UniPress* - Erinnern und Vergessen - Universität Bern
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Erinnern und Vergessen * Gespräch der Generationen – Norbert Thom und Elena Hubschmid 32 * Begegnung – Manuela coacht Helai 36 Ap r i l 2 0 1 4 160 * Forschung – Wenn die Matur leicht ist, wird es später schwer 30 UniPress* Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern
Gipfel Freude* Wir suchen Assistenzärztinnen und Assistenzärzte. www.privatklinik-meiringen.ch * Meine Work-Life-Balance stimmt. Ich lebe und arbeite im Haslital… Dort, wo andere Ferien machen! Zentrum für universitäre Weiterbildung ZUW www.zuw.unibe.ch Der universitäre Abschluss als Ziel 56 verschiedene Weiterbildungsabschlüsse an der Universität Bern – Ihrer Weiterbildungsuniversität www.postgraduate.unibe.ch Master of Advanced Studies MAS Diploma of Advanced Studies DAS Certificate of Advanced Studies CAS Informationen: Zentrum für universitäre Weiterbildung ZUW, Schanzeneckstrasse 1, 3001 Bern, zuw @ zuw.unibe.ch 2 UniPress 160/2014
ERINNERN UND VERGESSEN A: «Stell dir vor, du würdest nichts vergessen.» B: «Unvorstellbar» A: «Du würdest bei allen dir bekannten Leuten immer den Namen wissen.» B: «Angenehm» A: «Du könntest dich an alle Situationen mit einer Person erinnern.» B: «An die guten und die schlechten?» A: «Alle» B: «Nur an die Umstände oder auch an die dazugehörigen Emotionen?» A: «Alles» B: «Dann würden alle Ereignisse der Vergangenheit meine Gegenwart mit dieser Person prägen und die Zukunft bestimmen ...» A: «Das wäre wohl so.» B: «Es gäbe mit dieser Person keine Spontaneität mehr ...» A: «Gibt es sie denn heute? Prägen nicht unbewusste Erinnerungen unser Verhalten mehr, als wir vermuten?» B: «Dann könnte ich meinen Mitmenschen nicht mehr offen begegnen.» A: «Sind wir nicht sowieso schon so weit? Im digitalen Zeitalter wird Vergessen unmöglich.» B: «Spannender Gedanke! Das muss ich gleich auf Facebook posten ...» Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre. Marcus Moser und Timm Eugster UniPress 160/2014 1
Gotthelf neu entdecken Trends in der Spitzenmedizin Archäologie – Graben nach Geschichten * Gespräch – Brigitte Schnegg über die Kehrseiten der Care-Arbeit 40 * Gespräch – Benedikt Meyer über Glanz und Elend des Fliegens 40 * Gespräch – Bruno Moretti will mit guter Lehre punkten 40 * Begegnung – Sandro Vicini blickt in die Seele der Universität 44 * Begegnung – Anne-Marie Kaufmann, Bäuerin und Priesterin 44 * Begegnung – Cédric sucht «Action» an der Kinderuni 44 Oktob er 2 0 1 2 154 Dezember 2012 155 Apri l 2013 156 * Spezial – Nachhaltige Lösungen für Nord und Süd 32 * Forschung – Das Klima der Zukunft 30 * Forschung – Junge Tibeter leben ihre Religion eigenständig 36 UniPress* UniPress* UniPress* Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern Mission Weltraum Bauen an der Zukunft Geschichten einer Generation * Gespräch – Christine Göttler über Kunst-Räume und Zufluchtsorte 32 * Gespräch – Rektor Martin Täuber zur Strategie 2021 32 * Gespräch – Thomas Stocker und Gian-Kasper Plattner zum Klima 32 * Begegnung – Veronica Schärer ist begabt und wird gefördert 36 * Begegnung – Timo Engel bricht in fantastische Welten auf 36 * Begegnung – Thierry Aebischer entdeckte ein Paradies für Tiere 36 Juni 2013 157 Oktober 2013 158 D ez emb er 2 0 1 3 159 * Forschung – Wie sich Geschlechter-Stereotypen auflösen 26 * Forschung – Gehen mit dem Digitalfilm die Emotionen verloren? 26 UniPress* UniPress* * Forschung – Hightech-Analysegerät für Klima, Luft und Bilder 30 UniPress* Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern Eine UniPress-Ausgabe verpasst? Gerne können Sie Einzelexemplare nachbestellen: unipress@unibe.ch Tel.: 031 631 80 44 Wollen Sie UniPress (4 Ausgaben jährlich) kostenlos abonnieren? Abo-Bestellungen über: www.unipress.unibe.ch oder an die Vertriebsfirma Stämpfli Publikationen AG Tel.: 031 300 63 42 abonnemente@staempfli.com Universität Bern Abteilung Kommunikation Hochschulstrasse 4 CH-3012 Bern Tel. +41 31 631 80 44 kommunikation@unibe.ch www.kommunikation.unibe.ch 2 UniPress 160/2014
Inhalt ERINNERN UND VERGESSEN 5 Die uneträgliche Leichtigkeit des Erinnerns Von Eduard Kaeser 8 Die Macht unbewusster Erinnerung Von Andrea Wantz 15 Vergessen bringt Vorteile: die Lektionen der Fruchtfliege Von Johanni Brea und Walter Senn FORSCHUNG UND RUBRIKEN 17 Autobiografische Erinnerung: Fakt oder Fiktion? Von Pasqualina Perrig-Chiello Forschung 20 Im Geflecht klingender Erinnerungen 26 Anatomie: Wenn Nanopartikel in der Lunge Von Theresa Beyer landen Von Susanne Wenger 23 «Nunca más, nie wieder» – an Massenverbrechen erinnern 28 Kunstgeschichte: Die Gesellschaft formen Von Stephan Scheuzger Von Roland Fischer 30 Bildungsökonomie: Wenn die Matur leicht ist, Bildstrecke: Das Gehirn, unser zentrales Organ für wird es später schwer Erinnern und Vergessen, in Einzelteile zerlegt und Von Andrea Diem und Stefan C. Wolter gestalterisch interpretiert von Adrian Moser. Rubriken 1 Editorial 32 Gespräch Norbert Thom und Elena Hubschmid – Hi Prof! Von Marcus Moser 36 Begegnung Manuela Vadlja – Juristin statt Floristin Von Timm Eugster 38 Meinung Die Zukunft des Internets enscheidet sich jetzt Von Mira Burri 39 Bücher 40 Impressum UniPress 160/2014 3
Die unerträgliche Leichtigkeit des Erinnerns Erinnern ist schwer, Vergessen ist leicht: Das war früher. Im digitalen Zeitalter haben sich die Verhältnisse verdreht: Jetzt ist Erinnern leicht und Vergessen unmöglich. Ein Zustand mit sozialen und politischen Folgen, findet unser Autor in seinem Essay. Von Eduard Kaeser Andrew Feldmar, ein Psychotherapeut aus 1950er Jahren. Heute müsste es heissen: Dieser technologischen Zuversicht steht ein Vancouver, schrieb 2001 in einem wissen- Die algorithmische Nutzung menschlicher wachsendes politisches Unbehagen schaftlichen Artikel, er habe in seiner Wesen. Der in Harvard lehrende Medien- entgegen. Man könnte es als panoptische Jugend einmal LSD probiert. 2006, als er, rechtler Viktor Mayer-Schönberger hat in Phobie bezeichnen, in Anlehnung an wie schon oft, in die USA einreisen wollte, einem lesenswerten Buch («Delete») die Jeremy Benthams «Panopticon», einem googelte einer der Grenzbeamten nach These aufgestellt und begründet: War Prinzip des Gefängnisbaus im 19. Jahrhun- seinem Namen. Die Maschine spuckte den früher Vergessen leicht und Erinnern dert, in dem die Wärter die Insassen Artikel aus. Die Frage des Beamten, ob die aufwendig, verhält es sich heute zuneh- kontrollieren, ohne dass die Insassen es Aussage über LSD stimme, bejahte Feldmar. mend umgekehrt. Dies aufgrund eines merken. Die Befürchtungen gehen dahin, Woraufhin ihm beschieden wurde, dass er gewaltigen technisch-ökonomischen dass wir das Überwachtwerden tendenziell als «Drogenkonsument» gelte. Er wurde Impulses der Digitalisierung, Verbilligung verinnerlichen: Ich handle so, als ob ich zurückgewiesen und darf seither nur noch der Speicher und Prozessorenleistung, beobachtet würde, auch wenn ich nicht mit einer Sondergenehmigung in die USA leichter Abfrage und globaler Reichweite. beobachtet werde. Was heute Gestalt einreisen. «Dank» digitalem Gedächtnis annimmt, ist ja nicht bloss ein Panopticon machte ihm eine längst vergessene *** über den Raum, sondern auch über die Jugendsünde das Leben sauer. Wie der Zeit. In der digitalen Öffentlichkeit sind Journalist Joseph D. Lasica schon 1998 in Wie immer treten bei solch grossen tech- unsere archivierten Worte und Taten über einem hellsichtigen Online-Artikel («The nischen Schüben die Rosa- und die Generationen hinweg verfügbar. Fälle wie Net Never Forgets») schrieb: «Gesprochene Schwarzseher auf den Plan. Zu den ersten jene von Andrew Feldmar könnten zur Wörter verschwanden früher wie Dampf gehören Ingenieure, die schon seit über Normalität werden, so dass wir in einer Art in der Luft; Zeitungen vergilbten und einem halben Jahrhundert von einem von vorauseilender Wachsamkeit zweimal wurden zu Staub. Heute ritzt sich die künstlichen Langzeitgedächtnis träumen. überlegen, was wir sagen und was wir tun. Vergangenheit wie ein Tattoo in unsere Vannevar Bush, ein Pionier des Analogrech- Genau dann aber, wenn sich solche digitale Haut.» ners, beschrieb schon 1945 eine perfekte Selbstzensur unserem Denken und Handeln Erinnerungsmaschine namens «Memex» aufmoduliert, ist das digitale Panopticon *** («memory extended»), die dem Menschen gesellschaftliche Realität geworden. nicht nur Zugang und Herrschaft über das Das heisst: Der Sauerstoff der Demokratie, Das Netz vergisst nicht. Was ich auch tue, Wissen aller Zeiten verschaffe, sondern in die freie Meinungsäusserung, wird zu- ich hinterlasse Spuren, in die andere klicken das er sich auch weiterhin einschreiben nehmend knapper. können. Zigmilliarden Suchanfragen er- könne. Heute führt Gordon Bell dieses reichen Google im Monat, welche die Projekt auf digitaler Basis weiter. Sein Ziel *** Maschine archiviert, auf Trends hin analy- ist «Lifelogging», das Verewigen seines siert sowie demografisch auszuwerten Lebens auf einem Laptop: Bilder, E-Mails, Es gibt viele Gründe, warum Vergessen vermag. Durch geschickte Verknüpfung von Texte, Telefonanrufe, aufgezeichnete wichtig ist. Ich möchte hier einen beson- Login-Daten, Cookies und IP-Adressen ist es Gespräche, ein riesiges Sammelsurium an ders hervorheben: Vergessen schafft Spiel- inzwischen möglich, mit erstaunlicher Prä- biografischen Daten. «Ich glaube, das raum, freien Platz im Kopf, Anlässe des zision Suchanfragen auf individuelle User Bestreben des Personal Computer ist, das Neuanfangs. Menschen mit aussergewöhn- einzugrenzen. Und auf der Basis der eigene Leben einzufangen» sagte er in lichem Erinnerungsvermögen – es gibt sie User-Vergangenheit errechnen die Algo- einem Interview: «Ich stelle mir das System tatsächlich – sind Gefangene ihrer Vergan- rithmen deren Zukunft. «The Human Use of als ein persönliches Gedächtnis vor. Und ich genheit. Der Journalist Joseph Foer berich- Human Beings» – die menschliche Nutzung fühle mich ungemein frei, all die Informa- tete 2007 im «National Geographic» über menschlicher Wesen – betitelte einer der tionen da zu haben.» eine Kalifornierin mittleren Alters, die sich Väter der modernen Kybernetik, Norbert detailscharf – ohne Gordon Bells digitale Wiener, ein vielgelesenes Büchlein in den *** Armatur – an ihre Biografie seit dem Erinnern und Vergessen UniPress 160/2014 5
11. Lebensjahr erinnert, nicht im Sinne Unser Gedächtnis ist aber kein Akten- Für uns Netzbenutzer wird das Erinnern verflossener Tage, sondern in quälenden schrank, in den man einfach Informationen immer passiver – wir werden «erinnert». Einzelheiten. Sie erinnert sich, was sie vor hineinlegt und wieder herausnimmt – «save Amazon «erinnert» mich daran, das und drei Jahrzehnten zum Frühstück ass, was sie and retrieve». Unser Gedächtnis ist ein das zu kaufen, weil ich dieses und jenes damals in den Fernsehshows sah, wer sie hochadaptives neurosensorisches System, schon gekauft habe. Kaufverhalten – das ist am Sonntag, 3. August 1986 um 12.34 Uhr das sich und die verwahrte Information erst der Anfang. Wenn Googles Ex-CEO Eric anrief. Sie erinnert sich an Weltereignisse, ständig verändert, sich permanent im Schmidt von der Zukunft träumt, klingt das triviale Einkaufsgänge, an das Wetter, ihre Wechselspiel persönlicher Vorlieben, Ab- vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen Gefühle. Sie lebt in permanent gegenwär- neigungen, Erwartungen rekonstruiert. definitiv wie eine Drohung: «Eine Zukunft, tiger Vergangenheit, die buchstäblich wie Bewusstes, aktives Vergessen bedeutet in der du nichts vergisst, in der du dich nie ein Film ihren Alltag überzieht. Statt in der deshalb, dass wir Information interpre- verirrst. Wir werden deine Position bis auf Gegenwart zu leben, hängt sie vergan- tieren, beurteilen und gewichten und uns deine Fusslänge und bis auf eine kleine genen verpassten Chancen nach und macht nicht einfach passiv mit Daten mästen. Nur Zeitspanne genau kennen. Dein Auto wird sich Vorwürfe: «Die meisten Leute nennen noch in Erinnerungen zu leben erstickt selber fahren. Du wirst nie mehr allein das, was ich habe, ein Geschenk, ich nenne einen. In diesem Sinn machen zu viele sein.» Genau aus diesem Grund gewinnt es eine Bürde.» Die Frau bezeichnet sich Daten aus uns unfreie, urteils- und das Vergessen eine neue Bedeutung: als selbst als «verrückt». entscheidungsunfähige Menschen. Verweigerung. Ganz banal zum Beispiel als Verweigerung, eine Supercard zu führen, *** *** ein Facebook-Konto zu eröffnen, sich in einer Kundendatei registrieren zu lassen. Anomalien spiegeln den Normalfall: Wir Aus diesem Grund erweisen sich Erinnern Zugegeben, das klingt heute schon wie ein sind von Kopf bis Fuss auf das Vergessen und Vergessen noch aus einem ganz ak- Appell auf verlorenem Posten. Umso mehr eingestellt, als Filter gegen Informations- tuellen Grund als höchst bedenkenswert, gilt es, Vergessen als Widerstand aufzu- überflutung. Goethe nannte Vergessen eine nämlich als das prekäre Verhältnis von digi- fassen gegen einen gigantischen erin- «hohe Gottesgabe». Ein beliebig grosses talem und analogem, datifiziertem und nernden Moloch, der mich, die reale Gedächtnis könnten wir mit einer Riesen- physischem Selbst. Es ist Ersteres, das sich Person, durch ein digitales Alter Ego masse an Einzelheiten vollstopfen. Aber die immer mehr in die Erinnerungsfänge des ersetzen will. Umgekehrt gesagt: In dem Knappheit des Speicherraums schafft über- Netzes verstrickt. «Das Netz vergisst nicht» Masse, in dem wir uns so verweigern, haupt erst die Notwendigkeit des Verknüp- heisst anders gesagt, dass wir zusehends zu behaupten wir uns als Unerfasste, elektro- fens, Weglassens, Abstrahierens, will sagen: Bürgern zweier Gesellschaften, einer imma- nisch Nicht-Gesammelte: als «Vergessene» der Intelligenz. Ohne Vergessen würden wir teriellen und einer materiellen, werden. des Netzes – als Menschen aus Fleisch und unter der Last der Einzelheiten kollabieren. Insofern beschreibt die Metapher der digi- Blut, mit all ihren Defiziten. Die letzten Hinzu kommt ein Weiteres. Wem ist nicht talen Haut emblematisch unsere Condition Vertreter einer alten Spezies? schon beim Betrachten alter Bilder die humaine im angebrochenen Millenium. Frage aufgestossen: Bin ich das noch? Oder Mein Online-Ich wird nicht vergessen. Dass Kontakt: Dr. Eduard Kaeser, wer hat nicht schon beim Lesen alter Briefe dadurch eine folgenschwere Dissoziation e.cheese@gmx.net oder Tagebucheintragungen über Bekannt- von datifizierter und physischer Person schaften plötzlich den irritierenden Zweifel stattfinden kann, liegt im Bereich des be- Blog: http://kaeser-technotopia.blogspot.ch in sich nagen gespürt: Ist das wirklich die reits Realisierten. Offizielle Ämter, Organisa- Person, mit der ich heute freundschaftlich tionen und Privatfirmen «erinnern» sich an verkehre? Solche Fragen tauchen auf, weil mich in Gestalt von wachsenden persön- Information eine zeitliche Dimension hat. lichen Datenbanken. Es ist das Zählbare, Und gerade der Informationsverfall durch das Datifizierbare an mir, das für sie letzt- Eduard Kaeser, geboren 1948, ist Physiker Vergessen gehört zum persönlichen Wachs- lich zählt: das Datenpaket «Eduard Kaeser». und promovierter Philosoph. Er unterrich- tumsprozess. Das digitale Gedächtnis ne- Der modische Trend, durch Self-Tracking tete bis 2012 Physik und Mathematik und giert diese Zeitdimension. Es kann die per- sich quasi freiwillig und freimütig der Erin- ist als freier Publizist sowie als Jazzmusiker sönliche «Aufräumarbeit» behindern, in- nerungsmaschinerie der Netzgiganten zu tätig. Zuletzt erschien 2012 im Schwabe dem es uns immer wieder mit Relikten aus unterwerfen, ist allgegenwärtig. Verlag Basel «Multikulturalismus revisited. der Vergangenheit konfrontiert, die man Ein philosophischer Essay». Im April eigentlich abgestossen zu haben glaubt. *** erscheint «Trost der Langeweile». Erinnern und Vergessen UniPress 160/2014 7
Die Macht unbewusster Erinnerungen Die Tradition der Gedächtnisforschung sagt: Das Lernen und Erinnern von Episoden ist an unser Be- wusstsein gekoppelt. Katharina Henke vom Zentrum für Kognition, Lernen und Gedächtnis zeigt jedoch, dass Erlebnisse auch unbewusst ab- gespeichert und abgerufen werden können. Sie plädiert für ein alternatives Gedächtnismodell. Von Andrea Wantz Können Sie sich an Ihren letzten Geburtstag Informationen beeinflusst. Zum Beispiel alle schon einmal das Gefühl, eine Person erinnern? Was ist die Hauptstadt Perus? antwortete er spontan auf die Frage, wer in einem bestimmten Kontext schon einmal Woher wissen Sie eigentlich, wie man Velo Hans Muster sei, mit «Sportler», nachdem gesehen zu haben, können uns aber nicht fährt? Bei der Beantwortung solcher Fragen er 30 Mal den Satz «Hans Muster ist erklären, weshalb? kommt das Gedächtnis ins Spiel: Wir Sportler des Jahres» zu lesen erhalten hat. Henke machte sich im Jahr 2008 daran, verwenden früher angeeignete und ge- Diese Erkenntnis veranlasste den ihre Vermutung in einem Experiment zu speicherte Informationen, um Probleme zu amerikanischen Professor für Psychiatrie, überprüfen: Würden Menschen in einer lösen. Doch obwohl wir immer von «dem» Neurowissenschaft und Psychologie Larry Laborsituation Worte als zusammen- Gedächtnis sprechen, sieht es die Wissen- Squire zur Formulierung des klassischen passender beurteilen, die sie im gleichen schaft anders: Es gibt verschiedene Gedächtnismodells: Die verschiedenen Kontext gelernt hatten, ohne sich dessen Gedächtnissysteme, die im Gehirn unter- Gedächtnisformen unterscheiden sich bewusst zu sein? Konkret glaubten die schiedlich angelegt sind. Je nachdem, ob danach, ob das Bewusstsein dabei einge- Versuchspersonen, einen Flimmerbildschirm wir uns an Geburtstage erinnern, Haupt- schaltet ist oder nicht. Zur Kategorie des anzustarren – in Wirklichkeit wurden ihnen städte abrufen oder erlernte Fähigkeiten bewussten Gedächtnisses gehören für jeweils 17 Millisekunden Wortpaare anwenden, laufen im Gehirn also ver- demnach erlebte Ereignisse wie Geburts- gezeigt: Dies entspricht etwa dem Sechzigs- schiedene Prozesse in unterschiedlichen tage (episodisches Gedächtnis) und Fakten- tel einer Sekunde und ist zu kurz, um die Netzwerken ab. wissen wie Hauptstädte (semantisches Wortpaare bewusst wahrzunehmen. Die Der Versuch, verschiedene Gedächtnis- Gedächtnis). Zur Kategorie des unbe- unsichtbaren Wortpaare waren beispiels- systeme zu klassifizieren, ist nicht neu. wussten Gedächtnisses gehören motorische weise «Krähe-Schild» und später «Schild- Bereits im späten 19. Jahrhundert postu- Abläufe wie etwa Velofahren (prozedurales Topf». Manche Wortpaare teilten also ein lierte Sigmund Freud, dass sich mensch- Gedächtnis) sowie klassisches Konditio- Element – in diesem Beispiel «Schild». liches Erleben in bewusste und unbewusste nieren und Priming (Erleichterung bei Später legte man den Versuchspersonen Prozesse unterteilen lässt. Dass es auch wiederholter Analyse eines Sachverhalts im Wortpaare auf bewusster Ebene vor – sie bewusste und unbewusste Gedächtnis- Vergleich zum ersten Mal). konnten sie also sehen – und fragte sie, ob formen gibt, ist seit der zweiten Hälfte des die beiden jeweiligen Wörter zusammen- 20. Jahrhunderts breit anerkannt. «Diese Person habe ich doch schon passten. Dabei zeigte sich, dass Wortpaare Das Paradebeispiel war Henry Molaison: einmal gesehen …» wie «Krähe-Topf» durch ihr zuvor unbe- Dem jungen Mann, der seit einem Fahrrad- Nicht alle waren jedoch einverstanden mit wusst wahrgenommes geteiltes Element unfall regelmässig an epileptischen Anfällen diesem Gedächtnismodell. Katharina («Schild») als zusammenpassender beurteilt litt, wurden nach erfolgloser alternativer Henke, Professorin und Direktorin des Zen- wurden als Wortpaare ohne eine solche Behandlung im Jahr 1953 grosse Teile trums für Kognition, Lernen und Ge- Verbindung (siehe Bilder Seite 12). beider Hippocampi aus dem Gehirn dächtnis (CCLM) an der Universität Bern, Die Testpersonen konnten also über- entfernt. Der Hippocampus (siehe Bild hegte immer Zweifel an der Annahme, dass lappende Episoden wie «Krähe – Schild – Seite 10) ist eine seepferdförmige Hirn- die Evolution ein menschliches Gehirn her- Topf» unbewusst in ihr Gedächtnis inte- struktur, die wegen ihrer Verletzlichkeit oft vorbrachte, das seine Arbeitsteilung nach grieren. Die Integration von Episoden ist Ursprungsort von epileptischen Anfällen ist. Bewusstseinsgraden definiert. Henke ver- eine Leistung, die dem episodischen Obwohl Henry Molaison sich nach der mutet, dass das episodische Gedächtnis – Gedächtnis und damit traditionellerweise Operation nicht mehr bewusst an Erlebnisse also die Erinnerung an erlebte Szenen, defi- dem Bewusstsein zugeschrieben wird. erinnern konnte, wurde sein Verhalten niert durch Was-Wer-Wann-Wo – auch Stimmt Henkes Annahme, dass ihr Experi- immer noch unbewusst von gelernten unbewusst funktioniert. Hatten wir nicht ment episodisches Gedächtnis auf unbe- 8 UniPress 160/2014 Erinnern und Vergessen
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Der Hippocampus (in Violett) befindet sich tief im Schläfenlappen des menschlichen Gehirns. Er ist essentiell für das Abspeichern und Erinnern unserer So leben Erinnerungen länger täglichen Erlebnisse. Bewusst erlebte Ereignisse und Lern- inhalte werden im Gehirn stärker abge- bildet und bleiben länger erhalten als unbewusst aufgenommene Episoden (siehe Haupttext). Doch können wir er- reichen, dass die bereits langlebigen wusster Ebene erfasst, müsste in dieser für das klassische, bewusstseinsbasierte bewusst erlebten Episoden noch länger Aufgabe der Hippocampus involviert sein. Gedächtnismodell? Nein, findet Henke, leben? Tatsächlich können wir in einem In der Tat bestätigten die Daten aus bild- denn Priming ist eine andere Form des gewissen Mass beeinflussen, wie viele gebenden Verfahren genau diese Annahme. Gedächtnisses und hängt von anderen Hirn- Neuronen im Hippocampus im Erwach- strukturen als dem Hippocampus ab. Sie ist senenalter «geboren» werden (Neuro- Ein neues Gedächtsnismodell überzeugt: Hätte Henry Molaison an einem genese) und damit Lern- und Gedächtnis- zeichnet sich ab Experiment mit unbewussten episodischen leistungen stützen. Diese Faktoren haben In weiterer Forschung wurde immer offen- Gedächtnisaufgaben teilgenommen, laut verschiedenen Studien einen positiven sichtlicher, dass Menschen auch ohne hätte er genauso schlecht abgeschnitten Einfluss: Bewusstsein Episoden sinnhaft aufnehmen wie bei der bewussten Erinnerung. Diese und später erinnern können. Schliesslich These prüfte Henkes Team an Patienten mit • Sport: Mäuse, die in einem Laufrad plädierte Henke im Jahr 2010 in einem Schädigungen im Hippocampus und an trainieren konnten, weisen stärkere Artikel im Fachmagazin Nature Reviews gesunden Testpersonen. Neurogenese und damit bessere Lern- Neuroscience, der bereits 150 Mal zitiert fähigkeiten auf. wurde, für eine Revision des klassischen Lernen funktioniert auch Gedächtnismodells. Ihre Gegenthese: ohne Bewusstsein • Anregende Umgebung: Mäuse, die in Gedächtnissysteme unterteilen sich nicht Wieder wurden zunächst auf unbewusster einer Umgebung mit Spielzeugen und aufgrund ihrer Abhängigkeit von Bewusst- Ebene Wortpaare ultrakurz präsentiert, zum anderen Mäusen lebten, wiesen eine stär- sein, sondern aufgrund ihrer Arbeitsweise, Beispiel «Fischer-Zitrone» – und wieder kere Neurogenese und Lernleistung auf also ihrer Verarbeitungsmechanismen. wurden ihnen später auf bewusster Ebene als solche, die von der Aussenwelt kaum Das heisst: Manche Gedächtnissysteme Wortpaare präsentiert, bei welchen sie stimuliert wurden. können rasch lernen, andere langsam, beurteilen mussten, wie gut sie zusammen- manche Gedächtnissysteme erschaffen ein passen. Der Trick: Manche Wortpaare ent- • Mediterrane Ernährung: Auch die flexibles, andere ein rigides Abbild des hielten Analogien zu unbewusst auf- Ernährung wirkt sich auf die Fitness der gelernten Sachverhalts im Gehirn. Jede genommenen Wortpaaren (zum Beispiel grauen Zellen und die Lernfähigkeit aus. Lernsituation stellt ihre spezifischen «Angler-Limette»), während andere Wort- Verschiedene Studien zeigen, dass eine Ansprüche an das Gehirn und fordert das paare unverbunden waren. Wenn die unter- mediterrane Ernährung, insbesondere entsprechend spezialisierte Gedächtnis- schwellig präsentierten Wortpaare tatsäch- durch die Antioxidantien im Olivenöl, den system zur Arbeit auf. Ob wir in der Lern- lich eine Gedächtnisspur hinterlegt haben, kognitiven Alterungsprozess und damit situation bewusst oder unbewusst lernen, dann sollten die Versuchspersonen die ana- den Gedächtnisabbau verlangsamen kann. spielt dabei laut Henke keine Rolle für die logen Wortpaare als zusammenpassender Wahl des Gedächtnissystems. beurteilen als unverbundene Paare. • Genügend Schlaf: Schlaf spielt eine Henry Molaison, dessen Hippocampi Tatsächlich zeigten nur die gesunden Schlüsselrolle bei Gedächtnisprozessen. operativ entfernt werden mussten, konnte Versuchspersonen, nicht aber die Patienten Die gewaltige Menge an Informationen, sich nicht mehr bewusst an Ereignisse mit Schädigungen im Hippocampus, dieses welche Menschen tagtäglich über die erinnern. Doch unbewusste Formen des Verhalten. Interessanterweise zeigten Sinnesorgane aufnehmen, wird im Schlaf Gedächtnisses wie Priming blieben nach der Patienten, die noch intaktes hippocampales gewichtet, sortiert und gefestigt. Operation intakt. Doch ist dies ein Beweis Restgewebe hatten, immer noch Einflüsse 10 UniPress 160/2014 Erinnern und Vergessen
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Ein Experiment zum unbewussten Lernen und Erinnern: Während die Versuchsperson die flimmernde Projektion anschaut, werden ihr ultrakurz und dadurch unsichtbar Wortpaare zum unbewussten Lernen dargeboten (Bild links). Minuten später berurteilt die Versuchsperson, ob zwei sichtbare Wörter inhaltlich zusammenpassen oder nicht (Bild rechts). Das Resultat: Die Testperson beurteilt Wortkominationen als passender, an die sie sich unbewusst erinnert, weil sie zuvor ähnliche Wortkombinationen unterschwellig wahrgenommen hat. der unbewusst erlebten Wortpaare auf ihr gabe wurden den Versuchspersonen dann unbewusst an erlebte Episoden erinnern Urteilsverhalten. In einer anderen un- Wortpaare aus Teilen der vorher gesehenen können. Wie muss man sich ein solches bewussten Lernaufgabe, die nicht das Paare gezeigt. Manche dieser Wortpaare Leben vorstellen? «Der Mensch lebt im episodische Gedächtnis betrifft und damit setzten sich aus bewusst und unbewusst Moment. Mangels Erinnerungen reduziert unabhängig vom Hippocampus ist, ergaben aufgenommenen Wörtern zusammen, die sich sein Selbstkonzept», erklärt Henke. sich keine Unterschiede zwischen Patienten durch ein geteiltes Wort verbunden waren und gesunden Testpersonen. Das heisst, (zum Beispiel «Apfel-Buch», verbunden Bewusstsein ermöglicht Kontrolle dass unbewusstes Lernen je nach den durch das Wort «Soldat»). Andere Wort- Gedächtnis ist aber nicht die einzige Anforderungen der Lernaufgabe an das paare waren unverbunden. Domäne im menschlichen Gehirn, welche Gehirn vom Hippocampus abhängig sein Wie erwartet beurteilten die Versuchs- bewusst wie unbewusst funktionieren kann. kann oder nicht. personen die über bewusste und unbe- Studien zeigen, dass auch andere höhere wusste Erinnerungen verbundenen Wort- kognitive Prozesse wie Selbstkontrolle Bewusstsein und Unbewusstsein paare als passender im Vergleich zu und Wille unabhängig von Bewusstsein kommunizieren miteinander unverbundenen Wortpaaren. Bewusste und operieren können. Henke postuliert Wenn bewusstes und unbewusstes unbewusste Erinnerungen werden also in sogar, dass sämtliche kognitive Prozesse Gedächtnis für Episoden von den gleichen einer einheitlichen, flexiblen Gedächtnis- unabhängig vom Bewusstsein funktionieren Hirnstrukturen (Hippocampus und anderen repräsentation dynamisch integriert und können. Strukturen) hervorgebracht wird, dann basieren auf den gleichen Hirnstrukturen. Wozu also Bewusstsein? Dazu Henke: sollten bewusst und unbewusst erlebte «Das Bewusstsein verstärkt die Gedächtnis- Ereignisse miteinander verbunden werden Unbewusstes Wissen spur und lässt sie länger leben. Das heisst, können: Wie Freud postuliert hat, würden führt uns durchs Leben Informationen bleiben über längere Zeit im also das Bewusstsein und das Unbe- Nach dem Umkrempeln des klassischen Gedächtnis haften und sind dadurch länger wusstsein miteinander kommunizieren. Gedächtnismodells drängt sich eine erinnerbar und nutzbar. Zudem können wir Genau dies zeigten Henke und Kollegen nächste Frage auf: Wozu gibt es überhaupt uns durch bewusste Kontrolle gezielt vor in einem Experiment, dessen Ergebnisse Bewusstsein? Heute ist der Mensch unerwünschten Reizen abschirmen und sie vergangenes Jahr im Fachmagazin idealerweise umweltbewusst, kosten- damit verhindern, dass ungewollte Frontiers in Behavioral Neuroscience bewusst, stilbewusst und ernährungs- Informationen Einfluss auf unser Gehirn präsentierten. bewusst. Während alle bewusst leben, und Verhalten ausüben.» Gesunde Versuchspersonen mussten möchte niemand «unbewusst» sein. wiederum Wortpaare auf ihre Passung be- Höchstwahrscheinlich erleben und spei- Autorin: Andrea Wantz, Kommunikations- urteilen (zum Beispiel «Apfel-Soldat»). Sie chern wir aber viel mehr Informationen, als beauftragte des Center for Cognition, merkten nicht, dass ihnen zwischen man- uns bewusst ist. Learning and Memory (CCLM), chen Wortpaaren ultrakurz und daher un- Dieses unbewusste Wissen informiert andrea.wantz@psy.unibe.ch sichtbar weitere Wortpaare gezeigt wurden unsere Intuition und lenkt unser Verhalten, Kontakt: Prof. Dr. Katharina Henke, (zum Beispiel «Soldat-Buch»). Manche um uns sicherer durch das Leben zu führen. geschäftsführende Direktorin des Center for Wortpaare teilten also ein Element (in Wie Henke gezeigt hat, gibt es leider Cognition, Learning and Memory (CCLM), diesem Beispiel «Soldat») – über das Be- Menschen, die sich wegen einer Hippo- Institut für Psychologie, wusstsein hinweg. In einer zweiten Auf- campus-Schädigung weder bewusst noch katharina.henke@psy.unibe.ch 12 UniPress 160/2014 Erinnern und Vergessen
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Vergessen bringt Vorteile: die Lektionen der Fruchtfliege Wer schneller vergisst, findet mehr Zuckertöpfe: Neuste Resultate in der Verhaltensforschung mit Fruchtfliegen legen nahe, dass Vergessen in einer sich verändernden Umgebung ein optimales Verhalten ist. Von Johanni Brea und Walter Senn Vergesslichkeit ist lästig: Diese Ansicht teilt paar Stunden sinkt der Anteil der sich aversiv konditioniertem Geruch ist eine sich jeder, der schon einmal seine Schlüssel nähernden Fliegen deutlich: Die Fliegen schnell ändernde Umgebung: Hier lohnt es liegengelassen hat. Auch wissenschaftliche vergessen, dass der Geruch appetitiv kondi- sich also für die Fruchtfliegen, schneller zu Erklärungsansätze sehen Vergessen oft tioniert war – dass er sie also schon einmal vergessen – denn wenn sie die Welt von einseitig als notwendiges Übel: Schliesslich zu einem Zuckertopf geführt hat. gestern im Kopf behalten, droht ihnen führt das Speichern von neuen Inhalten in Wird nun ein Geruch in schneller heute ein Zuckertopf zu entgehen. Systemen mit beschränkter Kapazität wie Abfolge abwechslungsweise appetitiv und Andererseits entspricht eine repetitive dem Gehirn notwendigerweise zum Verlust aversiv konditioniert, vergessen die Fliegen Konditionierung mit genügend langen von alten Inhalten. Doch ist Vergessen anschliessend schneller. Wenn der Geruch Pausen einer sich langsam ändernden deswegen bloss ein Ärgernis, das dem Ziel hingegen wiederholt gleich konditioniert Umgebung: Folglich ist hier langsameres einer verbesserten Gedächtnisleistung wird, vergessen sie langsamer; insbeson- Vergessen angebracht – denn wer sich erin- entgegensteht? Ein Leben ohne Vergessen dere, wenn zwischen den Repetitionen eine nert, dass ein Geruch zuverlässig zum graut wohl nicht nur Honoré de Balzac – genügend lange Pause liegt. Zuckertopf führt, hat einen Vorteil. dem französischen Schriftsteller wird das Das gleiche Modell erklärt zudem die treffende Bonmot zugeordnet: «Die zunächst eigenartige Beobachtung, dass Erinnerungen verschönern das Fruchtfliegen aversive Konditionierungen Leben, aber das Vergessen schneller vergessen als appetitive: Das allein macht es erträglich.» negative Erlebnis bleibt also weniger lang bestimmend als das positive. Fruchtfliegen regulieren, Unter der Annahme, dass wie schnell sie vergessen negative Erlebnisse zu Ein neuer Blick auf die Frage, wie ängstlichem, nicht explora- und warum biologische Orga- tivem Verhalten führen, ist nismen vergessen, gewährt die es tatsächlich gut, Negatives schneller Fruchtfliege. Dieses einfache zu vergessen, damit man künftige Lebewesen, das in unseren positive Möglichkeiten – wie etwa Wohnungen auftaucht, sobald den nächsten Zuckertopf – nicht in der Früchteschale die Bananen überreif verpasst. Die Fruchtfliege verhält sich also Wer schlechte Erfahrungen werden, hat ein erstaunlich ausgeklügeltes rasch vergisst, ist erfolgreicher: So lautet eine gemäss einer Theorie der Ökonomie, Gedächtnissystem: Es kann durch moleku- der Lektionen der Fruchtfliege. wonach lähmende Rückschläge rasch lare Mechanismen regulieren, wie schnell weggesteckt werden sollten, um «costs of etwas vergessen wird. Ein solcher Regu- Vergesslichkeit hängt von der inaction» zu vermeiden. lierungsmechanismus hätte keinen Sinn, Umgebung ab Die Evolution optimiert unser Verhalten, wenn die Fruchtfliege alte Gedächtnis- Wozu könnte er nun gut sein, dieser indem sich Individuen mit vorteilhaften inhalte nur aufgrund beschränkter Regulierungsmechanismus, der die Eigenschaften erfolgreicher fortpflanzen als Kapazität vergessen würde. Geschwindigkeit des Vergessens steuert? andere. Dies ist spätestens seit Charles Wie Fruchtfliegen vergessen, ist schon in Diese Frage untersucht eine neue Studie Darwin und Alfred Russel Wallace Mitte des mehreren Studien mit klassischer Konditio- aus der Gruppe von Professor Walter Senn 19. Jahrhunderts bekannt. Dass auch das nierung getestet worden. Dabei wird eine am Institut für Physiologie, die zurzeit in Vergessen einen solchen Vorteil bringen Gruppe von Fruchtfliegen zunächst einem Begutachtung ist. kann, ist allerdings eine wenig verbreitete Geruch ausgesetzt, an dessen Quelle sie Ausgangspunkt der Untersuchung war Einsicht. Das Verhalten der Fruchtfliege entweder ein Zuckertopf oder ein Elektro- die Intuition, dass in einer sich verän- zeigt uns, dass das Vergessen das Leben schock erwartet. Ersteres entspricht einer dernden Umgebung bestimmte Fakten nach nicht nur im Balzac’schen Sinne erträglich sogenannt «appetitiven Konditionierung», gewisser Zeit überholt sind. Tatsächlich macht – sondern es auch in ökonomischen Letzteres einer «aversiven Konditionie- konnte mit einem einfachen mathema- Massstäben optimiert: Damit wir in einer rung». Nach einer Wartezeit werden die tischen Modell gezeigt werden, dass sich sich verändernden Umwelt möglichst Fruchtfliegen wieder demselben Geruch ein Individuum optimal bezüglich zukünf- erfolgreich sind. ausgesetzt und es wird ausgewertet, ob sie tigen Belohnungsmöglichkeiten verhält, sich der Geruchsquelle nähern oder von ihr wenn die Vergessensgeschwindigkeit an die Kontakt: Dr. Johanni Brea, brea@pyl.unibe.ch fliehen. Kurz nach einer appetitiven Veränderungsgeschwindigkeit der Umge- Prof. Dr. Walter Senn, senn@pyl.unibe.ch Konditionierung nähern sich die meisten bung angepasst wird. Eine schnelle Abfolge Institut für Physiologie sowie Center for Fruchtfliegen dem Duft; doch nach ein von abwechslungsweise appetitiv und Cognition, Learning and Memory Erinnern und Vergessen UniPress 160/2014 15
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Autobiografische Erinnerung: Fakt oder Fiktion? Das Phänomen kennen vermutlich alle: Nach vielen Jahren trifft man ehemalige Schulkollegen und vernimmt Geschichten von sich, von denen man keine Ahnung mehr hat oder die einem völlig unglaubwürdig vorkommen: Das kann unmöglich ich gewesen sein! Sind etwa unsere autobiogra- fischen Erinnerungen mehr Dichtung als Wahrheit? Von Pasqualina Perrig-Chiello Der grosse Entwicklungspsychologe Jean widerfahren sei, antworten, dass es die von grosser Bedeutung für unsere Identität Piaget hat während vieler Jahre sehr detail- zerbrochene grosse Liebe sei. Zehn Jahre sind, kommt ihnen im Alter eine zentrale liert geschildert, wie er als Kleinkind in später wird er vermutlich sagen, dass dieser Rolle für das psychische Wohlbefinden zu. einem Park beinahe entführt worden sei, Bruch wohl das Beste gewesen sei, was ihm So setzen sich ältere Menschen in der als seine Kinderfrau ihn im Kinderwagen passieren konnte. Nochmals zehn Jahre Regel intensiv mit ihren autobiografischen spazieren führte. Er erzählte die Geschichte später wird er das Ereignis als unerheblich Erinnerungen auseinander und teilen diese so lange, bis sich alles sprichwörtlich als ein ansehen, um dann im Alter mit Nostalgie anderen gerne mit. Auffällig dabei ist, dass Ammenmärchen entpuppte, nämlich dann, auf eben diese erste grosse Liebe zurück- es sich oft um Erlebnisse aus der Jugendzeit als die Kinderfrau viele Jahre später seinen zuschauen. Wie bei den eingangs und dem jungen Erwachsenenalter handelt, Eltern schriftlich beichtete, dass diese erwähnten alten Schulgeschichten wider- und dass diese häufig emotional hoch Beinahe-Entführung frei erfunden war. spiegelt sich in der sich wandelnden Auto- bewertet werden. Dieser «Reminiscence Es handelt sich hier ganz klassisch um biografie die Entwicklung des eigenen Bump» (deutsch: «Erinnerungshügel»), wie eine von anderen gehörte und übernom- Selbstverständnisses. das Phänomen in der psychologischen mene Erzählung früherer Vorkommnisse. Literatur genannt wird, stellt eine absolute Entwicklungspsychologisch gesehen hätte Geschichten unserer Identität Ausnahme von der Regel dar, dass Er- sich Piaget auch gar nicht an das Ge- Autobiografische Erinnerungen sind innerungen im Lauf der Zeit immer schwie- schehnis erinnern können – selbst wenn es Geschichten unserer Identität, sie drücken riger zugänglich werden. wirklich stattgefunden hätte. Es gibt näm- aus, wie wir uns sehen und verstehen. Sie Interpretiert wurde dieses Phänomen lich keinen Zweifel, dass die grosse Mehr- sind ein komplexes psychodynamisches dahingehend, dass die verbesserte Zugäng- heit der Erwachsenen sich nicht an die Regulativ, das der Erhaltung und der Recht- lichkeit zu diesen Erinnerungen darauf Ereignisse der ersten drei Lebensjahre er- fertigung des eigenen Selbst in der zurückzuführen ist, dass die Erfahrungen innern kann. Zu den Gründen für diese aktuellen Situation und über die gesamte dieser Zeitspanne von zentraler Bedeutung Kindheitsamnesie gehört zum einen die Lebensspanne dient. Dabei geht es weniger für die Identitätsbildung sind und aus ungenügende sprachliche Entwicklung, zum um ein bewusstes «Zurechtbiegen» des diesem Grund immer wieder abgerufen anderen das noch nicht ausgereifte Vergangenen als um kaum bewusste oder werden. Diese Geschichten vom Selbst, Selbstkonzept. beabsichtigte sinnstiftende Anpassungs- deren Ursprung in der fernen Vergangen- leistungen. Allerdings gibt es individuelle heit liegt und die immer wieder und wieder Erinnerungen wandeln sich Unterschiede hinsichtlich dieser Bereitschaft reaktiviert und erzählt werden, erleichtern im Lauf des Lebens zu «Gedächtnisverzerrungen». Zurück- es dem alten Menschen, die zentralen Auch spätere Lebenserinnerungen sind alles zuführen sind diese zum einen auf Per- Elemente einer Episode abzurufen und andere als zuverlässig. In der Gedächtnis- sönlichkeitsfaktoren wie Suggestibilität sinnvoll zusammenzufügen. forschung ist unbestritten, dass auto- (Empfindlichkeit für suggestive Beein- biografische Erinnerungen keine objektiven flussung) oder kreative Vorstellungskraft Erinnerungen geben Halt Wiedergaben von Vorkommnissen sind, des Erinnernden, zum andern auf den Die Funktion autobiografischer Erinnerung, sondern subjektive Rekonstruktionen mit aktuellen Lebenskontext und nicht zuletzt ein kohärentes Selbst aufrechtzuerhalten, multiplen systematischen Verzerrungen. So auf das Alter. steht in engem Zusammenhang mit der kann ein junger Mensch auf die Frage nach Auch wenn autobiografische Erinne- Regulation von Emotionen. Aus der dem Schlimmsten, was ihm im Leben rungen über die gesamte Lebensspanne Forschung wissen wir, dass Personen, die Erinnern und Vergessen UniPress 160/2014 17
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sich in ihrer gegenwärtigen Lebenssituation biografischen Erinnerungen auseinander- rungen weiterzugeben und generationen- gestresst fühlen, vermehrt das Bedürfnis setzen, psychisch gesünder sind als Alters- übergreifend zu bewahren. In diesem Sinn haben, sich an einem früheren, sichereren genossen, die kein solches Interesse zeigen. haben Lebensrückblicke nicht bloss eine Selbst zu orientieren. Vor allem in Zeiten Die Ergebnisse lassen jedoch auch darauf individuelle, sondern auch eine familiale, ja der Veränderung geht es offensichtlich schliessen, dass nicht alle Arten von gar eine kulturell-historische Bedeutung. darum, trotz anstehender Rollenverände- Lebenserinnerungen gleich nützlich sind: rungen eine Kontinuität des Selbst aufrecht Wenn sie beispielsweise bloss dazu dienen, Objektive Wahrheit zu erhalten, das gegenwärtig Gelebte die Vergangenheit zu glorifizieren oder die führt nicht zum Ziel mit dem bisher Erlebten in Einklang zu Schuld für gegenwärtiges Unbehagen Unabhängig davon, wie traumatisch oder bringen – und zwar so, dass das Ganze vergangenen Ereignissen zuzuschreiben, wie schön autobiografische Erinnerungen einen Sinn ergibt. dann tragen sie kaum zu einem besseren sind: Es kann nicht das Ziel sein, die Es ist eine lebenslange Entwicklungs- Wohlbefinden bei. Hilfreich sind hingegen objektive Wahrheit des eigenen Lebens aufgabe des Menschen, das bisher Gelebte Lebenserinnerungen, die sich mit früheren ausfindig zu machen. Vielmehr geht es kontinuierlich zu einer «sinnvollen» Ganz- Lebensentwürfen, Plänen und Entschei- darum, den subjektiven Sinn, der sich als heit zu vereinigen. Deshalb verändern sich dungen auseinandersetzen und die dazu tragfähig für das Leben angesichts des die individuellen Interpretationen der dienen, Vergangenheit und Gegenwart nahenden Lebensendes erweist, zu eigenen Vergangenheit über die Zeit. miteinander zu versöhnen und der Zukunft erkennen. Ziel und Funktion eines solchen Aufgrund individueller und sozialer Verän- getrost entgegenzublicken. Lebensrückblicks ist es letztlich, ungelöste derungen wird die persönliche Lebens- Aufgrund dieser Ergebnisse gewinnt der Probleme und Konflikte zu identifizieren, zu geschichte kontinuierlich revidiert – die Lebensrückblick im Alter bei Menschen mit lösen, sich und anderen zu verzeihen. Die Persönlichkeit bleibt aber immer dieselbe. schwierigen, traumatischen Biografien eine Vergebung, gegenüber sich selbst und besondere Bedeutung. Dies haben Studien gegenüber anderen, ist ein zentrales Lebensrückblick im Alter macht Sinn mit Holocaust-Überlebenden eindrücklich Element bei der Integration der eigenen So besteht gemäss dem Psychoanalytiker gezeigt. Wie der Psycho- Lebensgeschichte – und zwar nicht erst am und Entwicklungspsychologen Erik Erikson therapeut Yael Danieli schildert, gelang es Lebensende! Dadurch wird die Person die letzte und wichtigste Entwicklungs- vielen Holocaust-Überlebenden nicht, die wieder frei, um bestehende Beziehungen zu aufgabe eines Menschen darin, die Inte- erlebten Traumata in eine umfassende vertiefen, abgebrochene wieder aufzu- grität bezüglich des eigenen Lebens zu Lebensgeschichte zu integrieren. Diese nehmen oder neue zu knüpfen. Was erlangen – also Ja sagen zu können zur «Verschwörung des Schweigens» ver- wiederum das psychische Wohlbefinden eigenen Biografie. Die Konfrontation mit hinderte es, dass diese Leute ihre steigert. dem nahenden Tod zwingt einem mit Holocaust-Erfahrungen mit dem Rest ihres zunehmendem Alter, dem eigenen Leben Lebens in Einklang bringen konnten, was Kontakt: Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello, eine Deutung zu geben. Die Biografie wird mit Gefühlen der Hilflosigkeit und Ver- Institut für Psychologie, einer kritischen Prüfung unterzogen – die zweiflung einherging. Abteilung Entwicklungspsychologie, Geschehnisse werden inventarisiert und in Die Integration traumatischer Er- pasqualina.perrigchiello@psy.unibe.ch die Lebensgeschichte integriert, so dass das fahrungen in eine umfassende Lebens- Ganze allen möglichen Ungereimtheiten geschichte ist auch notwendig, um zu zum Trotz einen Sinn ergibt. verhindern, dass die generationenüber- Untersuchungen zeigen, dass ältere greifende Gedächtniskette abreisst. Denn Menschen, die sich intensiv mit ihren auto- die Menschen haben das Bedürfnis, Erinne- Erinnern und Vergessen UniPress 160/2014 19
Im Geflecht klingender Erinnerungen besetzte Musik «vergessen» geht, könnten Identitätsverlust und Entfremdung drohen. Vergangenheit ist in der Schweiz wieder en vogue: Guggisberglied weckt Erinnerungen Musikerinnen und Musiker der Neuen Schweizer Indem die Musikerinnen und Musiker der Volksmusik entwerfen ihre ganz eigene Form von Neuen Schweizer Volksmusik traditionelle musikalischer Kontinuität – nicht nur, indem sie Musik neu interpretieren, variieren und in aus dem kulturellen Gedächtnis schöpfen, sondern Referenzen vergegenwärtigen, knüpfen auch indem sie bei ihren Konzerten Raum für ganz sie – wie Aleida Assmann es nennt – neue persönliche Erinnerungen schaffen. Fäden im Netz des kulturellen Gedächt- nisses. Im Geflecht aus Erinnerungen Von Theresa Beyer verorten sie sich aber auch auf ihren Konzerten, zum Beispiel wenn sie das auto- Mit einem Besen fegt die Berner Jodlerin ein Eckpfeiler eidgenössischer Identitäts- biografische Gedächtnis ihres Publikums und Bratschistin Christine Lauterburg bei stiftung. Das Alphorn kam in der heutigen aktivieren. Nehmen wir ein konkretes ihren Konzerten über die Bühne. Ein alter Form und Grösse erst Ende des 19. Jahr- Beispiel: Auf ihren Konzerten interpretieren Brauch? Ein Perkussionsinstrument? Will sie hunderts auf. Ländlermusik erlebte in den die Berner Jodlerin Christine Lauterburg verhexen? Vielleicht ist der Besen aber 1920er Jahren einen grossen Aufschwung, und das Trio Doppelbock das Guggisberg- einfach nur ein Symbol für Lauterburgs weil sich Städter nach einer ländlichen lied. Ein Grossteil ihrer in der Schweiz auf- Mission: Sie will die Schweizer Volksmusik Idylle sehnten. Zur gleichen Zeit entstanden gewachsenen Zuhörerinnen und Zuhörer «entstauben». Dieses kleine Wörtchen die ersten Jodellieder, deren national- können dieses Lied aus ihrem autobiogra- findet sich in zahlreichen Konzert- patriotische Bedeutung in der Phase der fischen Gedächtnis abrufen, weil sie es in ankündigungen, CD-Booklets und Inter- geistigen Landesverteidigung verstärkt ihrer Kindheit gelernt haben. Manchen – views von Musikerinnen und Musikern der wurde. die sich an unbeschwerte Stunden in der Neuen Schweizer Volksmusik. Und es Dass die Schweizer Volksmusik eine Landschulwoche erinnern – mag dies das deutet bereits die Haltung der Neuerungs- «nationale Erfindung» ist, weiss auch Livia Konzerterlebnis versüssen. Bei anderen löst bewegung an, die seit zwei Jahrzehnten die Bergamin, die Flötistin der Gruppe Rämsch- das Lied vielleicht eine Erinnerung an die Schweizer Volksmusik aufmischt: So scheint fädra, – doch dies steht für sie nicht im peinliche Situation aus, als sie es im Musik- für diese Musikerinnen und Musiker von Widerspruch zu ihrer Vorstellung von Kon- unterricht vor der kichernden Klasse vor- der Vergangenheit weniger ein nostal- tinuität: «Mir ist klar, dass die Musik noch singen mussten. Ein Lied, eine Melodie, ein gischer Charme auszugehen als vielmehr nicht sehr alt ist, dennoch habe ich das Sound schleppt also nicht nur im grossen, ein gewisser Mief. Gefühl, es sei das, was man schon immer übergeordneten kulturellen Gedächtnis, In einer dicken Staubschicht haben sich gemacht hat.» Auch wenn die Geschichts- sondern auch in der persönlichen Erinne- die auf Bewahrung bedachten Reglemen- bücher anderes erzählen, imaginieren die rung eine Bagage an Bedeutungen und tierungen des Eidgenössischen Jodler- Musikerinnen und Musiker Schweizer Emotionen mit. Im Moment des Erinnerns verbands festgesetzt, mitsamt aberhundert Volksmusik also als eine Kulturpraxis, die wird sie aufgemacht und ihr Inhalt neu Folgen von Wysel Gyrs Ländlersendungen eine diffuse, weit zurückliegende Vergan- geordnet, interpretiert und bewertet. und samt patriotischen Liedern über die genheit in sich aufgenommen hat. Der Alpenidylle in schunkeliger SVP-Bierselig- Entstehungsmoment dieser Musik scheint Viele Erinnerungen, keit. Diese (Klischee-)Bilder und Ideologien also schon längst in einer mythischen Urzeit ein Gemeinschaftsgefühl empfinden die Musikerinnen und Musiker verblasst zu sein. Eine Wahrnehmung, die Im Konzert von Christine Lauterburg und der Neuen Volksmusik als lähmend: Einer- typisch ist für das kulturelle Gedächtnis – Trio Doppelbock schliessen sich viele auto- seits wollen sie Schweizer Volksmusik neu so bezeichnen die Kulturwissenschaftlerin biografische Erinnerungen zusammen und bewerten – als etwas zeitgemässes, leben- Aleida Assmann und der Ägyptologe Jan kreieren ein Gemeinschaftsgefühl: Zu- diges und urbanes. Andererseits ist ihnen Assmann «die Tradition in uns». Es entsteht hörerinnen und Zuhörern, denen das Lied bestens bewusst, dass sie wohl lange fegen aber auch der Eindruck, dass der Zeitstrahl vertraut ist, signalisieren dies im Konzert oft können: Unter der Staubschicht wird nie nach vorne offen ist: Die Musikerinnen und durch leises Mitsingen oder einen eine «ursprüngliche» Volksmusik hervor- Musiker der Neuen Volksmusik sehen sich Zwischenapplaus. Unter sich handeln sie schimmern. in der Rolle, sich Schweizer Volksmusik also Nähe und Fremdheit aus: Wer hier aus der (imaginierten) Vergangenheit auch nickt, mitsingt oder klatscht ist Insider Aus einer tief diffusen in der Gegenwart anzueignen und sie so und wird in die temporäre Erinnerungs- Vergangenheit weiter in eine (imaginierte) Zukunft zu gemeinschaft aufgenommen. Denn Schweizer Volksmusik ist nichts tragen. Nicht zuletzt schlüpfen sie damit Auch innerhalb des autobiografischen weiter als ein Konstrukt. Bereits bei der auch in die Rolle der Bewahrerinnen und Gedächtnisses finden Verhandlungen statt Gründung des Bundesstaates 1848 war sie Bewahrer: Wenn diese mit «Schweiz» und werden Fäden neu geknüpft: Christine 20 UniPress 160/2014 Erinnern und Vergessen
Lauterburg wird nie die Version des Guggis- bergliedes singen können, die Zuhörerin XY von ihrer Mutter gelernt hat. Lauterburg hat ihre eigene Version von der Vergangen- heit und packt sie in ein modernes Kleid: Dide Marfurt (Drehleiher), Matthias Lincke (Geige) und Simon Dettwiler (Schwyzer- örgeli) begleiten die Gesangslinie mit sich wiederholenden Pattern. Sie beschleunigen das Lied ungewohnt und verlagern es in den Bereich von Pop oder Minimal Music. Die Berner Jodlerin Christine Lauterburg vertritt die Schweiz auf dem Folk-Roots-Weltmusikfestival Wenn Lauterburg und das Trio Doppelbock im thüringischen Rudolstadt 2011. ihre Zuhörerinnen und Zuhörer mit ihrer spezifischen Interpretation des Liedes Noten aus und überführen sie wieder in das symbolischen Bedeutungen für die eigene konfrontieren, setzt dies innere Vergleiche kommunikative Gedächtnis – so nennen Jan Identität weniger aus den Tatsachen an sich in Gang – die gehörte Version reibt sich an und Aleida Assmann die mündliche Weiter- als aus deren Bewertungen. Erinnerungen der Version aus der Kindheit. Beide treten gabe von persönlichen Erfahrungen. Dabei und (Volks-)Musik verweisen beide auf die im Ring gegeneinander an: Vermag die müssen so manche Löcher gestopft werden: Vergangenheit und sind nie statisch, neue Hörerfahrung vielleicht sogar die Erin- Die verschollenen Melodien zu alten Balla- sondern in einem ständigen Fluss. Und nerung zu überlagern? Oder ist die Version dentexten haben die Helvetic Fiddlers zum nicht nur beim Erinnern wird das Bild der aus der Kindheit stärker? Beispiel nach ihrem Gusto neu komponiert. Vergangenheit in der Gegenwart neu Der alte Text ist der faktische Verweis in die geformt. Auch Musik ist eine Zeitkunst, die Aus dem Speicher geholt Vergangenheit. Aber auch die Komposition in der Gegenwart passiert und sich dann Das Guggisberglied kann ganz konkrete vermittelt ein «urchiges» Flair. Alt und neu wieder verflüchtigt. Vielleicht hat sie im Erinnerungsräume öffnen. Aber manchmal geraten also gehörig durcheinander und die Gedächtnis Spuren hinterlassen und kann ist auch schon ein bestimmter Sound – wie Hörerin und der Hörer kann sie kaum noch dann beim Wiederhören Gefühle auslösen. der eines Hackbretts – das Schlupfloch voneinander trennen. Bestenfalls sorgt das dann schon dafür, ins autobiografische Gedächtnis. Oder ein dass ein wenig Staub aufgewirbelt wird. Rhythmus weckt Erinnerungen: Wenn sich Was Musik und Erinnerung zum Beispiel ein Zuhörer, der in der Ober- verbindet Kontakt: M.A. Theresa Beyer, march im Kanton Schwyz aufgewachsen ist, Auch beim Generieren «neuer alter Musik» Institut für Musikwissenschaft, durch die speziellen Punktierungen der aus Sammlungen mischt das autobiogra- theresa.beyer@musik.unibe.ch Jazzband von Pirmin Huber an das Schwy- fische Gedächtnis mit. So erzählt die Jazz- zerörgeli-Spiel seines Grossvaters erinnert musikerin Kristina Fuchs, dass sie sich bei fühlt. Zwar wollen die Musikerinnen und ihren Interpretationen der Volkslieder aus Neue Schweizer Volksmusik Musiker der Neuen Schweizer Volksmusik Otto von Greyerz‘ Sammlung Im Röseligarte ihr Publikum an das «Eigene» erinnern. nicht nur am Gedruckten orientiert: Zumeist professionelle Musikerinnen und Gleichzeitig wollen sie aber auch über- «Manchmal habe ich ein paar Strophen Musiker aus der Deutschschweiz aus den raschen und versuchen, möglichst unbe- weggelassen oder die Texte lieber so Bereichen Klassik, Jazz und Volksmusik kannte Lieder, Melodien und Motive als gesungen, wie ich sie selbst in Erinnerung setzen sich mit Schweizer Volksliedern, Vorlagen für ihre Interpretationen zu hatte. So, wie sie mir meine Eltern als Kind Alphorn- und Ländlermusik sowie Jodel- finden. bei langen Autofahrten oder beim Wandern gesang auseinander. Sie spielen mit Um ihre Repertoires möglichst individuell beigebracht haben.» Nicht nur das Spei- Referenzen, entwickeln traditionelle Musik und abwechslungsreich zu gestalten, chergedächtnis und das autobiografische weiter, mischen sie mit anderen Stilen schöpfen die Musikerinnen und Musiker der Gedächtnis verschränken sich hier – es oder verschreiben sich der Neubelebung Neuen Schweizer Volksmusik nicht nur aus interagieren auch Formen der mündlichen «vergessener» Musik. Vor gut zwei Jahr- dem autobiografischen, sondern auch aus und schriftlichen Überlieferung. zehnten legte die Gruppe Pareglish von dem Speichergedächtnis. Damit bezeichnen Musik, insbesondere Volksmusik, wird in Markus Flückiger und Dani Häusler den Jan und Aleida Assmann Überlieferungs- der Debatte um kollektives Gedächtnis und Grundstein für das neue Interesse an der poole wie Archive, beispielsweise das Erinnerung meistens sträflich vernach- musikalischen Vergangenheit der Schweiz. Schweizerische Volksliedarchiv in Basel, lässigt. Und das obwohl Musik und Er- 2006 schaffte Pro Helvetia die Förder- oder Sammlungen wie die 2002 erschie- innerung so viele Eigenschaften teilen: Bei kategorie «Neue Volksmusik», 2008 nene Hanni Christen Sammlung. Die beiden ist die Echtheit beziehungsweise bekam die Neue Schweizer Volksmusik Musikerinnen und Musiker wählen einige der Wahrheitsgehalt nur schwer zu über- ihr hauseigenes Festival «Stubete am See» der dort schlummernden Texte und prüfen – erschliessen sich doch die in Zürich. Erinnern und Vergessen UniPress 160/2014 21
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