der Schweizer Demokratie am Schluss Partnerschaften mit dem Privatsektor Aussenminister Ignazio Cassis keine immer noch die Stimmbevölkerung. mindestens so strikte Auswahlkriterien Bundesmittel mehr für Bildungs- und Und die bildet sich durchaus ihre eigene und Auflagen geben wie bei Partner- Sensibilisierungsarbeit in der Schweiz Meinung. Bei der Abstimmung zur Kon- schaften mit den NGOs. Davon sind die einsetzen dürfen. zernverantwortungsinitiative haben sich DEZA und das SECO noch weit entfernt. 8 #82 Sommer 2021
In den mächtigen Ländern des Nordens gibt es wieder eine starke Tendenz, kurzfristige nationale Eigeninteressen höher zu gewichten als das Wohl- ergehen der Natur und der Menschheit. Auch die inter- nationale Zusammenarbeit wird wieder zunehmend in den Dienst wirtschafts- und migrations- politischer Interessen gestellt. Mark Herkenrath an einer Veranstaltung der zivilgesellschaftlichen Plattform Agenda 2030. Foto: Martin Bichsel WissenschaftlerInnen erheben im len politischen Fragen dort recht ver- rung und die Zukunft des Planeten Zuge der Klimabewegung und pönt; sogar Gastartikel in der «NZZ» auswirkt. Es liegt aber noch ein langer der Pandemie vermehrt die Stimme, oder in «Le Temps» ernteten manch- Weg vor uns, bis das Gebot der globa- um die Politik zu beeinflussen: mal Stirnrunzeln. Das hat sich zum len nachhaltigen Entwicklung in die eine positive Entwicklung? Glück verbessert. Praxis umgesetzt ist. In den mächti- Ja, das ist eine gute Entwicklung. In gen Ländern des Nordens gibt es wie- einer funktionierenden Demokratie Alliance Sud feiert dieses Jahr das 50. der eine starke Tendenz, kurzfristige sollen die Bevölkerung und ihre politi- Jubiläum: In welche Richtung steuert nationale Eigeninteressen höher zu schen VertreterInnen fundierte Ent- die Entwicklungspolitik und wird es gewichten als das Wohlergehen der scheidungen treffen. Dazu braucht es diese auch in 50 Jahren noch brauchen? Natur und der Menschheit. Auch die Expertise. Gemeint sind neben der Ex- Entwicklungspolitik wird es immer internationale Zusammenarbeit wird pertise der Wissenschaft auch das geben: Eigentlich ist sie ja globale In- wieder zunehmend in den Dienst wirt- Fachwissen der NGOs und die ethische nenpolitik. Die Agenda 2030 betont, schafts- und migrationspolitischer Expertise der Kirchen. Als ich noch dass bei jeder politischen Entschei- Interessen gestellt. Es braucht darum hauptberuflich in der Wissenschaft tä- dung mitberücksichtigt werden muss, auch in Zukunft eine Alliance Sud, die tig war, waren Äusserungen zu aktuel- wie sie sich auf die ganze Weltbevölke- Politik für eine gerechte Welt macht. #82 Sommer 2021 9
Müssen wir diese bittere Pille wirklich schlucken? Die Bevölkerung zahlt, die Pharmaindustrie profitiert. Fotos: Keystone / Image Source 10 #82 Sommer 2021
STEUERPOLITIK Während den Ländern des globalen Südens im Kampf gegen die Pandemie Milliarden Impfdosen fehlen, verschieben Pharmakonzerne ihre exorbitanten Gewinne in Tiefsteuergebiete. Ganz legal: Der Patentschutz ist auch ein Auswuchs des schweizerischen Steuernationalismus. Dominik Gross So schützt die Schweiz ihre Pharmakonzerne Nach einem Jahr Pandemie wurde in diesem Frühling klar: globalen Gesundheitsrisiko geworden: Der Patentschutz Die globale Pharmaindustrie gehört zu den grossen Corona- sorgt für eine künstliche Knappheit der Impfstoffe, treibt so Gewinnerinnen. Das zeigen die aktuellen Geschäftszahlen die Preise in die Höhe und erschwert eine faire und möglichst und Gewinnprognosen vieler Pharmakonzerne. Ein besonde- effektive Verteilung in der ganzen Welt. res Augenmerk liegt dabei auf den Herstellern der Impfstoffe Das geht primär auf Kosten der Menschen in einkom- gegen Covid-19. So meldete Moderna kürzlich, die Firma mensschwachen Ländern des globalen Südens, die sich werde mit ihren Impfdosen in diesem Jahr einen Umsatz von keine private und teure Gesundheitsversorgung leisten 19,2 Milliarden Dollar erzielen. Pfizer gab 26 Milliarden an, können. Während in den reichen Ländern Nordamerikas BioNTech 15 Milliarden. Moderna verbuchte allein im ersten und Europas gemäss dem Blog «Our World in Data» schon Quartal einen Reingewinn von 1,2 Milliarden Dollar, was einer 58 bzw. 43 Impfungen pro hundert EinwohnerInnen verab- Gewinnmarge von 65% entspricht. Dafür, dass die Impfstoff- reicht wurden, sind es in Afrika erst zwei. Asien und Süd- hersteller zu Beginn der Pandemie beteuert hatten, mit der amerika liegen mit einer Quote von 18 bzw. 24 dazwischen. Impfstoffherstellung keine Gewinnabsichten zu hegen, sind Aber auch die breite Bevölkerung in reichen Ländern zahlt das erstaunliche Zahlen. Der Impfstoff aus diesem Haus ist für die Patente der Pharmaindustrie drauf: Sie leistet mit denn momentan auch der teuerste auf dem Markt. ihren Steuern nicht nur einen entscheidenden Beitrag zu deren Forschung und Entwicklung, sondern ist wegen der Bekommt die Pharmaindustrie mehr, als sie bezahlt? künstlichen Verknappung der Produktion vieler Medika- Wenn man sich allerdings die Geschäftsmodelle der Pharma- mente mit höheren Kosten des gesamten Gesundheitswe- riesen genauer anschaut, ist die Überraschung schon weni- sens konfrontiert. Das Fazit von Public Eye stimmt in dieser ger gross. Die NGO Public Eye hat diese kürzlich in einem Hinsicht sehr bedenklich: «Wie sehr die Entwicklung ausführlichen Bericht («Big Pharma takes it all») analysiert. neuer Medikamente von öffentlichen Geldern abhängt, Ein zentrales Instrument zur Gewinnmaximierung der hat sich noch nie stärker gezeigt als in dieser Pandemie. Pharmabranche ist die Patentierung der Wirkstoffe, die ih- ren Medikamenten zu Grunde liegen. Während allein im Jahr 2020 in die Forschung und Entwicklung dieser Wirkstoffe Der Patentschutz sorgt für eine künstliche durch intensive Kooperationen mit Universitäten gemäss Knappheit der Impfstoffe, treibt so die Preise in Public Eye weltweit öffentliche Gelder in der Höhe von 93 Mil- die Höhe und erschwert eine faire und mög- liarden Euro flossen, sollen die Patente dafür sorgen, dass von den Erlösen aus dem Medikamentenverkauf ausschliess- lichst effektive Verteilung in der ganzen Welt. lich jene Konzerne profitieren, die die Wirkstoffe (mit-)ent- wickelt haben. Dritte dürfen die Wirkstoffe ohne Lizenzkauf bei den Eigentümern nicht herstellen und auch nicht verkau- Da dies in den Preisfestsetzungsmechanismen politisch igno- fen. Durchgesetzt werden diese Regeln seit 25 Jahren im Rah- riert wird, zahlt die Bevölkerung gleich doppelt: Mit ihren men des TRIPS-Abkommens über «handelsbezogene As- Steuern subventioniert sie die Pharmakonzerne stark, gleich- pekte geistiger Eigentumsrechte» (Trade-Related Aspects of zeitig ist sie gezwungen, unregulierte und überhöhte Preise Intellectual Property Rights), das 1995 auf Druck der reichen für Medikamente zu bezahlen und damit zu den kolossalen Länder des Nordens und gegen den Willen der meisten Län- Gewinnen von Big Pharma beizutragen.» der des Südens unterzeichnet wurde. Seither ist die Praxis Damit aber nicht genug: Die Bevölkerung alimentiert die der technologischen Nachahmung verboten. Spätestens in Pharmaindustrie nicht nur mit ihren Steuern; den Konzernen der Corona-Pandemie ist das TRIPS-Übereinkommen zum gewährt das heutige internationale Konzernsteuersystem #82 Sommer 2021 11
auch noch zahlreiche Vorteile zur Umgehung ihrer Steuer- und KollegInnen gezeigt haben, weisen die Unternehmens- pflicht. Die Konzerne können ihre eigenen Steuern auf Ge- teile ausländischer Konzerne in der Schweiz im Vergleich zu winne aus geistigem Eigentum, aber auch aus anderen For- ihren exorbitant hohen Gewinnen in der Regel eine erstaun- men von Unternehmensgewinnen, stark reduzieren, ohne lich tiefe Lohnsumme ihrer Mitarbeitenden aus. Verglichen dabei notwendigerweise geltendes Recht zu brechen. Diese mit einheimischen Firmen liegen ihre Gewinnmargen um ein Möglichkeiten sind aus der Sicht jener Länder, in denen die Vielfaches höher. Damit liegt der Verdacht nahe, dass diese Pharmakonzerne ihre Sitze haben und finanzstarke Tochter- hohen Gewinne nicht in der Schweiz erarbeitet, sondern als gesellschaften betreiben, auch ein Wettbewerb um ihre globa- Buchhaltungsgewinne in die Schweiz verschoben werden. len Gewinne. Vornehmlich kleine Länder des reichen Nordens ohne grosse Absatzmärkte für Medikamente locken Unter- Zentral bei der Nutzung von Patenten als nehmen durch möglichst günstige Konditionen für den Im- Steueroptimierungsvehikel ist der Umstand, port von Patenten und eine tiefe Besteuerung von Gewinnen dass Patente nicht unbedingt dort angemeldet aus geistigem Eigentum an. Davon profitieren wiederum die und angesiedelt werden, wo die Erfindung, Konzerne, die ihre Steuern nicht primär dort bezahlen müs- sen, wo sie durch die pharmazeutische Forschung und die Ent- die sie schützen, entwickelt wurde, sondern wicklung neuer Wirkstoffe einerseits und den Verkauf ihrer dort, wo sich das auch steuertechnisch lohnt. patentierten Medikamente andererseits tatsächlich ihre Wert- schöpfung erzielen, sondern dort, wo sie auf diese Gewinne Bei diesen Gewinnverschiebungen machen sich die Konzerne am wenigsten Steuern bezahlen. Anomalien des heutigen internationalen Konzernsteuersys- tems zu Nutze. Dieses basiert auf dem sogenannten Fremdver- Tiefsteuergebiet für geistiges Eigentum gleichsgrundsatz (arm’s length principle) und ist gleichzeitig Die Schweiz mischt in diesem Verteilkampf um die Gewinne seine zentrale Schwäche. Multinationale Konzerne werden so der multinationalen Konzerne intensiv mit. Gemessen an nicht als globale Einheit besteuert; das Steuerrecht behandelt ihrer Bevölkerungszahl beherbergt sie von den 500 grössten jede einzelne Konzerneinheit immer noch als eigenständige Konzernen der Welt am meisten (14). Darunter die Basler Firma. Zwischen den einzelnen Konzerneinheiten in den ver- Pharmariesen Novartis und Roche, die Nummer 3 und 4 im schiedenen Ländern finden allerdings tagtäglich unzählige Fi- Ranking der grössten Pharmakonzerne der Welt und hinter nanztransaktionen statt: im Zusammenhang mit Dienstleis- sechs Rohstoffriesen und dem Nahrungsmittelkonzern tungen, materiellen Gütern, Beteiligungsrechten, Darlehen Nestlé die Nummer 7 und 8 der grössten Firmen mit Haupt- und – für den Pharmasektor besonders relevant – eben auch sitz in der Schweiz überhaupt. Ausserdem haben deren grosse immateriellen Gütern wie Marken, Lizenzen und Patenten. Konkurrenten aus dem Ausland fast ausnahmslos Tochter- Zentral bei der Nutzung von Patenten als Steueroptimie- gesellschaften und Zweigniederlassungen in der Schweiz. rungsvehikel ist der Umstand, dass Patente nicht unbedingt Gemäss der transnationalen Forschungsgruppe «Economists dort angemeldet und angesiedelt werden, wo die Erfindung, without Borders» um den kalifornisch-französischen Ökono- die sie schützen, entwickelt wurde, sondern dort, wo sich das men Gabriel Zucman entzieht die Schweiz anderen Ländern auch steuertechnisch lohnt. Tochtergesellschaften auslän- jährlich Gewinnsteuersubstrat in der Höhe von 98 Milliarden discher Pharmafirmen, die in Zug oder anderen Tiefsteuer- Franken. Daraus resultieren Steuereinnahmen in der Höhe kantonen angesiedelt sind, können so als Patenthalter auf- von 7,3 Milliarden Franken. Das heisst, dass 38% der Unter- treten und Lizenzen für die Nutzung dieser Patente an nehmenssteuereinnahmen von Bund, Kantonen und Ge- andere Gesellschaften des gleichen Konzerns vergeben. meinden aus Gewinnverschiebungen stammen. Diese 7,3 Mil- Auffallend ist auch die atemberaubende Arbeitsprodukti- liarden Steuereinnahmen in der Schweiz entsprechen vität der Schweizer Pharmaindustrie: Gemäss dem Bran- übrigens mehr als einem Drittel der gesamten Kosten, die in chenverband Interpharma erzielt sie pro Arbeitsplatz fünf- den 69 ärmsten Ländern der Welt insgesamt für deren Ge- mal mehr Wertschöpfung als der gesamtwirtschaftliche sundheitswesen anfallen (19,7 Milliarden Dollar). Durchschnitt und liegt auch noch deutlich vor dem Finanz- In dieser Rechnung sind allerdings mutmassliche Gewinn- sektor an der Spitze. Welchen Anteil an dieser Wertschöp- verschiebungen aus vielen afrikanischen und asiatischen fung konzerninterne Lizenzzahlungen, Gebühren und Zin- Ländern gar nicht inbegriffen, weil dort die entsprechende sen für bestimmte konzerninterne Dienstleistungen oder Datenlage für solche ökonomischen Analysen oft zu schlecht Kredite haben, weist Interpharma nicht aus, konstatiert aber ist. Angesichts der Tatsache, dass auch viele dort tätige Roh- stolz, dass zwei Drittel des gesamten Produktivitätswachs- stoff- und Nahrungsmittelkonzerne ihre Handels- und Ver- tums der Schweizer Volkswirtschaft zwischen 2008 und 2018 waltungseinheiten in der Schweiz stationiert haben, liegt die dem Pharmasektor zu verdanken seien. Gleichzeitig be- Vermutung nahe, dass auch aus diesen Ländern empfindliche schäftigen sowohl Roche wie Novartis über 85% ihrer Ange- Summen in die Schweiz verschoben werden. Wie Zucman stellten im Ausland (Stand 2018). 12 #82 Sommer 2021
mens, also eine Reduktion des Gewinnanteils, der überhaupt versteuert werden muss. Dadurch reduziert sich der effektive Steuersatz auf den Gewinn eines Konzerns, der sich aus der Kombination der Bemessungsgrundlage und des gesetzlich festgeschriebenen Steuersatzes ergibt. Während der F&E-Ab- zug am Beginn der Wirkstoffproduktion ansetzt, tut das die Patentbox am Ende: Ersterer erlaubt den Abzug der Kosten für F&E von Gewinnen, die aus Produkten stammen, die auf die entsprechenden F&E-Investitionen zurückgehen. Zweitere erlaubt zu einem gewissen Prozentsatz (je nach Kanton ver- schieden) den Abzug von Gewinnen, die auf eine für die Patent- box qualifizierende Erfindung zurückgehen, vom gesamten steuerbaren Gewinn. De jure würden sich in der Schweiz nur Gewinne auf patentierten Erfindungen für die Patentbox qua- lifizieren, die auch in der Schweiz entwickelt wurden. De facto erweist sich die exakte Zuordnung einer bestimmten Innova- tion oder Erfindung zu einem bestimmten Forschungsstand- ort als schwierig. «No borders no nations» für Patente Die Pharmakonzerne können also ihr Patentmanagement ganz legal zur Steuerreduktion einsetzen. Erneut ist es die Firma, die gewinnt, und die öffentliche Hand, die verliert. Das zeigt die zentrale Bedeutung, die Patente für die Geschäftsmo- delle der Pharmakonzerne haben. Es zeigt aber auch die zent- rale Bedeutung der Patente für das Geschäftsmodell des Schweizer Fiskus: Die sich daraus ergebenden Tiefsteuerre- gime sollen – so das standortpolitische Kalkül – Anreize für die Konzerne schaffen, möglichst viele ihrer globalen Gewinne in Die von der G7 im Juni beschlossene Mindeststeuer fällt global der Schweiz zu verbuchen. Obwohl die Steuersätze hier gerin- nicht ins Gewicht: Ob der Pharmasektor seine Gewinne in Europa ger sind, soll angesichts der hohen Gewinnsummen, die dann oder Nordamerika versteuert, ist für die Länder des Südens sekundär. in der Schweiz versteuert werden müssen, am Ende auch mehr für den Schweizer Fiskus herausspringen. Diese steu- erpolitische Bedeutung des geistigen Eigentums mag auch Es ist angesichts dieser Zahlen wenig erstaunlich, dass eine teilweise erklären, weshalb sich der Bundesrat vehement Mehrheit der Schweizer Politik speziell die Pharmaindustrie gegen die vorübergehende Aufhebung des Patentschutzes im Blick hat, wenn es darum geht, das Schweizer Konzern- auf Covid-Impfstoffen einsetzt. Dies obwohl mittlerweile steuermodell immer wieder mit den sich entwickelnden inter- sogar die US-Regierung damit einverstanden ist, um die Pro- nationalen Regeln einerseits und den Bedürfnissen der duktion der Impfstoffe anzukurbeln und ärmeren Ländern so Schweizer Wirtschaft andererseits in Einklang zu bringen. So einen besseren Zugang zu den Impfstoffen zu ermöglichen. wurden mit der Einführung der letzten Unternehmenssteuer- In einem Interview mit der «Financial Times» beschwört reform im Rahmen der STAF (Steuerreform und AHV-Finan- Roche-Chef Severin Schwan eine Verstaatlichung der Phar- zierung) ab 2020 die alten, auch für die Pharma wichtigen, mafirmen wie in der DDR und bekämpft einen Präzedenzfall, international aber nicht mehr akzeptierten Steuerprivilegien der eine generelle Aufweichung der jetzigen, sehr restrikti- für Holding-, Domizil- und gemischte Gesellschaften durch ven Politik zum geistigen Eigentum sowie Verluste für den neue ersetzt, die den aktuellen Besteuerungsregeln der OECD Fiskus gewisser Kantone und des Bundes zur Folge hätte. Die (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Leidtragenden dieses Steuernationalismus sind aber einmal wicklung). In der STAF wurden vor allem zwei neue Steuerop- mehr die Menschen im globalen Süden, die so noch länger auf timierungsvehikel auf die Bedürfnisse der Pharmabranche ihre Covid-Impfung warten müssen und notabene auf eine ausgerichtet, einerseits der Abzug auf Forschung und Ent- funktionierende öffentliche Gesundheitsversorgung ange- wicklung (F&E-Abzug) und andererseits die Patentbox. Beide wiesen sind. Genau diese untergraben auch Pharmakon- Vehikel ermöglichen eine Reduktion der sogenannten Bemes- zerne, wenn sie Gewinne dort abziehen und in Tiefsteuer- sungsgrundlage für den steuerbaren Gewinn eines Unterneh- gebiete wie die Schweiz verschieben. #82 Sommer 2021 13
HANDEL UND INVESTITIONEN Während die Menschenrechtsverletzungen zunehmen, wie die Beispiele von China und Myanmar zeigen, verfügt die Schweiz über keinerlei Rechtsgrundlagen, um rasch gezielte wirtschaftliche Massnahmen zu ergreifen. Isolda Agazzi Ein Gesetz, das Wirtschaft und Menschenrechte verknüpft In den letzten drei Jahren häufen sich die Berichte über die Sie verfügt nicht über die Mittel und Möglichkeiten, jedes Existenz von Internierungslagern für UigurInnen in der eingeführte Produkt sowie seine einzelnen Komponenten chinesischen Provinz Xinjiang und die dort praktizierte lückenlos zurückzuverfolgen.» Zwangsarbeit. Die Beweise lassen sich nicht mehr leugnen, weshalb westliche Länder nun reagieren: Im März ver- Schweiz verweist auf fehlende Gesetzesgrundlage hängte die Europäische Union (EU) Sanktionen gegen chi- Die Beispiele anderer Länder zeigen: Wo ein Wille ist, ist nesische Beamte und ein staatliches Unternehmen. Nor- auch ein Weg. In der Schweiz ist dieser Wille nicht vorhan- wegen, das wie die Schweiz Mitglied der Europäischen den. Sie ist politisch nicht bereit, ihre wirtschaftlichen In- Freihandelsassoziation (EFTA) ist, hat sich den Sanktionen teressen an der Achtung der Menschenrechte auszurich- angeschlossen. ten, nicht einmal bei so eklatanten Verstössen wie jenen Grossbritannien verabschiedete bereits am 12. Januar neue gegen die UigurInnen, die von immer mehr Rechtswissen- Regeln, die den Import von Produkten verbieten, bei denen schaftlern und Parlamenten aus aller Welt als Völkermord der Verdacht besteht, dass sie das Ergebnis von Zwangsarbeit eingestuft werden. in Xinjiang sind. Kanada zog am selben Tag nach und kündigte Importbeschränkungen für Produkte aus Xinjiang an. In im- mer längeren Wertschöpfungsketten, in denen die Herstel- lung eines Produkts nicht mehr von A bis Z an einem Ort er- folgt, sondern die Komponenten in allen Erdteilen gefertigt und montiert werden, kann der Nachweis, dass ein bestimm- tes Teil aus Zwangsarbeit stammt, kaum oder gar nicht er- bracht werden. Daher schloss sich die EU dem Ansatz an, sich auf begründete Verdachtsmomente abzustützen. Die USA gehen sogar noch weiter: Mit dem «Uyghur Hu- man Rights Policy Act» und dem «Uyghur Forced Labour Prevention Act» hat der US-Kongress den Import von in Xinjiang hergestellten Produkten faktisch ganz verboten. Angesichts der Beweise für massive Menschenrechtsverlet- zungen müssen nun die US-amerikanischen Unternehmen und andere Akteure nachweisen, dass die in die USA impor- tierten Produkte nicht aus Zwangsarbeit stammen – und nicht umgekehrt. Die Schweiz ihrerseits verfolgt einen äusserst konserva- tiven Ansatz und tut genau das Gegenteil: In seiner Antwort auf die Motion von Ständerat Carlo Sommaruga, den Import von Waren, die durch Zwangsarbeit in Xinjiang hergestellt wurden, zu verbieten, verwies der Bundesrat auf die Schwie- rigkeit einer vollständigen Rückverfolgbarkeit: «Die Über- prüfung der Produktionsbedingungen im Ausland und so- Xinjiang wird immer mehr zu einem «Freilicht-Gefängnis»: mit der Einhaltung des Verbots von Zwangsarbeit kann Die Polizei ist überall, Beten und Bärte sind in der durch die Bundesverwaltung nicht gewährleistet werden. Öffentlichkeit weitgehend verboten. Foto: Johannes Eisele / AFP 14 #82 Sommer 2021
Die einzige konkrete Massnahme, die der Bundesrat ergriffen Sanktionen gegen 11 hochrangige Militärs und gegen die bei- hat, besteht in der Organisation eines Runden Tischs mit Ver- den von ihnen kontrollierten Konglomerate verhängt: die My- tretern der in Xinjiang ansässigen Textilindustrie, «um sie anmar Economic Corporation (MEC), die hauptsächlich in den über die Situation zu informieren». Ein analoges Vorgehen ist Bereichen Bergbau, Fertigung und Telekommunikation tätig für die Maschinenindustrie geplant. Für Alliance Sud, Public ist, und die Myanmar Economic Holdings Limited (MEHL), die Eye und die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – die sich u. a. in den Bereichen Bankwesen, Bauwesen, Bergbau, Land- während der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen der wirtschaft, Tabak und Lebensmittelverarbeitung aktiv ist. Schweiz mit China in der so genannten China-Plattform zu- sammengeschlossen und diese nach Bekanntwerden der In- Rahmenwerk soll auch das Zollrecht umfassen ternierungslager wiederbelebt haben – reicht das nicht. Die- Was sollte angesichts dieser Untätigkeit respektive der vari- ser Meinung ist auch die UNO; Ende März erinnerte sie die ablen Geometrie der Ansätze getan werden? Die China- Schweiz und 12 weitere Länder an ihre Verpflichtung, «sicher- Plattform hat beim emeritierten Professor Thomas Cottier, zustellen, dass Unternehmen, die in ihrem Territorium oder einem Spezialisten für internationales Handelsrecht, ein ihrer Gerichtsbarkeit ansässig sind, bei all ihren Tätigkeiten Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Sein Vorschlag: Die die Menschenrechte respektieren». Eine Abmahnung, auf die Schweiz soll ein neues Aussenwirtschaftsgesetz verab- unser Land wahrscheinlich gerne verzichtet hätte. schieden, das Wirtschaft und Menschenrechte miteinander Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) begründet die verknüpft. Derzeit gilt das Bundesgesetz über aussenwirt- Zurückhaltung der Schweiz mit dem Fehlen einer Gesetzes- schaftliche Massnahmen von 1982. Es besteht aber haupt- grundlage. Der Bundesrat beschränkt sich darauf zu wieder- sächlich aus technischen Verfahrensbestimmungen, be- holen, dass er von den einheimischen Unternehmen die Ein- schränkt sich auf den Schutz der Schweizer Wirtschaft und haltung einer Sorgfaltspflicht erwartet, verweigert sich aber macht keine inhaltlichen Vorgaben für die Politik. weitergehenden Massnahmen. «Ein neues Aussenwirtschaftsgesetz würde als Rahmen- Im Fall von Myanmar, wo der Militärputsch vom 1. Februar werk fungieren, das auf bestehende Gesetze verweist, welche bereits mehr als 760 Tote gefordert hat, die Schweiz aber nur entsprechend angepasst und weiterentwickelt werden müss- geringe wirtschaftliche Interessen hat, sieht es etwas besser ten. Dies gilt insbesondere für das Embargogesetz, das derzeit aus. Dem Beispiel der EU und der USA folgend, hat die Schweiz nur Massnahmen im Falle eines UN-Beschlusses oder Sanktio- nen der Haupthandelspartner, d. h. der EU oder der USA, er- laubt. Die Schweiz verfügt noch über keine Gesetzesgrundlage für eigenständige Wirtschaftssanktionen aufgrund von Men- schenrechtsverletzungen. Inwieweit dies mit anderen Geset- zen vereinbar wäre, wäre noch im Detail zu prüfen», so Cottier. Doch was wäre laut dem früheren Direktor des World Trade Institute der Mehrwert des neuen Gesetzes im Ver- gleich zu den bestehenden Gesetzen? «In der Schweiz gibt es bereits gesetzliche Grundlagen für Durchsetzungsmassnah- men bei Menschenrechtsverletzungen und Korruptions- straftaten: zum Beispiel das Embargogesetz, das Güterkon- trollgesetz, das Kriegsmaterialgesetz, das Rechtshilfegesetz, das Gesetz über unrechtmässig erworbene Vermögenswerte (Potentatengeldergesetz) und das Strafgesetzbuch. In das neue Gesetz müsste aber das gesamte Aussenwirtschafts- recht aufgenommen werden, also auch das Zollrecht und insbesondere das Bundesgesetz über die Gewährung von Zollpräferenzen zugunsten der Entwicklungsländer, das derzeit nicht an Bedingungen geknüpft ist. Die Bundesver- waltung müsste eine Auslegeordnung erstellen, die das be- reits Vorhandene und die Lücken beziehungsweise den Er- gänzungsbedarf sichtbar machen würde.» Damit würden die Kohärenz und Transparenz der schwei- zerischen Aussenwirtschaftspolitik sichergestellt und eine angemessene Reaktion auf eklatante Menschenrechtsver- letzungen ermöglicht, unabhängig davon, welche wirt- schaftlichen Interessen auf dem Spiel stehen. #82 Sommer 2021 15
AGENDA 2030 Stefano Zamagni, italienischer Wirtschaftswissenschaftler und Präsident der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften, erklärt im Interview, weshalb ein Neuanfang mit der Zivilökonomie nicht mehr aufgeschoben werden kann. Lavinia Sommaruga und Valeria Camia «Ungleichheiten sind im System verwurzelt» Stefano Zamagni (ganz rechts im Bild) und verschiedene Kardinäle stellen im Jahr 2009 die päpstliche Enzyklika «Caritas in Veritate» vor: ein Aufruf, in der Wirtschaft auch die Bedürfnisse der Ärmsten zu berücksichtigen. Foto: Vincenzo Pinto / AFP global: Professor Zamagni, bereits im hängen von der Art und Weise ab, wie die Angesichts der wachsenden Kluft Juli letzten Jahres prognostizierte der Regeln für wirtschaftliche, finanzielle zwischen den Reichen und den neuen «Sustainable Development Outlook und politische Institutionen geschrie- «mehrdimensionalen Armen» ist ein 2020», dass bis zu 100 Millionen ben sind. Diese Regeln gehen auf das Jahr Paradigmenwechsel notwendig. Menschen in die Armut abrutschen 1944 zurück, als sich die wichtigsten In- Daran erinnerte uns auch der interna- werden, während laut einem Bericht dustrieländer der westlichen Welt in tionale Kongress «Die Wirtschaft des von Oxfam gleichzeitig eine Zunahme Bretton Woods trafen: Bereits in den Franziskus», der vom 19. bis 21. der Ungleichheiten in allen Ländern 1970er Jahren sahen wir die perversen November 2020 in Assisi geplant und der Welt zu verzeichnen sein wird. Auswüchse dieser Regeln – ich denke da dann virtuell mit Jugendlichen aus der Ist Covid-19, das «Ungleichheitsvirus», an Steueroasen −; danach folgten wei- ganzen Welt durchgeführt wurde. daran schuld? tere. Die Frage der Patentierung von Gü- Ganz genau. Lassen Sie mich zunächst Stefano Zamagni: Die Pandemie hat die tern, die nicht privat, sondern Gemein- betonen, dass die Begriffe «Armut» und Ungleichheit verschärft, aber sie ist güter sind, wurde überhaupt nicht «Ungleichheit» nicht Synonyme sind. nicht die Ursache. Die heutigen Un- behandelt; die katastrophalen Folgen Gleich zu sein, bedeutet nicht, das glei- gleichheiten sind strukturell bedingt; sehen wir heute, in Zeiten der Pandemie. che Leben wie andere zu führen, son- das heisst, sie sind im System verwur- Die Spielregeln beinhalten Anreize für dern sich entscheiden zu können, ande- zelt. Sie sind nicht auf schlechtes Verhal- Unternehmen, im Namen des Profits die ren nicht gleich zu sein. Wenn wir die ten von Individuen und gesellschaftli- Umwelt zu verschmutzen und Regen- Verwirklichung der Gleichheit und so- chen Gruppen zurückzuführen, sondern wälder abzuholzen. mit auch der Diversität erreichen wol- 16 #82 Sommer 2021
len, ist es zwingend notwendig, das der- in zunehmender Zahl vom derzeitigen konkretes Beispiel zu nennen: In Afrika zeitige wirtschaftliche Paradigma System der Marktwirtschaft negativ be- gibt es das Wort «Ubuntu», das in den aufzugeben, das von der Sentenz «homo troffen sind. Nehmen wir die vergange- europäischen Sprachen keine Überset- homini lupus» (Der Mensch ist dem nen Monate, in denen die Pandemie zung hat und sich auf die Fähigkeit be- Menschen ein Wolf ) ausgeht. Es zeigt Giganten wie Google und Amazon er- zieht, gegenseitige Solidarität mit ande- uns, wie man den Reichtum vermehrt, heblich bereichert hat. Diese Unterneh- ren auszudrücken. Diese Reziprozität aber nicht, wie man ihn umverteilt, und men haben ihre Gewinne um Hunderte ist zentral für das Paradigma der Zivil- kann deshalb die grossen Probleme un- Milliarden Dollar gesteigert. Für andere ökonomie, die auch zum Gegenstand serer Gesellschaften nicht lösen. Dies UnternehmerInnen hingegen bedeuten akademischer Forschung in Lateiname- kann stattdessen durch die Übernahme die Pandemie-bedingten wirtschaftli- rika wird. Es bewegt sich etwas, auch des Gedankens der Zivilökonomie ge- chen Einschränkungen enorme Ver- wenn es Zeit brauchen wird, um das schehen, der von der Annahme ausgeht, luste. Die Tatsache, dass wir uns in ei- Erbe des kulturellen Kolonialismus zu dass jeder Mensch von Natur aus ein nem System befinden, das den einen beseitigen, eines Kolonialismus, der so- Freund eines anderen Menschen ist oder anderen bereichert oder verarmt, wohl in der Praxis als auch in der For- («homo homini natura amicus»). Wenn wird immer deutlicher und ist selbst für schung das Paradigma des «homo oeco- ich von der Idee ausgehe, dass die ande- die Geschäftswelt inakzeptabel. nomicus» Kulturen auferlegt hat, für ren potentielle Freunde sind, werde ich die die Maximierung des Eigeninteres- meine Beziehungen (auch ökonomische) Wie Sie erwähnten, haben sowohl das ses ein fremdes Konzept ist. anders gestalten, ohne den Gesamt- Paradigma der politischen Ökonomie nutzen zu maximieren, sondern um das als auch das Paradigma der Zivil Stefano Zamagni ist Professor Gemeinwohl anzustreben. ökonomie ihren Ursprung in Europa: Professor für Politische Kann letzteres auch in anderen Ökonomie an der Universität Wo stehen wir in Bezug auf die geografischen Kontexten funktionieren, von Bologna und für Rezeption dieses Wirtschaftsmodells etwa in Südamerika und anderen Internationale Politische in der Zivilgesellschaft und in armen Ländern der Welt? Ökonomie an der Johns Hopkins der Geschäftswelt? Sicher, denn die Zivilökonomie beruht U niversity (USA). Seit 2019 ist er Präsident Ich glaube, wir können optimistisch auf anthropologischen Voraussetzun- der Päpstlichen Akademie der Sozial sein. Vor allem, weil paradoxerweise die gen und Prinzipien der Organisation wissenschaften und er hat zahlreiche Werke ersten, die ihre Bedeutung verstehen, wirtschaftlicher Tätigkeit, die auch im veröffentlicht, darunter «L’economia civile» die UnternehmerInnen selbst sind, die globalen Süden vorhanden sind. Um ein (mit L. Bruni) und «Disuguali». Zivilökonomie – ein Neuanfang Die wiederkehrenden Wirtschaftskrisen der letzten Institutionen zu stellen. Konkret bedeutet dies, den Jahre haben deutlich gemacht, wie dringend es ist, Fokus bei jeder Entscheidung auf die Folgen für die über ein neues Wirtschafts- und Entwicklungsmo- beteiligten ArbeiterInnen, die Umwelt, die Entloh- dell nachzudenken, das inklusiver, auf das Gemein- nung und die Landnutzung zu richten. wohl ausgerichtet und auf das Glück der Menschen Die Eckpfeiler der Zivilökonomie stehen auch im bedacht ist. Die Zivilökonomie will der Wirtschafts- Zentrum der Agenda 2030, die 2015 von der UN-Ge- tätigkeit ermöglichen, «eine typisch menschliche neralversammlung verabschiedet wurde. Deren 17 Dimension zurückzugewinnen», wie der Wirt- Ziele für nachhaltige Entwicklung unterstreichen die schaftswissenschaftler Luigino Bruni, Förderer und Dringlichkeit eines Kurswechsels und fordern ein Mitbegründer der «School of Civil Economy», be- stärkeres gemeinsames Engagement zum Schutz von tont. Der Staat, der Markt und die Zivilgesellschaft Gesundheit, Bildung, Arbeit, Umwelt und kollekti- sind aufgerufen, Konzepte wie Reziprozität und Re- vem Wohlbefinden. Dieser Aufruf richtet sich an alle: spekt vor der Person in den Mittelpunkt wirtschaft- an die Regierungen, öffentliche Einrichtungen und lichen Handelns, aber auch der Arbeitsmarkt- und an private Organisationen. Auch jede/r Einzelne ist Sozialpolitik, in der Technologie und den politischen eingeladen, den Übergang aktiv mitzugestalten. #82 Sommer 2021 17
UNTERNEHMEN UND ENTWICKLUNG Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen sind ein wiederkehrendes Problem. Lösungsansätze wären vorhanden: Im Juni 2021 jährt sich die Verabschiedung der UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (UNGP) zum 10. Mal. Laurent Matile Ein Jahrzehnt der Inkonsequenz Zwangsarbeit in Fabriken, die für grosse internationale Mar- ken produzieren und mit Internierungslagern für UigurInnen in Xinjiang in Verbindung gebracht werden, oder Geschäfts- verbindungen westlicher Unternehmen mit Konglomeraten, die von der Militärjunta in Myanmar kontrolliert werden: Das Thema Konzernverantwortung ist von grosser Aktualität, in der Schweiz wie anderswo. Im Rahmen ihres Mandats zur Förderung der UNGP hat die UNO-Arbeitsgruppe zu Unternehmen und Menschenrechten ein Projekt gestartet, um die Weichen für ein neues «Aktionsjahr- zehnt» (UNGP10+) zu stellen. Ziel ist es, eine Bestandesauf- nahme des bisher Erreichten vorzunehmen, bestehende Lü- cken und Herausforderungen unter die Lupe zu nehmen und vor allem eine Vision und einen Fahrplan für eine breitere und umfassendere Umsetzung der UNGP bis 2030 zu entwickeln. Das Projekt wird unter anderem von der deutschen Regierung und dem Eidgenössischen Departement für auswärtige An- gelegenheiten (EDA) unterstützt. «Das 10-Jahre-Jubiläum soll ein echter Wendepunkt sein und die Zukunft einläuten, die wir uns wünschen», sagt Anita Ramasastry, Vorsitzende der Arbeitsgruppe. Klima- und Umweltkrisen, in Verbindung mit anderen grossen glo- balen Herausforderungen wie schrumpfendem Handlungs- Arbeitsrechte sind auch Menschenrechte: Südafrikanische spielraum für die Zivilgesellschaft (shrinking civic space), Gewerkschaften protestieren 2018 in Kapstadt. Foto: Nic Bothma / EPA Populismus, Korruption, Konflikte und Fragilität sowie die noch unbekannten menschlichen Folgen der technologi- schen Disruption: Die von Covid-19 ausgelöste sozioökono- mische Krise hat bestehende gravierende Ungleichheiten und Positiv zu vermerken ist, dass die UNGP einen weltweit an- die strukturelle Diskriminierung offengelegt und noch ver- erkannten Massstab darstellen, der festlegt, was Regierun- stärkt. Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable gen und Unternehmen tun müssen, um die Achtung der Development Goals, SDGs) heben verantwortungsvolles Wirt- Menschenrechte in der Wirtschaftswelt zu gewährleisten – schaften als Teil der Lösung hervor. Die drei Säulen der etwas, das es vor 2011 nicht gab. Eines der aussagekräftigs- UNGP geben vor, welche Ansätze es in der Praxis braucht: ten Beispiele ist das zentrale Konzept der Sorgfaltspflicht Staaten müssen die Menschenrechte schützen; Unterneh- von Unternehmen in Bezug auf die Menschenrechte. Dieses men haben die Verantwortung, die Menschenrechte zu ach- Konzept steht nun im Mittelpunkt der regulatorischen Ent- ten; und Opfer müssen Zugang zu einem wirksamen Rechts- wicklungen in Europa und geniesst wachsende Unterstüt- behelf erhalten. zung seitens der Unternehmen und Investoren. Bis heute haben die UNGP zu erheblichen Fortschritten beigetragen; allerdings bleibt noch viel zu tun, damit die darin Lücken der UNGP aus afrikanischer Sicht verankerte Vision von «greifbaren Ergebnissen für die betrof- Gleichzeitig bleiben die Präventionsbemühungen inkonse- fenen Individuen und Gemeinschaften verwirklicht und so zu quent; nur wenige Regierungen gehen über Lippenbekennt- einer sozial nachhaltigen Globalisierung beitragen kann». nisse zu den UNGP hinaus und der Zugang zu Rechtsmitteln 18 #82 Sommer 2021
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