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UNI NOVA Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°133 / Mai 2019 Naher Osten Region in Bewegung. Gespräch Debatte Album Essay Kommunikation Forschung über Tsunamis auf Zur Notwendigkeit in der Medizin. seltene Krankheiten. der Spur. des Erzählens.
Editorial Team An dieser Ausgabe haben mitgearbeitet: Kultur und Krisen. Bürgerkrieg in Syrien, Kämpfe im Irak, der andauernde 1 Konflikt in Israel und Palästina, gewaltsame Demonstratio- nen in Nordafrika – in keiner Weltgegend fliesst derzeit so viel Blut wie im Nahen Osten. Die ganze Region ist ge- prägt von Gewalt und Krieg und präsentiert sich denn auch hoch aufgerüstet: Ihre Länder importieren heute welt- weit am meisten Kriegsmaterial überhaupt. Vom exoti- 2 schen Zauber des sagenumwobenen Orients ist kaum mehr etwas übrig geblieben – er hat sich zum Krisen- und Kon- fliktgebiet gewandelt. Grossmächte, von den USA über Russland bis China, versuchen, sich hier Einfluss zu ver- schaffen. Der Nahe Osten ist zu einem Brennpunkt ge- worden, der die internationalen Schlagzeilen beherrscht. 3 Politische Lösungen sind vorerst nicht in Sicht. Ein Grund dafür ist, dass sich die Auseinandersetzungen und Konflikte äusserst selten an Grenzen halten – Grenzen 1 Maurus Reinkowski ist Professor für Is- irgendwelcher Art. lamwissenschaft und leitet den Fachbe- reich Nahoststudien der Universität Ba- Auch die Wissenschaft befasst sich mit den Entwicklungen sel, der vor genau 100 Jahren als Orien- talisches Seminar gegründet wurde. und der aktuellen Lage der Staaten zwischen Libyen und Seine Spezialgebiete sind die neuere Afghanistan – und versucht etwa die Frage zu beantworten, Geschichte des Nahen Ostens und des wie es zur heutigen Situation gekommen ist. Vorgestellt östlichen Mittelmeers, besonders der werden in diesem Heft einige ausgewählte Forschungspro - Türkei. Seiten 16 – 17 jekte der Universität Basel aus den Fachbereichen Nahost- 2 Basil Gelpke berichtet als reisender TV- studien, Politologie, Geschichte und Religionswissen- Journalist und Filmproduzent über The- schaften. Es sind Blicke der Wissenschaft hinter die aktu- men aus Wirtschaft und Technologie ellen Schlagzeilen. Dasselbe zeigen auch die Fotografien vor allem aus dem asiatisch-pazifischen aus dem Alltag von Menschen im heutigen Kairo, die das Raum. Zu Hause ist er in Zürich und Schwerpunktthema illustrieren. Vielleicht wird damit Kuala Lumpur. In diesem Heft erinnert er sich an seinen Vater Rudolf Gelpke, auch deutlich, dass ein Frieden auch im Nahen Osten nur einen aussergewöhnlichen Basler Islam- dann nachhaltig sein kann, wenn die Zivilbevölkerung forscher. Seiten 26– 27 einbezogen wird. Wir wünschen Ihnen bei der Lektüre viele neue Einsichten ! 3 Nicole Canegata ist eine Werbe-, Reise- und Lifestyle-Fotografin und lebt auf St. Croix, U.S. Virgin Islands. Von dort Christoph Dieffenbacher sind es rund 70 Flugmeilen bis zur Kari- Redaktion UNI NOVA bikinsel Anegada, wo Basler Geologin- nen die Spuren von Tsunamis und Hur- rikans untersuchen. Nicole Canegata hat sie für UNI NOVA mit der Kamera begleitet. Seiten 40 – 49 UNI NOVA 133 / 2019 3
Inhalt Bessere Kommunikation in der Medizin: Zentrum einer grossen Kultur: Die Millionenstadt Kairo ist die Sabina Hunziker im Gespräch, Seite 8 grösste Stadt der arabischen Welt. Naher Osten 6 Kaleidoskop Region in 8 Gespräch Die Aus- und Weiterbildung von Medizinstudierenden und Ärzten in Bewegung. Sachen kommunikative Kompetenz gilt in der Schweiz als vorbildlich. Wichtig sei dabei, auf die Emotionen 16 «In weiter Ferne, so nah». 26 Die Liebe meines Vaters zum der Patienten einzugehen und Dass es sich beim Nahen Osten um Orient. Gefühlen Raum zu lassen, sagt die eine von Europa deutlich abgesetzte Der Basler Islamwissenschaftler und Basler Medizinprofessorin Sabina und entfernte Region handelt, trifft Drogenforscher Rudolf Gelpke war Hunziker. nicht mehr zu. von der orientalischen Welt fasziniert. Eine Spurensuche seines Sohns. 12 Nachrichten 19 Auf dem Sprung in die Moderne. Baubeginn für Sport-Gebäude, Kairo, die ägyptische 22-Millionen- 28 Syrien: Ausstellung im Pharmaziemuseum, Metropole, soll in die Zukunft Nicht ohne die Bevölkerung. Strategie 2022 – 2030. katapultiert werden. Für einen nachhaltigen Frieden muss die Zivilgesellschaft eingebun- 20 Medien und soziale Bewegungen. den werden. Welche Rolle mediale Netzwerke in UNI NOVA Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°133 / Mai 2019 den aktuellen Entwicklungen in 31 Israelische Araber als Ägypten, Marokko, der Türkei und Brückenbauer. Tunesien spielen. Die arabischen Bürger in Israel könnten die Rolle als Vermittler Region in Naher Osten 23 Gibt es «gerechte» Grenzen? einnehmen. Bewegung. Nur wenige Konflikte im Nahen Gespräch Debatte Album Essay Kommunikation in der Medizin. Forschung über seltene Krankheiten. Tsunamis auf der Spur. Zur Notwendigkeit des Erzählens. Osten haben sich an den Grenzen 34 Die andere Mitte. Titelbild entzündet – meist geht es um die Der Nahe Osten wird von aussen im- Die Bilder auf der Titelseite Staatsmacht. mer wieder neu definiert: von Europa und im Dossier dieses Hefts stammen als Zugang zu Asien und vom von der in Kairo arbeitenden Fotografin Dana Smillie. heutigen China als Teil eines gemein- samen Wirtschaftsraums. 4 UNI NOVA 133 / 2019
Inhalt Impressum UNI NOVA, Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel. Herausgegeben von der Universität Basel, Kommunikation & Marketing (Leitung: Matthias Geering). UNI NOVA erscheint zweimal im Jahr, die nächste Ausgabe im November 2019. Das Heft kann kostenlos abonniert werden; Bestellungen per E-Mail an uni-nova@unibas.ch. Exemplare liegen an mehreren Orten innerhalb der Universität Basel und an weiteren Institutionen in der Region Basel auf. KONZEPT: Matthias Geering, Reto Caluori, Urs Hafner REDAKTION: Reto Caluori, Christoph Dieffenbacher ADRESSE: Universität Basel, Kommunikation & Marketing, Postfach, 4001 Basel. Tel. +41 61 207 30 17 E- Mail: uni-nova@unibas.ch GESTALTUNGSKONZEPT UND GESTALTUNG: New Identity Ltd., Basel ÜBERSETZUNGEN: Sheila Regan und Team, UNIWORKS (uni-works.org) BILDER: S. 6: M. Oeggerli/Micronaut 2018, mit Unterstützung von Pathologie, C-CINA/Biozent- rum, I. Krol und N. Aceto, Medizinische Fakul- Spurensuche auf Anegada: Ein Tsunami hat vor 800 Jahren tät, Universität Basel und Universitätsspital die Karibikinsel getroffen, Seite 40 Basel; S. 7: Dawid Skalec/Wikimedia (CC BY-SA 4.0); S. 12: Caesar Zumthor Architekten, Stern Zürn Architekten; S. 21: Ali Sonay, Künstler unbekannt; S. 23: Alexander Balistreri; S. 27: Privatarchiv Basil Gelpke; S. 50: Olivier Braissant, Universität Basel, Departement Biomedical Engineering; S. 53: Universitätsbibliothek Basel, Aleph D X 25:2, S. 1r; S. 56: Miki Bopp-Ito, Uni- versität Basel, IPNA; Omer Rana/Unsplash (CC0); S. 64: Bettina Huber; S. 65: Heidi Potts; S. 67: rawpixel.com/Pexels (CC0); Jean-Marc Nattier: Thalia (1739), Fine Arts Museums of San Fran- cisco, Mildred Anna Williams Collection (CC0); 36 Mein Arbeitsplatz 54 Forschung GregMontani/Pixabay (CC0); Alan R Walker/ Wikimedia (CC BY-SA 3.0). Ultradünne Elastomerfilme aus der Arbeitslos aus Altersgründen. ILLUSTRATION: Studio Nippoldt, Berlin Vakuumkammer eignen sich für Beim Schutz vor Diskriminierung von KORREKTORAT: Birgit Althaler, Basel (deutsche Ausgabe), Lesley Paganetti, Basel (englische viele medizinische Anwendungen. Älteren liegt die Schweiz zurück. Ausgabe). DRUCK: Birkhäuser+GBC AG, Reinach BL INSERATE: Universität Basel, Leitung 38 Debatte 56 Forschung Marketing & Event, E-Mail: bea.gasser@unibas.ch AUFLAGE DIESER AUSGABE: Seltene Krankheiten: Lohnt es Rinder in der Bronzezeit, Auto- 14 000 Exemplare deutsch 1200 Exemplare englisch sich, darüber zu forschen? cockpits und Parkvergehen. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin. Der Gesundheitsökonom und ISSN 1661-3147 (gedruckte Ausgabe deutsch) die Medizinethikerin antworten 57 Bücher ISSN 1661-3155 (Online Ausgabe deutsch) ISSN 1664-5669 (gedruckte Ausgabe englisch) unterschiedlich. Neuerscheinungen von Forschenden ISSN 1664-5677 (Online Ausgabe englisch) ONLINE: der Universität Basel. unibas.ch/uninova facebook.com/unibasel 40 Album instagram.com/unibasel twitter.com/unibasel Tsunamis auf der Spur. 58 Essay Forschende haben auf der Karibik- Kontrollierter Kontrollverlust. insel Anegada Indizien für zwei Das Erzählen ist im gesellschaftlichen grosse historische Tsunamis entdeckt. Diskurs weiter notwendig – auch in Zeiten von «Fake News» und 50 Forschung Verschwörungstheorien. Fiebermessen «en miniature». Anhand winziger Temperatur- 60 Porträt unterschiede lässt sich das Wachs- Ein Erforscher des chemischen tum von Bakterien analysieren. Raums. Der Chemiker Anatole von Lilienfeld 52 Forschung entwickelt neue, schnellere Ein wiederentdeckter Methoden, um die fast unendliche UNI NOVA Anti-Reformator. Welt der möglichen Moleküle gibt es auch in Englisch. Und im Internet: Der Basler Humanist Atrocian schrieb und Verbindungen zu untersuchen. issuu.com/unibasel in polemischen Schriften vergebens unibas.ch/uninova gegen die Reformation an. 62 Alumni 66 Mein Buch 67 Agenda UNI NOVA 133 / 2019 5
Kaleidoskop Metastasen verhindern Gefährlicher Verbund. Schön und schrecklich zugleich: Das Bild zeigt eine Basler Forschende berichten nun von einem Medi- Gruppe von Krebszellen, die aus dem Blut einer kament, das in Labortests eine Auflösung der Cluster Patientin mit Brustkrebs isoliert wurde. Solche Tumor- bewirkt und die Bildung von neuen Metastasen zellen-Cluster sind viel effizienter als einzelne verhindert. Bereits wird eine klinische Studie vor- wandernde Krebszellen, wenn es darum geht, aus bereitet, um die metastasenhemmende Wirkung der dem Primärtumor auszubrechen und anderswo im Medikamente auch bei Patientinnen zu testen. Körper tödliche Metastasen zu bilden. bit.ly/uninova-tumorzellen 6 UNI NOVA 133 / 2019
Kaleidoskop Mikroplastik Abfall in der Antarktis. Lange Zeit galt die Antarktis als ein noch weitgehend unberührtes Ökosystem. In jüngster Zeit ist jedoch klar geworden, dass auch diese abgelegene Region nicht mehr vor Kunststoffabfällen verschont bleibt. An Bord des Eisbrechers Polarstern sammelt die Umweltwissenschaftlerin Prof. Patricia Holm während einer mehrwöchi- gen Expedition Eis- und Wasserproben. Sie sollen zeigen, wie stark das Weddellmeer vor der Antarktis bereits durch Mikroplastik verunreinigt ist und woher die kleinen Kunststoffteilchen stammen könnten. bit.ly/uninova-antarktis Schutzmechanismus Schnelle Reaktion auf Verletzung. Werden Pflanzen verletzt, reagieren sie genauso schnell auf die Beschädigung wie Tiere und Menschen. Das berichten For- schende der Universitäten Basel und Gent in «Science». Für ihr Experiment beschä- digten sie einzelne Wurzelzellen der Acker- schmalwand (Arabidopsis thaliana) mit einem Laserstrahl. Das löste in den Zellen innert Sekunden einen starken Anstieg von Calciumionen aus. Dadurch wird ein bio- chemischer Prozess angestossen, der dazu führt, dass die Pflanzenzellen bereits 30 Sekunden nach der Schädigung ein spezifisches Wundhormon freisetzen. Die- ses alarmiert das benachbarte Gewebe und setzt Prozesse der Immunabwehr und der Geweberegeneration in Gang. Pflanzen wappnen sich so vor Infektionen, für die sie nach einer Verletzung besonders anfäl- lig sind. bit.ly/uninova-pflanzenschaeden UNI NOVA 133 / 2019 7
Gespräch «Ich will möglichst präzise Antworten. Diese sind genauso wichtig wie das vorbehaltlose Zuhören.» Sabina Hunziker, Professorin für Psychosomatik und Medizinische Kommunikation 8 UNI NOVA 133 / 2019
Gespräch « Technische Fortschritte ohne bessere Kommunikation nützen nichts. » Sabina Hunziker bringt angehenden Ärztinnen und Ärzten bei, wie sie mit ihren Patienten und Patientinnen richtig kommunizieren. Wenn jemand viel rede, sei das Wichtigste oft noch lange nicht ausgesprochen, sagt die Medizinprofessorin. Interview: Urs Hafner Foto: Basile Bornand UNI NOVA: Frau Hunziker, ein Patient sitzt und grenzt die Problematik ein. Je nach so weiter. Ich will möglichst präzise Ant- vor Ihnen und hört nicht auf, Ihnen sein Situation wechseln wir zwischen den zwei worten. Diese sind genauso wichtig wie Leid zu klagen. Er redet und redet ziellos Gesprächsformen, der patientenzentrier- das vorbehaltlose Zuhören. Viele Studie- immer weiter. Nervt Sie das? ten und der arztzentrierten. rende denken am Anfang, nur das Zuhö- SABINA HUNZIKER: Das fragen mich meine UNI NOVA: Gehört das Zuhören nicht so- ren sei wichtig. Ein Gespräch besteht aber Studierenden jeweils auch … Es ist wich- wieso zu einer normalen, nicht pathologi- aus beiden Anteilen, zwischen denen je- tig, dass Patientinnen und Patienten ihr schen Kommunikation? Wenn Sie reden weils gewechselt wird. Leiden in ihren Worten an uns herantra- und ich eisern schweige, irritiert Sie das UNI NOVA: Ärzte wirken im Gespräch in gen können. Das hat den Vorteil, dass wir und Sie beginnen ebenfalls zu schweigen. ihrer Praxis oder am Spitalbett oft gehetzt viel über sie erfahren und sie sich Luft HUNZIKER: Natürlich, aber dessen muss und hören nicht gut zu. verschaffen. So können wir uns ein erstes man sich erst einmal bewusst werden, HUNZIKER: Laut Studien unterbricht ein Bild von den Ursachen der Beschwerden gerade im Medizinstudium. Wir üben sol- Arzt seinen Patienten im Schnitt nach machen. Der Nachteil: Unter Umständen che Situationen etwa mit Videoaufnah- 90 Sekunden das erste Mal. Dadurch ge- erzählt der Patient nicht das, was wir für men von Simulationspatienten. Der Pati- hen wichtige Informationen verloren, die unsere Diagnose bräuchten, und viel kost- ent, der viel und im Kreis redet, hat viel- uns helfen, eine Hypothese darüber zu bare Zeit verstreicht. leicht Sorgen, die er nicht artikulieren bilden, welche Ursachen und Beweg- UNI NOVA: Das heisst, Sie unterbrechen? kann oder die ihm nicht bewusst sind. gründe hinter den geschilderten Be- HUNZIKER: Ja, wir strukturieren das Ge- Etwas beschäftigt ihn, aber was? Die Ärz- schwerden stehen. Aber schuld daran ist spräch. Neben dem Abwarten und Zuhö- tin versucht herauszufinden, was hinter nicht nur unsere Ungeduld. Durch den ren erfragen wir spezifische Punkte und dem vielen Reden steckt. Es kann die zunehmenden finanziellen und zeitli- vermitteln gezielte Informationen. Idea- Spitze des Eisbergs sein. chen Druck bleibt uns weniger Zeit, mit lerweise steigt die Ärztin patientenzent- UNI NOVA: Wann genau unterbrechen Sie dem Patienten zu sprechen. Wir wissen riert in das Gespräch ein, das heisst: Sie den Patienten? zum Beispiel, dass ein Assistenzarzt den hört erst einmal aktiv zu. Sie lässt den HUNZIKER: Wenn ich den Eindruck habe, grössten Teil seiner Arbeitszeit für Admi- Patienten reden und schweigt, versichert dass ich nun für die Anamnese und Diag- nistration und Berichte aufbringt. Ander- ihm aber mit knappen verbalen Reaktio- nose mehr wissen muss, stelle ich meine seits gilt auch: Wenn ein Patient viel re- nen wie «Aha», «Verstehe», «Gut» und so Fragen, mit denen ich meiner Hypothese det, ist das Wichtigste noch lange nicht weiter ihre volle Präsenz. Daneben ist nachgehe, die ich aufgrund der mir vor- gesagt. Und man kann ein gutes Gespräch aber auch die arztzentrierte Gesprächs- liegenden Daten und während des Zuhö- auch in kurzer Zeit führen. Unsere Studie- führung wichtig, nämlich dann, wenn rens gebildet habe: Seit wann verspüren renden lernen, wie man die Gesprächssi- klar wird, wo das Problem liegt. Die Fach- Sie den Schmerz, strahlt er aus, von wel- tuation optimal gestaltet, also wie man person übernimmt die Gesprächsführung chen Symptomen wird er begleitet? Und professionell kommuniziert. Dafür gibt es UNI NOVA 133 / 2019 9
Gespräch geeignete Techniken. Man muss wissen, Daher ziehe ich die Besprechung vor der wie und wann man sie einsetzt. Zimmertür mit der anschliessenden pati- UNI NOVA: Sie sind Professorin und stell- entenfreundlichen Version vor. Nach Ab- vertretende Chefärztin für Psychosoma- schluss der Studie werde ich mehr wissen. tik und Kommunikation. Wie reagiert ein UNI NOVA: Oft heisst es, die Ärzte würden Chirurg, wenn Sie ihm erzählen, was Sie ihren Patienten die Befunde nicht ver- machen – nimmt er das ernst, hört er Ih- ständlich erklären – diese seien zu dicht nen überhaupt zu? formuliert und mit zu vielen Fachbegrif- HUNZIKER: Natürlich stosse ich manchmal fen gespickt. auf Skepsis, aber die Akzeptanz für die HUNZIKER: Dass wir dem Patienten unser Bedeutung der Kommunikation in der Wissen verständlich und geduldig darle- Medizin hat in den letzten Jahren zuge- gen, gehört ebenso zur professionellen nommen. In den 1970er-Jahren war das Sabina Hunziker Kommunikation wie das Aushalten hefti- Thema noch exotisch. Heute sind mehr ist seit 2016 Professorin und ger Reaktionen, zum Beispiel Wut, Ent- Offenheit und Interesse da für die Gestal- stellvertretende Chefärztin für Psycho- täuschung und Trauer. Studien zeigen, tung der professionellen Gesprächsfüh- somatik und Medizinische Kom- dass viele Ärztinnen und Ärzte dazu nei- munikation an der Universität Basel. rung, ebenso das Bewusstsein dafür, dass gen, das Aufkommen von Emotionen – Sie ist in Lehre, Forschung und ein guter Arzt nicht nur über medizini- Klinik tätig. Hunziker studierte in Basel auch der eigenen – mit Informationsver- sches Wissen, sondern auch über kom- Medizin und schloss 2005 mit mittlung zu verhindern oder davon abzu- munikative Fertigkeiten verfügt. Unsere dem Doktorat ab. Nach der Assistenz- lenken. Wir sind darauf getrimmt, Fakten Patienten erwarten dies. Darum mag ich zeit arbeitete sie als Oberärztin in mitzuteilen. Doch wenn sich der Patient der Inneren Medizin und der Intensiv- es nicht, wenn man die kommunikativen nicht artikulieren kann und der Arzt ihn medizin, erwarb während eines Fähigkeiten als «Soft skills» bezeichnet. zweijährigen Masterstudiums an der überinformiert, klappt die Kommunika- UNI NOVA: Sie müssen die Fähigkeiten em- Harvard Medical School in Boston tion nicht. Das Problem – die Krankheit, pirisch erhärten. (USA) einen Master of Public Health das Leiden – wird nicht angegangen. Wir HUNZIKER: Wir streben die sogenannte evi- und bildete sich in psychosomati- wissen aus der Forschung, dass sich grobe scher und psychosozialer Medizin wei- denzbasierte Kommunikation an, das kommunikative Fehler im Verlauf der ter. 2012 habilitierte sie sich. Die heisst, wir erforschen sie mit randomi- vor 30 Jahren aufgebaute Abteilung Arzt-Patienten-Beziehung kaum mehr sierten Studien. Wir weisen Kausalitäten Medizinische Kommunikation gutmachen lassen und einen entschei- nach: Wenn der Arzt Technik X benutzt, gilt in der Schweiz als vorbildlich. denden Einfluss auf das Wohlbefinden hat das für die Patientin Folge Y. Im Mo- und die Gesundheit der Patienten haben. ment wird beispielsweise erforscht, ob die UNI NOVA: Wenn der Patient in Tränen Vorbesprechung der Visite vor der Spital- ausbricht, etwa nach einer Krebsdiag- zimmertür mit einer anschliessenden nose, berühren Sie ihn dann, um ihn zu patientenfreundlichen Version im Zim- trösten? mer besser ist für die Patienten – oder ob HUNZIKER: Es gibt hierfür keine Regel. neu die ganze Visite an deren Bett durch- Manche Ärzte legen in dieser Situation zuführen ist. Dahinter steht die Überle- die Hand auf den Arm des Patienten, an- gung, dass wir dem Patienten viel Zeit deren ist das zu intim. Wichtig ist, dass widmen, wovon er aber nicht viel mitbe- die Reaktion authentisch ist. Mit dem kommt. Anderseits könnte er sich durch Überbringen von schlechten Nachrichten die akademische Diskussion eingeschüch- sprechen die Ärzte kritische und oft le- tert fühlen oder verunsichert sein oder bensverändernde Themen an. Daher ist merken, dass sich die Assistentin irrt, und hier neben der medizinischen Informa- daher fälschlicherweise auf deren Inkom- tion die empathische Kompetenz äusserst petenz schliessen. Das ist eine wichtige, wichtig. Die Diagnose einer unheilbaren aber noch nicht geklärte Frage. Krebserkrankung zum Beispiel hat einen UNI NOVA: Welche Variante ziehen Sie vor? enormen Einfluss auf die Lebensqualität HUNZIKER: Unsere Patienten werden mit des Patienten. Sie ändert dessen Lebens- sehr viel für sie neuen und unbekannten und Zukunftsperspektive schlagartig. Informationen konfrontiert. Möglicher- Was und wie wir kommunizieren, ist da- weise wird dies noch verstärkt durch die her besonders wichtig. Aus einer Studie akademische Diskussion am Bett, wenn zu Angehörigen von Patienten, die einen sie nicht alle Begriffe verstehen und es so Herzkreislaufstillstand hatten und wie- zu Missverständnissen kommen kann. derbelebt werden mussten, wissen wir, 10 UNI NOVA 133 / 2019
Gespräch dass die Kommunikation der Angehöri- ale und kommunikative Kompetenzen tion unter Ärzten und Ärztinnen. Studien gen mit dem Behandlungsteam ein wich- wie in den USA. Ich könnte mir vorstel- zu Notfalleinsätzen zeigen, dass das rich- tiger Faktor dafür war, wie häufig die Be- len, dass die kommunikativen Kompe- tige Verhalten der Ärzte die Performance troffenen posttraumatische Belastungs- tenzen künftig mitgetestet werden. Das ihrer Teams entscheidend verbessert. störungen, Depressionen oder Angststö- Medizinstudium und der medizinische Eine gute Führungskommunikation hat rungen entwickelten. Beruf sind hingegen auch aus intellektu- zur Folge, dass der Einsatz mit weniger UNI NOVA: Was lehren Sie Ihre Studieren- eller Sicht anspruchsvoll. Es braucht viel Unterbrechungen verläuft und zum Bei- den für einen solchen Fall? Fleiss und Ehrgeiz, um zu bestehen. spiel die Reanimation von Betroffenen HUNZIKER: Man muss das Gespräch gut Auch später, im Arztberuf, muss man früher einsetzt. vorbereiten, damit man über alle vorlie- Stressoren bewältigen. Daher ist es wich- UNI NOVA: Die Medizin wird heute stark genden Befunde informiert ist und weiss, tig, dass Studierende diese früh aushal- bestimmt von der Technik: von compu- wie viel die Angehörigen und die Patien- ten. An der Universität Basel haben wir tergesteuerten Instrumenten und grossen ten wissen. Die Information sollte kurz ein Curriculum, das während des ganzen Datenmengen, sei es zu Krankheiten oder und verständlich übermittelt werden. Studiums kommunikative und soziale zu den Patienten. Manche Ärzte schauen Zentral ist, auf Emotionen einzugehen Kompetenzen vermittelt. Das ist schweiz- daher in der Sprechstunde öfter auf den und diesen Raum zu lassen. weit einmalig. Bildschirm als in das Gesicht des Patien- UNI NOVA: Im Medizinstudium wird vor UNI NOVA: Das Nationale Forschungspro- ten. Ist die Technik die Feindin der Kom- allem gebüffelt. Wer nicht genug auswen- gramm «Lebensende» hat ergeben, dass in munikation? dig lernt, schafft den Numerus clausus den Spitälern die Kommunikation zwi- HUNZIKER: Nein, im Gegenteil: Die Fort- nicht. Geduld und soziale Kompetenzen schen den Ärzten verschiedener Abteilun- schritte der Technik, welche die Heilung aber werden nicht geprüft. Verläuft die gen oft nicht gut läuft, also wenn es zum vieler Krankheiten vorantreibt, verlangen Selektion falsch? Beispiel darum geht, wo vor dem Tod von uns, dass wir kommunikativ besser HUNZIKER: Es ist nicht einfach, eine gute stehende Kranke zu betreuen sind. werden, sonst nützen sie nichts. Die Tech- Selektion zu treffen. In der Schweiz prüft HUNZIKER: Das ist ein wichtiger Punkt: nik stellt an uns Ärztinnen und Ärzte der Numerus clausus vor allem die intel- Professionelle Kommunikation in der höhere kommunikative Herausforderun- lektuellen Fertigkeiten, nicht aber sozi- Medizin betrifft auch die Kommunika- gen denn je. Daran arbeiten wir. Dabei sein und Talente der Jugendlichen fördern: Lehrpersonen der Sekundarstufe II unterrichten an Gymnasien, Fach- und Berufsmittelschulen. Angebotene Fächer: Deutsch, Englisch, Französisch, Geographie, Geschichte, Mathematik, Pädagogik/Psychologie, Philosophie und Sport. Jetzt zum praxisnahen Studium in Luzern anmelden: Xwww.phlu.ch/sekundarstufe-2 SEK-II-Lehrer/-in werden. UNI NOVA 133 / 2019 11
Nachrichten Medizintechnik, Sport-Neubau, Quantenwelt. Neubau im Baselbiet Baubeginn für Sport-Gebäude. Mitte April haben die Bauarbeiten für den Neubau des Departements Sport, Bewe- gung und Gesundheit begonnen. Das Ge- bäude kommt neben der St. Jakobshalle zu stehen und soll 2021 in Betrieb gehen. Der Neubau deckt zum einen den Raum- bedarf, der durch das Wachstum von Sportwissenschaft, Sportmedizin und Trainingswissenschaft entstanden ist. Zum anderen werden darin die Räumlich- keiten des Departements zusammenge- führt, die heute in der und um die St. Ja- kobshalle verteilt sind. Das neue Gebäude bietet Platz für rund 600 Studierende und 100 Mitarbei- tende. Es umfasst Lehr- und Lernräume, Labors und Büros, Gymnastik- und Krafträume sowie eine unterteilbare Ausstellung Sporthalle. Errichtet wird der Neubau auf dem Gebiet der Gemeinde Münchenstein, Medizin in der vierten womit eine weitere universitäre Einheit im Trägerkanton Baselland angesiedelt Dimension. wird. Die moderne Lange Zeit blieben die Vorgänge in unserem Körperinneren so Bildgebung schafft verborgen wie etwa die Oberfläche des Mars. Vor 500 Jahren ungeahnte Einblicke begannen einige unerschrockene Anatomen damit, das zu än- in das bewegte Innere des leben- dern. In den lebenden Körper aber konnten sie nicht hineinse- den menschlichen hen. Erst die Röntgenstrahlen machten das Skelett im Inneren Körpers. eines sich bewegenden Menschen sichtbar, doch verseuchten sie ihn dabei mit radioaktiver Strahlung. Die Ausstellung «Bewegte Einblicke» im Pharmaziemuseum Basel zeigt, welche Möglichkeiten die moderne Medizintechnik eröff net: So haben Basler Forschende ein Verfahren entwickelt, dank dem sich die Bewegungen im Körperinneren heute schad- los in dreidimensionalen Filmen festhalten lassen. Die Ausstel- lung lädt ein, den Platz eines Chirurgen oder einer Chirurgin einzunehmen und sich über Organbewegungen, Echtzeitverfol- gung und neue Behandlungsmassnahmen zu informieren. Sie ist noch bis zum 2. Juni 2019 zu sehen. bewegte-einblicke.ch 12 UNI NOVA 133 / 2019
Das Magazin Strategie 2030 für noch Start der Vernehmlassung. mehr Wissen. In den vergangenen Monaten haben Universitätsrat und Universitätsleitung unter Einbezug verschiede- Gratis abonnieren. ner Gruppierungen die Strategie 2022–2030 erarbei- tet. Den Rahmen für einzelne Zielsetzungen und Massnahmen bilden vier strategische Leitlinien. Diese zielen darauf ab, die Agilität fördern, die Universität weiter zu öff nen, die Identifikation mit der Universi- tät zu stärken und die Standortvorteile zu nutzen. UNI NOVA Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°133 / Mai 2019 Im April hat der Universitätsrat den Entwurf in die universitäre Vernehmlassung geschickt, und im Herbst 2019 soll die definitive Fassung verabschiedet werden. Die Strategie bildet die Grundlage, auf wel- cher der Antrag an die Trägerkantone für die Leis- Das Wissenschaftsmagazin tungsperiode 2022–2025 erstellt wird. der Universität Basel Naher Osten unibas.ch/strategie Region in bequem nach Hause erhalten. Bewegung. Einfach und kostenlos im Gespräch Kommunikation Debatte Forschung über Album Tsunamis auf Essay Zur Notwendigkeit Internet bestellen. in der Medizin. seltene Krankheiten. der Spur. des Erzählens. unibas.ch/uninova European Campus Coupon ausschneiden und senden an: Vereint ins Universität Basel, Kommunikation, Petersgraben 35, Postfach, 4001 Basel UNI NOVA erscheint zweimal im Jahr. Quantenreich. Bitte senden Sie mir UNI NOVA in folgender Sprache: Die Europäische Kommission hat 4,2 Millionen Euro Deutsch Englisch für den Aufbau einer trinationalen Doktoratsausbil- dung in den Quantenwissenschaften bewilligt. Am Bitte senden Sie UNI NOVA an: Projekt «Quantum Science and Technologies at the European Campus» sind die Universitäten Basel, Frei- burg und Strassburg sowie das Karlsruher Institut für Name, Vorname Technologie und die Forschungsabteilung des IT- Konzerns IBM in Zürich beteiligt. Gemeinsam er- möglichen sie 39 jungen Wissenschaftlerinnen und Strasse, Hausnummer oder Postfach Wissenschaftlern eine Promotion in der Zukunfts- technologie der Quantenforschung. Das Projekt hat PLZ, Ort eine Laufzeit von fünf Jahren und ein Gesamtvolu- men von 9,1 Millionen Euro und wird neben der Europäischen Union von den beteiligten Partneror- E-Mail ganisationen sowie von Santander Universities ge- fördert. Datum, Unterschrift 13
Dossier Naher Osten. 14 UNI NOVA 133 / 2019
Dossier Region in Bewegung. Fotos: Dana Smillie Der Nahe Osten ist von den westlichen Kulturen jahrhunderte- lang als der geheimnisvolle, exotische Orient verklärt worden. Dabei präsentierte er sich schon immer als eine dynamische und damit äusserst krisen- anfällige Gegend – was sich noch heute in den zahlreichen Konflikten zeigt. Seite 20 Seite 28 Seite 34 Durch neue Medien Im Syrienkonflikt haben Mit seinem Projekt werden auch Themen 500 000 Menschen ihr einer neuen Seiden- wie Partizipation, Leben verloren. Und strasse möchte China Vielfalt und Demokratie eine politische Lösung den Nahen Osten im öffentlichen ist noch immer nicht zum Teil eines riesigen Diskurs präsent. in Sicht. Wirtschaftsraums machen. UNI NOVA 133 / 2019 15
Dossier «In weiter Ferne, so nah»: Der Nahe Osten. Im heutigen Machtvakuum in der Region zwischen Libyen und Afghanistan stecken weite Gebiete und ganze Staaten in der Dauerkrise. Gleichzeitig rücken die Konflikte im Nahen Osten näher an Europa heran. Text: Maurus Reinkowski A m Fortbestand des Nahen Ostens, so wie wir von Marokko bis Pakistan und von der Türkei bis ihn kannten, gibt es neuerdings Zweifel. Die zum Sudan. Engere Raumbezeichnungen sind eben- Zukunft des seit dem Jahr 2003 unablässig falls möglich: So liessen sich der Maghreb und Län- von Gewalt und Krieg geplagten Iraks liegt im Unge- der wie Pakistan und der Sudan mühelos ausschlies- wissen. Noch weniger absehbar ist, ob Syrien, in dem sen. Wenn die Grenzen des Nahen Ostens so schlecht seit 2011 Krieg herrscht, Bestand haben wird. Libyen zu fassen sind, dann muss – so darf man folgern – der und Jemen sind keine handlungsfähigen Staaten Begriff in sich selbst sehr vage sein. Das stimmt aber mehr, sondern dienen als Gefässe verworrener Kon- nicht; der Nahe Osten hat einen klaren Bedeutungs- fliktlagen. Viel weiter gelangen die Einsichten meist kern. nicht, denn die Entwicklungslinien in eine andere, neu geordnete Region sind nicht einfach einzuschät- Wechselnde Ordnungsmächte zen. Vor vorläufigen Überlegungen jedoch, was der Erstens: Der harte regionale Kern des Nahen Ostens Nahe Osten heute ist und in Zukunft sein könnte, stimmt weitgehend mit den ehemaligen Herrschafts- sollten wir uns der Frage zuwenden, was der Nahe gebieten des Osmanischen Reichs überein – von Li- Osten bisher gewesen ist. byen über Israel / Palästina bis Irak, einschliesslich Für den Nahen Osten lassen sich unterschied- des Jemens und des westlichen Saudi-Arabiens. Das lichste Raumangaben finden. Man kann die Region Osmanische Reich, nach dem Ersten Weltkrieg auf sehr weit fassen und sagen, der Nahe Osten reiche der Seite der Verlierer stehend, musste seine Herr- schaftsgebiete in der östlichen arabischen Welt abge- ben. Sie gelangten grösstenteils als sogenannte «Man- date» des Völkerbunds an Frankreich und Grossbri- tannien. Unter diesen beiden Grossmächten war es « Aus europäischer eindeutig Grossbritannien, das nach dem Ersten Weltkrieg die Region unter seine strategische Kont- Sicht war der rolle nahm. Nahe Osten über Und damit kommen wir zum zweiten Bedeu- tungskern: Bestimmend ist für den sich nach dem Jahrzehnte hinweg Ersten Weltkrieg ausbildenden Nahen Osten immer zuverlässig gewesen, dass in der Region eine imperiale Ord- nungsmacht dominierte. Bis zum Ende des Zweiten unberechenbar.» Weltkriegs war dies Grossbritannien, danach über- Maurus Reinkowski nahmen die Vereinigten Staaten von Amerika diese Rolle, mitunter und meist wenig erfolgreich von der Sowjetunion angefochten. Es ist dieses Zusammen- 16 UNI NOVA 133 / 2019
Dossier spiel von imperialer Hegemonie bei gleichzeitiger Jemen bilden diese grundlegenden Veränderungen relativer Unbestimmtheit der Region, das den Bedeu- eher ab, als dass sie primäre Ursache gewesen wären. tungskern des Nahen Ostens ausmachte. Genauer gesagt, die Unbestimmtheit des Begriffs Neue Migrationsrouten hatte den Vorteil, ein auf die Region bezogenes poli- Das erste Mal seit dem Ersten Weltkrieg gibt es nie- tisches Handeln sowohl angezeigt als auch offen er- manden mehr, der eine klare hegemoniale Füh- scheinen zu lassen. Die Eisenhower-Doktrin von 1957 rungsrolle im Nahen Osten einnehmen will und war die erste US-amerikanische Doktrin, die sich di- kann. Die Folgen einer in diesem Machtvakuum neu rekt auf den Nahen Osten bezog und sich den Schutz entstehenden instabilen Ordnung von «Teil-Herr- der Region vor sowjetischem Einfluss zum Ziel setzte. schenden», wie Iran, Russland, Saudi-Arabien oder Die Schwammigkeit des Begriffs «Naher Osten» war der Türkei, lassen sich am schier endlosen Krieg in hierbei von besonderer Hilfe, weil sich damit die USA Syrien ablesen. das Recht vorbehielten, in einer nur schwach kontu- Für Europa und die Schweiz bedeutet dies, dass Maurus rierten Region überall dort zu intervenieren, wo sie der Nahe Osten näher gerückt ist und «seine» Kon- Reinkowski ihre Interessen gefährdet oder neue Chancen für sich flikte mittelbar auch jene Europas geworden sind. ist Professur für entstehen sahen. Die Grenzen des Nahen Ostens ver- Neue Kommunikationsräume mit und Migrations- Islamwissenschaft an der Universi- änderten sich also gemäss den strategischen Interes- routen nach Europa sind entstanden: Die Balkan- tät Basel. Nach dem sen der in der Region engagierten Grossmächte. Mit route wäre für Flüchtlinge und Migranten in den Studium der anderen Worten: Gerade die Unschärfe des Begriffs 1980er-Jahren noch eine einzige Abfolge von unüber- Islamwissenschaft, begründete seine Beharrungskraft. windlichen Grenzen gewesen. der Turkologie Disziplinen, die sich mit der Geschichte und Po- und der Arabistik in München, Istan- Kontrollierte Distanz litik der Region beschäftigen, wie der Fachbereich bul und Wien arbei- Aus europäischer Sicht war der Nahe Osten über Nahoststudien an der Universität Basel, der dieses tete er an den Uni- Jahrzehnte hinweg zuverlässig unberechenbar: Es Jahr auf sein 100-jähriges Bestehen zurückblickt, sind versitäten Bamberg gehörte zu seinen grundlegenden Charakteristika, keine Orchideenfächer mehr. Sie beschäftigen sich und Freiburg/Br. dass er eine krisenanfällige Region war, dass aber heute fast durchwegs mit dornigen Fragestellungen Er lehrt und forscht vor allem über diese Konflikte kaum direkte Wirkungen nach aus- und stehen bei Fragen der Stabilität und Zukunft die neuere Geschich- sen zeigten. Der Nahe Osten war vielleicht nicht in Europas mit in der Verantwortung. te des Nahen weiter Ferne, aber unmittelbar an «uns» dran war er Ostens und des öst- auch nicht. Der Nahe Osten zeigte damit immer die Überholte Raumkonzeptionen lichen Mittelmeer- Grundcharakteristika einer kontrollierbaren Konflikt- Den Vereinigten Staaten wird es – allerdings um den raums und gilt als ausgewiesener anfälligkeit und einer kontrollierten Distanz. Preis einer abnehmenden weltpolitischen Bedeu- Türkei-Experte. Soll das eine entscheidende Ergebnis benannt tung – gelingen, sich den Folgen eines sich offen- werden, das die Dinge grundsätzlich änderte, dann sichtlich neu konstituierenden Nahen Ostens weitge- wäre es die Besetzung Iraks im Jahr 2003 durch die hend zu entziehen. Die europäischen Staaten haben USA und ihre willigen Partner. Die US-amerikanische diese Möglichkeit nicht. Der bisher so vertraute Nahe Nahostpolitik war bis dahin immer zurückhaltend Osten als Region permanenter Krisen, die aber in gewesen und hatte nicht auf Regimewechsel, son- scheinbar naturgegebener Weise keine direkten dern auf den (in der Binnensicht dieser Politik: not- Rückwirkungen auf die europäischen Gesellschaften wendigen) zynischen Erhalt gegebener politischer haben, ist nicht wieder zu haben. Strukturen gesetzt. Der US-amerikanische Einmarsch Die realpolitischen Züge europäischer Politik im Irak 2003 widersprach dieser Politik einer zurück- werden sich in der Zukunft stärker bemerkbar ma- haltenden und kühl berechnenden Vorherrschaft. chen. Bemerkenswert ist jedenfalls an der Entwick- Die Konsequenzen dieser Fehlentscheidung – ab- lung der letzten Jahre die Entgrenzung und die Auf- lesbar am Staatszerfall des Iraks und in der Folge hebung bisher existierender Raumkonzeptionen, auch Syriens, der Stärkung Irans als Regionalmacht mit denen der Westen im Nahen Osten viele Jahr- und am Aufstieg von Organisationen wie dem Islami- zehnte vielleicht bisweilen im Dunkeln tappend, schen Staat – prägen die US-amerikanische Nahost- aber dennoch leidlich erfolgreich Politik betrieb. Das politik bis heute. Sie haben die epochalen Tendenzen bisherige Grundverständnis, dem zufolge es sich des US-amerikanischen Rückzugs aus seiner Rolle als beim Nahen Osten um eine von Europa deutlich ab- globaler Herrscher beschleunigt. Die im Dezember gesetzte und entfernte Region handelt, lässt sich je- 2010 in Tunesien ihren Ausgang nehmende «Arabel- denfalls nicht mehr halten. lion» und ihre Entgleisungen in Libyen, Syrien und UNI NOVA 133 / 2019 17
Dossier Dana Smillie arbeitet seit über 20 Jahren als Foto- grafin und Video- autorin in Kairo unter anderem für inter- nationale Printmedien und Fernsehstationen. Eines ihrer Strassen- foto-Projekte trägt den Titel «Freitag in der Stadt». Ihre Foto- grafien zum Heftdossier zeigen Alltagsszenen der ägyptischen Metropole. 18 UNI NOVA 133 / 2019
Dossier Alltag in Kairo Auf dem Sprung in die Moderne. Text: Astrid Frefel K airo, die lärmige, emissionsbelas- tete, chaotische ägyptische 22-Mil- lionen-Metropole, soll in die Mo- derne katapultiert werden, soll ein «zivi- lisiertes» Aussehen erhalten. Die trostlo- sen unverputzten, rostbraunen Backstein- fassaden, die das «unzivilisierte» Stadtbild prägen, müssen verschwinden. So will es Präsident Abdelfattah al-Sisi. Deshalb hat er angeordnet, dass alle Häuser einheit- lich gestrichen werden müssen. Die Wahl des Farbtons fiel auf ein dunkles Beige. Doch diese Massnahme ist nicht viel mehr als Kosmetik. Sisis Vision der Mo- derne nimmt gegenwärtig auf einer gi- gantischen Baustelle rund 40 Kilometer südöstlich des Stadtzentrums Gestalt an. Dort entsteht die neue Verwaltungshaupt- stadt. Bis jetzt firmiert sie unter der eng- lischen Abkürzung NAC (New Administra- tive Capital). Sie ist der Gegenentwurf zum historisch gewachsenen Strassenge- wirr. Sie soll alles sein, was Kairo bisher nicht ist: sauber, grün, smart und ver- kehrsarm, bargeldlos und von Kameras überwacht. Jeder Beamte und jede Beam- tin, die es in diese schöne neue Welt schaffen, müssen neben Englisch auch die neusten Technologien beherrschen. Der Präsident hat versprochen, die NAC werde dazu beitragen, den zivilisierten Charakter Ägyptens zu zeigen, und sie bedeute einen Quantensprung in der Ent- wicklung zum modernen, urbanen Ge- meinwesen einer neuen Generation. Träumen ist erlaubt. Bei einem Augen- schein auf der Baustelle kommt der Besu- cherin als Erstes ein feuerrotes Tuktuk entgegen, eines dieser Dreiräder, die in den letzten Jahren zu Hunderttausenden die Strassen unsicher machen. Und der Müll ist auch nicht verschwunden. Aus Kairo wird wohl nicht so bald ein Dubai am Nil. UNI NOVA 133 / 2019 19
Dossier Medien und soziale Bewegungen. Der Politikwissenschaftler und Nahostspezialist Ali Sonay von der Universität Basel forscht zu aktuellen Entwicklungen in Ägypten, Marokko, der Türkei und Tunesien – und darüber, welche Rolle die Medien dabei spielen. Text: David Hermann V on Casablanca bis Ankara, von Twitter bis ostforschung. Sicherheit und Terrorgefahr, Extremis- zum Radio: Ein Gespräch mit Ali Sonay mus, Fundamentalismus und Autoritarismus waren gleicht einer Reise durch Nordafrika und den hier jahrelang die bestimmenden Themen, gerieten ganzen arabischen Raum bis in die Türkei und quer aber nach den Ereignissen im Arabischen Frühling in durch die aktuelle Zeit- und Mediengeschichte. Der den Hintergrund. Das veränderte auch die öffentli- wissenschaftliche Mitarbeiter am Fachbereich Nah- che Wahrnehmung: Die Region ist heute – trotz vie- oststudien untersucht Muster von sozialen Bewegun- ler eher negativer Nachrichten – auch mit Themen gen und die Rolle der Medien im Mittleren Osten und wie Partizipation, Vielfalt und Demokratie im öffent- Nordafrika. lichen Diskurs präsent. So schafft die mediale Be- Am Anfang stand für ihn der Arabische Frühling richterstattung auch neue Realitäten. Ali Sonay in Ägypten im Jahr 2011, der auf die Proteste in Tune- ist wissenschaftlicher sien folgte. Sonay war damals mit seiner Doktorar- Mitarbeiter am Fehlende Strukturen beit mitten drin: Er interessierte sich vor allem für Fachbereich Nahost- In Ägypten hat sich acht Jahre nach dem Arabischen die Bedeutung von Netzwerken zur Mobilisierung studien der Frühling heute an der Oberfläche wenig geändert: Universität Basel. und Organisation der Proteste. Er sagt, die Jugendbe- Armut und Arbeitslosigkeit sind immer noch gross. In seiner Promotion wegung des 6. April sei bei den Entwicklungen in behandelte er «Das aktuelle Regime von al-Sisi unterdrückt unab- Ägypten von grosser Bedeutung gewesen. Sie geht soziale Bewegun- hängige Medien, vor allem im Internet, und lässt zurück auf eine Facebook-Gruppe, die zur Unterstüt- gen im Nahen zum Beispiel grosse Facebook-Gruppen per Gesetz zung eines Arbeiterstreiks schon 2008 gegründet Osten im Zug der überwachen», beschreibt Sonay die Situation. Trotz- Umwälzungen von worden war. Nach kurzer Zeit hatte diese Gruppe dem sei ein Bewusstsein für Demokratie gewachsen. 2011 anhand der mehr als 70 000 Unterstützer. ägyptischen Daraus schöpft der Forscher Hoff nung für Ägypten: Jugendbewegung «Im Arabischen Frühling waren Pluralismus und Par- Digitale Mobilisierung des 6. April. Er tizipation wichtige Werte. Es ist wohl eine Frage der Über das digitale Netz mobilisierte die Facebook- untersuchte auch Zeit, bis die Revolution wieder zum Leben erwacht.» zeitgenössische Gruppe Teile der Bevölkerung zu den Protesten ge- Es fehlte der Bewegung damals an der nötigen Stabi- Mediendynamiken gen das damalige Regime Hosni Mubaraks. Sonay in der Türkei, lität, sagt Sonay: «Wenn ein Protest so offen angelegt betont aber auch die Bedeutung der Cafés und der Tunesien und ist wie die Jugendbewegung des 6. April, mangelt es Strasse als Orte der Begegnung und des Austauschs: Marokko. oft an den nötigen Strukturen, um ihn zu institutio- «Hier wuchsen Beziehungen und Ideen, die später nalisieren. Das beobachten wir auch bei anderen so- über Facebook und Twitter verbreitet wurden.» zialen Bewegungen.» In Ägypten sei die Revolution Sonays Forschung erhält heute viel Aufmerksamkeit, letztlich an der fehlenden Strategie der Akteure ge- denn mit dem Fokus auf soziale Bewegungen setzt er scheitert, sich am formalen politischen Prozess zu einen anderen Schwerpunkt als die etablierte Nah- beteiligen. 20 UNI NOVA 133 / 2019
Dossier Unterschiedliche Bedingungen Während seines Postdocs an der Universität Cam- bridge untersuchte Sonay zeitgenössische Mediendy- namiken in Tunesien, der Türkei und Marokko. Er legt Wert auf eine differenzierte Betrachtung des arabischen Raums. Es sei zum Beispiel falsch, aus den Entwicklungen in Ägypten Rückschlüsse auf die ganze Region zu ziehen: «Jedes Land hat andere wirt- schaftliche, gesellschaftliche und mediale Rahmen- bedingungen, und das verändert auch die sozialen Bewegungen.» In Marokko antizipiere das Königshaus immer wieder geschickt veränderte gesellschaftliche Ent- wicklungen und tausche als Reaktion darauf zum Beispiel den Premierminister aus. So bleibe der Kö- nig im Hintergrund, und nur die Politiker müssten die ganze Kritik einstecken. Trotz repressivem Sys- tem mit stark eingeschränkter Pressefreiheit gilt das Land als stabil und geniesst ein positives Image. «Da- bei wurde etwa eine italienische Überwachungsfirma engagiert, und mit gezielten Angriffen wurden die unabhängigen marokkanischen Onlinemedien ge- schwächt», sagt Sonay. Kairoer Spray-Graffiti vom Oktober 2012: Eine «Joker»-Figur zieht eine In Tunesien zeigt sich ein leicht anderes Bild: Karte mit dem damaligen ägyptischen Präsidenten Mohamed Morsi, einem Vertreter der fundamentalistischen Muslimbrüder. Nach der Jasmin-Revolution von 2010 und 2011 ent- standen zahlreiche private Medien. Einige gehören heute wichtigen Wirtschaftsvertretern mit grosser Nähe zu den politischen Entscheidungsträgern. Trotz dieser Verflechtungen gelten die Medien als relativ frei. Zeitungen, Radio- und TV-Sender bestimmen hier, wie im ganzen arabischen Raum, die öffentliche Debatte. Diese sei von einer grossen Angst vor syri- schen oder jemenitischen Zuständen im eigenen ser wurden in letzter Zeit aufgekauft und von regie- Land geprägt. Staats- oder regierungskritische Stim- rungsnahen Wirtschaftsführern übernommen. Seit- men würden mit Verweis auf solche katastrophale her berichten sie immer einseitiger und immer Alternativen stumm gestellt. Auch auf den transnatio- stärker mit nur auf ihre politische Basis zugeschnit- nalen Fernsehsendern Al Arabiya und Al Jazeera sind tenen Argumenten.» Zwar bildet das Internet mit ei- diese Konflikte sehr präsent. ner aktiven Twitter-Szene und kritischen Blogs ein «Trotz einer unruhigen Region und weiterhin starkes Korrektiv. Aber, stellt Sonay fest: «Wer ge- hoher Arbeitslosigkeit und Armut bleibt das Land wisse rote Linien überschreitet, muss sich auf Ein- stabil. Das ist das erfolgreichste Ergebnis der Ereig- schüchterungsversuche gefasst machen.» nisse von 2011», betont Sonay, «und es stellt auch eine Der Nahostexperte beobachtet, wie in der brei- Frucht der breit abgestützten Demokratiebewegung ten türkischen Öffentlichkeit der Wert von Wahr- dar». Denn anders als in Ägypten folgte nach dem heit, Vielfalt und Offenheit sinkt. Und er sieht dabei Sturz von Präsident Ben Ali in Tunesien ein politi- deutliche Parallelen zwischen dieser Dynamik in der scher Aufbau demokratischer Strukturen, der grosse Nahost-Region und einem globalen Phänomen: Teile der Zivilgesellschaft integrierte. «Auch in den USA, Russland und China sind Herr- scher an der Macht, die es mit der Wahrheit nicht Medienfreiheit unter Druck immer so genau nehmen. Dadurch fühlen sich die Mit Blick auf die Dynamik im türkischen Mediensys- Regierungen der Region in ihrem autoritären Verhal- tem stellt Sonay fest: «Viele unabhängige Medienhäu- ten natürlich nochmals bestärkt.» UNI NOVA 133 / 2019 21
Dossier 22 UNI NOVA 133 / 2019
Dossier Gibt es «gerechte» Grenzen? Die willkürlich und achtlos gezogenen Grenzen der früheren Kolonialmächte seien schuld an der heutigen Misere, heisst es. Diese Behauptung wird in der Forschung bezweifelt. Text: Irène Dietschi D ie Idee erinnert etwas an Sandkas- 1916 teilten Grossbritannien und Frank- Reissbrett gezogen worden, ist falsch. tenspiele: Im Nahen Osten müsse reich ihre kolonialen Interessengebiete Jede dieser Grenzen ist verhandelt wor- man nur die Grenzen neu denken unter sich auf. Die Briten erhielten die den. Es gab viel Streit, aber auch nach- und die Identität der jeweiligen Bevölke- Kontrolle über ein Territorium, das dem trägliche Veränderungen.» rung besser berücksichtigen – dann gäbe heutigen Jordanien, dem Irak und Gebie- So habe beispielsweise die Türkei – es weniger Konflikte. Für Alexander Balis- ten um Haifa entspricht. Die Franzosen ein historischer Zufall – 1920 zwar die treri ist dies ein typisches Huhn-Ei-Prob- beanspruchten die Vorherrschaft über die Waffenstillstandsgrenzen als neue Staats- lem. Der Assistent am Fachbereich Nah- Südosttürkei, den Nordirak, den Libanon grenzen akzeptiert. Aber später wandel- oststudien der Universität Basel unter- und Syrien. Gemäss dem Abkommen ten sich diese Grenzen mehrfach: Teile sucht derzeit die Geschichte des polyeth- konnten die französische und die briti- des Kaukasus etwa, die von jeher zum nischen Grenzgebiets zwischen dem sche Regierung frei bestimmen, wie sie Osmanischen Reich gehört hatten und Kaukasus und Anatolien. Er sagt: Die we- die Staatsgrenzen innerhalb ihres jeweili- nicht besetzt waren, gab die Türkei an die nigsten Konflikte im Nahen Osten hätten gen Einflussgebietes ziehen wollten. Sowjetunion ab, um dieser einen Freund- sich an den Grenzen entzündet. Meistens Allerdings ist diese Erzählung zu sim- schaftsdienst zu erweisen. An der südli- gehe es dabei um die Staatsmacht – wobei pel, sagt Balistreri: «Keines der Länder in chen Grenze wiederum schanzte Frank- die Grenzen nur vorgeschoben würden. dieser Region ist aus dem Nichts entstan- reich der Türkei 1938 das damalige Ale- «Zum Beispiel Syrien», erläutert Balis- den.» Natürlich seien die Franzosen und xandretta (heute Iskendrun, Provinz Ha- treri: «Im Syrienkrieg spielten Grenzen die Briten bei der Grenzziehung die tay) zu. «Die Gründe dafür waren diplo- ursprünglich eine Nebenrolle. Auslöser Hauptakteure gewesen. «Doch die Vorstel- matischer Natur», erklärt Balistreri: «Die des Konflikts war der Arabische Frühling lung, die neuen Scheidelinien im Nahen Franzosen brachten die Türkei so dazu, von 2011 und die Proteste gegen das Re- Osten seien am Ende des Osmanischen im Zweiten Weltkrieg an ihrer Seite auf- gime von Präsident Assad.» Erst später Reichs sozusagen mit dem Lineal auf dem zutreten.» In ähnlicher Weise seien im seien Akteure auf den Plan getreten, wel- che die Grenzen zum Thema machten. So erklärte der sogenannte Islamische Staat die Grenze zwischen dem Irak und Syrien für ungültig – wie die Terrormiliz auch die übrigen Staatsgrenzen des Nahen Os- tens auflösen will, um stattdessen ein dschihadistisches «Staatsbildungsprojekt» zu errichten. Britisch-französische Aufteilung Drehen wir das Rad um 100 Jahre zurück: Das Ende des Ersten Weltkriegs markierte gleichzeitig den Untergang der Osmanen- Dynastie, die seit 1299 regiert hatte. Es entstand ein neuer Naher Osten – unge- Historische Ruinenstätte Ani an der türkisch-armenischen fähr mit den heutigen Grenzen. Im soge- Grenze: Vorne ist Gebiet der Türkei, während die Hügel hinten nannten Sykes-Picot-Abkommen vom Mai zu Armenien gehören. UNI NOVA 133 / 2019 23
Dossier Lauf der Zeit praktisch alle Grenzen zum orie. «Bis heute ist nichts davon verwirk- Spielball verschiedenster lokaler Interes- licht worden», sagt Balistreri. sen und Akteure gemacht worden. Jede Grenze habe somit ihre eigene Ursprungs- Bedeutung neu definieren geschichte. Trotzdem bleibt die Frage: Macht es Sinn, die Grenzen im Nahen Osten neu zu den- US-Pläne zur Neugestaltung ken? Wären zum Beispiel ethnische und/ Nach den Golfkriegen wurden in US-Me- oder religiöse Grenzen nicht nur gerech- dien diverse Pläne und Vorschläge ver- ter, sondern auch «natürlicher» als politi- breitet, wie der Nahe Osten mit neuen sche Scheidelinien? Balistreri hält dies für Grenzen zu retten sei. Wie sich hier ge- eine Illusion. Die Vorstellung, was eine wisse Kreise einen neu gestalteten Nahen «gute» Grenze sei, habe sich im Lauf der Osten vorstellten, konnte man 2006 im Geschichte immer wieder verändert. Und: «Armed Forces Journal» nachlesen, einer «Der Ursprung einer Grenze sagt sehr we- Publikation von Führungskräften in Re- nig über ihr Konfliktpotenzial aus.» gierung und Industrie: «Die schreiendste Der Historiker verweist auf das Bei- Ungerechtigkeit in den notorisch unge- spiel Jordanien: Dieser Staat mit Grenzen rechten Ländern zwischen Balkan und zu Israel, den Palästinensischen Autono- Himalaya ist das Fehlen eines unabhängi- miegebieten, Syrien, dem Irak, Saudi- gen kurdischen Staates.» Die USA und Arabien und dem Roten Meer sei im Na- ihre Koalitionspartner hätten nach dem hen Osten «das künstliche Land schlecht- Fall von Bagdad eine «glorreiche Chance hin». Trotzdem sei Jordanien stabil, «wenn verpasst, diese Ungerechtigkeit zu korri- nicht gar das stabilste Land überhaupt in gieren», hiess es darin. der Region». Ganz anders der Libanon: Gemäss der US-Publikation sollte die Dessen Grenzen basieren auf den admi- Landkarte im Nahen Osten so aussehen: nistrativen Grenzen aus dem 19. Jahrhun- – Die Türkei, Syrien, Iran und Irak verlie- dert. Trotzdem gab es hier immer wieder ren alle Gebiete zugunsten eines «Freien Bürgerkriege. Dass die Grenzen des Liba- Kurdistan». non «historisch verbürgt» seien, sagt der Alexander Balistreri – Libanon gewinnt auf Kosten von Syrien Forscher, habe diese Kriege nicht verhin- ist wissenschaftlicher ebenfalls Territorium und wird als «Phö- dert. Assistent am Fachbereich nizien» wiedergeboren. «‹Natürliche› Grenzen sind keine Ga- Nahoststudien der Univer- – Der Irak wird nach Religionsgemein- rantie für ein friedliches Beisammen- sität Basel. In seinem schaften aufgeteilt, und zwar in einen sein», bilanziert Balistreri. «Grenzen wer- Dissertationsprojekt unter- sucht er die Geschichte «sunnitischen Irak» und – zusammen mit den nach ganz unterschiedlichen Krite- des polyethnischen Grenz- Gebieten des Irans – in einen «arabischen rien gezogen, nicht nach einem einzigen.» gebiets zwischen dem Schiiten-Staat». Menschen seien auch nicht einfach «Kur- Kaukasus und Anatolien. – Das Volk der Belutschen wird in einem den» oder «Sunniten» oder «Aleviten», Zu seinem weiteren «Freien Belutschistan» vereint, das aus sondern sie hätten eben viele Facetten, Forschungsfeld gehören allgemein die Beziehungen Pakistan und dem Iran herausgelöst wird. die ihre Identität ausmachten. Grenzen zwischen Staaten «Manche Amerikaner fühlten sich seien eine menschliche Institution, die und Bevölkerungen. tatsächlich dazu erkoren, den Nahen Os- laufend neu gedeutet werden soll. ten neu zu gestalten», sagt Balistreri, der Dass eine alternative Grenzziehung selbst in den USA aufgewachsen ist. «Als die Konflikte im Nahen Osten lösen hätten die Franzosen und Briten nicht könnte, beurteilt der Historiker sehr schon früher die Erfahrung gemacht, dass skeptisch. Sein Fazit ist ein anderes: «An- man mit Grenzen nichts Konkretes lösen statt die Grenzen neu zu ziehen, könnte kann.» Solche «Pläne» wurden in den USA man ihre Bedeutung neu definieren.» damals zwar diskutiert, aber nie auf Ähnlich wie in Europa sollten Grenzen Ebene der Regierung als Programm arti- frei überschreitbar sein und die Mobilität kuliert. Entsprechende Karten wurden fördern. Im Idealfall seien sie also nicht auch im Nahen Osten verbreitet und sorg- Symbole für Konflikte und Trennung, son- ten für einige Aufregung, aber die Vorstel- dern hätten eine organisierende, ord- lung eines «Nahost-Grossplans» der USA nende Funktion – eine Funktion, die Men- ging eher in Richtung Verschwörungsthe- schen verbindet. 24 UNI NOVA 133 / 2019
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