UNI NOVA - Region in Bewegung - Universität Basel

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UNI NOVA - Region in Bewegung - Universität Basel
UNI NOVA
       Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°133 / Mai 2019

                                                                               Naher Osten

                                                                      Region in
                                                                      Bewegung.

    Gespräch                        Debatte                          Album                    Essay
Kommunikation                  Forschung über                   Tsunamis auf            Zur Notwendigkeit
 in der Medizin.            seltene Krankheiten.                  der Spur.               des Erzählens.
UNI NOVA - Region in Bewegung - Universität Basel
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Editorial

                 Team
    An dieser Ausgabe haben
         mitgearbeitet:
                                                                       Kultur
                                                                     und Krisen.

                                             Bürgerkrieg in Syrien, Kämpfe im Irak, der andauernde
         1                                   Konflikt in Israel und Palästina, gewaltsame Demonstratio-
                                             nen in Nordafrika – in keiner Weltgegend fliesst derzeit
                                             so viel Blut wie im Nahen Osten. Die ganze Region ist ge-
                                             prägt von Gewalt und Krieg und präsentiert sich denn
                                             auch hoch aufgerüstet: Ihre Länder importieren heute welt-
                                             weit am meisten Kriegsmaterial überhaupt. Vom exoti-
         2                                   schen Zauber des sagenumwobenen Orients ist kaum mehr
                                             etwas übrig geblieben – er hat sich zum Krisen- und Kon-
                                             fliktgebiet gewandelt. Grossmächte, von den USA über
                                             Russland bis China, versuchen, sich hier Einfluss zu ver-
                                             schaffen. Der Nahe Osten ist zu einem Brennpunkt ge-
                                             worden, der die internationalen Schlagzeilen beherrscht.
         3                                   Politische Lösungen sind vorerst nicht in Sicht. Ein Grund
                                             dafür ist, dass sich die Auseinandersetzungen und
                                             Konflikte äusserst selten an Grenzen halten – Grenzen
1 Maurus Reinkowski ist Professor für Is-    irgendwelcher Art.
  lamwissenschaft und leitet den Fachbe-
  reich Nahoststudien der Universität Ba-
                                             Auch die Wissenschaft befasst sich mit den Entwicklungen
  sel, der vor genau 100 Jahren als Orien-
  talisches Seminar gegründet wurde.         und der aktuellen Lage der Staaten zwischen Libyen und
  Seine Spezialgebiete sind die neuere       Afghanistan – und versucht etwa die Frage zu beantworten,
  Geschichte des Nahen Ostens und des        wie es zur heutigen Situation gekommen ist. Vorgestellt
  östlichen Mittelmeers, besonders der       werden in diesem Heft einige ausgewählte Forschungspro -
  Türkei. Seiten 16 – 17
                                             jekte der Universität Basel aus den Fachbereichen Nahost-
2 Basil Gelpke berichtet als reisender TV-
                                             studien, Politologie, Geschichte und Religionswissen-
  Journalist und Filmproduzent über The-     schaften. Es sind Blicke der Wissenschaft hinter die aktu-
  men aus Wirtschaft und Technologie         ellen Schlagzeilen. Dasselbe zeigen auch die Fotografien
  vor allem aus dem asiatisch-pazifischen     aus dem Alltag von Menschen im heutigen Kairo, die das
  Raum. Zu Hause ist er in Zürich und
                                             Schwerpunktthema illustrieren. Vielleicht wird damit
  Kuala Lumpur. In diesem Heft erinnert
  er sich an seinen Vater Rudolf Gelpke,
                                             auch deutlich, dass ein Frieden auch im Nahen Osten nur
  einen aussergewöhnlichen Basler Islam-     dann nachhaltig sein kann, wenn die Zivilbevölkerung
  forscher. Seiten 26– 27                    einbezogen wird. Wir wünschen Ihnen bei der Lektüre
                                             viele neue Einsichten !
3 Nicole Canegata ist eine Werbe-, Reise-
  und Lifestyle-Fotografin und lebt auf
  St. Croix, U.S. Virgin Islands. Von dort
                                             Christoph Dieffenbacher
  sind es rund 70 Flugmeilen bis zur Kari-   Redaktion UNI NOVA
  bikinsel Anegada, wo Basler Geologin-
  nen die Spuren von Tsunamis und Hur-
  rikans untersuchen. Nicole Canegata
  hat sie für UNI NOVA mit der Kamera
  begleitet. Seiten 40 – 49

                                             UNI NOVA   133 / 2019                                    3
UNI NOVA - Region in Bewegung - Universität Basel
Inhalt

    Bessere Kommunikation in der Medizin:                                                                                                Zentrum einer grossen Kultur: Die Millionenstadt Kairo ist die
     Sabina Hunziker im Gespräch, Seite 8                                                                                                            grösste Stadt der arabischen Welt.

                                                                                                                                                                Naher Osten

6   Kaleidoskop
                                                                                                                                               Region in
8   Gespräch
    Die Aus- und Weiterbildung von
    Medizinstudierenden und Ärzten in
                                                                                                                                               Bewegung.
    Sachen kommunikative Kompetenz
    gilt in der Schweiz als vorbildlich.
    Wichtig sei dabei, auf die Emotionen                                                                                 16 «In weiter Ferne, so nah».                   26 Die Liebe meines Vaters zum
    der Patienten einzugehen und                                                                                            Dass es sich beim Nahen Osten um                  Orient.
    Gefühlen Raum zu lassen, sagt die                                                                                       eine von Europa deutlich abgesetzte               Der Basler Islamwissenschaftler und
    Basler Medizinprofessorin Sabina                                                                                        und entfernte Region handelt, trifft              Drogenforscher Rudolf Gelpke war
    Hunziker.                                                                                                               nicht mehr zu.                                    von der orientalischen Welt fasziniert.
                                                                                                                                                                              Eine Spurensuche seines Sohns.
12 Nachrichten                                                                                                           19 Auf dem Sprung in die Moderne.
    Baubeginn für Sport-Gebäude,                                                                                            Kairo, die ägyptische 22-Millionen-          28 Syrien:
    Ausstellung im Pharmaziemuseum,                                                                                         Metropole, soll in die Zukunft                    Nicht ohne die Bevölkerung.
    Strategie 2022 – 2030.                                                                                                  katapultiert werden.                              Für einen nachhaltigen Frieden
                                                                                                                                                                              muss die Zivilgesellschaft eingebun-
                                                                                                                         20 Medien und soziale Bewegungen.                    den werden.
                                                                                                                            Welche Rolle mediale Netzwerke in
                  UNI NOVA
                    Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°133 / Mai 2019
                                                                                                                            den aktuellen Entwicklungen in               31 Israelische Araber als
                                                                                                                            Ägypten, Marokko, der Türkei und                  Brückenbauer.
                                                                                                                            Tunesien spielen.                                 Die arabischen Bürger in Israel
                                                                                                                                                                              könnten die Rolle als Vermittler
                                                                                   Region in
                                                                                            Naher Osten
                                                                                                                         23 Gibt es «gerechte» Grenzen?                       einnehmen.
                                                                                   Bewegung.
                                                                                                                            Nur wenige Konflikte im Nahen
                 Gespräch                        Debatte                          Album                    Essay
             Kommunikation
              in der Medizin.
                                            Forschung über
                                         seltene Krankheiten.
                                                                             Tsunamis auf
                                                                               der Spur.
                                                                                                     Zur Notwendigkeit
                                                                                                       des Erzählens.

                                                                                                                            Osten haben sich an den Grenzen              34 Die andere Mitte.
                   Titelbild                                                                                                entzündet – meist geht es um die                  Der Nahe Osten wird von aussen im-
         Die Bilder auf der Titelseite                                                                                      Staatsmacht.                                      mer wieder neu definiert: von Europa
    und im Dossier dieses Hefts stammen                                                                                                                                       als Zugang zu Asien und vom
        von der in Kairo arbeitenden
          Fotografin Dana Smillie.                                                                                                                                             heutigen China als Teil eines gemein-
                                                                                                                                                                              samen Wirtschaftsraums.

4                                                                                                                                  UNI NOVA   133 / 2019
UNI NOVA - Region in Bewegung - Universität Basel
Inhalt

                                                                                           Impressum
                                                                                           UNI NOVA,
                                                                                           Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel.
                                                                                           Herausgegeben von der Universität Basel,
                                                                                           Kommunikation & Marketing (Leitung: Matthias
                                                                                           Geering).
                                                                                           UNI NOVA erscheint zweimal im Jahr, die nächste
                                                                                           Ausgabe im November 2019. Das Heft kann
                                                                                           kostenlos abonniert werden; Bestellungen per
                                                                                           E-Mail an uni-nova@unibas.ch. Exemplare liegen
                                                                                           an mehreren Orten innerhalb der Universität
                                                                                           Basel und an weiteren Institutionen in der Region
                                                                                           Basel auf.
                                                                                           KONZEPT: Matthias Geering, Reto Caluori,
                                                                                           Urs Hafner
                                                                                           REDAKTION: Reto Caluori, Christoph
                                                                                           Dieffenbacher
                                                                                           ADRESSE: Universität Basel, Kommunikation &
                                                                                           Marketing, Postfach, 4001 Basel.
                                                                                           Tel. +41 61 207 30 17
                                                                                           E- Mail: uni-nova@unibas.ch
                                                                                           GESTALTUNGSKONZEPT UND GESTALTUNG:
                                                                                           New Identity Ltd., Basel
                                                                                           ÜBERSETZUNGEN: Sheila Regan und Team,
                                                                                           UNIWORKS (uni-works.org)
                                                                                           BILDER: S. 6: M. Oeggerli/Micronaut 2018, mit
                                                                                           Unterstützung von Pathologie, C-CINA/Biozent-
                                                                                           rum, I. Krol und N. Aceto, Medizinische Fakul-
                 Spurensuche auf Anegada: Ein Tsunami hat vor 800 Jahren                   tät, Universität Basel und Universitätsspital
                           die Karibikinsel getroffen, Seite 40                            Basel; S. 7: Dawid Skalec/Wikimedia (CC BY-SA
                                                                                           4.0); S. 12: Caesar Zumthor Architekten, Stern
                                                                                           Zürn Architekten; S. 21: Ali Sonay, Künstler
                                                                                           unbekannt; S. 23: Alexander Balistreri; S. 27:
                                                                                           Privatarchiv Basil Gelpke; S. 50: Olivier Braissant,
                                                                                           Universität Basel, Departement Biomedical
                                                                                           Engineering; S. 53: Universitätsbibliothek Basel,
                                                                                           Aleph D X 25:2, S. 1r; S. 56: Miki Bopp-Ito, Uni-
                                                                                           versität Basel, IPNA; Omer Rana/Unsplash (CC0);
                                                                                           S. 64: Bettina Huber; S. 65: Heidi Potts; S. 67:
                                                                                           rawpixel.com/Pexels (CC0); Jean-Marc Nattier:
                                                                                           Thalia (1739), Fine Arts Museums of San Fran-
                                                                                           cisco, Mildred Anna Williams Collection (CC0);
36 Mein Arbeitsplatz                          54 Forschung                                 GregMontani/Pixabay (CC0); Alan R Walker/
                                                                                           Wikimedia (CC BY-SA 3.0).
   Ultradünne Elastomerfilme aus der               Arbeitslos aus Altersgründen.            ILLUSTRATION: Studio Nippoldt, Berlin
   Vakuumkammer eignen sich für                   Beim Schutz vor Diskriminierung von      KORREKTORAT: Birgit Althaler, Basel (deutsche
                                                                                           Ausgabe), Lesley Paganetti, Basel (englische
   viele medizinische Anwendungen.                Älteren liegt die Schweiz zurück.        Ausgabe).
                                                                                           DRUCK: Birkhäuser+GBC AG, Reinach BL
                                                                                           INSERATE: Universität Basel, Leitung
38 Debatte                                    56 Forschung                                 Marketing & Event, E-Mail: bea.gasser@unibas.ch
                                                                                           AUFLAGE DIESER AUSGABE:
   Seltene Krankheiten: Lohnt es                  Rinder in der Bronzezeit, Auto-          14 000 Exemplare deutsch
                                                                                           1200 Exemplare englisch
   sich, darüber zu forschen?                     cockpits und Parkvergehen.               Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit
                                                                                           Genehmigung der Herausgeberin.
   Der Gesundheitsökonom und                                                               ISSN 1661-3147 (gedruckte Ausgabe deutsch)
   die Medizinethikerin antworten             57 Bücher                                    ISSN 1661-3155 (Online Ausgabe deutsch)
                                                                                           ISSN 1664-5669 (gedruckte Ausgabe englisch)
   unterschiedlich.                               Neuerscheinungen von Forschenden         ISSN 1664-5677 (Online Ausgabe englisch)
                                                                                           ONLINE:
                                                  der Universität Basel.                   unibas.ch/uninova
                                                                                           facebook.com/unibasel
40 Album                                                                                   instagram.com/unibasel
                                                                                           twitter.com/unibasel
   Tsunamis auf der Spur.                     58 Essay
   Forschende haben auf der Karibik-              Kontrollierter Kontrollverlust.
   insel Anegada Indizien für zwei                Das Erzählen ist im gesellschaftlichen
   grosse historische Tsunamis entdeckt.          Diskurs weiter notwendig –
                                                  auch in Zeiten von «Fake News» und
50 Forschung                                      Verschwörungstheorien.
   Fiebermessen «en miniature».
   Anhand winziger Temperatur-                60 Porträt
   unterschiede lässt sich das Wachs-             Ein Erforscher des chemischen
   tum von Bakterien analysieren.                 Raums.
                                                  Der Chemiker Anatole von Lilienfeld
52 Forschung                                      entwickelt neue, schnellere
   Ein wiederentdeckter                           Methoden, um die fast unendliche                        UNI NOVA
   Anti-Reformator.                               Welt der möglichen Moleküle                      gibt es auch in Englisch.
                                                                                                       Und im Internet:
   Der Basler Humanist Atrocian schrieb           und Verbindungen zu untersuchen.                  issuu.com/unibasel
   in polemischen Schriften vergebens                                                                unibas.ch/uninova
   gegen die Reformation an.                  62 Alumni
                                              66 Mein Buch
                                              67 Agenda

                                                          UNI NOVA    133 / 2019                                                            5
UNI NOVA - Region in Bewegung - Universität Basel
Kaleidoskop

                                                Metastasen verhindern

                                Gefährlicher
                                 Verbund.
    Schön und schrecklich zugleich: Das Bild zeigt eine      Basler Forschende berichten nun von einem Medi-
    Gruppe von Krebszellen, die aus dem Blut einer           kament, das in Labortests eine Auflösung der Cluster
    Patientin mit Brustkrebs isoliert wurde. Solche Tumor-   bewirkt und die Bildung von neuen Metastasen
    zellen-Cluster sind viel effizienter als einzelne         verhindert. Bereits wird eine klinische Studie vor-
    wandernde Krebszellen, wenn es darum geht, aus           bereitet, um die metastasenhemmende Wirkung der
    dem Primärtumor auszubrechen und anderswo im             Medikamente auch bei Patientinnen zu testen.
    Körper tödliche Metastasen zu bilden.                    bit.ly/uninova-tumorzellen

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UNI NOVA - Region in Bewegung - Universität Basel
Kaleidoskop

Mikroplastik

Abfall in der
Antarktis.
Lange Zeit galt die Antarktis als ein noch
weitgehend unberührtes Ökosystem. In
jüngster Zeit ist jedoch klar geworden, dass
auch diese abgelegene Region nicht mehr
vor Kunststoffabfällen verschont bleibt.
   An Bord des Eisbrechers Polarstern
sammelt die Umweltwissenschaftlerin Prof.
Patricia Holm während einer mehrwöchi-
gen Expedition Eis- und Wasserproben. Sie
sollen zeigen, wie stark das Weddellmeer
vor der Antarktis bereits durch Mikroplastik
verunreinigt ist und woher die kleinen
Kunststoffteilchen stammen könnten.
bit.ly/uninova-antarktis                                               Schutzmechanismus

                                                                       Schnelle Reaktion
                                                                       auf Verletzung.
                                                                       Werden Pflanzen verletzt, reagieren sie
                                                                       genauso schnell auf die Beschädigung wie
                                                                       Tiere und Menschen. Das berichten For-
                                                                       schende der Universitäten Basel und Gent
                                                                       in «Science». Für ihr Experiment beschä-
                                                                       digten sie einzelne Wurzelzellen der Acker-
                                                                       schmalwand (Arabidopsis thaliana) mit
                                                                       einem Laserstrahl. Das löste in den Zellen
                                                                       innert Sekunden einen starken Anstieg von
                                                                       Calciumionen aus. Dadurch wird ein bio-
                                                                       chemischer Prozess angestossen, der dazu
                                                                       führt, dass die Pflanzenzellen bereits
                                                                       30 Sekunden nach der Schädigung ein
                                                                       spezifisches Wundhormon freisetzen. Die-
                                                                       ses alarmiert das benachbarte Gewebe
                                                                       und setzt Prozesse der Immunabwehr und
                                                                       der Geweberegeneration in Gang. Pflanzen
                                                                       wappnen sich so vor Infektionen, für die
                                                                       sie nach einer Verletzung besonders anfäl-
                                                                       lig sind.
                                                                       bit.ly/uninova-pflanzenschaeden

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Gespräch

         «Ich will möglichst präzise
    Antworten. Diese sind genauso wichtig
       wie das vorbehaltlose Zuhören.»
           Sabina Hunziker, Professorin für Psychosomatik und
                     Medizinische Kommunikation

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Gespräch

  « Technische Fortschritte
ohne bessere Kommunikation
       nützen nichts. »
               Sabina Hunziker bringt angehenden Ärztinnen und Ärzten bei,
            wie sie mit ihren Patienten und Patientinnen richtig kommunizieren.
                     Wenn jemand viel rede, sei das Wichtigste oft noch
                  lange nicht ausgesprochen, sagt die Medizinprofessorin.

                                              Interview: Urs Hafner   Foto: Basile Bornand

UNI NOVA: Frau Hunziker, ein Patient sitzt   und grenzt die Problematik ein. Je nach         so weiter. Ich will möglichst präzise Ant-
vor Ihnen und hört nicht auf, Ihnen sein     Situation wechseln wir zwischen den zwei        worten. Diese sind genauso wichtig wie
Leid zu klagen. Er redet und redet ziellos   Gesprächsformen, der patientenzentrier-         das vorbehaltlose Zuhören. Viele Studie-
immer weiter. Nervt Sie das?                 ten und der arztzentrierten.                    rende denken am Anfang, nur das Zuhö-
SABINA HUNZIKER: Das fragen mich meine       UNI NOVA: Gehört das Zuhören nicht so-          ren sei wichtig. Ein Gespräch besteht aber
Studierenden jeweils auch … Es ist wich-     wieso zu einer normalen, nicht pathologi-       aus beiden Anteilen, zwischen denen je-
tig, dass Patientinnen und Patienten ihr     schen Kommunikation? Wenn Sie reden             weils gewechselt wird.
Leiden in ihren Worten an uns herantra-      und ich eisern schweige, irritiert Sie das      UNI NOVA: Ärzte wirken im Gespräch in
gen können. Das hat den Vorteil, dass wir    und Sie beginnen ebenfalls zu schweigen.        ihrer Praxis oder am Spitalbett oft gehetzt
viel über sie erfahren und sie sich Luft     HUNZIKER: Natürlich, aber dessen muss           und hören nicht gut zu.
verschaffen. So können wir uns ein erstes    man sich erst einmal bewusst werden,            HUNZIKER: Laut Studien unterbricht ein
Bild von den Ursachen der Beschwerden        gerade im Medizinstudium. Wir üben sol-         Arzt seinen Patienten im Schnitt nach
machen. Der Nachteil: Unter Umständen        che Situationen etwa mit Videoaufnah-           90 Sekunden das erste Mal. Dadurch ge-
erzählt der Patient nicht das, was wir für   men von Simulationspatienten. Der Pati-         hen wichtige Informationen verloren, die
unsere Diagnose bräuchten, und viel kost-    ent, der viel und im Kreis redet, hat viel-     uns helfen, eine Hypothese darüber zu
bare Zeit verstreicht.                       leicht Sorgen, die er nicht artikulieren        bilden, welche Ursachen und Beweg-
UNI NOVA: Das heisst, Sie unterbrechen?      kann oder die ihm nicht bewusst sind.           gründe hinter den geschilderten Be-
HUNZIKER: Ja, wir strukturieren das Ge-      Etwas beschäftigt ihn, aber was? Die Ärz-       schwerden stehen. Aber schuld daran ist
spräch. Neben dem Abwarten und Zuhö-         tin versucht herauszufinden, was hinter          nicht nur unsere Ungeduld. Durch den
ren erfragen wir spezifische Punkte und       dem vielen Reden steckt. Es kann die            zunehmenden finanziellen und zeitli-
vermitteln gezielte Informationen. Idea-     Spitze des Eisbergs sein.                       chen Druck bleibt uns weniger Zeit, mit
lerweise steigt die Ärztin patientenzent-    UNI NOVA: Wann genau unterbrechen Sie           dem Patienten zu sprechen. Wir wissen
riert in das Gespräch ein, das heisst: Sie   den Patienten?                                  zum Beispiel, dass ein Assistenzarzt den
hört erst einmal aktiv zu. Sie lässt den     HUNZIKER: Wenn ich den Eindruck habe,           grössten Teil seiner Arbeitszeit für Admi-
Patienten reden und schweigt, versichert     dass ich nun für die Anamnese und Diag-         nistration und Berichte aufbringt. Ander-
ihm aber mit knappen verbalen Reaktio-       nose mehr wissen muss, stelle ich meine         seits gilt auch: Wenn ein Patient viel re-
nen wie «Aha», «Verstehe», «Gut» und so      Fragen, mit denen ich meiner Hypothese          det, ist das Wichtigste noch lange nicht
weiter ihre volle Präsenz. Daneben ist       nachgehe, die ich aufgrund der mir vor-         gesagt. Und man kann ein gutes Gespräch
aber auch die arztzentrierte Gesprächs-      liegenden Daten und während des Zuhö-           auch in kurzer Zeit führen. Unsere Studie-
führung wichtig, nämlich dann, wenn          rens gebildet habe: Seit wann verspüren         renden lernen, wie man die Gesprächssi-
klar wird, wo das Problem liegt. Die Fach-   Sie den Schmerz, strahlt er aus, von wel-       tuation optimal gestaltet, also wie man
person übernimmt die Gesprächsführung        chen Symptomen wird er begleitet? Und           professionell kommuniziert. Dafür gibt es

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Gespräch

geeignete Techniken. Man muss wissen,                                                     Daher ziehe ich die Besprechung vor der
wie und wann man sie einsetzt.                                                            Zimmertür mit der anschliessenden pati-
UNI NOVA: Sie sind Professorin und stell-                                                 entenfreundlichen Version vor. Nach Ab-
vertretende Chefärztin für Psychosoma-                                                    schluss der Studie werde ich mehr wissen.
tik und Kommunikation. Wie reagiert ein                                                   UNI NOVA: Oft heisst es, die Ärzte würden
Chirurg, wenn Sie ihm erzählen, was Sie                                                   ihren Patienten die Befunde nicht ver-
machen – nimmt er das ernst, hört er Ih-                                                  ständlich erklären – diese seien zu dicht
nen überhaupt zu?                                                                         formuliert und mit zu vielen Fachbegrif-
HUNZIKER: Natürlich stosse ich manchmal                                                   fen gespickt.
auf Skepsis, aber die Akzeptanz für die                                                   HUNZIKER: Dass wir dem Patienten unser
Bedeutung der Kommunikation in der                                                        Wissen verständlich und geduldig darle-
Medizin hat in den letzten Jahren zuge-                                                   gen, gehört ebenso zur professionellen
nommen. In den 1970er-Jahren war das                        Sabina Hunziker               Kommunikation wie das Aushalten hefti-
Thema noch exotisch. Heute sind mehr                ist seit 2016 Professorin und         ger Reaktionen, zum Beispiel Wut, Ent-
Offenheit und Interesse da für die Gestal-    stellvertretende Chefärztin für Psycho-     täuschung und Trauer. Studien zeigen,
tung der professionellen Gesprächsfüh-            somatik und Medizinische Kom-           dass viele Ärztinnen und Ärzte dazu nei-
                                               munikation an der Universität Basel.
rung, ebenso das Bewusstsein dafür, dass                                                  gen, das Aufkommen von Emotionen –
                                                   Sie ist in Lehre, Forschung und
ein guter Arzt nicht nur über medizini-       Klinik tätig. Hunziker studierte in Basel   auch der eigenen – mit Informationsver-
sches Wissen, sondern auch über kom-                Medizin und schloss 2005 mit          mittlung zu verhindern oder davon abzu-
munikative Fertigkeiten verfügt. Unsere       dem Doktorat ab. Nach der Assistenz-        lenken. Wir sind darauf getrimmt, Fakten
Patienten erwarten dies. Darum mag ich           zeit arbeitete sie als Oberärztin in     mitzuteilen. Doch wenn sich der Patient
                                              der Inneren Medizin und der Intensiv-
es nicht, wenn man die kommunikativen                                                     nicht artikulieren kann und der Arzt ihn
                                                  medizin, erwarb während eines
Fähigkeiten als «Soft skills» bezeichnet.      zweijährigen Masterstudiums an der         überinformiert, klappt die Kommunika-
UNI NOVA: Sie müssen die Fähigkeiten em-         Harvard Medical School in Boston         tion nicht. Das Problem – die Krankheit,
pirisch erhärten.                              (USA) einen Master of Public Health        das Leiden – wird nicht angegangen. Wir
HUNZIKER: Wir streben die sogenannte evi-
                                                 und bildete sich in psychosomati-        wissen aus der Forschung, dass sich grobe
                                              scher und psychosozialer Medizin wei-
denzbasierte Kommunikation an, das                                                        kommunikative Fehler im Verlauf der
                                                  ter. 2012 habilitierte sie sich. Die
heisst, wir erforschen sie mit randomi-         vor 30 Jahren aufgebaute Abteilung        Arzt-Patienten-Beziehung kaum mehr
sierten Studien. Wir weisen Kausalitäten            Medizinische Kommunikation            gutmachen lassen und einen entschei-
nach: Wenn der Arzt Technik X benutzt,           gilt in der Schweiz als vorbildlich.     denden Einfluss auf das Wohlbefinden
hat das für die Patientin Folge Y. Im Mo-                                                 und die Gesundheit der Patienten haben.
ment wird beispielsweise erforscht, ob die                                                UNI NOVA: Wenn der Patient in Tränen
Vorbesprechung der Visite vor der Spital-                                                 ausbricht, etwa nach einer Krebsdiag-
zimmertür mit einer anschliessenden                                                       nose, berühren Sie ihn dann, um ihn zu
patientenfreundlichen Version im Zim-                                                     trösten?
mer besser ist für die Patienten – oder ob                                                HUNZIKER: Es gibt hierfür keine Regel.
neu die ganze Visite an deren Bett durch-                                                 Manche Ärzte legen in dieser Situation
zuführen ist. Dahinter steht die Überle-                                                  die Hand auf den Arm des Patienten, an-
gung, dass wir dem Patienten viel Zeit                                                    deren ist das zu intim. Wichtig ist, dass
widmen, wovon er aber nicht viel mitbe-                                                   die Reaktion authentisch ist. Mit dem
kommt. Anderseits könnte er sich durch                                                    Überbringen von schlechten Nachrichten
die akademische Diskussion eingeschüch-                                                   sprechen die Ärzte kritische und oft le-
tert fühlen oder verunsichert sein oder                                                   bensverändernde Themen an. Daher ist
merken, dass sich die Assistentin irrt, und                                               hier neben der medizinischen Informa-
daher fälschlicherweise auf deren Inkom-                                                  tion die empathische Kompetenz äusserst
petenz schliessen. Das ist eine wichtige,                                                 wichtig. Die Diagnose einer unheilbaren
aber noch nicht geklärte Frage.                                                           Krebserkrankung zum Beispiel hat einen
UNI NOVA: Welche Variante ziehen Sie vor?                                                 enormen Einfluss auf die Lebensqualität
HUNZIKER: Unsere Patienten werden mit                                                     des Patienten. Sie ändert dessen Lebens-
sehr viel für sie neuen und unbekannten                                                   und Zukunftsperspektive schlagartig.
Informationen konfrontiert. Möglicher-                                                    Was und wie wir kommunizieren, ist da-
weise wird dies noch verstärkt durch die                                                  her besonders wichtig. Aus einer Studie
akademische Diskussion am Bett, wenn                                                      zu Angehörigen von Patienten, die einen
sie nicht alle Begriffe verstehen und es so                                               Herzkreislaufstillstand hatten und wie-
zu Missverständnissen kommen kann.                                                        derbelebt werden mussten, wissen wir,

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Gespräch

dass die Kommunikation der Angehöri-         ale und kommunikative Kompetenzen            tion unter Ärzten und Ärztinnen. Studien
gen mit dem Behandlungsteam ein wich-        wie in den USA. Ich könnte mir vorstel-      zu Notfalleinsätzen zeigen, dass das rich-
tiger Faktor dafür war, wie häufig die Be-    len, dass die kommunikativen Kompe-          tige Verhalten der Ärzte die Performance
troffenen posttraumatische Belastungs-       tenzen künftig mitgetestet werden. Das       ihrer Teams entscheidend verbessert.
störungen, Depressionen oder Angststö-       Medizinstudium und der medizinische          Eine gute Führungskommunikation hat
rungen entwickelten.                         Beruf sind hingegen auch aus intellektu-     zur Folge, dass der Einsatz mit weniger
UNI NOVA: Was lehren Sie Ihre Studieren-     eller Sicht anspruchsvoll. Es braucht viel   Unterbrechungen verläuft und zum Bei-
den für einen solchen Fall?                  Fleiss und Ehrgeiz, um zu bestehen.          spiel die Reanimation von Betroffenen
HUNZIKER: Man muss das Gespräch gut          Auch später, im Arztberuf, muss man          früher einsetzt.
vorbereiten, damit man über alle vorlie-     Stressoren bewältigen. Daher ist es wich-    UNI NOVA: Die Medizin wird heute stark
genden Befunde informiert ist und weiss,     tig, dass Studierende diese früh aushal-     bestimmt von der Technik: von compu-
wie viel die Angehörigen und die Patien-     ten. An der Universität Basel haben wir      tergesteuerten Instrumenten und grossen
ten wissen. Die Information sollte kurz      ein Curriculum, das während des ganzen       Datenmengen, sei es zu Krankheiten oder
und verständlich übermittelt werden.         Studiums kommunikative und soziale           zu den Patienten. Manche Ärzte schauen
Zentral ist, auf Emotionen einzugehen        Kompetenzen vermittelt. Das ist schweiz-     daher in der Sprechstunde öfter auf den
und diesen Raum zu lassen.                   weit einmalig.                               Bildschirm als in das Gesicht des Patien-
UNI NOVA: Im Medizinstudium wird vor         UNI NOVA: Das Nationale Forschungspro-       ten. Ist die Technik die Feindin der Kom-
allem gebüffelt. Wer nicht genug auswen-     gramm «Lebensende» hat ergeben, dass in      munikation?
dig lernt, schafft den Numerus clausus       den Spitälern die Kommunikation zwi-         HUNZIKER: Nein, im Gegenteil: Die Fort-
nicht. Geduld und soziale Kompetenzen        schen den Ärzten verschiedener Abteilun-     schritte der Technik, welche die Heilung
aber werden nicht geprüft. Verläuft die      gen oft nicht gut läuft, also wenn es zum    vieler Krankheiten vorantreibt, verlangen
Selektion falsch?                            Beispiel darum geht, wo vor dem Tod          von uns, dass wir kommunikativ besser
HUNZIKER: Es ist nicht einfach, eine gute    stehende Kranke zu betreuen sind.            werden, sonst nützen sie nichts. Die Tech-
Selektion zu treffen. In der Schweiz prüft   HUNZIKER: Das ist ein wichtiger Punkt:       nik stellt an uns Ärztinnen und Ärzte
der Numerus clausus vor allem die intel-     Professionelle Kommunikation in der          höhere kommunikative Herausforderun-
lektuellen Fertigkeiten, nicht aber sozi-    Medizin betrifft auch die Kommunika-         gen denn je. Daran arbeiten wir.

Dabei sein und Talente der Jugendlichen fördern:
Lehrpersonen der Sekundarstufe II
unterrichten an Gymnasien, Fach- und
Berufsmittelschulen.

Angebotene Fächer: Deutsch, Englisch,
Französisch, Geographie, Geschichte,
Mathematik, Pädagogik/Psychologie,
Philosophie und Sport.

Jetzt zum praxisnahen Studium
in Luzern anmelden:

Xwww.phlu.ch/sekundarstufe-2

                                                                   SEK-II-Lehrer/-in werden.
                                                        UNI NOVA   133 / 2019                                                     11
Nachrichten

           Medizintechnik,
     Sport-Neubau, Quantenwelt.
Neubau im Baselbiet

Baubeginn für
Sport-Gebäude.
Mitte April haben die Bauarbeiten für den
Neubau des Departements Sport, Bewe-
gung und Gesundheit begonnen. Das Ge-
bäude kommt neben der St. Jakobshalle
zu stehen und soll 2021 in Betrieb gehen.
Der Neubau deckt zum einen den Raum-
bedarf, der durch das Wachstum von
Sportwissenschaft, Sportmedizin und
Trainingswissenschaft entstanden ist.
Zum anderen werden darin die Räumlich-
keiten des Departements zusammenge-
führt, die heute in der und um die St. Ja-
kobshalle verteilt sind.
    Das neue Gebäude bietet Platz für
rund 600 Studierende und 100 Mitarbei-
tende. Es umfasst Lehr- und Lernräume,
Labors und Büros, Gymnastik- und
Krafträume sowie eine unterteilbare
                                                                                            Ausstellung
Sporthalle. Errichtet wird der Neubau auf
dem Gebiet der Gemeinde Münchenstein,                                       Medizin in der vierten
womit eine weitere universitäre Einheit
im Trägerkanton Baselland angesiedelt
                                                                                Dimension.
wird.
                                                 Die moderne       Lange Zeit blieben die Vorgänge in unserem Körperinneren so
                                              Bildgebung schafft   verborgen wie etwa die Oberfläche des Mars. Vor 500 Jahren
                                             ungeahnte Einblicke
                                                                   begannen einige unerschrockene Anatomen damit, das zu än-
                                                in das bewegte
                                              Innere des leben-
                                                                   dern. In den lebenden Körper aber konnten sie nicht hineinse-
                                              den menschlichen     hen. Erst die Röntgenstrahlen machten das Skelett im Inneren
                                                    Körpers.       eines sich bewegenden Menschen sichtbar, doch verseuchten sie
                                                                   ihn dabei mit radioaktiver Strahlung.
                                                                        Die Ausstellung «Bewegte Einblicke» im Pharmaziemuseum
                                                                   Basel zeigt, welche Möglichkeiten die moderne Medizintechnik
                                                                   eröff net: So haben Basler Forschende ein Verfahren entwickelt,
                                                                   dank dem sich die Bewegungen im Körperinneren heute schad-
                                                                   los in dreidimensionalen Filmen festhalten lassen. Die Ausstel-
                                                                   lung lädt ein, den Platz eines Chirurgen oder einer Chirurgin
                                                                   einzunehmen und sich über Organbewegungen, Echtzeitverfol-
                                                                   gung und neue Behandlungsmassnahmen zu informieren. Sie
                                                                   ist noch bis zum 2. Juni 2019 zu sehen.
                                                                   bewegte-einblicke.ch

12                                                      UNI NOVA   133 / 2019
Das Magazin
Strategie 2030
                                                               für noch
Start der
Vernehmlassung.                                             mehr Wissen.
In den vergangenen Monaten haben Universitätsrat
und Universitätsleitung unter Einbezug verschiede-
                                                           Gratis abonnieren.
ner Gruppierungen die Strategie 2022–2030 erarbei-
tet. Den Rahmen für einzelne Zielsetzungen und
Massnahmen bilden vier strategische Leitlinien. Diese
zielen darauf ab, die Agilität fördern, die Universität
weiter zu öff nen, die Identifikation mit der Universi-
tät zu stärken und die Standortvorteile zu nutzen.                        UNI NOVA
                                                                            Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°133 / Mai 2019

     Im April hat der Universitätsrat den Entwurf in
die universitäre Vernehmlassung geschickt, und im
Herbst 2019 soll die definitive Fassung verabschiedet
werden. Die Strategie bildet die Grundlage, auf wel-
cher der Antrag an die Trägerkantone für die Leis-                                                                                                                               Das Wissenschaftsmagazin
tungsperiode 2022–2025 erstellt wird.                                                                                                                                            der Universität Basel
                                                                                                                                                    Naher Osten

unibas.ch/strategie                                                                                                                        Region in                             bequem nach Hause erhalten.
                                                                                                                                           Bewegung.
                                                                                                                                                                                 Einfach und kostenlos im
                                                                         Gespräch
                                                                     Kommunikation
                                                                                                         Debatte
                                                                                                    Forschung über
                                                                                                                                          Album
                                                                                                                                     Tsunamis auf
                                                                                                                                                                   Essay
                                                                                                                                                             Zur Notwendigkeit
                                                                                                                                                                                 Internet bestellen.
                                                                      in der Medizin.            seltene Krankheiten.                  der Spur.               des Erzählens.

                                                                                                                                                                                 unibas.ch/uninova

European Campus                                           Coupon ausschneiden und senden an:

Vereint ins                                               Universität Basel, Kommunikation, Petersgraben 35, Postfach, 4001 Basel

                                                          UNI NOVA erscheint zweimal im Jahr.
Quantenreich.
                                                          Bitte senden Sie mir UNI NOVA in folgender Sprache:

Die Europäische Kommission hat 4,2 Millionen Euro
                                                            Deutsch                                Englisch
für den Aufbau einer trinationalen Doktoratsausbil-
dung in den Quantenwissenschaften bewilligt. Am
                                                          Bitte senden Sie UNI NOVA an:
Projekt «Quantum Science and Technologies at the
European Campus» sind die Universitäten Basel, Frei-
burg und Strassburg sowie das Karlsruher Institut für     Name, Vorname
Technologie und die Forschungsabteilung des IT-
Konzerns IBM in Zürich beteiligt. Gemeinsam er-
möglichen sie 39 jungen Wissenschaftlerinnen und          Strasse, Hausnummer oder Postfach
Wissenschaftlern eine Promotion in der Zukunfts-
technologie der Quantenforschung. Das Projekt hat
                                                          PLZ, Ort
eine Laufzeit von fünf Jahren und ein Gesamtvolu-
men von 9,1 Millionen Euro und wird neben der
Europäischen Union von den beteiligten Partneror-         E-Mail
ganisationen sowie von Santander Universities ge-
fördert.
                                                          Datum, Unterschrift

                                                                                                                                                                                                         13
Dossier

     Naher
     Osten.

14       UNI NOVA   133 / 2019
Dossier

             Region in
             Bewegung.
                                    Fotos: Dana Smillie

               Der Nahe Osten ist von den
           westlichen Kulturen jahrhunderte-
              lang als der geheimnisvolle,
           exotische Orient verklärt worden.
               Dabei präsentierte er sich
           schon immer als eine dynamische
               und damit äusserst krisen-
            anfällige Gegend – was sich noch
                heute in den zahlreichen
                    Konflikten zeigt.

Seite 20                    Seite 28                      Seite 34
Durch neue Medien           Im Syrienkonflikt haben        Mit seinem Projekt
werden auch Themen          500 000 Menschen ihr          einer neuen Seiden-
wie Partizipation,          Leben verloren. Und           strasse möchte China
Vielfalt und Demokratie     eine politische Lösung        den Nahen Osten
im öffentlichen             ist noch immer nicht          zum Teil eines riesigen
Diskurs präsent.            in Sicht.                     Wirtschaftsraums
                                                          machen.

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Dossier

      «In weiter Ferne, so nah»:
           Der Nahe Osten.
         Im heutigen Machtvakuum in der Region zwischen Libyen und
            Afghanistan stecken weite Gebiete und ganze Staaten
      in der Dauerkrise. Gleichzeitig rücken die Konflikte im Nahen Osten
                            näher an Europa heran.

                                            Text: Maurus Reinkowski

            A
                     m Fortbestand des Nahen Ostens, so wie wir       von Marokko bis Pakistan und von der Türkei bis
                     ihn kannten, gibt es neuerdings Zweifel. Die     zum Sudan. Engere Raumbezeichnungen sind eben-
                     Zukunft des seit dem Jahr 2003 unablässig        falls möglich: So liessen sich der Maghreb und Län-
            von Gewalt und Krieg geplagten Iraks liegt im Unge-       der wie Pakistan und der Sudan mühelos ausschlies-
            wissen. Noch weniger absehbar ist, ob Syrien, in dem      sen. Wenn die Grenzen des Nahen Ostens so schlecht
            seit 2011 Krieg herrscht, Bestand haben wird. Libyen      zu fassen sind, dann muss – so darf man folgern – der
            und Jemen sind keine handlungsfähigen Staaten             Begriff in sich selbst sehr vage sein. Das stimmt aber
            mehr, sondern dienen als Gefässe verworrener Kon-         nicht; der Nahe Osten hat einen klaren Bedeutungs-
            fliktlagen. Viel weiter gelangen die Einsichten meist      kern.
            nicht, denn die Entwicklungslinien in eine andere,
            neu geordnete Region sind nicht einfach einzuschät-       Wechselnde Ordnungsmächte
            zen. Vor vorläufigen Überlegungen jedoch, was der          Erstens: Der harte regionale Kern des Nahen Ostens
            Nahe Osten heute ist und in Zukunft sein könnte,          stimmt weitgehend mit den ehemaligen Herrschafts-
            sollten wir uns der Frage zuwenden, was der Nahe          gebieten des Osmanischen Reichs überein – von Li-
            Osten bisher gewesen ist.                                 byen über Israel / Palästina bis Irak, einschliesslich
                 Für den Nahen Osten lassen sich unterschied-         des Jemens und des westlichen Saudi-Arabiens. Das
            lichste Raumangaben finden. Man kann die Region            Osmanische Reich, nach dem Ersten Weltkrieg auf
            sehr weit fassen und sagen, der Nahe Osten reiche         der Seite der Verlierer stehend, musste seine Herr-
                                                                      schaftsgebiete in der östlichen arabischen Welt abge-
                                                                      ben. Sie gelangten grösstenteils als sogenannte «Man-
                                                                      date» des Völkerbunds an Frankreich und Grossbri-
                                                                      tannien. Unter diesen beiden Grossmächten war es
     « Aus europäischer                                               eindeutig Grossbritannien, das nach dem Ersten
                                                                      Weltkrieg die Region unter seine strategische Kont-
        Sicht war der                                                 rolle nahm.
      Nahe Osten über                                                     Und damit kommen wir zum zweiten Bedeu-
                                                                      tungskern: Bestimmend ist für den sich nach dem
     Jahrzehnte hinweg                                                Ersten Weltkrieg ausbildenden Nahen Osten immer
         zuverlässig                                                  gewesen, dass in der Region eine imperiale Ord-
                                                                      nungsmacht dominierte. Bis zum Ende des Zweiten
      unberechenbar.»                                                 Weltkriegs war dies Grossbritannien, danach über-
          Maurus Reinkowski                                           nahmen die Vereinigten Staaten von Amerika diese
                                                                      Rolle, mitunter und meist wenig erfolgreich von der
                                                                      Sowjetunion angefochten. Es ist dieses Zusammen-

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Dossier

spiel von imperialer Hegemonie bei gleichzeitiger       Jemen bilden diese grundlegenden Veränderungen
relativer Unbestimmtheit der Region, das den Bedeu-     eher ab, als dass sie primäre Ursache gewesen wären.
tungskern des Nahen Ostens ausmachte.
    Genauer gesagt, die Unbestimmtheit des Begriffs     Neue Migrationsrouten
hatte den Vorteil, ein auf die Region bezogenes poli-   Das erste Mal seit dem Ersten Weltkrieg gibt es nie-
tisches Handeln sowohl angezeigt als auch offen er-     manden mehr, der eine klare hegemoniale Füh-
scheinen zu lassen. Die Eisenhower-Doktrin von 1957     rungsrolle im Nahen Osten einnehmen will und
war die erste US-amerikanische Doktrin, die sich di-    kann. Die Folgen einer in diesem Machtvakuum neu
rekt auf den Nahen Osten bezog und sich den Schutz      entstehenden instabilen Ordnung von «Teil-Herr-
der Region vor sowjetischem Einfluss zum Ziel setzte.    schenden», wie Iran, Russland, Saudi-Arabien oder
Die Schwammigkeit des Begriffs «Naher Osten» war        der Türkei, lassen sich am schier endlosen Krieg in
hierbei von besonderer Hilfe, weil sich damit die USA   Syrien ablesen.
das Recht vorbehielten, in einer nur schwach kontu-          Für Europa und die Schweiz bedeutet dies, dass               Maurus
rierten Region überall dort zu intervenieren, wo sie    der Nahe Osten näher gerückt ist und «seine» Kon-               Reinkowski
ihre Interessen gefährdet oder neue Chancen für sich    flikte mittelbar auch jene Europas geworden sind.             ist Professur für
entstehen sahen. Die Grenzen des Nahen Ostens ver-      Neue Kommunikationsräume mit und Migrations-               Islamwissenschaft
                                                                                                                     an der Universi-
änderten sich also gemäss den strategischen Interes-    routen nach Europa sind entstanden: Die Balkan-
                                                                                                                 tät Basel. Nach dem
sen der in der Region engagierten Grossmächte. Mit      route wäre für Flüchtlinge und Migranten in den                Studium der
anderen Worten: Gerade die Unschärfe des Begriffs       1980er-Jahren noch eine einzige Abfolge von unüber-       Islamwissenschaft,
begründete seine Beharrungskraft.                       windlichen Grenzen gewesen.                                   der Turkologie
                                                             Disziplinen, die sich mit der Geschichte und Po-    und der Arabistik in
                                                                                                                     München, Istan-
Kontrollierte Distanz                                   litik der Region beschäftigen, wie der Fachbereich
                                                                                                                 bul und Wien arbei-
Aus europäischer Sicht war der Nahe Osten über          Nahoststudien an der Universität Basel, der dieses          tete er an den Uni-
Jahrzehnte hinweg zuverlässig unberechenbar: Es         Jahr auf sein 100-jähriges Bestehen zurückblickt, sind   versitäten Bamberg
gehörte zu seinen grundlegenden Charakteristika,        keine Orchideenfächer mehr. Sie beschäftigen sich            und Freiburg/Br.
dass er eine krisenanfällige Region war, dass aber      heute fast durchwegs mit dornigen Fragestellungen        Er lehrt und forscht
                                                                                                                      vor allem über
diese Konflikte kaum direkte Wirkungen nach aus-         und stehen bei Fragen der Stabilität und Zukunft
                                                                                                                 die neuere Geschich-
sen zeigten. Der Nahe Osten war vielleicht nicht in     Europas mit in der Verantwortung.                              te des Nahen
weiter Ferne, aber unmittelbar an «uns» dran war er                                                              Ostens und des öst-
auch nicht. Der Nahe Osten zeigte damit immer die       Überholte Raumkonzeptionen                                  lichen Mittelmeer-
Grundcharakteristika einer kontrollierbaren Konflikt-    Den Vereinigten Staaten wird es – allerdings um den       raums und gilt als
                                                                                                                      ausgewiesener
anfälligkeit und einer kontrollierten Distanz.          Preis einer abnehmenden weltpolitischen Bedeu-
                                                                                                                      Türkei-Experte.
    Soll das eine entscheidende Ergebnis benannt        tung – gelingen, sich den Folgen eines sich offen-
werden, das die Dinge grundsätzlich änderte, dann       sichtlich neu konstituierenden Nahen Ostens weitge-
wäre es die Besetzung Iraks im Jahr 2003 durch die      hend zu entziehen. Die europäischen Staaten haben
USA und ihre willigen Partner. Die US-amerikanische     diese Möglichkeit nicht. Der bisher so vertraute Nahe
Nahostpolitik war bis dahin immer zurückhaltend         Osten als Region permanenter Krisen, die aber in
gewesen und hatte nicht auf Regimewechsel, son-         scheinbar naturgegebener Weise keine direkten
dern auf den (in der Binnensicht dieser Politik: not-   Rückwirkungen auf die europäischen Gesellschaften
wendigen) zynischen Erhalt gegebener politischer        haben, ist nicht wieder zu haben.
Strukturen gesetzt. Der US-amerikanische Einmarsch          Die realpolitischen Züge europäischer Politik
im Irak 2003 widersprach dieser Politik einer zurück-   werden sich in der Zukunft stärker bemerkbar ma-
haltenden und kühl berechnenden Vorherrschaft.          chen. Bemerkenswert ist jedenfalls an der Entwick-
    Die Konsequenzen dieser Fehlentscheidung – ab-      lung der letzten Jahre die Entgrenzung und die Auf-
lesbar am Staatszerfall des Iraks und in der Folge      hebung bisher existierender Raumkonzeptionen,
auch Syriens, der Stärkung Irans als Regionalmacht      mit denen der Westen im Nahen Osten viele Jahr-
und am Aufstieg von Organisationen wie dem Islami-      zehnte vielleicht bisweilen im Dunkeln tappend,
schen Staat – prägen die US-amerikanische Nahost-       aber dennoch leidlich erfolgreich Politik betrieb. Das
politik bis heute. Sie haben die epochalen Tendenzen    bisherige Grundverständnis, dem zufolge es sich
des US-amerikanischen Rückzugs aus seiner Rolle als     beim Nahen Osten um eine von Europa deutlich ab-
globaler Herrscher beschleunigt. Die im Dezember        gesetzte und entfernte Region handelt, lässt sich je-
2010 in Tunesien ihren Ausgang nehmende «Arabel-        denfalls nicht mehr halten.
lion» und ihre Entgleisungen in Libyen, Syrien und

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Dossier

    Dana Smillie
  arbeitet seit über
 20 Jahren als Foto-
  grafin und Video-
autorin in Kairo unter
  anderem für inter-
nationale Printmedien
und Fernsehstationen.
Eines ihrer Strassen-
  foto-Projekte trägt
 den Titel «Freitag in
der Stadt». Ihre Foto-
     grafien zum
 Heftdossier zeigen
    Alltagsszenen
   der ägyptischen
     Metropole.

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Dossier

                                      Alltag in Kairo

                           Auf dem Sprung
                           in die Moderne.
                                      Text: Astrid Frefel

                        K
                                airo, die lärmige, emissionsbelas-
                                tete, chaotische ägyptische 22-Mil-
                                lionen-Metropole, soll in die Mo-
                        derne katapultiert werden, soll ein «zivi-
                        lisiertes» Aussehen erhalten. Die trostlo-
                        sen unverputzten, rostbraunen Backstein-
                        fassaden, die das «unzivilisierte» Stadtbild
                        prägen, müssen verschwinden. So will es
                        Präsident Abdelfattah al-Sisi. Deshalb hat
                        er angeordnet, dass alle Häuser einheit-
                        lich gestrichen werden müssen. Die Wahl
                        des Farbtons fiel auf ein dunkles Beige.
                             Doch diese Massnahme ist nicht viel
                        mehr als Kosmetik. Sisis Vision der Mo-
                        derne nimmt gegenwärtig auf einer gi-
                        gantischen Baustelle rund 40 Kilometer
                        südöstlich des Stadtzentrums Gestalt an.
                        Dort entsteht die neue Verwaltungshaupt-
                        stadt. Bis jetzt firmiert sie unter der eng-
                        lischen Abkürzung NAC (New Administra-
                        tive Capital). Sie ist der Gegenentwurf
                        zum historisch gewachsenen Strassenge-
                        wirr. Sie soll alles sein, was Kairo bisher
                        nicht ist: sauber, grün, smart und ver-
                        kehrsarm, bargeldlos und von Kameras
                        überwacht. Jeder Beamte und jede Beam-
                        tin, die es in diese schöne neue Welt
                        schaffen, müssen neben Englisch auch
                        die neusten Technologien beherrschen.
                        Der Präsident hat versprochen, die NAC
                        werde dazu beitragen, den zivilisierten
                        Charakter Ägyptens zu zeigen, und sie
                        bedeute einen Quantensprung in der Ent-
                        wicklung zum modernen, urbanen Ge-
                        meinwesen einer neuen Generation.
                        Träumen ist erlaubt. Bei einem Augen-
                        schein auf der Baustelle kommt der Besu-
                        cherin als Erstes ein feuerrotes Tuktuk
                        entgegen, eines dieser Dreiräder, die in
                        den letzten Jahren zu Hunderttausenden
                        die Strassen unsicher machen. Und der
                        Müll ist auch nicht verschwunden. Aus
                        Kairo wird wohl nicht so bald ein Dubai
                        am Nil.

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Dossier

                          Medien und
                      soziale Bewegungen.
           Der Politikwissenschaftler und Nahostspezialist Ali Sonay von der
     Universität Basel forscht zu aktuellen Entwicklungen in Ägypten, Marokko, der
       Türkei und Tunesien – und darüber, welche Rolle die Medien dabei spielen.

                                                         Text: David Hermann

V
        on Casablanca bis Ankara, von Twitter bis                                 ostforschung. Sicherheit und Terrorgefahr, Extremis-
        zum Radio: Ein Gespräch mit Ali Sonay                                     mus, Fundamentalismus und Autoritarismus waren
        gleicht einer Reise durch Nordafrika und den                              hier jahrelang die bestimmenden Themen, gerieten
ganzen arabischen Raum bis in die Türkei und quer                                 aber nach den Ereignissen im Arabischen Frühling in
durch die aktuelle Zeit- und Mediengeschichte. Der                                den Hintergrund. Das veränderte auch die öffentli-
wissenschaftliche Mitarbeiter am Fachbereich Nah-                                 che Wahrnehmung: Die Region ist heute – trotz vie-
oststudien untersucht Muster von sozialen Bewegun-                                ler eher negativer Nachrichten – auch mit Themen
gen und die Rolle der Medien im Mittleren Osten und                               wie Partizipation, Vielfalt und Demokratie im öffent-
Nordafrika.                                                                       lichen Diskurs präsent. So schafft die mediale Be-
    Am Anfang stand für ihn der Arabische Frühling                                richterstattung auch neue Realitäten.
                                                                Ali Sonay
in Ägypten im Jahr 2011, der auf die Proteste in Tune-   ist wissenschaftlicher
sien folgte. Sonay war damals mit seiner Doktorar-           Mitarbeiter am       Fehlende Strukturen
beit mitten drin: Er interessierte sich vor allem für    Fachbereich Nahost-      In Ägypten hat sich acht Jahre nach dem Arabischen
die Bedeutung von Netzwerken zur Mobilisierung                 studien der        Frühling heute an der Oberfläche wenig geändert:
                                                           Universität Basel.
und Organisation der Proteste. Er sagt, die Jugendbe-                             Armut und Arbeitslosigkeit sind immer noch gross.
                                                         In seiner Promotion
wegung des 6. April sei bei den Entwicklungen in             behandelte er        «Das aktuelle Regime von al-Sisi unterdrückt unab-
Ägypten von grosser Bedeutung gewesen. Sie geht            soziale Bewegun-       hängige Medien, vor allem im Internet, und lässt
zurück auf eine Facebook-Gruppe, die zur Unterstüt-          gen im Nahen         zum Beispiel grosse Facebook-Gruppen per Gesetz
zung eines Arbeiterstreiks schon 2008 gegründet            Osten im Zug der       überwachen», beschreibt Sonay die Situation. Trotz-
                                                          Umwälzungen von
worden war. Nach kurzer Zeit hatte diese Gruppe                                   dem sei ein Bewusstsein für Demokratie gewachsen.
                                                            2011 anhand der
mehr als 70 000 Unterstützer.                                  ägyptischen        Daraus schöpft der Forscher Hoff nung für Ägypten:
                                                          Jugendbewegung          «Im Arabischen Frühling waren Pluralismus und Par-
Digitale Mobilisierung                                       des 6. April. Er     tizipation wichtige Werte. Es ist wohl eine Frage der
Über das digitale Netz mobilisierte die Facebook-          untersuchte auch       Zeit, bis die Revolution wieder zum Leben erwacht.»
                                                            zeitgenössische
Gruppe Teile der Bevölkerung zu den Protesten ge-                                 Es fehlte der Bewegung damals an der nötigen Stabi-
                                                          Mediendynamiken
gen das damalige Regime Hosni Mubaraks. Sonay                 in der Türkei,      lität, sagt Sonay: «Wenn ein Protest so offen angelegt
betont aber auch die Bedeutung der Cafés und der             Tunesien und         ist wie die Jugendbewegung des 6. April, mangelt es
Strasse als Orte der Begegnung und des Austauschs:              Marokko.          oft an den nötigen Strukturen, um ihn zu institutio-
«Hier wuchsen Beziehungen und Ideen, die später                                   nalisieren. Das beobachten wir auch bei anderen so-
über Facebook und Twitter verbreitet wurden.»                                     zialen Bewegungen.» In Ägypten sei die Revolution
Sonays Forschung erhält heute viel Aufmerksamkeit,                                letztlich an der fehlenden Strategie der Akteure ge-
denn mit dem Fokus auf soziale Bewegungen setzt er                                scheitert, sich am formalen politischen Prozess zu
einen anderen Schwerpunkt als die etablierte Nah-                                 beteiligen.

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Dossier

Unterschiedliche Bedingungen
Während seines Postdocs an der Universität Cam-
bridge untersuchte Sonay zeitgenössische Mediendy-
namiken in Tunesien, der Türkei und Marokko. Er
legt Wert auf eine differenzierte Betrachtung des
arabischen Raums. Es sei zum Beispiel falsch, aus den
Entwicklungen in Ägypten Rückschlüsse auf die
ganze Region zu ziehen: «Jedes Land hat andere wirt-
schaftliche, gesellschaftliche und mediale Rahmen-
bedingungen, und das verändert auch die sozialen
Bewegungen.»
     In Marokko antizipiere das Königshaus immer
wieder geschickt veränderte gesellschaftliche Ent-
wicklungen und tausche als Reaktion darauf zum
Beispiel den Premierminister aus. So bleibe der Kö-
nig im Hintergrund, und nur die Politiker müssten
die ganze Kritik einstecken. Trotz repressivem Sys-
tem mit stark eingeschränkter Pressefreiheit gilt das
Land als stabil und geniesst ein positives Image. «Da-
bei wurde etwa eine italienische Überwachungsfirma
engagiert, und mit gezielten Angriffen wurden die
unabhängigen marokkanischen Onlinemedien ge-
schwächt», sagt Sonay.                                               Kairoer Spray-Graffiti vom Oktober 2012: Eine «Joker»-Figur zieht eine
     In Tunesien zeigt sich ein leicht anderes Bild:                  Karte mit dem damaligen ägyptischen Präsidenten Mohamed Morsi,
                                                                            einem Vertreter der fundamentalistischen Muslimbrüder.
Nach der Jasmin-Revolution von 2010 und 2011 ent-
standen zahlreiche private Medien. Einige gehören
heute wichtigen Wirtschaftsvertretern mit grosser
Nähe zu den politischen Entscheidungsträgern. Trotz
dieser Verflechtungen gelten die Medien als relativ
frei. Zeitungen, Radio- und TV-Sender bestimmen
hier, wie im ganzen arabischen Raum, die öffentliche
Debatte. Diese sei von einer grossen Angst vor syri-
schen oder jemenitischen Zuständen im eigenen             ser wurden in letzter Zeit aufgekauft und von regie-
Land geprägt. Staats- oder regierungskritische Stim-      rungsnahen Wirtschaftsführern übernommen. Seit-
men würden mit Verweis auf solche katastrophale           her berichten sie immer einseitiger und immer
Alternativen stumm gestellt. Auch auf den transnatio-     stärker mit nur auf ihre politische Basis zugeschnit-
nalen Fernsehsendern Al Arabiya und Al Jazeera sind       tenen Argumenten.» Zwar bildet das Internet mit ei-
diese Konflikte sehr präsent.                              ner aktiven Twitter-Szene und kritischen Blogs ein
     «Trotz einer unruhigen Region und weiterhin          starkes Korrektiv. Aber, stellt Sonay fest: «Wer ge-
hoher Arbeitslosigkeit und Armut bleibt das Land          wisse rote Linien überschreitet, muss sich auf Ein-
stabil. Das ist das erfolgreichste Ergebnis der Ereig-    schüchterungsversuche gefasst machen.»
nisse von 2011», betont Sonay, «und es stellt auch eine       Der Nahostexperte beobachtet, wie in der brei-
Frucht der breit abgestützten Demokratiebewegung          ten türkischen Öffentlichkeit der Wert von Wahr-
dar». Denn anders als in Ägypten folgte nach dem          heit, Vielfalt und Offenheit sinkt. Und er sieht dabei
Sturz von Präsident Ben Ali in Tunesien ein politi-       deutliche Parallelen zwischen dieser Dynamik in der
scher Aufbau demokratischer Strukturen, der grosse        Nahost-Region und einem globalen Phänomen:
Teile der Zivilgesellschaft integrierte.                  «Auch in den USA, Russland und China sind Herr-
                                                          scher an der Macht, die es mit der Wahrheit nicht
Medienfreiheit unter Druck                                immer so genau nehmen. Dadurch fühlen sich die
Mit Blick auf die Dynamik im türkischen Mediensys-        Regierungen der Region in ihrem autoritären Verhal-
tem stellt Sonay fest: «Viele unabhängige Medienhäu-      ten natürlich nochmals bestärkt.»

                                                          UNI NOVA   133 / 2019                                                              21
Dossier

22   UNI NOVA   133 / 2019
Dossier

      Gibt es «gerechte» Grenzen?
                 Die willkürlich und achtlos gezogenen Grenzen der früheren
                Kolonialmächte seien schuld an der heutigen Misere, heisst es.
                     Diese Behauptung wird in der Forschung bezweifelt.

                                                           Text: Irène Dietschi

D
        ie Idee erinnert etwas an Sandkas-    1916 teilten Grossbritannien und Frank-            Reissbrett gezogen worden, ist falsch.
        tenspiele: Im Nahen Osten müsse       reich ihre kolonialen Interessengebiete            Jede dieser Grenzen ist verhandelt wor-
        man nur die Grenzen neu denken        unter sich auf. Die Briten erhielten die           den. Es gab viel Streit, aber auch nach-
und die Identität der jeweiligen Bevölke-     Kontrolle über ein Territorium, das dem            trägliche Veränderungen.»
rung besser berücksichtigen – dann gäbe       heutigen Jordanien, dem Irak und Gebie-                So habe beispielsweise die Türkei –
es weniger Konflikte. Für Alexander Balis-     ten um Haifa entspricht. Die Franzosen             ein historischer Zufall – 1920 zwar die
treri ist dies ein typisches Huhn-Ei-Prob-    beanspruchten die Vorherrschaft über die           Waffenstillstandsgrenzen als neue Staats-
lem. Der Assistent am Fachbereich Nah-        Südosttürkei, den Nordirak, den Libanon            grenzen akzeptiert. Aber später wandel-
oststudien der Universität Basel unter-       und Syrien. Gemäss dem Abkommen                    ten sich diese Grenzen mehrfach: Teile
sucht derzeit die Geschichte des polyeth-     konnten die französische und die briti-            des Kaukasus etwa, die von jeher zum
nischen Grenzgebiets zwischen dem             sche Regierung frei bestimmen, wie sie             Osmanischen Reich gehört hatten und
Kaukasus und Anatolien. Er sagt: Die we-      die Staatsgrenzen innerhalb ihres jeweili-         nicht besetzt waren, gab die Türkei an die
nigsten Konflikte im Nahen Osten hätten        gen Einflussgebietes ziehen wollten.                Sowjetunion ab, um dieser einen Freund-
sich an den Grenzen entzündet. Meistens           Allerdings ist diese Erzählung zu sim-         schaftsdienst zu erweisen. An der südli-
gehe es dabei um die Staatsmacht – wobei      pel, sagt Balistreri: «Keines der Länder in        chen Grenze wiederum schanzte Frank-
die Grenzen nur vorgeschoben würden.          dieser Region ist aus dem Nichts entstan-          reich der Türkei 1938 das damalige Ale-
    «Zum Beispiel Syrien», erläutert Balis-   den.» Natürlich seien die Franzosen und            xandretta (heute Iskendrun, Provinz Ha-
treri: «Im Syrienkrieg spielten Grenzen       die Briten bei der Grenzziehung die                tay) zu. «Die Gründe dafür waren diplo-
ursprünglich eine Nebenrolle. Auslöser        Hauptakteure gewesen. «Doch die Vorstel-           matischer Natur», erklärt Balistreri: «Die
des Konflikts war der Arabische Frühling       lung, die neuen Scheidelinien im Nahen             Franzosen brachten die Türkei so dazu,
von 2011 und die Proteste gegen das Re-       Osten seien am Ende des Osmanischen                im Zweiten Weltkrieg an ihrer Seite auf-
gime von Präsident Assad.» Erst später        Reichs sozusagen mit dem Lineal auf dem            zutreten.» In ähnlicher Weise seien im
seien Akteure auf den Plan getreten, wel-
che die Grenzen zum Thema machten. So
erklärte der sogenannte Islamische Staat
die Grenze zwischen dem Irak und Syrien
für ungültig – wie die Terrormiliz auch
die übrigen Staatsgrenzen des Nahen Os-
tens auflösen will, um stattdessen ein
dschihadistisches «Staatsbildungsprojekt»
zu errichten.

Britisch-französische Aufteilung
Drehen wir das Rad um 100 Jahre zurück:
Das Ende des Ersten Weltkriegs markierte
gleichzeitig den Untergang der Osmanen-
Dynastie, die seit 1299 regiert hatte. Es
entstand ein neuer Naher Osten – unge-
                                                                   Historische Ruinenstätte Ani an der türkisch-armenischen
fähr mit den heutigen Grenzen. Im soge-                          Grenze: Vorne ist Gebiet der Türkei, während die Hügel hinten
nannten Sykes-Picot-Abkommen vom Mai                                                 zu Armenien gehören.

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Dossier

                                   Lauf der Zeit praktisch alle Grenzen zum      orie. «Bis heute ist nichts davon verwirk-
                                   Spielball verschiedenster lokaler Interes-    licht worden», sagt Balistreri.
                                   sen und Akteure gemacht worden. Jede
                                   Grenze habe somit ihre eigene Ursprungs-      Bedeutung neu definieren
                                   geschichte.                                   Trotzdem bleibt die Frage: Macht es Sinn,
                                                                                 die Grenzen im Nahen Osten neu zu den-
                                   US-Pläne zur Neugestaltung                    ken? Wären zum Beispiel ethnische und/
                                   Nach den Golfkriegen wurden in US-Me-         oder religiöse Grenzen nicht nur gerech-
                                   dien diverse Pläne und Vorschläge ver-        ter, sondern auch «natürlicher» als politi-
                                   breitet, wie der Nahe Osten mit neuen         sche Scheidelinien? Balistreri hält dies für
                                   Grenzen zu retten sei. Wie sich hier ge-      eine Illusion. Die Vorstellung, was eine
                                   wisse Kreise einen neu gestalteten Nahen      «gute» Grenze sei, habe sich im Lauf der
                                   Osten vorstellten, konnte man 2006 im         Geschichte immer wieder verändert. Und:
                                   «Armed Forces Journal» nachlesen, einer       «Der Ursprung einer Grenze sagt sehr we-
                                   Publikation von Führungskräften in Re-        nig über ihr Konfliktpotenzial aus.»
                                   gierung und Industrie: «Die schreiendste           Der Historiker verweist auf das Bei-
                                   Ungerechtigkeit in den notorisch unge-        spiel Jordanien: Dieser Staat mit Grenzen
                                   rechten Ländern zwischen Balkan und           zu Israel, den Palästinensischen Autono-
                                   Himalaya ist das Fehlen eines unabhängi-      miegebieten, Syrien, dem Irak, Saudi-
                                   gen kurdischen Staates.» Die USA und          Arabien und dem Roten Meer sei im Na-
                                   ihre Koalitionspartner hätten nach dem        hen Osten «das künstliche Land schlecht-
                                   Fall von Bagdad eine «glorreiche Chance       hin». Trotzdem sei Jordanien stabil, «wenn
                                   verpasst, diese Ungerechtigkeit zu korri-     nicht gar das stabilste Land überhaupt in
                                   gieren», hiess es darin.                      der Region». Ganz anders der Libanon:
                                       Gemäss der US-Publikation sollte die      Dessen Grenzen basieren auf den admi-
                                   Landkarte im Nahen Osten so aussehen:         nistrativen Grenzen aus dem 19. Jahrhun-
                                   – Die Türkei, Syrien, Iran und Irak verlie-   dert. Trotzdem gab es hier immer wieder
                                   ren alle Gebiete zugunsten eines «Freien      Bürgerkriege. Dass die Grenzen des Liba-
                                   Kurdistan».                                   non «historisch verbürgt» seien, sagt der
         Alexander Balistreri      – Libanon gewinnt auf Kosten von Syrien       Forscher, habe diese Kriege nicht verhin-
        ist wissenschaftlicher     ebenfalls Territorium und wird als «Phö-      dert.
      Assistent am Fachbereich     nizien» wiedergeboren.                             «‹Natürliche› Grenzen sind keine Ga-
     Nahoststudien der Univer-     – Der Irak wird nach Religionsgemein-         rantie für ein friedliches Beisammen-
        sität Basel. In seinem
                                   schaften aufgeteilt, und zwar in einen        sein», bilanziert Balistreri. «Grenzen wer-
     Dissertationsprojekt unter-
       sucht er die Geschichte     «sunnitischen Irak» und – zusammen mit        den nach ganz unterschiedlichen Krite-
     des polyethnischen Grenz-     Gebieten des Irans – in einen «arabischen     rien gezogen, nicht nach einem einzigen.»
        gebiets zwischen dem       Schiiten-Staat».                              Menschen seien auch nicht einfach «Kur-
      Kaukasus und Anatolien.      – Das Volk der Belutschen wird in einem       den» oder «Sunniten» oder «Aleviten»,
         Zu seinem weiteren
                                   «Freien Belutschistan» vereint, das aus       sondern sie hätten eben viele Facetten,
      Forschungsfeld gehören
     allgemein die Beziehungen     Pakistan und dem Iran herausgelöst wird.      die ihre Identität ausmachten. Grenzen
          zwischen Staaten             «Manche Amerikaner fühlten sich           seien eine menschliche Institution, die
         und Bevölkerungen.        tatsächlich dazu erkoren, den Nahen Os-       laufend neu gedeutet werden soll.
                                   ten neu zu gestalten», sagt Balistreri, der        Dass eine alternative Grenzziehung
                                   selbst in den USA aufgewachsen ist. «Als      die Konflikte im Nahen Osten lösen
                                   hätten die Franzosen und Briten nicht         könnte, beurteilt der Historiker sehr
                                   schon früher die Erfahrung gemacht, dass      skeptisch. Sein Fazit ist ein anderes: «An-
                                   man mit Grenzen nichts Konkretes lösen        statt die Grenzen neu zu ziehen, könnte
                                   kann.» Solche «Pläne» wurden in den USA       man ihre Bedeutung neu definieren.»
                                   damals zwar diskutiert, aber nie auf          Ähnlich wie in Europa sollten Grenzen
                                   Ebene der Regierung als Programm arti-        frei überschreitbar sein und die Mobilität
                                   kuliert. Entsprechende Karten wurden          fördern. Im Idealfall seien sie also nicht
                                   auch im Nahen Osten verbreitet und sorg-      Symbole für Konflikte und Trennung, son-
                                   ten für einige Aufregung, aber die Vorstel-   dern hätten eine organisierende, ord-
                                   lung eines «Nahost-Grossplans» der USA        nende Funktion – eine Funktion, die Men-
                                   ging eher in Richtung Verschwörungsthe-       schen verbindet.

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