UniPress* - Erinnern und Vergessen - Universität Bern

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UniPress* - Erinnern und Vergessen - Universität Bern
Erinnern und Vergessen

* Gespräch der Generationen – Norbert Thom und Elena Hubschmid        32
* Begegnung – Manuela coacht Helai             36
                                                                           Ap r i l 2 0 1 4   160
* Forschung – Wenn die Matur leicht ist, wird es später schwer   30

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Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern
UniPress* - Erinnern und Vergessen - Universität Bern
Gipfel Freude*
                                                 Wir suchen
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       Ich lebe und arbeite im Haslital…
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               Zentrum für universitäre Weiterbildung ZUW
               www.zuw.unibe.ch

               Der universitäre Abschluss als Ziel
               56 verschiedene Weiterbildungsabschlüsse an der Universität Bern – Ihrer Weiterbildungsuniversität
               www.postgraduate.unibe.ch

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                                                                          Certificate of Advanced Studies CAS

               Informationen: Zentrum für universitäre Weiterbildung ZUW, Schanzeneckstrasse 1, 3001 Bern, zuw @ zuw.unibe.ch

2   UniPress    160/2014
UniPress* - Erinnern und Vergessen - Universität Bern
ERINNERN UND VERGESSEN

A: «Stell dir vor, du würdest nichts vergessen.»
B: «Unvorstellbar»

A: «Du würdest bei allen dir bekannten Leuten immer den
Namen wissen.»
B: «Angenehm»

A: «Du könntest dich an alle Situationen mit einer Person
erinnern.»
B: «An die guten und die schlechten?»
A: «Alle»
B: «Nur an die Umstände oder auch an die dazugehörigen
Emotionen?»
A: «Alles»

B: «Dann würden alle Ereignisse der Vergangenheit meine
Gegenwart mit dieser Person prägen und die Zukunft
bestimmen ...»
A: «Das wäre wohl so.»

B: «Es gäbe mit dieser Person keine Spontaneität mehr ...»
A: «Gibt es sie denn heute? Prägen nicht unbewusste
Erinnerungen unser Verhalten mehr, als wir vermuten?»

B: «Dann könnte ich meinen Mitmenschen nicht mehr offen
begegnen.»
A: «Sind wir nicht sowieso schon so weit? Im digitalen Zeitalter
wird Vergessen unmöglich.»

B: «Spannender Gedanke! Das muss ich gleich auf Facebook
posten ...»

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

                                    Marcus Moser und Timm Eugster

                                                                    UniPress   160/2014   1
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Gotthelf neu entdecken                                                                                    Trends in der Spitzenmedizin                                                                     Archäologie – Graben nach Geschichten

   * Gespräch – Brigitte Schnegg über die Kehrseiten der Care-Arbeit      40                                 * Gespräch – Benedikt Meyer über Glanz und Elend des Fliegens         40                         * Gespräch – Bruno Moretti will mit guter Lehre punkten        40
   * Begegnung – Sandro Vicini blickt in die Seele der Universität   44                                      * Begegnung – Anne-Marie Kaufmann, Bäuerin und Priesterin            44                          * Begegnung – Cédric sucht «Action» an der Kinderuni      44
                                                                                    Oktob er 2 0 1 2   154                                                                              Dezember 2012   155                                                                                  Apri l 2013          156
   * Spezial – Nachhaltige Lösungen für Nord und Süd      32                                                 * Forschung – Das Klima der Zukunft             30                                               * Forschung – Junge Tibeter leben ihre Religion eigenständig        36

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  * Gespräch – Christine Göttler über Kunst-Räume und Zufluchtsorte            32                            * Gespräch – Rektor Martin Täuber zur Strategie 2021       32                                    * Gespräch – Thomas Stocker und Gian-Kasper Plattner zum Klima           32

  * Begegnung – Veronica Schärer ist begabt und wird gefördert            36                                 * Begegnung – Timo Engel bricht in fantastische Welten auf       36                              * Begegnung – Thierry Aebischer entdeckte ein Paradies für Tiere         36
                                                                                    Juni 2013          157                                                                              Oktober 2013    158                                                                                 D ez emb er 2 0 1 3   159
                                                                                                             * Forschung – Wie sich Geschlechter-Stereotypen auflösen        26                               * Forschung – Gehen mit dem Digitalfilm die Emotionen verloren?          26

                                                                                                             UniPress*                                                                                        UniPress*
  * Forschung – Hightech-Analysegerät für Klima, Luft und Bilder       30

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                                                                                                                                                                    Hochschulstrasse 4
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          2          UniPress                160/2014
UniPress* - Erinnern und Vergessen - Universität Bern
Inhalt

                                                          ERINNERN UND VERGESSEN

                                                       5 Die uneträgliche Leichtigkeit des Erinnerns
                                                         Von Eduard Kaeser

                                                       8 Die Macht unbewusster Erinnerung
                                                         Von Andrea Wantz

                                                      15 Vergessen bringt Vorteile: die Lektionen der Fruchtfliege
                                                         Von Johanni Brea und Walter Senn
    FORSCHUNG UND RUBRIKEN
                                                      17 Autobiografische Erinnerung: Fakt oder Fiktion?
                                                         Von Pasqualina Perrig-Chiello
     Forschung
                                                      20 Im Geflecht klingender Erinnerungen
 26 Anatomie: Wenn Nanopartikel in der Lunge             Von Theresa Beyer
    landen
    Von Susanne Wenger                                23 «Nunca más, nie wieder» –
                                                         an Massenverbrechen erinnern
 28 Kunstgeschichte: Die Gesellschaft formen             Von Stephan Scheuzger
    Von Roland Fischer

 30 Bildungsökonomie: Wenn die Matur leicht ist,          Bildstrecke: Das Gehirn, unser zentrales Organ für
    wird es später schwer                                 Erinnern und Vergessen, in Einzelteile zerlegt und
    Von Andrea Diem und Stefan C. Wolter                  gestalterisch interpretiert von Adrian Moser.

     Rubriken

  1 Editorial

 32 Gespräch
    Norbert Thom und Elena Hubschmid – Hi Prof!
    Von Marcus Moser

 36 Begegnung
    Manuela Vadlja – Juristin statt Floristin
    Von Timm Eugster

 38 Meinung
    Die Zukunft des Internets enscheidet sich jetzt
    Von Mira Burri

 39 Bücher

 40 Impressum

                                                                                             UniPress   160/2014   3
UniPress* - Erinnern und Vergessen - Universität Bern
4   UniPress   160/2014
UniPress* - Erinnern und Vergessen - Universität Bern
Die unerträgliche Leichtigkeit
des Erinnerns
Erinnern ist schwer, Vergessen ist leicht: Das war
früher. Im digitalen Zeitalter haben sich die
Verhältnisse verdreht: Jetzt ist Erinnern leicht und
Vergessen unmöglich. Ein Zustand mit sozialen
und politischen Folgen, findet unser Autor in
seinem Essay.

Von Eduard Kaeser

Andrew Feldmar, ein Psychotherapeut aus         1950er Jahren. Heute müsste es heissen:         Dieser technologischen Zuversicht steht ein
Vancouver, schrieb 2001 in einem wissen-        Die algorithmische Nutzung menschlicher         wachsendes politisches Unbehagen
schaftlichen Artikel, er habe in seiner         Wesen. Der in Harvard lehrende Medien-          entgegen. Man könnte es als panoptische
Jugend einmal LSD probiert. 2006, als er,       rechtler Viktor Mayer-Schönberger hat in        Phobie bezeichnen, in Anlehnung an
wie schon oft, in die USA einreisen wollte,     einem lesenswerten Buch («Delete») die          Jeremy Benthams «Panopticon», einem
googelte einer der Grenzbeamten nach            These aufgestellt und begründet: War            Prinzip des Gefängnisbaus im 19. Jahrhun-
seinem Namen. Die Maschine spuckte den          früher Vergessen leicht und Erinnern            dert, in dem die Wärter die Insassen
Artikel aus. Die Frage des Beamten, ob die      aufwendig, verhält es sich heute zuneh-         kontrollieren, ohne dass die Insassen es
Aussage über LSD stimme, bejahte Feldmar.       mend umgekehrt. Dies aufgrund eines             merken. Die Befürchtungen gehen dahin,
Woraufhin ihm beschieden wurde, dass er         gewaltigen technisch-ökonomischen               dass wir das Überwachtwerden tendenziell
als «Drogenkonsument» gelte. Er wurde           Impulses der Digitalisierung, Verbilligung      verinnerlichen: Ich handle so, als ob ich
zurückgewiesen und darf seither nur noch        der Speicher und Prozessorenleistung,           beobachtet würde, auch wenn ich nicht
mit einer Sondergenehmigung in die USA          leichter Abfrage und globaler Reichweite.       beobachtet werde. Was heute Gestalt
einreisen. «Dank» digitalem Gedächtnis                                                          annimmt, ist ja nicht bloss ein Panopticon
machte ihm eine längst vergessene                                  ***                          über den Raum, sondern auch über die
Jugendsünde das Leben sauer. Wie der                                                            Zeit. In der digitalen Öffentlichkeit sind
Journalist Joseph D. Lasica schon 1998 in       Wie immer treten bei solch grossen tech-        unsere archivierten Worte und Taten über
einem hellsichtigen Online-Artikel («The        nischen Schüben die Rosa- und die               Generationen hinweg verfügbar. Fälle wie
Net Never Forgets») schrieb: «Gesprochene       Schwarzseher auf den Plan. Zu den ersten        jene von Andrew Feldmar könnten zur
Wörter verschwanden früher wie Dampf            gehören Ingenieure, die schon seit über         Normalität werden, so dass wir in einer Art
in der Luft; Zeitungen vergilbten und           einem halben Jahrhundert von einem              von vorauseilender Wachsamkeit zweimal
wurden zu Staub. Heute ritzt sich die           künstlichen Langzeitgedächtnis träumen.         überlegen, was wir sagen und was wir tun.
Vergangenheit wie ein Tattoo in unsere          Vannevar Bush, ein Pionier des Analogrech-      Genau dann aber, wenn sich solche
digitale Haut.»                                 ners, beschrieb schon 1945 eine perfekte        Selbstzensur unserem Denken und Handeln
                                                Erinnerungsmaschine namens «Memex»              aufmoduliert, ist das digitale Panopticon
                    ***                         («memory extended»), die dem Menschen           gesellschaftliche Realität geworden.
                                                nicht nur Zugang und Herrschaft über das        Das heisst: Der Sauerstoff der Demokratie,
Das Netz vergisst nicht. Was ich auch tue,      Wissen aller Zeiten verschaffe, sondern in      die freie Meinungsäusserung, wird zu-
ich hinterlasse Spuren, in die andere klicken   das er sich auch weiterhin einschreiben         nehmend knapper.
können. Zigmilliarden Suchanfragen er-          könne. Heute führt Gordon Bell dieses
reichen Google im Monat, welche die             Projekt auf digitaler Basis weiter. Sein Ziel                      ***
Maschine archiviert, auf Trends hin analy-      ist «Lifelogging», das Verewigen seines
siert sowie demografisch auszuwerten            Lebens auf einem Laptop: Bilder, E-Mails,       Es gibt viele Gründe, warum Vergessen
vermag. Durch geschickte Verknüpfung von        Texte, Telefonanrufe, aufgezeichnete            wichtig ist. Ich möchte hier einen beson-
Login-Daten, Cookies und IP-Adressen ist es     Gespräche, ein riesiges Sammelsurium an         ders hervorheben: Vergessen schafft Spiel-
inzwischen möglich, mit erstaunlicher Prä-      biografischen Daten. «Ich glaube, das           raum, freien Platz im Kopf, Anlässe des
zision Suchanfragen auf individuelle User       Bestreben des Personal Computer ist, das        Neuanfangs. Menschen mit aussergewöhn-
einzugrenzen. Und auf der Basis der             eigene Leben einzufangen» sagte er in           lichem Erinnerungsvermögen – es gibt sie
User-Vergangenheit errechnen die Algo-          einem Interview: «Ich stelle mir das System     tatsächlich – sind Gefangene ihrer Vergan-
rithmen deren Zukunft. «The Human Use of        als ein persönliches Gedächtnis vor. Und ich    genheit. Der Journalist Joseph Foer berich-
Human Beings» – die menschliche Nutzung         fühle mich ungemein frei, all die Informa-      tete 2007 im «National Geographic» über
menschlicher Wesen – betitelte einer der        tionen da zu haben.»                            eine Kalifornierin mittleren Alters, die sich
Väter der modernen Kybernetik, Norbert                                                          detailscharf – ohne Gordon Bells digitale
Wiener, ein vielgelesenes Büchlein in den                          ***                          Armatur – an ihre Biografie seit dem

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UniPress* - Erinnern und Vergessen - Universität Bern
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11. Lebensjahr erinnert, nicht im Sinne         Unser Gedächtnis ist aber kein Akten-             Für uns Netzbenutzer wird das Erinnern
verflossener Tage, sondern in quälenden         schrank, in den man einfach Informationen         immer passiver – wir werden «erinnert».
Einzelheiten. Sie erinnert sich, was sie vor    hineinlegt und wieder herausnimmt – «save         Amazon «erinnert» mich daran, das und
drei Jahrzehnten zum Frühstück ass, was sie     and retrieve». Unser Gedächtnis ist ein           das zu kaufen, weil ich dieses und jenes
damals in den Fernsehshows sah, wer sie         hochadaptives neurosensorisches System,           schon gekauft habe. Kaufverhalten – das ist
am Sonntag, 3. August 1986 um 12.34 Uhr         das sich und die verwahrte Information            erst der Anfang. Wenn Googles Ex-CEO Eric
anrief. Sie erinnert sich an Weltereignisse,    ständig verändert, sich permanent im              Schmidt von der Zukunft träumt, klingt das
triviale Einkaufsgänge, an das Wetter, ihre     Wechselspiel persönlicher Vorlieben, Ab-          vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen
Gefühle. Sie lebt in permanent gegenwär-        neigungen, Erwartungen rekonstruiert.             definitiv wie eine Drohung: «Eine Zukunft,
tiger Vergangenheit, die buchstäblich wie       Bewusstes, aktives Vergessen bedeutet             in der du nichts vergisst, in der du dich nie
ein Film ihren Alltag überzieht. Statt in der   deshalb, dass wir Information interpre-           verirrst. Wir werden deine Position bis auf
Gegenwart zu leben, hängt sie vergan-           tieren, beurteilen und gewichten und uns          deine Fusslänge und bis auf eine kleine
genen verpassten Chancen nach und macht         nicht einfach passiv mit Daten mästen. Nur        Zeitspanne genau kennen. Dein Auto wird
sich Vorwürfe: «Die meisten Leute nennen        noch in Erinnerungen zu leben erstickt            selber fahren. Du wirst nie mehr allein
das, was ich habe, ein Geschenk, ich nenne      einen. In diesem Sinn machen zu viele             sein.» Genau aus diesem Grund gewinnt
es eine Bürde.» Die Frau bezeichnet sich        Daten aus uns unfreie, urteils- und               das Vergessen eine neue Bedeutung: als
selbst als «verrückt».                          entscheidungsunfähige Menschen.                   Verweigerung. Ganz banal zum Beispiel als
                                                                                                  Verweigerung, eine Supercard zu führen,
                   ***                                             ***                            ein Facebook-Konto zu eröffnen, sich in
                                                                                                  einer Kundendatei registrieren zu lassen.
Anomalien spiegeln den Normalfall: Wir          Aus diesem Grund erweisen sich Erinnern           Zugegeben, das klingt heute schon wie ein
sind von Kopf bis Fuss auf das Vergessen        und Vergessen noch aus einem ganz ak-             Appell auf verlorenem Posten. Umso mehr
eingestellt, als Filter gegen Informations-     tuellen Grund als höchst bedenkenswert,           gilt es, Vergessen als Widerstand aufzu-
überflutung. Goethe nannte Vergessen eine       nämlich als das prekäre Verhältnis von digi-      fassen gegen einen gigantischen erin-
«hohe Gottesgabe». Ein beliebig grosses         talem und analogem, datifiziertem und             nernden Moloch, der mich, die reale
Gedächtnis könnten wir mit einer Riesen-        physischem Selbst. Es ist Ersteres, das sich      Person, durch ein digitales Alter Ego
masse an Einzelheiten vollstopfen. Aber die     immer mehr in die Erinnerungsfänge des            ersetzen will. Umgekehrt gesagt: In dem
Knappheit des Speicherraums schafft über-       Netzes verstrickt. «Das Netz vergisst nicht»      Masse, in dem wir uns so verweigern,
haupt erst die Notwendigkeit des Verknüp-       heisst anders gesagt, dass wir zusehends zu       behaupten wir uns als Unerfasste, elektro-
fens, Weglassens, Abstrahierens, will sagen:    Bürgern zweier Gesellschaften, einer imma-        nisch Nicht-Gesammelte: als «Vergessene»
der Intelligenz. Ohne Vergessen würden wir      teriellen und einer materiellen, werden.          des Netzes – als Menschen aus Fleisch und
unter der Last der Einzelheiten kollabieren.    Insofern beschreibt die Metapher der digi-        Blut, mit all ihren Defiziten. Die letzten
Hinzu kommt ein Weiteres. Wem ist nicht         talen Haut emblematisch unsere Condition          Vertreter einer alten Spezies?
schon beim Betrachten alter Bilder die          humaine im angebrochenen Millenium.
Frage aufgestossen: Bin ich das noch? Oder      Mein Online-Ich wird nicht vergessen. Dass        Kontakt: Dr. Eduard Kaeser,
wer hat nicht schon beim Lesen alter Briefe     dadurch eine folgenschwere Dissoziation           e.cheese@gmx.net
oder Tagebucheintragungen über Bekannt-         von datifizierter und physischer Person
schaften plötzlich den irritierenden Zweifel    stattfinden kann, liegt im Bereich des be-        Blog: http://kaeser-technotopia.blogspot.ch
in sich nagen gespürt: Ist das wirklich die     reits Realisierten. Offizielle Ämter, Organisa-
Person, mit der ich heute freundschaftlich      tionen und Privatfirmen «erinnern» sich an
verkehre? Solche Fragen tauchen auf, weil       mich in Gestalt von wachsenden persön-
Information eine zeitliche Dimension hat.       lichen Datenbanken. Es ist das Zählbare,
Und gerade der Informationsverfall durch        das Datifizierbare an mir, das für sie letzt-     Eduard Kaeser, geboren 1948, ist Physiker
Vergessen gehört zum persönlichen Wachs-        lich zählt: das Datenpaket «Eduard Kaeser».       und promovierter Philosoph. Er unterrich-
tumsprozess. Das digitale Gedächtnis ne-        Der modische Trend, durch Self-Tracking           tete bis 2012 Physik und Mathematik und
giert diese Zeitdimension. Es kann die per-     sich quasi freiwillig und freimütig der Erin-     ist als freier Publizist sowie als Jazzmusiker
sönliche «Aufräumarbeit» behindern, in-         nerungsmaschinerie der Netzgiganten zu            tätig. Zuletzt erschien 2012 im Schwabe
dem es uns immer wieder mit Relikten aus        unterwerfen, ist allgegenwärtig.                  Verlag Basel «Multikulturalismus revisited.
der Vergangenheit konfrontiert, die man                                                           Ein philosophischer Essay». Im April
eigentlich abgestossen zu haben glaubt.                            ***                            erscheint «Trost der Langeweile».

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UniPress* - Erinnern und Vergessen - Universität Bern
Die Macht unbewusster Erinnerungen
Die Tradition der Gedächtnisforschung sagt: Das
Lernen und Erinnern von Episoden ist an unser Be-
wusstsein gekoppelt. Katharina Henke vom
Zentrum für Kognition, Lernen und Gedächtnis
zeigt jedoch, dass Erlebnisse auch unbewusst ab-
gespeichert und abgerufen werden können. Sie
plädiert für ein alternatives Gedächtnismodell.

Von Andrea Wantz

Können Sie sich an Ihren letzten Geburtstag     Informationen beeinflusst. Zum Beispiel        alle schon einmal das Gefühl, eine Person
erinnern? Was ist die Hauptstadt Perus?         antwortete er spontan auf die Frage, wer       in einem bestimmten Kontext schon einmal
Woher wissen Sie eigentlich, wie man Velo       Hans Muster sei, mit «Sportler», nachdem       gesehen zu haben, können uns aber nicht
fährt? Bei der Beantwortung solcher Fragen      er 30 Mal den Satz «Hans Muster ist            erklären, weshalb?
kommt das Gedächtnis ins Spiel: Wir             Sportler des Jahres» zu lesen erhalten hat.        Henke machte sich im Jahr 2008 daran,
verwenden früher angeeignete und ge-               Diese Erkenntnis veranlasste den            ihre Vermutung in einem Experiment zu
speicherte Informationen, um Probleme zu        amerikanischen Professor für Psychiatrie,      überprüfen: Würden Menschen in einer
lösen. Doch obwohl wir immer von «dem»          Neurowissenschaft und Psychologie Larry        Laborsituation Worte als zusammen-
Gedächtnis sprechen, sieht es die Wissen-       Squire zur Formulierung des klassischen        passender beurteilen, die sie im gleichen
schaft anders: Es gibt verschiedene             Gedächtnismodells: Die verschiedenen           Kontext gelernt hatten, ohne sich dessen
Gedächtnissysteme, die im Gehirn unter-         Gedächtnisformen unterscheiden sich            bewusst zu sein? Konkret glaubten die
schiedlich angelegt sind. Je nachdem, ob        danach, ob das Bewusstsein dabei einge-        Versuchspersonen, einen Flimmerbildschirm
wir uns an Geburtstage erinnern, Haupt-         schaltet ist oder nicht. Zur Kategorie des     anzustarren – in Wirklichkeit wurden ihnen
städte abrufen oder erlernte Fähigkeiten        bewussten Gedächtnisses gehören                für jeweils 17 Millisekunden Wortpaare
anwenden, laufen im Gehirn also ver-            demnach erlebte Ereignisse wie Geburts-        gezeigt: Dies entspricht etwa dem Sechzigs-
schiedene Prozesse in unterschiedlichen         tage (episodisches Gedächtnis) und Fakten-     tel einer Sekunde und ist zu kurz, um die
Netzwerken ab.                                  wissen wie Hauptstädte (semantisches           Wortpaare bewusst wahrzunehmen. Die
     Der Versuch, verschiedene Gedächtnis-      Gedächtnis). Zur Kategorie des unbe-           unsichtbaren Wortpaare waren beispiels-
systeme zu klassifizieren, ist nicht neu.       wussten Gedächtnisses gehören motorische       weise «Krähe-Schild» und später «Schild-
Bereits im späten 19. Jahrhundert postu-        Abläufe wie etwa Velofahren (prozedurales      Topf». Manche Wortpaare teilten also ein
lierte Sigmund Freud, dass sich mensch-         Gedächtnis) sowie klassisches Konditio-        Element – in diesem Beispiel «Schild».
liches Erleben in bewusste und unbewusste       nieren und Priming (Erleichterung bei          Später legte man den Versuchspersonen
Prozesse unterteilen lässt. Dass es auch        wiederholter Analyse eines Sachverhalts im     Wortpaare auf bewusster Ebene vor – sie
bewusste und unbewusste Gedächtnis-             Vergleich zum ersten Mal).                     konnten sie also sehen – und fragte sie, ob
formen gibt, ist seit der zweiten Hälfte des                                                   die beiden jeweiligen Wörter zusammen-
20. Jahrhunderts breit anerkannt.               «Diese Person habe ich doch schon              passten. Dabei zeigte sich, dass Wortpaare
     Das Paradebeispiel war Henry Molaison:     einmal gesehen …»                              wie «Krähe-Topf» durch ihr zuvor unbe-
Dem jungen Mann, der seit einem Fahrrad-        Nicht alle waren jedoch einverstanden mit      wusst wahrgenommes geteiltes Element
unfall regelmässig an epileptischen Anfällen    diesem Gedächtnismodell. Katharina             («Schild») als zusammenpassender beurteilt
litt, wurden nach erfolgloser alternativer      Henke, Professorin und Direktorin des Zen-     wurden als Wortpaare ohne eine solche
Behandlung im Jahr 1953 grosse Teile            trums für Kognition, Lernen und Ge-            Verbindung (siehe Bilder Seite 12).
beider Hippocampi aus dem Gehirn                dächtnis (CCLM) an der Universität Bern,           Die Testpersonen konnten also über-
entfernt. Der Hippocampus (siehe Bild           hegte immer Zweifel an der Annahme, dass       lappende Episoden wie «Krähe – Schild –
Seite 10) ist eine seepferdförmige Hirn-        die Evolution ein menschliches Gehirn her-     Topf» unbewusst in ihr Gedächtnis inte-
struktur, die wegen ihrer Verletzlichkeit oft   vorbrachte, das seine Arbeitsteilung nach      grieren. Die Integration von Episoden ist
Ursprungsort von epileptischen Anfällen ist.    Bewusstseinsgraden definiert. Henke ver-       eine Leistung, die dem episodischen
Obwohl Henry Molaison sich nach der             mutet, dass das episodische Gedächtnis –       Gedächtnis und damit traditionellerweise
Operation nicht mehr bewusst an Erlebnisse      also die Erinnerung an erlebte Szenen, defi-   dem Bewusstsein zugeschrieben wird.
erinnern konnte, wurde sein Verhalten           niert durch Was-Wer-Wann-Wo – auch             Stimmt Henkes Annahme, dass ihr Experi-
immer noch unbewusst von gelernten              unbewusst funktioniert. Hatten wir nicht       ment episodisches Gedächtnis auf unbe-

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Der Hippocampus (in Violett) befindet sich tief im
                                                                                     Schläfenlappen des menschlichen Gehirns. Er ist
                                                                                     essentiell für das Abspeichern und Erinnern unserer
So leben Erinnerungen länger                                                         täglichen Erlebnisse.

Bewusst erlebte Ereignisse und Lern-
inhalte werden im Gehirn stärker abge-
bildet und bleiben länger erhalten als
unbewusst aufgenommene Episoden
(siehe Haupttext). Doch können wir er-
reichen, dass die bereits langlebigen        wusster Ebene erfasst, müsste in dieser       für das klassische, bewusstseinsbasierte
bewusst erlebten Episoden noch länger        Aufgabe der Hippocampus involviert sein.      Gedächtnismodell? Nein, findet Henke,
leben? Tatsächlich können wir in einem       In der Tat bestätigten die Daten aus bild-    denn Priming ist eine andere Form des
gewissen Mass beeinflussen, wie viele        gebenden Verfahren genau diese Annahme.       Gedächtnisses und hängt von anderen Hirn-
Neuronen im Hippocampus im Erwach-                                                         strukturen als dem Hippocampus ab. Sie ist
senenalter «geboren» werden (Neuro-          Ein neues Gedächtsnismodell                   überzeugt: Hätte Henry Molaison an einem
genese) und damit Lern- und Gedächtnis-      zeichnet sich ab                              Experiment mit unbewussten episodischen
leistungen stützen. Diese Faktoren haben     In weiterer Forschung wurde immer offen-      Gedächtnisaufgaben teilgenommen,
laut verschiedenen Studien einen positiven   sichtlicher, dass Menschen auch ohne          hätte er genauso schlecht abgeschnitten
Einfluss:                                    Bewusstsein Episoden sinnhaft aufnehmen       wie bei der bewussten Erinnerung. Diese
                                             und später erinnern können. Schliesslich      These prüfte Henkes Team an Patienten mit
• Sport: Mäuse, die in einem Laufrad         plädierte Henke im Jahr 2010 in einem         Schädigungen im Hippocampus und an
trainieren konnten, weisen stärkere          Artikel im Fachmagazin Nature Reviews         gesunden Testpersonen.
Neurogenese und damit bessere Lern-          Neuroscience, der bereits 150 Mal zitiert
fähigkeiten auf.                             wurde, für eine Revision des klassischen      Lernen funktioniert auch
                                             Gedächtnismodells. Ihre Gegenthese:           ohne Bewusstsein
• Anregende Umgebung: Mäuse, die in          Gedächtnissysteme unterteilen sich nicht      Wieder wurden zunächst auf unbewusster
einer Umgebung mit Spielzeugen und           aufgrund ihrer Abhängigkeit von Bewusst-      Ebene Wortpaare ultrakurz präsentiert, zum
anderen Mäusen lebten, wiesen eine stär-     sein, sondern aufgrund ihrer Arbeitsweise,    Beispiel «Fischer-Zitrone» – und wieder
kere Neurogenese und Lernleistung auf        also ihrer Verarbeitungsmechanismen.          wurden ihnen später auf bewusster Ebene
als solche, die von der Aussenwelt kaum          Das heisst: Manche Gedächtnissysteme      Wortpaare präsentiert, bei welchen sie
stimuliert wurden.                           können rasch lernen, andere langsam,          beurteilen mussten, wie gut sie zusammen-
                                             manche Gedächtnissysteme erschaffen ein       passen. Der Trick: Manche Wortpaare ent-
• Mediterrane Ernährung: Auch die            flexibles, andere ein rigides Abbild des      hielten Analogien zu unbewusst auf-
Ernährung wirkt sich auf die Fitness der     gelernten Sachverhalts im Gehirn. Jede        genommenen Wortpaaren (zum Beispiel
grauen Zellen und die Lernfähigkeit aus.     Lernsituation stellt ihre spezifischen        «Angler-Limette»), während andere Wort-
Verschiedene Studien zeigen, dass eine       Ansprüche an das Gehirn und fordert das       paare unverbunden waren. Wenn die unter-
mediterrane Ernährung, insbesondere          entsprechend spezialisierte Gedächtnis-       schwellig präsentierten Wortpaare tatsäch-
durch die Antioxidantien im Olivenöl, den    system zur Arbeit auf. Ob wir in der Lern-    lich eine Gedächtnisspur hinterlegt haben,
kognitiven Alterungsprozess und damit        situation bewusst oder unbewusst lernen,      dann sollten die Versuchspersonen die ana-
den Gedächtnisabbau verlangsamen kann.       spielt dabei laut Henke keine Rolle für die   logen Wortpaare als zusammenpassender
                                             Wahl des Gedächtnissystems.                   beurteilen als unverbundene Paare.
• Genügend Schlaf: Schlaf spielt eine            Henry Molaison, dessen Hippocampi             Tatsächlich zeigten nur die gesunden
Schlüsselrolle bei Gedächtnisprozessen.      operativ entfernt werden mussten, konnte      Versuchspersonen, nicht aber die Patienten
Die gewaltige Menge an Informationen,        sich nicht mehr bewusst an Ereignisse         mit Schädigungen im Hippocampus, dieses
welche Menschen tagtäglich über die          erinnern. Doch unbewusste Formen des          Verhalten. Interessanterweise zeigten
Sinnesorgane aufnehmen, wird im Schlaf       Gedächtnisses wie Priming blieben nach der    Patienten, die noch intaktes hippocampales
gewichtet, sortiert und gefestigt.           Operation intakt. Doch ist dies ein Beweis    Restgewebe hatten, immer noch Einflüsse

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UniPress   160/2014   11
Ein Experiment zum unbewussten Lernen und Erinnern: Während die Versuchsperson die flimmernde Projektion anschaut, werden
ihr ultrakurz und dadurch unsichtbar Wortpaare zum unbewussten Lernen dargeboten (Bild links). Minuten später berurteilt die
Versuchsperson, ob zwei sichtbare Wörter inhaltlich zusammenpassen oder nicht (Bild rechts). Das Resultat: Die Testperson beurteilt
Wortkominationen als passender, an die sie sich unbewusst erinnert, weil sie zuvor ähnliche Wortkombinationen unterschwellig
wahrgenommen hat.

der unbewusst erlebten Wortpaare auf ihr           gabe wurden den Versuchspersonen dann              unbewusst an erlebte Episoden erinnern
Urteilsverhalten. In einer anderen un-             Wortpaare aus Teilen der vorher gesehenen          können. Wie muss man sich ein solches
bewussten Lernaufgabe, die nicht das               Paare gezeigt. Manche dieser Wortpaare             Leben vorstellen? «Der Mensch lebt im
episodische Gedächtnis betrifft und damit          setzten sich aus bewusst und unbewusst             Moment. Mangels Erinnerungen reduziert
unabhängig vom Hippocampus ist, ergaben            aufgenommenen Wörtern zusammen, die                sich sein Selbstkonzept», erklärt Henke.
sich keine Unterschiede zwischen Patienten         durch ein geteiltes Wort verbunden waren
und gesunden Testpersonen. Das heisst,             (zum Beispiel «Apfel-Buch», verbunden              Bewusstsein ermöglicht Kontrolle
dass unbewusstes Lernen je nach den                durch das Wort «Soldat»). Andere Wort-             Gedächtnis ist aber nicht die einzige
Anforderungen der Lernaufgabe an das               paare waren unverbunden.                           Domäne im menschlichen Gehirn, welche
Gehirn vom Hippocampus abhängig sein                  Wie erwartet beurteilten die Versuchs-          bewusst wie unbewusst funktionieren kann.
kann oder nicht.                                   personen die über bewusste und unbe-               Studien zeigen, dass auch andere höhere
                                                   wusste Erinnerungen verbundenen Wort-              kognitive Prozesse wie Selbstkontrolle
Bewusstsein und Unbewusstsein                      paare als passender im Vergleich zu                und Wille unabhängig von Bewusstsein
kommunizieren miteinander                          unverbundenen Wortpaaren. Bewusste und             operieren können. Henke postuliert
Wenn bewusstes und unbewusstes                     unbewusste Erinnerungen werden also in             sogar, dass sämtliche kognitive Prozesse
Gedächtnis für Episoden von den gleichen           einer einheitlichen, flexiblen Gedächtnis-         unabhängig vom Bewusstsein funktionieren
Hirnstrukturen (Hippocampus und anderen            repräsentation dynamisch integriert und            können.
Strukturen) hervorgebracht wird, dann              basieren auf den gleichen Hirnstrukturen.             Wozu also Bewusstsein? Dazu Henke:
sollten bewusst und unbewusst erlebte                                                                 «Das Bewusstsein verstärkt die Gedächtnis-
Ereignisse miteinander verbunden werden            Unbewusstes Wissen                                 spur und lässt sie länger leben. Das heisst,
können: Wie Freud postuliert hat, würden           führt uns durchs Leben                             Informationen bleiben über längere Zeit im
also das Bewusstsein und das Unbe-                 Nach dem Umkrempeln des klassischen                Gedächtnis haften und sind dadurch länger
wusstsein miteinander kommunizieren.               Gedächtnismodells drängt sich eine                 erinnerbar und nutzbar. Zudem können wir
Genau dies zeigten Henke und Kollegen              nächste Frage auf: Wozu gibt es überhaupt          uns durch bewusste Kontrolle gezielt vor
in einem Experiment, dessen Ergebnisse             Bewusstsein? Heute ist der Mensch                  unerwünschten Reizen abschirmen und
sie vergangenes Jahr im Fachmagazin                idealerweise umweltbewusst, kosten-                damit verhindern, dass ungewollte
Frontiers in Behavioral Neuroscience               bewusst, stilbewusst und ernährungs-               Informationen Einfluss auf unser Gehirn
präsentierten.                                     bewusst. Während alle bewusst leben,               und Verhalten ausüben.»
    Gesunde Versuchspersonen mussten               möchte niemand «unbewusst» sein.
wiederum Wortpaare auf ihre Passung be-            Höchstwahrscheinlich erleben und spei-             Autorin: Andrea Wantz, Kommunikations-
urteilen (zum Beispiel «Apfel-Soldat»). Sie        chern wir aber viel mehr Informationen, als        beauftragte des Center for Cognition,
merkten nicht, dass ihnen zwischen man-            uns bewusst ist.                                   Learning and Memory (CCLM),
chen Wortpaaren ultrakurz und daher un-               Dieses unbewusste Wissen informiert             andrea.wantz@psy.unibe.ch
sichtbar weitere Wortpaare gezeigt wurden          unsere Intuition und lenkt unser Verhalten,        Kontakt: Prof. Dr. Katharina Henke,
(zum Beispiel «Soldat-Buch»). Manche               um uns sicherer durch das Leben zu führen.         geschäftsführende Direktorin des Center for
Wortpaare teilten also ein Element (in             Wie Henke gezeigt hat, gibt es leider              Cognition, Learning and Memory (CCLM),
diesem Beispiel «Soldat») – über das Be-           Menschen, die sich wegen einer Hippo-              Institut für Psychologie,
wusstsein hinweg. In einer zweiten Auf-            campus-Schädigung weder bewusst noch               katharina.henke@psy.unibe.ch

12   UniPress   160/2014                                       Erinnern und Vergessen
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Vergessen bringt Vorteile: die Lektionen der Fruchtfliege
Wer schneller vergisst, findet mehr Zuckertöpfe:
Neuste Resultate in der Verhaltensforschung mit
Fruchtfliegen legen nahe, dass Vergessen in einer
sich verändernden Umgebung ein optimales
Verhalten ist.

Von Johanni Brea und Walter Senn

Vergesslichkeit ist lästig: Diese Ansicht teilt   paar Stunden sinkt der Anteil der sich              aversiv konditioniertem Geruch ist eine sich
jeder, der schon einmal seine Schlüssel           nähernden Fliegen deutlich: Die Fliegen             schnell ändernde Umgebung: Hier lohnt es
liegengelassen hat. Auch wissenschaftliche        vergessen, dass der Geruch appetitiv kondi-         sich also für die Fruchtfliegen, schneller zu
Erklärungsansätze sehen Vergessen oft             tioniert war – dass er sie also schon einmal        vergessen – denn wenn sie die Welt von
einseitig als notwendiges Übel: Schliesslich      zu einem Zuckertopf geführt hat.                    gestern im Kopf behalten, droht ihnen
führt das Speichern von neuen Inhalten in            Wird nun ein Geruch in schneller                 heute ein Zuckertopf zu entgehen.
Systemen mit beschränkter Kapazität wie           Abfolge abwechslungsweise appetitiv und                Andererseits entspricht eine repetitive
dem Gehirn notwendigerweise zum Verlust           aversiv konditioniert, vergessen die Fliegen        Konditionierung mit genügend langen
von alten Inhalten. Doch ist Vergessen            anschliessend schneller. Wenn der Geruch            Pausen einer sich langsam ändernden
deswegen bloss ein Ärgernis, das dem Ziel         hingegen wiederholt gleich konditioniert            Umgebung: Folglich ist hier langsameres
einer verbesserten Gedächtnisleistung             wird, vergessen sie langsamer; insbeson-            Vergessen angebracht – denn wer sich erin-
entgegensteht? Ein Leben ohne Vergessen           dere, wenn zwischen den Repetitionen eine           nert, dass ein Geruch zuverlässig zum
graut wohl nicht nur Honoré de Balzac –           genügend lange Pause liegt.                         Zuckertopf führt, hat einen Vorteil.
dem französischen Schriftsteller wird das                                                                Das gleiche Modell erklärt zudem die
treffende Bonmot zugeordnet: «Die                                                                     zunächst eigenartige Beobachtung, dass
Erinnerungen verschönern das                                                                          Fruchtfliegen aversive Konditionierungen
Leben, aber das Vergessen                                                                             schneller vergessen als appetitive: Das
allein macht es erträglich.»                                                                            negative Erlebnis bleibt also weniger lang
                                                                                                                 bestimmend als das positive.
Fruchtfliegen regulieren,                                                                                             Unter der Annahme, dass
wie schnell sie vergessen                                                                                                negative Erlebnisse zu
Ein neuer Blick auf die Frage, wie                                                                                       ängstlichem, nicht explora-
und warum biologische Orga-                                                                                             tivem Verhalten führen, ist
nismen vergessen, gewährt die                                                                               es tatsächlich gut, Negatives schneller
Fruchtfliege. Dieses einfache                                                                               zu vergessen, damit man künftige
Lebewesen, das in unseren                                                                                   positive Möglichkeiten – wie etwa
Wohnungen auftaucht, sobald                                                                               den nächsten Zuckertopf – nicht
in der Früchteschale die Bananen überreif                                                             verpasst. Die Fruchtfliege verhält sich also
                                                  Wer schlechte Erfahrungen
werden, hat ein erstaunlich ausgeklügeltes        rasch vergisst, ist erfolgreicher: So lautet eine   gemäss einer Theorie der Ökonomie,
Gedächtnissystem: Es kann durch moleku-           der Lektionen der Fruchtfliege.                     wonach lähmende Rückschläge rasch
lare Mechanismen regulieren, wie schnell                                                              weggesteckt werden sollten, um «costs of
etwas vergessen wird. Ein solcher Regu-           Vergesslichkeit hängt von der                       inaction» zu vermeiden.
lierungsmechanismus hätte keinen Sinn,            Umgebung ab                                            Die Evolution optimiert unser Verhalten,
wenn die Fruchtfliege alte Gedächtnis-            Wozu könnte er nun gut sein, dieser                 indem sich Individuen mit vorteilhaften
inhalte nur aufgrund beschränkter                 Regulierungsmechanismus, der die                    Eigenschaften erfolgreicher fortpflanzen als
Kapazität vergessen würde.                        Geschwindigkeit des Vergessens steuert?             andere. Dies ist spätestens seit Charles
    Wie Fruchtfliegen vergessen, ist schon in     Diese Frage untersucht eine neue Studie             Darwin und Alfred Russel Wallace Mitte des
mehreren Studien mit klassischer Konditio-        aus der Gruppe von Professor Walter Senn            19. Jahrhunderts bekannt. Dass auch das
nierung getestet worden. Dabei wird eine          am Institut für Physiologie, die zurzeit in         Vergessen einen solchen Vorteil bringen
Gruppe von Fruchtfliegen zunächst einem           Begutachtung ist.                                   kann, ist allerdings eine wenig verbreitete
Geruch ausgesetzt, an dessen Quelle sie               Ausgangspunkt der Untersuchung war              Einsicht. Das Verhalten der Fruchtfliege
entweder ein Zuckertopf oder ein Elektro-         die Intuition, dass in einer sich verän-            zeigt uns, dass das Vergessen das Leben
schock erwartet. Ersteres entspricht einer        dernden Umgebung bestimmte Fakten nach              nicht nur im Balzac’schen Sinne erträglich
sogenannt «appetitiven Konditionierung»,          gewisser Zeit überholt sind. Tatsächlich            macht – sondern es auch in ökonomischen
Letzteres einer «aversiven Konditionie-           konnte mit einem einfachen mathema-                 Massstäben optimiert: Damit wir in einer
rung». Nach einer Wartezeit werden die            tischen Modell gezeigt werden, dass sich            sich verändernden Umwelt möglichst
Fruchtfliegen wieder demselben Geruch             ein Individuum optimal bezüglich zukünf-            erfolgreich sind.
ausgesetzt und es wird ausgewertet, ob sie        tigen Belohnungsmöglichkeiten verhält,
sich der Geruchsquelle nähern oder von ihr        wenn die Vergessensgeschwindigkeit an die           Kontakt: Dr. Johanni Brea, brea@pyl.unibe.ch
fliehen. Kurz nach einer appetitiven              Veränderungsgeschwindigkeit der Umge-               Prof. Dr. Walter Senn, senn@pyl.unibe.ch
Konditionierung nähern sich die meisten           bung angepasst wird. Eine schnelle Abfolge          Institut für Physiologie sowie Center for
Fruchtfliegen dem Duft; doch nach ein             von abwechslungsweise appetitiv und                 Cognition, Learning and Memory

                                                              Erinnern und Vergessen                                        UniPress   160/2014   15
16   UniPress   160/2014
Autobiografische Erinnerung:
Fakt oder Fiktion?
Das Phänomen kennen vermutlich alle: Nach vielen
Jahren trifft man ehemalige Schulkollegen und
vernimmt Geschichten von sich, von denen man
keine Ahnung mehr hat oder die einem völlig
unglaubwürdig vorkommen: Das kann unmöglich
ich gewesen sein! Sind etwa unsere autobiogra-
fischen Erinnerungen mehr Dichtung als Wahrheit?

Von Pasqualina Perrig-Chiello

Der grosse Entwicklungspsychologe Jean            widerfahren sei, antworten, dass es die         von grosser Bedeutung für unsere Identität
Piaget hat während vieler Jahre sehr detail-      zerbrochene grosse Liebe sei. Zehn Jahre        sind, kommt ihnen im Alter eine zentrale
liert geschildert, wie er als Kleinkind in        später wird er vermutlich sagen, dass dieser    Rolle für das psychische Wohlbefinden zu.
einem Park beinahe entführt worden sei,           Bruch wohl das Beste gewesen sei, was ihm       So setzen sich ältere Menschen in der
als seine Kinderfrau ihn im Kinderwagen           passieren konnte. Nochmals zehn Jahre           Regel intensiv mit ihren autobiografischen
spazieren führte. Er erzählte die Geschichte      später wird er das Ereignis als unerheblich     Erinnerungen auseinander und teilen diese
so lange, bis sich alles sprichwörtlich als ein   ansehen, um dann im Alter mit Nostalgie         anderen gerne mit. Auffällig dabei ist, dass
Ammenmärchen entpuppte, nämlich dann,             auf eben diese erste grosse Liebe zurück-       es sich oft um Erlebnisse aus der Jugendzeit
als die Kinderfrau viele Jahre später seinen      zuschauen. Wie bei den eingangs                 und dem jungen Erwachsenenalter handelt,
Eltern schriftlich beichtete, dass diese          erwähnten alten Schulgeschichten wider-         und dass diese häufig emotional hoch
Beinahe-Entführung frei erfunden war.             spiegelt sich in der sich wandelnden Auto-      bewertet werden. Dieser «Reminiscence
    Es handelt sich hier ganz klassisch um        biografie die Entwicklung des eigenen           Bump» (deutsch: «Erinnerungshügel»), wie
eine von anderen gehörte und übernom-             Selbstverständnisses.                           das Phänomen in der psychologischen
mene Erzählung früherer Vorkommnisse.                                                             Literatur genannt wird, stellt eine absolute
Entwicklungspsychologisch gesehen hätte           Geschichten unserer Identität                   Ausnahme von der Regel dar, dass Er-
sich Piaget auch gar nicht an das Ge-             Autobiografische Erinnerungen sind              innerungen im Lauf der Zeit immer schwie-
schehnis erinnern können – selbst wenn es         Geschichten unserer Identität, sie drücken      riger zugänglich werden.
wirklich stattgefunden hätte. Es gibt näm-        aus, wie wir uns sehen und verstehen. Sie           Interpretiert wurde dieses Phänomen
lich keinen Zweifel, dass die grosse Mehr-        sind ein komplexes psychodynamisches            dahingehend, dass die verbesserte Zugäng-
heit der Erwachsenen sich nicht an die            Regulativ, das der Erhaltung und der Recht-     lichkeit zu diesen Erinnerungen darauf
Ereignisse der ersten drei Lebensjahre er-        fertigung des eigenen Selbst in der             zurückzuführen ist, dass die Erfahrungen
innern kann. Zu den Gründen für diese             aktuellen Situation und über die gesamte        dieser Zeitspanne von zentraler Bedeutung
Kindheitsamnesie gehört zum einen die             Lebensspanne dient. Dabei geht es weniger       für die Identitätsbildung sind und aus
ungenügende sprachliche Entwicklung, zum          um ein bewusstes «Zurechtbiegen» des            diesem Grund immer wieder abgerufen
anderen das noch nicht ausgereifte                Vergangenen als um kaum bewusste oder           werden. Diese Geschichten vom Selbst,
Selbstkonzept.                                    beabsichtigte sinnstiftende Anpassungs-         deren Ursprung in der fernen Vergangen-
                                                  leistungen. Allerdings gibt es individuelle     heit liegt und die immer wieder und wieder
Erinnerungen wandeln sich                         Unterschiede hinsichtlich dieser Bereitschaft   reaktiviert und erzählt werden, erleichtern
im Lauf des Lebens                                zu «Gedächtnisverzerrungen». Zurück-            es dem alten Menschen, die zentralen
Auch spätere Lebenserinnerungen sind alles        zuführen sind diese zum einen auf Per-          Elemente einer Episode abzurufen und
andere als zuverlässig. In der Gedächtnis-        sönlichkeitsfaktoren wie Suggestibilität        sinnvoll zusammenzufügen.
forschung ist unbestritten, dass auto-            (Empfindlichkeit für suggestive Beein-
biografische Erinnerungen keine objektiven        flussung) oder kreative Vorstellungskraft       Erinnerungen geben Halt
Wiedergaben von Vorkommnissen sind,               des Erinnernden, zum andern auf den             Die Funktion autobiografischer Erinnerung,
sondern subjektive Rekonstruktionen mit           aktuellen Lebenskontext und nicht zuletzt       ein kohärentes Selbst aufrechtzuerhalten,
multiplen systematischen Verzerrungen. So         auf das Alter.                                  steht in engem Zusammenhang mit der
kann ein junger Mensch auf die Frage nach             Auch wenn autobiografische Erinne-          Regulation von Emotionen. Aus der
dem Schlimmsten, was ihm im Leben                 rungen über die gesamte Lebensspanne            Forschung wissen wir, dass Personen, die

                                                             Erinnern und Vergessen                                    UniPress   160/2014   17
18   UniPress   160/2014
sich in ihrer gegenwärtigen Lebenssituation    biografischen Erinnerungen auseinander-        rungen weiterzugeben und generationen-
gestresst fühlen, vermehrt das Bedürfnis       setzen, psychisch gesünder sind als Alters-    übergreifend zu bewahren. In diesem Sinn
haben, sich an einem früheren, sichereren      genossen, die kein solches Interesse zeigen.   haben Lebensrückblicke nicht bloss eine
Selbst zu orientieren. Vor allem in Zeiten     Die Ergebnisse lassen jedoch auch darauf       individuelle, sondern auch eine familiale, ja
der Veränderung geht es offensichtlich         schliessen, dass nicht alle Arten von          gar eine kulturell-historische Bedeutung.
darum, trotz anstehender Rollenverände-        Lebenserinnerungen gleich nützlich sind:
rungen eine Kontinuität des Selbst aufrecht    Wenn sie beispielsweise bloss dazu dienen,     Objektive Wahrheit
zu erhalten, das gegenwärtig Gelebte           die Vergangenheit zu glorifizieren oder die    führt nicht zum Ziel
mit dem bisher Erlebten in Einklang zu         Schuld für gegenwärtiges Unbehagen             Unabhängig davon, wie traumatisch oder
bringen – und zwar so, dass das Ganze          vergangenen Ereignissen zuzuschreiben,         wie schön autobiografische Erinnerungen
einen Sinn ergibt.                             dann tragen sie kaum zu einem besseren         sind: Es kann nicht das Ziel sein, die
   Es ist eine lebenslange Entwicklungs-       Wohlbefinden bei. Hilfreich sind hingegen      objektive Wahrheit des eigenen Lebens
aufgabe des Menschen, das bisher Gelebte       Lebenserinnerungen, die sich mit früheren      ausfindig zu machen. Vielmehr geht es
kontinuierlich zu einer «sinnvollen» Ganz-     Lebensentwürfen, Plänen und Entschei-          darum, den subjektiven Sinn, der sich als
heit zu vereinigen. Deshalb verändern sich     dungen auseinandersetzen und die dazu          tragfähig für das Leben angesichts des
die individuellen Interpretationen der         dienen, Vergangenheit und Gegenwart            nahenden Lebensendes erweist, zu
eigenen Vergangenheit über die Zeit.           miteinander zu versöhnen und der Zukunft       erkennen. Ziel und Funktion eines solchen
Aufgrund individueller und sozialer Verän-     getrost entgegenzublicken.                     Lebensrückblicks ist es letztlich, ungelöste
derungen wird die persönliche Lebens-             Aufgrund dieser Ergebnisse gewinnt der      Probleme und Konflikte zu identifizieren, zu
geschichte kontinuierlich revidiert – die      Lebensrückblick im Alter bei Menschen mit      lösen, sich und anderen zu verzeihen. Die
Persönlichkeit bleibt aber immer dieselbe.     schwierigen, traumatischen Biografien eine     Vergebung, gegenüber sich selbst und
                                               besondere Bedeutung. Dies haben Studien        gegenüber anderen, ist ein zentrales
Lebensrückblick im Alter macht Sinn            mit Holocaust-Überlebenden eindrücklich        Element bei der Integration der eigenen
So besteht gemäss dem Psychoanalytiker         gezeigt. Wie der Psycho-                       Lebensgeschichte – und zwar nicht erst am
und Entwicklungspsychologen Erik Erikson       therapeut Yael Danieli schildert, gelang es    Lebensende! Dadurch wird die Person
die letzte und wichtigste Entwicklungs-        vielen Holocaust-Überlebenden nicht, die       wieder frei, um bestehende Beziehungen zu
aufgabe eines Menschen darin, die Inte-        erlebten Traumata in eine umfassende           vertiefen, abgebrochene wieder aufzu-
grität bezüglich des eigenen Lebens zu         Lebensgeschichte zu integrieren. Diese         nehmen oder neue zu knüpfen. Was
erlangen – also Ja sagen zu können zur         «Verschwörung des Schweigens» ver-             wiederum das psychische Wohlbefinden
eigenen Biografie. Die Konfrontation mit       hinderte es, dass diese Leute ihre             steigert.
dem nahenden Tod zwingt einem mit              Holocaust-Erfahrungen mit dem Rest ihres
zunehmendem Alter, dem eigenen Leben           Lebens in Einklang bringen konnten, was        Kontakt: Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello,
eine Deutung zu geben. Die Biografie wird      mit Gefühlen der Hilflosigkeit und Ver-        Institut für Psychologie,
einer kritischen Prüfung unterzogen – die      zweiflung einherging.                          Abteilung Entwicklungspsychologie,
Geschehnisse werden inventarisiert und in         Die Integration traumatischer Er-           pasqualina.perrigchiello@psy.unibe.ch
die Lebensgeschichte integriert, so dass das   fahrungen in eine umfassende Lebens-
Ganze allen möglichen Ungereimtheiten          geschichte ist auch notwendig, um zu
zum Trotz einen Sinn ergibt.                   verhindern, dass die generationenüber-
   Untersuchungen zeigen, dass ältere          greifende Gedächtniskette abreisst. Denn
Menschen, die sich intensiv mit ihren auto-    die Menschen haben das Bedürfnis, Erinne-

                                                         Erinnern und Vergessen                                      UniPress   160/2014      19
Im Geflecht klingender Erinnerungen                                                           besetzte Musik «vergessen» geht, könnten
                                                                                              Identitätsverlust und Entfremdung drohen.

Vergangenheit ist in der Schweiz wieder en vogue:                                             Guggisberglied weckt Erinnerungen
Musikerinnen und Musiker der Neuen Schweizer                                                  Indem die Musikerinnen und Musiker der
Volksmusik entwerfen ihre ganz eigene Form von                                                Neuen Schweizer Volksmusik traditionelle
musikalischer Kontinuität – nicht nur, indem sie                                              Musik neu interpretieren, variieren und in
aus dem kulturellen Gedächtnis schöpfen, sondern                                              Referenzen vergegenwärtigen, knüpfen
auch indem sie bei ihren Konzerten Raum für ganz                                              sie – wie Aleida Assmann es nennt – neue
persönliche Erinnerungen schaffen.                                                            Fäden im Netz des kulturellen Gedächt-
                                                                                              nisses. Im Geflecht aus Erinnerungen
Von Theresa Beyer                                                                             verorten sie sich aber auch auf ihren
                                                                                              Konzerten, zum Beispiel wenn sie das auto-
Mit einem Besen fegt die Berner Jodlerin       ein Eckpfeiler eidgenössischer Identitäts-     biografische Gedächtnis ihres Publikums
und Bratschistin Christine Lauterburg bei      stiftung. Das Alphorn kam in der heutigen      aktivieren. Nehmen wir ein konkretes
ihren Konzerten über die Bühne. Ein alter      Form und Grösse erst Ende des 19. Jahr-        Beispiel: Auf ihren Konzerten interpretieren
Brauch? Ein Perkussionsinstrument? Will sie    hunderts auf. Ländlermusik erlebte in den      die Berner Jodlerin Christine Lauterburg
verhexen? Vielleicht ist der Besen aber        1920er Jahren einen grossen Aufschwung,        und das Trio Doppelbock das Guggisberg-
einfach nur ein Symbol für Lauterburgs         weil sich Städter nach einer ländlichen        lied. Ein Grossteil ihrer in der Schweiz auf-
Mission: Sie will die Schweizer Volksmusik     Idylle sehnten. Zur gleichen Zeit entstanden   gewachsenen Zuhörerinnen und Zuhörer
«entstauben». Dieses kleine Wörtchen           die ersten Jodellieder, deren national-        können dieses Lied aus ihrem autobiogra-
findet sich in zahlreichen Konzert-            patriotische Bedeutung in der Phase der        fischen Gedächtnis abrufen, weil sie es in
ankündigungen, CD-Booklets und Inter-          geistigen Landesverteidigung verstärkt         ihrer Kindheit gelernt haben. Manchen –
views von Musikerinnen und Musikern der        wurde.                                         die sich an unbeschwerte Stunden in der
Neuen Schweizer Volksmusik. Und es                 Dass die Schweizer Volksmusik eine         Landschulwoche erinnern – mag dies das
deutet bereits die Haltung der Neuerungs-      «nationale Erfindung» ist, weiss auch Livia    Konzerterlebnis versüssen. Bei anderen löst
bewegung an, die seit zwei Jahrzehnten die     Bergamin, die Flötistin der Gruppe Rämsch-     das Lied vielleicht eine Erinnerung an die
Schweizer Volksmusik aufmischt: So scheint     fädra, – doch dies steht für sie nicht im      peinliche Situation aus, als sie es im Musik-
für diese Musikerinnen und Musiker von         Widerspruch zu ihrer Vorstellung von Kon-      unterricht vor der kichernden Klasse vor-
der Vergangenheit weniger ein nostal-          tinuität: «Mir ist klar, dass die Musik noch   singen mussten. Ein Lied, eine Melodie, ein
gischer Charme auszugehen als vielmehr         nicht sehr alt ist, dennoch habe ich das       Sound schleppt also nicht nur im grossen,
ein gewisser Mief.                             Gefühl, es sei das, was man schon immer        übergeordneten kulturellen Gedächtnis,
    In einer dicken Staubschicht haben sich    gemacht hat.» Auch wenn die Geschichts-        sondern auch in der persönlichen Erinne-
die auf Bewahrung bedachten Reglemen-          bücher anderes erzählen, imaginieren die       rung eine Bagage an Bedeutungen und
tierungen des Eidgenössischen Jodler-          Musikerinnen und Musiker Schweizer             Emotionen mit. Im Moment des Erinnerns
verbands festgesetzt, mitsamt aberhundert      Volksmusik also als eine Kulturpraxis, die     wird sie aufgemacht und ihr Inhalt neu
Folgen von Wysel Gyrs Ländlersendungen         eine diffuse, weit zurückliegende Vergan-      geordnet, interpretiert und bewertet.
und samt patriotischen Liedern über die        genheit in sich aufgenommen hat. Der
Alpenidylle in schunkeliger SVP-Bierselig-     Entstehungsmoment dieser Musik scheint         Viele Erinnerungen,
keit. Diese (Klischee-)Bilder und Ideologien   also schon längst in einer mythischen Urzeit   ein Gemeinschaftsgefühl
empfinden die Musikerinnen und Musiker         verblasst zu sein. Eine Wahrnehmung, die       Im Konzert von Christine Lauterburg und
der Neuen Volksmusik als lähmend: Einer-       typisch ist für das kulturelle Gedächtnis –    Trio Doppelbock schliessen sich viele auto-
seits wollen sie Schweizer Volksmusik neu      so bezeichnen die Kulturwissenschaftlerin      biografische Erinnerungen zusammen und
bewerten – als etwas zeitgemässes, leben-      Aleida Assmann und der Ägyptologe Jan          kreieren ein Gemeinschaftsgefühl: Zu-
diges und urbanes. Andererseits ist ihnen      Assmann «die Tradition in uns». Es entsteht    hörerinnen und Zuhörern, denen das Lied
bestens bewusst, dass sie wohl lange fegen     aber auch der Eindruck, dass der Zeitstrahl    vertraut ist, signalisieren dies im Konzert oft
können: Unter der Staubschicht wird nie        nach vorne offen ist: Die Musikerinnen und     durch leises Mitsingen oder einen
eine «ursprüngliche» Volksmusik hervor-        Musiker der Neuen Volksmusik sehen sich        Zwischenapplaus. Unter sich handeln sie
schimmern.                                     in der Rolle, sich Schweizer Volksmusik        also Nähe und Fremdheit aus: Wer hier
                                               aus der (imaginierten) Vergangenheit           auch nickt, mitsingt oder klatscht ist Insider
Aus einer tief diffusen                        in der Gegenwart anzueignen und sie so         und wird in die temporäre Erinnerungs-
Vergangenheit                                  weiter in eine (imaginierte) Zukunft zu        gemeinschaft aufgenommen.
Denn Schweizer Volksmusik ist nichts           tragen. Nicht zuletzt schlüpfen sie damit          Auch innerhalb des autobiografischen
weiter als ein Konstrukt. Bereits bei der      auch in die Rolle der Bewahrerinnen und        Gedächtnisses finden Verhandlungen statt
Gründung des Bundesstaates 1848 war sie        Bewahrer: Wenn diese mit «Schweiz»             und werden Fäden neu geknüpft: Christine

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Lauterburg wird nie die Version des Guggis-
bergliedes singen können, die Zuhörerin XY
von ihrer Mutter gelernt hat. Lauterburg
hat ihre eigene Version von der Vergangen-
heit und packt sie in ein modernes Kleid:
Dide Marfurt (Drehleiher), Matthias Lincke
(Geige) und Simon Dettwiler (Schwyzer-
örgeli) begleiten die Gesangslinie mit sich
wiederholenden Pattern. Sie beschleunigen
das Lied ungewohnt und verlagern es in
den Bereich von Pop oder Minimal Music.         Die Berner Jodlerin Christine Lauterburg vertritt die Schweiz auf dem Folk-Roots-Weltmusikfestival
Wenn Lauterburg und das Trio Doppelbock         im thüringischen Rudolstadt 2011.

ihre Zuhörerinnen und Zuhörer mit ihrer
spezifischen Interpretation des Liedes          Noten aus und überführen sie wieder in das         symbolischen Bedeutungen für die eigene
konfrontieren, setzt dies innere Vergleiche     kommunikative Gedächtnis – so nennen Jan           Identität weniger aus den Tatsachen an sich
in Gang – die gehörte Version reibt sich an     und Aleida Assmann die mündliche Weiter-           als aus deren Bewertungen. Erinnerungen
der Version aus der Kindheit. Beide treten      gabe von persönlichen Erfahrungen. Dabei           und (Volks-)Musik verweisen beide auf die
im Ring gegeneinander an: Vermag die            müssen so manche Löcher gestopft werden:           Vergangenheit und sind nie statisch,
neue Hörerfahrung vielleicht sogar die Erin-    Die verschollenen Melodien zu alten Balla-         sondern in einem ständigen Fluss. Und
nerung zu überlagern? Oder ist die Version      dentexten haben die Helvetic Fiddlers zum          nicht nur beim Erinnern wird das Bild der
aus der Kindheit stärker?                       Beispiel nach ihrem Gusto neu komponiert.          Vergangenheit in der Gegenwart neu
                                                Der alte Text ist der faktische Verweis in die     geformt. Auch Musik ist eine Zeitkunst, die
Aus dem Speicher geholt                         Vergangenheit. Aber auch die Komposition           in der Gegenwart passiert und sich dann
Das Guggisberglied kann ganz konkrete           vermittelt ein «urchiges» Flair. Alt und neu       wieder verflüchtigt. Vielleicht hat sie im
Erinnerungsräume öffnen. Aber manchmal          geraten also gehörig durcheinander und die         Gedächtnis Spuren hinterlassen und kann
ist auch schon ein bestimmter Sound – wie       Hörerin und der Hörer kann sie kaum noch           dann beim Wiederhören Gefühle auslösen.
der eines Hackbretts – das Schlupfloch          voneinander trennen.                               Bestenfalls sorgt das dann schon dafür,
ins autobiografische Gedächtnis. Oder ein                                                          dass ein wenig Staub aufgewirbelt wird.
Rhythmus weckt Erinnerungen: Wenn sich          Was Musik und Erinnerung
zum Beispiel ein Zuhörer, der in der Ober-      verbindet                                          Kontakt: M.A. Theresa Beyer,
march im Kanton Schwyz aufgewachsen ist,        Auch beim Generieren «neuer alter Musik»           Institut für Musikwissenschaft,
durch die speziellen Punktierungen der          aus Sammlungen mischt das autobiogra-              theresa.beyer@musik.unibe.ch
Jazzband von Pirmin Huber an das Schwy-         fische Gedächtnis mit. So erzählt die Jazz-
zerörgeli-Spiel seines Grossvaters erinnert     musikerin Kristina Fuchs, dass sie sich bei
fühlt. Zwar wollen die Musikerinnen und         ihren Interpretationen der Volkslieder aus          Neue Schweizer Volksmusik
Musiker der Neuen Schweizer Volksmusik          Otto von Greyerz‘ Sammlung Im Röseligarte
ihr Publikum an das «Eigene» erinnern.          nicht nur am Gedruckten orientiert:                 Zumeist professionelle Musikerinnen und
Gleichzeitig wollen sie aber auch über-         «Manchmal habe ich ein paar Strophen                Musiker aus der Deutschschweiz aus den
raschen und versuchen, möglichst unbe-          weggelassen oder die Texte lieber so                Bereichen Klassik, Jazz und Volksmusik
kannte Lieder, Melodien und Motive als          gesungen, wie ich sie selbst in Erinnerung          setzen sich mit Schweizer Volksliedern,
Vorlagen für ihre Interpretationen zu           hatte. So, wie sie mir meine Eltern als Kind        Alphorn- und Ländlermusik sowie Jodel-
finden.                                         bei langen Autofahrten oder beim Wandern            gesang auseinander. Sie spielen mit
    Um ihre Repertoires möglichst individuell   beigebracht haben.» Nicht nur das Spei-             Referenzen, entwickeln traditionelle Musik
und abwechslungsreich zu gestalten,             chergedächtnis und das autobiografische             weiter, mischen sie mit anderen Stilen
schöpfen die Musikerinnen und Musiker der       Gedächtnis verschränken sich hier – es              oder verschreiben sich der Neubelebung
Neuen Schweizer Volksmusik nicht nur aus        interagieren auch Formen der mündlichen             «vergessener» Musik. Vor gut zwei Jahr-
dem autobiografischen, sondern auch aus         und schriftlichen Überlieferung.                    zehnten legte die Gruppe Pareglish von
dem Speichergedächtnis. Damit bezeichnen            Musik, insbesondere Volksmusik, wird in         Markus Flückiger und Dani Häusler den
Jan und Aleida Assmann Überlieferungs-          der Debatte um kollektives Gedächtnis und           Grundstein für das neue Interesse an der
poole wie Archive, beispielsweise das           Erinnerung meistens sträflich vernach-              musikalischen Vergangenheit der Schweiz.
Schweizerische Volksliedarchiv in Basel,        lässigt. Und das obwohl Musik und Er-               2006 schaffte Pro Helvetia die Förder-
oder Sammlungen wie die 2002 erschie-           innerung so viele Eigenschaften teilen: Bei         kategorie «Neue Volksmusik», 2008
nene Hanni Christen Sammlung. Die               beiden ist die Echtheit beziehungsweise             bekam die Neue Schweizer Volksmusik
Musikerinnen und Musiker wählen einige          der Wahrheitsgehalt nur schwer zu über-             ihr hauseigenes Festival «Stubete am See»
der dort schlummernden Texte und                prüfen – erschliessen sich doch die                 in Zürich.

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