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* Peter Messerli präsentiert den Weltnachhaltigkeitsbericht – 32 * Anna Tumarkin, die erste gleichberechtigte Professorin – 36 * Leihmutterschaft, ein florierendes Geschäft – 26 UniPress* S ept emb e r 2 0 1 9 178 Archäologie Die Pfahlbauer vom Balkan Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern
SPECIALIZED MONO MAJOR MASTER # verliebtinshaslital* Mittwoch, 6. November 2019 Einführung: 17.15 Uhr Weitere Infos unter: t.uzh.ch/masterinfo Universität Zürich | Hauptgebäude Wir suchen Rämistrasse 71 | 8006 Zürich Assistenzärztinnen Foto: Brüderli Longhini * Meine Work-Life-Balance stimmt. und Assistenzärzte. Ich lebe und arbeite im Haslital… www.privatklinik-meiringen.ch Dort, wo andere Ferien machen! BOULDER HANDECK · 15:00 Einer von Yannick Glatthards Lieblings-Blöcken im Grimselgebiet. Foto: David Birri 2019_MIE_inserat_unipress_90x128.indd 1 08.08.19 15:29 HeinigerAG.ch – Ihr erfahrener Apple Weitere EDU-Angebote können wir für die folgenden autorisierter Partner im Schulbereich. Produkt-Marken anbieten: Profitieren Sie von unserer Erfahrung. Wir beraten Sie gerne und freuen uns auf Ihre Anfrage. b2b@heinigerag.ch | +41 32 633 68 94 2019 Platform for Chemistry, Pharmacy and Biotechnology 24. bis 27. September 2019 | Messe Basel | ilmac.ch MAC l zur IL aralle Neu p Jetzt registrieren: www.ilmac.ch/registration Main Partner Process
Bild ©: Marc Hostettler DIE PFAHLBAUER VOM BALKAN Die ersten Schweizer waren Pfahlbauer, sie lebten anders als alle anderen, ein Sonderfall in Europa: Diese Vorstellung elektrisierte die junge Schweizer Nation, als 1854 im Zürichsee bei tiefem Pegelstand Holzpfähle, Knochen und Keramik gefunden wurden. Und sie mag noch nachge- klungen haben, als wir damals in den 1980er-Jahren im Schullager am Hallwilersee ohne Uhr in den Tag hinein- lebten, zum Zmittag über dem Feuer ein salzloses Linsen- gericht kochten, Silexsteine zu Messerklingen zerschlugen und dann mit dem Boot rausfuhren, um den Seegrund nach alten Pfählen abzusuchen. Das Leben unserer Urahnen, das wir da nachspielten, es kam uns frei und abenteuerlich vor. Nur: Pfahlbauer gab es nicht nur in der heutigen Schweiz. Feuchtbodensiedlungen, wie man heute präziser sagt, wurden inzwischen in vielen Ländern Europas entdeckt. Noch längst nicht alle aber sind gut erforscht. Gerade hat das von der Universität Bern initiierte europäische Forschungsprojekt EXPLO gezeigt, dass einzelne Sied- lungen am Ohridsee in Nordmazedonien älter sind als jene an Schweizer Seen. Kein Wunder – kamen damals die disruptiven Technologien doch aus dem Osten: Ackerbau, Viehzucht und die damit verbundene sesshafte Lebens- weise entwickelten sich im Alten Orient und verbreiteten sich über Anatolien und den Balkan nach Westeuropa. In interdisziplinärer Zusammenarbeit wollen die Forschenden nun herausfinden, wie die ersten Bauern Europas gelebt und wie sie sich an Umwelt und Klima angepasst haben. Die Pfahlbauer vom Balkan und aus der Schweiz sind also Teil derselben epochalen kulturellen Umwälzung. Wer diese besser verstehen will, muss wie das EXPLO-Projekt über nationale und fachspezifische Grenzen und Denk- muster hinausgehen. Sonst sieht jeder nur die eigenen Pfähle, Scherben und Sonderfälle. Aus diesem Gedanken heraus wurde 1994 die European Association of Archaeolo- gists (EAA) gegründet. Zum 25-jährigen Jubiläum kamen jüngst mehr als 1800 Forschende aus aller Welt an der Universität Bern zu einer Konferenz zusammen: Um gemeinsam Paradigmen zu überwinden, die im Laufe der Zeit zu Barrieren erstarrt sind. Das öffnet Horizonte – wie vielleicht auch die Geschichten in diesem Heft. Timm Eugster UniPress 178/2019 1
Albert-Einstein-Gesellschaft www.einsteinlectures.ch EINSTEIN LECTURES 2019 Prof. Shafi Goldwasser Simons Institute for the Theory of Computing at UC Berkeley, USA ACM Turing Award 2012 Vorträge: The Cryptographic Lens Montag, 7. Oktober 2019, 19.30 Uhr Pseudo Deterministic Algorithms and Proofs Dienstag, 8. Oktober 2019, 17.15 Uhr Safe Machine Learning Mittwoch, 9. Oktober 2019, 19.30 Uhr Alle Vorträge finden in der Aula der Universität Bern statt, sie sind öffentlich, der Eintritt ist frei Wir möchten 2 Sie darauf hinweisen, dass in dieser Veranstaltung Bild- und Tonaufnahmen gemacht UniPress 178/2019 werden, die durch die Universität Bern veröffentlicht werden können.
Inhalt Bild©: Gino Caspari ARCHÄOLOGIE 5 «Ötzi» ist kein Einzelfall Von Albert Hafner 7 Kulturschätze im Krieg Von Mirko Novák und Mohamad Fakhro 10 Tauchen und Sägen in der Knochenbucht Von Kaspar Meuli 12 Die frühen Bauern Europas waren mobil FORSCHUNG UND RUBRIKEN Von Caroline Heitz 16 Focaccia für die Götter Forschung Von Elena Mango und Aleksandra Mistireki 26 Geographie: Per Leihmutter zum Wunschkind 18 Indiana Jones von Steffisburg im sibirischen Tal Von Lea Muntwyler der Könige Von Susanne Wenger 29 Medizin: Mit Schlachtabfällen zur Bandscheibenrevolution 22 Geheimkult in der Höhle Von Astrid Tomczak Von Christa Ebnöther, Maria Bütikofer und Anaïs Corti Rubriken 24 Was kann man die Götter fragen? Interview: Lisa Fankhauser 1 Editorial 32 Gespräch Peter Messerli – «Wir müssen den Wohlstand neu erfinden» Interview: Timm Eugster 36 Begegnung Anna Turmakin – die Erste Von Franziska Rogger 38 Meinung Medizinalstandort Bern: Packen wir die einmalige Chance! Von Daniel Buser 39 Bücher 40 Impressum UniPress 178/2019 3
Das Schnidejoch (2756 Meter über Meer) verbindet das Simmental mit dem Rhonetal. Hier gab ein kleines Eisfeld zahlreiche archäologische Objekte frei. Bild ©: Archäologischer Dienst Kanton Bern 4 UniPress 178/2019
«Ötzi» ist kein Einzelfall Schmelzende Gletscher wecken weltweit das Interesse von Archäologen. Allein am Lötschen- pass und Schnidejoch tauchten mehrere hundert Ausrüstungsgegenstände neolithischer und bronzezeitlicher Menschen auf – darunter ein 5000 Jahre altes Bogenfutteral. Von Albert Hafner In den letzten Jahren treten in Europa der Regel nicht die Archäologie, sondern auch Indizien, dass Hirten und ihre Herden immer häufiger Hitzewellen auf. Lang- Polizei und Rechtsmedizin. Weitaus seltener die Pässe überschritten haben und dass anhaltend hohe Temperaturen wie in den kommen menschliche Überreste auch erst frühe Formen von Alpwirtschaft betrieben Sommern 2003, 2010 und 2018 lassen nach Jahrhunderten zum Vorschein. In der wurden. Weitere Funde aus dem Eis sind Gletscher stark abschmelzen. Dadurch Schweiz sind dies die Funde vom Porcha- etwa Wracks von Flugzeugen, die während wurden sie auch für die Archäologie bellagletscher in Graubünden und vom des Zweiten Weltkriegs auf Gletschern ab- interessant – spätestens mit dem Fund Theodulgletscher im Wallis. Die Körper der gestürzt und im Eis versunken sind. Ein einer mehr als 5000 Jahre alten Eismumie Toten sind jeweils bis zur Unkenntlichkeit Beispiel dafür ist eine Maschine der am Tisenjoch in den Ötztaler Alpen zerstückelt. Bekleidung, Ausrüstungsgegen- US-Streitkräfte, die seit 1946 im Gauli- im Jahr 1991. Im Wildhorngebiet der stände und Körperteile werden oft über gletscher der Berner Alpen eingeschlossen Berner Alpen wurden ab 2004 zahl- Jahre hinweg und über weite Strecken ist. Seit wenigen Jahren tauchen Wrackteile reiche Objekte am Rand eines Eisfelds verteilt gefunden. Die Gletschermumie und Ausrüstungen wieder auf. Schauplätze geborgen: Sie zeigen, dass der «Ötzi» kein «Ötzi» hingegen stammt aus einer flachen der österreichisch-ungarisch-italienischen Einzelfall ist. Mulde und wurde so mehr als 5000 Jahre Kriegsfront des Ersten Weltkriegs im Ortler- Archäologische Funde aus dem Eis im Eis eingeschlossen und vollständig massiv des heutigen Südtirols reichten bis haben immer ein grosses wissenschaftliches konserviert. auf über 3000 Meter Höhe. Nach Ende der Potential, denn meist handelt es sich um Kämpfe wurden sie aufgegeben und organisches Fundmaterial, das nur unter Jäger, Hirten und Wrackteile versanken im Eis. Aktuell treten Stellungen den besonderen Bedingungen im Eis die Für den Alpenraum sind mehrere Formen und Unterkünfte, aber auch Tagebücher Zeiten überdauert. Allerdings bleiben von Funden aus dem Eis typisch. An ehe- und Gefallene aus dem Eis hervor. archäologische Funde im Eis trotz Klima- mals vergletscherten Passübergängen erwärmung extrem selten. Obwohl es werden Objekte gefunden, die im Lauf Intensive Mobilität im Hochgebirge global gesehen zahlreiche vergletscherte der Zeit verlorengingen und gut geschützt Am Lötschenpass und am Schnidejoch Gebirge gibt, kommen sie bisher nur in im Eis erhalten blieben. Mit Schnidejoch wurden archäologische Funde in grossen drei Räumen regelmässig vor: in den Alpen und Lötschenpass liegen zwei wichtige Mengen entdeckt. Auf die ersten Objekte – und in den subarktischen Gebirgen Süd- Fundpunkte in den Berner Alpen: Die ältes- sechs knapp 4000 Jahre alte Pfeilbögen – skandinaviens sowie Nordamerikas. Mit ten Objekte sind hier fast 7000 Jahre alt. Sie stiess bereits in den 1930er- und 1940er- entsprechend ausgerichteten Forschungs- belegen die Mobilität der frühen Alpen- Jahren der Maler Albert Nyfeler. Aber erst projekten dürften jedoch in Zukunft auch bewohnerinnen und -bewohner und die 1991, nach der Entdeckung von Ötzi, anderswo archäologische Objekte aus dem Nutzung von Ressourcen des Hochgebirges. wurden die Pfeilbögen in seinem Atelier Eis geborgen werden (siehe auch Seite 18). Vieles spricht dafür, dass die Menschen als «ausgegraben». Als im Hitzesommer 2003 Besonders interessant für archäologische Jäger unterwegs waren. Jedoch gibt es Wanderer das 2750 Meter hohe Schnide- Funde sind kleine Eisflecken oder flache Eismulden. Denn hier findet im Gegensatz zu den grossen Gletschern kaum Massen- bewegung statt. Unter diesen Bedingungen Neue Disziplin «Gletscherarchäologie» entstand in Bern können sich fragile Objekte perfekt er- 2008 fand an der Universität Bern die Tagung «Ötzi, Schnidi and the reindeer hunters» halten – im Idealfall sogar über Jahr- statt. Auf Einladung des Oeschger Centre for Climate Change Research (OCCR) tauschten tausende. Grosse Gletscher hingegen sich zum ersten Mal Forschende aus dem Alpenraum, Skandinavien und Nordamerika «fliessen» talwärts und entwickeln grosse über Funde aus dem Eis aus. Rückblickend kann man sagen, dass damit eine neue Kräfte. Typische Funde sind verunglückte archäologische Disziplin entstand, die seither im Kontext des Klimawandels grosse Personen, die Jahrzehnte nach dem Sturz in mediale Beachtung findet. Aus der Berner Tagung von 2008 entstand die Konferenz- eine Gletscherspalte wieder zum Vorschein serie «Frozen Pasts» in Norwegen, Kanada und Österreich, die 2020 in den USA kommen. Solche Fälle beschäftigen aber in fortgesetzt wird. Archäologie UniPress 178/2019 5
«Der weltweit einzige Fund eines 5000 Jahre alten Bogenfutterals war eine Sensation.» Albert Hafner joch im hintersten Simmental überquerten, fanden sie erste, aus dem Eis freigeschmol- zene Objekte. Diese Entdeckungen lösten zwischen 2004 und 2012 zahlreiche hoch- alpine Einsätze des Archäologischen Ein 5000 Jahre altes Bogenfutteral schmilzt aus dem tauenden Eis am Schnidejoch. Das Objekt ist ein Unikat, Diensts des Kantons Bern aus: Rund 900 es gibt weltweit kein Vergleichsobjekt. Das Futteral besteht aus Birkenkork, Holz und Leder, die Nähte aus Objekte wurden dabei geborgen. Lindenbast. Die gefundenen Objekte erstrecken Foto und Rekonstruktion des Bogenfutterals, des 160 Zentimeter langen Pfeilbogens und einer Auswahl an sich chronologisch über 6000 Jahre und Pfeilen. Sie bilden eine vollständige Bogenausrüstung. sind zwischen 7000 und 1000 Jahre alt. Es handelt sich um einzigartige Ausrüstungs- gegenstände neolithischer und bronze- zeitlicher Menschen. Waffen, Schuhe, Kleider und vieles mehr aus Holz, Rinde, Leder und pflanzlichen Fasern geben Einblick in materielle Welten, die die Archäologie sonst nur selten zu bieten hat. Auch Objekte aus römischer Zeit und dem frühen Mittelalter wurden am Schnidejoch gefunden. Sie belegen eine intensive Mobilität im Hochgebirge über einen bis vor kurzem komplett vergessenen Pass. Die Kleine Eiszeit veränderte ab dem 14. Jahrhundert die Situation am Schnide- joch komplett. Denn der einfach zu be- gehende Übergang wurde nun auf der Nordseite, etwa eine Wegstunde unterhalb der Passhöhe, durch den vorstossenden Wildhorngletscher blockiert. Erst mit dem massiven Rückzug der Gletscher in den letzten Jahren wurde der Weg wieder begehbar. Einzigartiges Bogenfutteral Archäologische Funde vom Schnidejoch beschäftigen aktuell auch die Universität Bern und die Berner Fachhochschule. Der weltweit einzige Fund eines 5000 Jahre alten Bogenfutterals aus Birkenkork war eine archäologische Sensation. Der Be- hälter diente zur Aufbewahrung eines Pfeilbogens, schützte die überlebens- wichtige Waffe beim Transport und gewährte, dass sie jederzeit einsatzfähig war. Die Forschung an den Fundstücken geht weiter – unterstützt vom Schweizeri- schen Nationalfonds (SNF). Kontakt: Prof. Dr. Albert Hafner, Institut für Archäologische Wissenschaften, Ur- und Frühgeschichte, albert.hafner@iaw.unibe.ch Bild oben: © Archäologischer Dienst Kanton Bern Bild unten: Rekonstruktion © Max Stöckli/Badri Rheda 6 UniPress 178/2019 Bern im All
Kulturschätze im Krieg Wie schützt man das Kulturerbe der Menschheit wenige Meter neben der Frontlinie im syrischen Bürgerkrieg? Die Mitarbeitenden des National- museums Aleppo hatten dafür einfache, aber effektive Methoden entwickelt. Der ehemalige Vizerektor des Museums arbeitet jetzt an der Universität Bern an einem Museumskonzept für die Nachkriegszeit. Von Mirko Novák und Mohamad Fakhro Der weltberühmte, überdachte Bazar. Die evakuiert, doch die immobilen Statuen und Zuhilfenahme der Aleppiner Abgüsse, mittelalterliche Zitadelle. Die Baronstrasse Stelen mussten vor Ort gesichert werden. wieder zu kompletten Statuen zusammen- am Rande der Altstadt mit dem ehemals Die Mitarbeitenden des Museums erar- gesetzt werden. mondänen, im kolonialen Stil gehaltenen beiteten hierfür – unter Gefahr für ihr Hotel Baron. Und gleich daneben das eigenes Leben – einfache, aber effektive Älteste Hochkultur der Menschheit Archäologische Nationalmuseum Aleppo, Methoden. So wurden Statuen mit einer In Syrien liegt einem das Kulturerbe der eines der bedeutendsten Vorderasiens. Das Holzkiste umgeben und dann einbetoniert. Menschheit wortwörtlich zu Füssen. Der waren bis zum Kriegsausbruch die High- Das Gleiche wurde mit den Abgüssen der moderne Staat Syrien erstreckt sich auf lights kulturinteressierter Touristinnen und monumentalen Götterbilder von Tell Halaf einem Gebiet, dessen östlicher Teil zum Touristen in Aleppo, der zweitgrössten getan, die den Eingang zum Museum antiken Mesopotamien und dessen west- Stadt Syriens. zieren und deren Originale einst im Berliner licher zur Levante gehörte. Hier und im Im Verlauf des Bürgerkriegs seit 2011 Tell-Halaf-Museum gestanden hatten. Dort benachbarten Irak entstand mit der Grün- entwickelte sich eine Kampflinie, die nur waren sie bereits im Zweiten Weltkrieg bei dung der ersten Städte und der Verbrei- knapp 100 Meter vom Museum entfernt einem Bomberangriff zerstört worden und tung der ersten Schrift die älteste Hoch- verlief und dieses massiv gefährdete. Alle konnten erst in den 2000er-Jahren aus kultur der Menschheit, deren Bedeutung mobilen Exponate wurden in Banksafes tausenden von Trümmersteinen, unter auch für unsere Zivilisation nicht hoch Eingang zum National- museum in Aleppo mit Abgüssen der Götterbilder aus Tell Halaf. Links der erste Versuch, sie einzig mit Sandsäcken gegen Kriegs- schäden zu schützen – und unten die definitive Strate- gie: Die Statuen werden mit Holzkästen umgeben, die mit Sandsäcken geschützt und einer Betonkonstruk- tion verkleidet wurden. Die Museumsmitarbeitenden mussten sich bei den Arbei- ten immer wieder vor Scharfschützen in Sicherheit bringen. Bilder ©: Mohamad Fakhro Archäologie UniPress 178/2019 7
«Der Arbeitsweg führte über die Frontlinie.» Mohamad Fakhro Mit der französischen Mandatszeit nach dem Ersten Weltkrieg setzte eine intensive archäologische Forschung in Syrien ein, die unzählige bedeutende Objekte vom Paläo- lithikum bis zum Mittelalter hervorbrachte. Da das einzige Museum im Norden Syriens damals in Aleppo stand, kamen die Arte- fakte aller Ausgrabungen nördlich von Homs nach Aleppo. Schnell schon wuchs der Bestand derart an, dass die Kapazitäten Museumsmitarbeitende schützen zwei monumentale Stelen des assyrischen Königs Asarhaddon (680–669 v. Chr.), um sie vor des Museums nicht mehr ausreichten. Ein Granateneinschlägen zu schützen. (Bild ©: Mohamad Fakhro) Neubau wurde beschlossen und 1966 reali- siert. Leider entschloss man sich, das alte Gebäude, das selbst von konservatorischem Wert war, abzureissen und den Neubau an genug eingeschätzt werden kann. Seit kannten Guzana. Dabei kamen spektaku- gleicher Stelle zu errichten. So entstand das 150 Jahren erforscht die Vorderasiatische läre Funde, insbesondere monumentale Nationalmuseum Aleppo, das in fünf Sek- Archäologie diese Epoche vor Ort und an Bildwerke, zum Vorschein. Waren die Aus- tionen gegliedert war: je eine für die prähis- zahlreichen Universitäten weltweit. Die grabungen noch vor dem Ersten Weltkrieg torischen, altorientalischen, klassischen und entsprechend bestückten Museen erfreuen zur Zeit des Osmanischen Reiches begon- islamischen Perioden sowie für moderne sich grosser Beliebtheit. nen worden, so wurden sie erst nach dem Kunst. Krieg in der französischen Mandatszeit ab- Zwar war das Museum nun gross genug, Funde zwischen Berlin geschlossen. Ein Grossteil der Funde kam um zumindest für die nächsten Jahrzehnte und Aleppo aufgeteilt nach Berlin und wurde dort im Zweiten die weiterhin rasch anwachsende Samm- Der Erste, der auf syrischem Gebiet syste- Weltkrieg schwer beschädigt (siehe lung beherbergen zu können, doch gab es matische Ausgrabungen vornahm, war der Kasten), ein kleinerer Teil sowie zahlreiche andere Probleme: Das Gebäude befindet deutsche Bankierssohn und Diplomat Max Abgüsse dagegen kamen nach Aleppo. Hier sich in der Aue des mittlerweile weitge- Freiherr von Oppenheim – und zwar auf öffnete 1931 in einem osmanischen Palast hend trocken gelegten Flusses Quweiq. dem Tell Halaf im Nordosten des Landes, ausserhalb der ummauerten Altstadt das Nach den Winterregen steigt das Grund- dem antiken und auch aus der Bibel be- erste archäologische Museum seine Türen. wasser hier so stark an, dass das gesamte Untergeschoss des Museums, in dem sich die Magazine befinden, geflutet wird. Vor Zerstört und wieder auferstanden: Das Tell-Halaf-Museum von Berlin Ausbruch des Bürgerkrieges wurde dieses Das Tell-Halaf-Museum wurde 1931 in Deutschlands ein halbes Jahrhundert und Wasser mittels Dieselpumpen abgeführt, Berlin eingeweiht und beherbergte vor waren nahezu vergessen. Zwischen 2001 doch die Situation seit 2011 lässt dies nicht allem die aus dem frühen 1. Jahrtausend und 2010 wurden sie schliesslich in einem mehr zu, so dass das Gebäude und seine vor Christus stammenden Bildwerke des gross angelegten Projekt unter der Bestände starke Grundwasserschäden Fundortes. 1943 brannte das Gebäude Leitung von Lutz Martin und Nadja erfahren. nach einem Bomberangriff vollständig Cholidis wieder zusammengesetzt. Die aus. An die 30 000 Bruchstücke aus Basalt folgende Ausstellung 2011 in Berlin Grosse Schäden am Gebäude wurden in die Magazine des Vorderasia- erreichte etwa 780 000 Zuschauer. Ein Teil Auch wenn in den Jahren des Bürgerkriegs tischen Museums Berlin gebracht, der Exponate wurde 2019 im Louvre in das Schlimmste verhindert werden konnte, lagerten dort jedoch aufgrund der Teilung Paris gezeigt. sind die Schäden am Gebäude selbst so 8 UniPress 178/2019 Archäologie
Berner Archäologie in Syrien Das Institut für Archäologische Wissen- Dies führte zur Mitwirkung bei der schaften (IAW) war selbst viele Jahre an Gründung des internationalen Netzwerks Ausgrabungen in Syrien beteiligt, so zuletzt shirín (www.shirin-international.org) in Tell Halaf in Zusammenarbeit mit dem und zur Organisation der Tagung Vorderasiatischen Museum Berlin, der «Strategies for Restoration and Re- Generaldirektion der Antiken und Museen construction. Museums, Heritage Sites Damaskus sowie den Universitäten and Archaeological Parcs in Post-War Tübingen und Halle. In jahrzehntelanger Countries» im Rahmen der 61e Rencontre Zusammenarbeit wuchsen persönliche und Assyriologique Internationale in Genf wissenschaftliche Beziehungen zu syrischen und Bern vom 22. bis 26. Juni 2015. Am Kolleginnen und Kollegen und nicht zuletzt 28.11.2015 wurde zudem an der Uni- auch ein Verantwortungsgefühl gegenüber versität Bern die Sonderveranstaltung dem syrischen Kulturerbe. So entwickelte «Syrien – Kulturland und Kriegsgebiet» sich der Wunsch, eine aktive Rolle beim durchgeführt, durch die eine breitere Kulturgüterschutz sowie bei der künftigen Öffentlichkeit über die Hintergründe der Umsetzung eines neuen Konzepts für das Kulturgüterzerstörung informiert wurde. Nationalmuseum in Aleppo einzunehmen. Videos unter: syrien.unibe.ch evident, dass umfangreiche Renovierungen, dierung des Tell-Halaf-Museums in Berlin Aleppo in neuem, modernem Gewand wenn nicht ein Neubau erforderlich sein endgültig zerstört schien. Kurz vor seinem wiederauferstehen wird. Vielleicht kann die werden. Hinzu kommt, dass die Ausstellung Tod 1946 brachte er seine Hoffnung auf Universität Bern dazu einen bescheidenen vor dem Bürgerkrieg einem mittlerweile eine Wiederherstellung der Bildwerke Beitrag leisten. sehr überkommenen didaktischen Konzept durch die Worte «Kopf hoch – Mut hoch – folgte und auch daher eine Neukonzeptio- Humor hoch» zum Ausdruck. Sieben Jahr- Kontakte: Prof. Dr. Mirko Novák, nierung sinnvoll wäre. zehnte später erfüllte sich seine Hoffnung novak@iaw.unibe.ch; Mohamad Fakhro war bis 2015 Vize- tatsächlich (siehe Kasten links). Das Beispiel Mohamad Fakhro, direktor des Museums und massgeblich an lässt hoffen, dass das Nationalmuseum mohamad.fakhro@students.unibe.ch den Sicherungsarbeiten beteiligt. Sein Arbeitsweg führte über die Frontlinie – aus 25 Minuten wurden 7 Stunden pro Weg, so dass die Mitarbeitenden Schichten von jeweils einer ganzen Woche einführten. Im Freien lösten sich die Sandsäcke im Regen auf, die Mitarbeitenden mussten den Schutz mit Seit der Flucht mit seiner Familie nach Holz und Beton ergänzen. (Bild ©: Mohamad Fakhro) Deutschland ist Fakhro Doktorand am Institut für Archäologische Wissenschaften der Universität Bern und erarbeitet ein neues Ausstellungskonzept. Hierzu führte er Studien an schweizerischen Museen durch. Berner Beitrag zu einem neuen Museum Die Arbeiten an dem neuen Konzept sind nahezu abgeschlossen. Doch damit beginnt die nächste, wohl schwierigste Phase: die Realisierung. Dazu müssen die syrischen Autoritäten genauso wie die internationale Wissenschaftscommunity an Bord geholt und eine Finanzierung gefunden werden. Hierzu soll im kommenden Jahr zunächst eine internationale Tagung in Bern mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und aktuellen wie ehemaligen Mitarbeiten- den der syrischen Antikenverwaltung statt- finden. Ob diesem Unterfangen Erfolg be- schieden sein wird, steht angesichts der schwierigen Umstände in den Sternen. Hier hilft es, sich an Max Freiherr von Oppen- heim zu erinnern, den Ausgräber des Tell Halaf, dessen Lebenswerk mit der Bombar- UniPress 178/2019 9
Tauchen und Sägen in der Knochenbucht Die ersten Bauern Europas lebten in Pfahlbausied- lungen auf dem Balkan. Wie haben sie sich an neue Klimabedingungen angepasst und wie haben sie ihre Umwelt beeinflusst? Dies untersucht ein von Berner Erste Resultate zeigen: Forschenden initiiertes interdisziplinäres EU-Gross- projekt. Zwei Tage unterwegs mit den Forschenden. Die Pfahlbauten Von Kaspar Meuli in der Knochenbucht 28. Juli, 22 Uhr sind viel älter Es ist dunkel, als wir im Camp der Berner der Universität Bern, initiiert hat. Beide sind Forschenden eintreffen. Kein Zeltlager in Mitglieder des Oeschger-Zentrums für als angenommen. der Wildnis, sondern ein Wohnhaus mit Klimaforschung. «Das Rückgrat des Vorgarten in Peštani, einem verschlafenen Projekts», sagt Hafner, «ist die hochpräzise Ferienort am Ohridsee in Nordmazedonien. Datierung von Pfählen, um die Fundstellen hingegen, dass es lokale Taucher waren, die Eine lange Tafel, beleuchtet von flackern- in eine Chronologie zu bringen.» Am entdeckt hatten, dass hier Pfähle aus dem den Kerzen. Der grosse Topf mit Pasta steht Ohridsee hat das Team bereits von rund Seeboden ragen. auf einem auffälligen Untersetzer – schwarz 800 Pfählen Proben entnommen – den Mittlerweile steht in der malerischen und hart wie Ebenholz. Es ist der Abschnitt Resten von Siedlungen aus der Bronzezeit und vor Stürmen gut geschützten Bucht eines 6000 Jahre alten Pfahls. Willkommen und dem Neolithikum. Auf Grundlage die- eine Rekonstruktion einer Pfahlbausied- in der Welt der Unterwasserarchäologie! ser zeitlichen Einordung will EXPLO zeigen, lung. Am Ufer betreibt ein Tauchzentrum Willkommen beim europäischen Exzellenz- wie sich Klima, Umwelt und Landwirtschaft seine Basis. Von hier aus sind in den ver- projekt EXPLO (siehe Kasten)! in den vergangenen 10 000 Jahren ent- gangenen Wochen die EXPLO-Teams zu Beim Nachtessen sitzen zehn Archäolo- wickelt und gegenseitig beeinflusst haben. ihrer Arbeit unter Wasser aufgebrochen. ginnen und Taucher beisammen, die meis- Dazu werden archäologische Fundstellen, Ihre Aufgabe: Ein Feld von zehn auf zehn ten von ihnen sind beides zugleich. Rund Bohrkerne und Sedimente in Seen in Metern von Ablagerungen zu befreien, vierzig Personen geben sich in den zwei Griechenland, Nordmazedonien und nach Pfählen abzusuchen, deren Lage zu Monaten, über die sich die Feldarbeiten im Albanien untersucht. Das auf fünf Jahre vermessen und schliesslich von jedem Holz ersten Projektjahr hinziehen, im Grabungs- angelegte Projekt soll Fragen beantworten eine Probe zu nehmen. Das tönt relativ haus die Klinke in die Hand. Sie kommen wie: Wann genau hat die bäuerliche einfach, doch in Tat und Wahrheit brauchte aus einem halben Dutzend Länder. Lebensweise am südöstlichen Rand Europas es dazu minutiöse Organisation, den Ein- Bei einem Glas Rotwein aus dem angefangen? Warum ausgerechnet hier satz von Hightech-Equipment und harte «Market»-Laden über die Strasse schildert und genau zu diesem Zeitpunkt? Und körperliche Arbeit auf vier Metern Tiefe. uns Albert Hafner, Professor für Prähisto- schliesslich sollen sich aus dem Wissen Und immer wieder kam es unter Wasser zu rische Archäologie, die Grundzüge des Vor- über die Vergangenheit auch Lehren für Überraschungen, die die Archäologen an habens, das er zusammen mit dem Paläo- die Zukunft ziehen lassen. Zum Beispiel aus ihre Grenzen brachten. ökologen Willy Tinner, auch er Professor an den bäuerlichen Anpassungsstrategien an So hatten sie zum Beispiel nicht damit vergangene Klimaveränderungen. gerechnet, wie dicht die Pfähle stehen. Bis zu 14 zugespitzte Eichen-, Nadelholz- und 29. Juli, 9 Uhr Wacholderstämme pro Quadratmeter Europäisches Exzellenzprojekt Der letzte Tauchgang der Saison steht wurden hier während der Jungstein- und EXPLO (kurz für Exploring the dynamics bevor. Drei Taucher und ihre Helfer Bronzezeit in den Boden gerammt. Die and causes of prehistoric land use change verladen Material. Ein schwarzes Zodiac- vielen Pfähle waren nicht etwa nötig, um in the cradle of European farming) wird Boot mit Berner Zulassungsnummer füllt Gebäude zu tragen. Die hohe Dichte erklärt von der EU mit 6,4 Millionen Euro unter- sich mit Dingen wie Messbändern, Maurer- sich dadurch, dass immer wieder neu ge- stützt und ist eines der zwei Dutzend kellen, einer Fuchsschwanzsäge und, ja, baut wurde. Nach ersten Auswertungen Projekten, dem 2018 ein sogenannter «ERC Cakeformen in verschiedenen Grössen. gehen die Berner Forschenden davon aus, Synergy Grant» für interdisziplinäre Zusam- Alles praktisch verpackt in rote Einkaufs- dass in der Knochenbucht im Verlauf der menarbeit zugesprochen wurde – und körbchen. Die Grabungsstätte, zu der sich Jahrtausende über ein Dutzend Siedlungen eines der ganz wenigen geisteswissen- das Team aufmacht, liegt keine 50 Meter errichtet wurden. schaftlichen. Die Synergy Grants stellen die vom Ufer entfernt in einer «Bay of Bones» Diese Fülle von Material ist ein Glücks- höchste Stufe der Exzellenzförderung der genannten Bucht – warum sie diesen fall – weniger angetan waren die Archäo- Europäischen Kommission dar und sind Namen trägt, ist nicht so klar. Viel eher logen hingegen vom Aufwand, der das unter Forschenden heiss begehrt. Weniger müsste sie «Bay of Pots» heissen, denn der Beproben all der Pfähle bedeutete. Mit als 5 Prozent der eingereichten Anträge Grund ist mit einer dicken Schicht bronze- werden bewilligt. zeitlicher Keramik bedeckt. Gesichert ist Forsetzung Seite 13 10 UniPress 178/2019 Archäologie
Interdisziplinäre Feldarbeit: Von der Bohrplattform aus ziehen Paläoökologen des EXPLO-Teams einen Sedimentkern aus dem See. Unmittelbar daneben sind auf dem Bild ©: Marco Hostettler Grabungsfeld die Unterwasserarchäologen an der Arbeit. UniPress 178/2019 11
Die frühen Bauern Europas waren mobil Die bäuerlichen Gesellschaften am Zürich- und Bodensee waren keineswegs an ihre Feuchtbo- densiedlungen gebunden – sondern bereits vor eine weltweit einzigartige Forschungs- 6000 Jahren vernetzt, mobil und offen. Dies situation. Und der Fundreichtum von zeigen neue Keramikanalysen. Artefakten aus Keramik, Stein, Metall, pflanzlichen und tierischen Materialien Von Caroline Heitz ermöglichen detaillierte Erkenntnisse zur Lebensweise prähistorischer Gesell- In der Forschung ist man jahrzehntelang Mobilitätsforschung. Sie stammen aus schaften. ganz selbstverständlich davon ausge- der Zeit zwischen 5000 bis 500 vor Christus gangen, dass sich die frühen Bäuerinnen und sind seit 2011 als serielle UNESCO- Alles andere als kulturell homogen und Bauern Europas hauptsächlich um ihre Welterbestätte anerkannt. Die ältesten Feuchtbodensiedlungen Siedlung bewegten. Mobilität und Migra- Unter Wasser hat sich organisches Ma- gehören in die Jungsteinzeit: Sie zeugen tion waren für die prähistorische Archäo- terial aussergewöhnlich gut erhalten. Das davon, dass mit dem Wechsel von mobilen logie kaum ein Thema. Dies ist erstaunlich, erlaubt es, hölzerne Architekturelemente wildbeuterischen zu ackerbäuerlichen liefern doch die Reste von tausenden mittels Dendrochronologie – also aufgrund Wirtschaftsformen eine primär sesshafte prähistorischen Pfahlbausiedlungen in Seen der Baumjahrringe – präzise zu datieren. Lebensweise notwendig wurde. Dass sich und Mooren rund um die Alpen – heute Die Gründung von Siedlungen, deren Bau- die frühen Bäuerinnen und Bauern fast werden sie als Feuchtbodensiedlungen geschichte und schlussendliche Auflassung nur noch um ihre Siedlung bewegten, ist bezeichnet – ideale Bedingungen für die kann jahrgenau rekonstruiert werden – dennoch ein Fehlschluss, ebenso wie die Veränderungen der Töpferei durch Mobilität Gefässe im Gepäck 1a: Beim Umzug von Siedlung B nach Siedlung A wird ein Gefäss aus Siedlung B mitgenommen. 1b: Die neu zugezogene Person aus Siedlung B töpfert in Siedlung A ein Gefäss in Stil B und verwendet dabei lokale Materialien A. 1c: Die nun in Siedlung A lebenden Bewohnerinnen und Bewohner töpfern Tausch, Geschenke und Diebstahl Lokale Herstellung, anderer Stil gemeinsam und tauschen dabei ihr unter- 2a: Eine Bewohnerin oder ein Bewohner 2c: Das neu erworbene Gefäss schiedliches Töpferei-Know-how (A und aus Siedlung A besucht die Siedlung B, aus Siedlung B dient als Vorlage und B) aus: In diesem kreativen Prozess erhält oder stiehlt dort ein Gefäss und inspiriert die Bewohnerschaft der entstehen neue Gefässtypen oder solche, geht damit zu Siedlung A zurück. Siedlung A. Sie töpfern stilistisch ähnlich in welchen beide Töpfereitraditionen 2b: Ein Gefäss aus Siedlung B ist Objekt aussehende Gefässe in ihrer eigenen kombiniert sind. Eine neue Töpfereipraxis eines Tauschgeschäfts und gelangt so in Technik A und verwenden dabei lokale C entsteht. die Siedlung A. Rohmaterialien A. 12 UniPress 178/2019 Archäologie
Wasser vollgesogen und unter Ausschluss von Sauerstoff in Sedimentschichten ge- lagert, sind sie nicht nur perfekt erhalten geblieben, sondern auch steinhart. Vor allem mit dem Wacholderholz hatten die Taucherinnen und Taucher ihre liebe Annahme, dass jede Siedlung von einer Zeitraum von Hand nach einer bewährten Mühe. Ganze anderthalb Tage nahm homogenen, abgeschlossenen Kultur regionaltypischen Praxis gefertigt – von das Zertrennen eines solchen Stamms geprägt gewesen sei. Dies zeigt die Unter- der Gewinnung der natürlichen Tone bis in Anspruch. Um mittels Handsäge die suchung von Keramik aus 15 Feuchtboden- hin zum Keramikbrand. Am Zürich- wie Probe eines Pfahls zu gewinnen, gingen siedlungen am Zürich- und Bodensee am Bodensee gab es je einen lokalty- die Füllungen von fünf Atemluftflaschen zwischen 3950 und 3800 vor Christus. Im pischen Keramikstil. In allen untersuchten drauf – und sehr viel Muskelkraft. Für Rahmen eines Nationalfonds-Projekts an Siedlungen erinnern jedoch einige Ge- die nächste Grabungssaison, so ist klar der Universität Bern ist es gelungen, Mobili- fässe an Keramikstile anderer Regionen. geworden, braucht es eine Unterwasser- tätsmuster der frühen Bauerngesellschaften Handelt es sich dabei um Importe? Oder kettensäge. aufzudecken. Die frühere Annahme, dass in zeugen diese Gefässe vom Zuzug einiger einer Siedlung nur ein typischer Keramikstil Töpferinnen und Töpfer mit anderem 29. Juli, 10.30 Uhr auftritt, was wiederum zeigen könnte, dass kulturellen Hintergrund? Das Schlauchboot schaukelt an einer roten dort nur eine kulturelle Gruppe gelebt hat, Diese Fragen lassen sich durch die Boje, die Unterwasserarchäologen sind an ist damit widerlegt. Herkunftsbestimmungen der Töpfertone der Arbeit, und nun wird es Zeit für die beantworten. Dazu wurden minera- Reporter, mit Maske und Schnorchel ins Scherben chemisch analysiert logischpetrographische Untersuchungen glasklare Wasser zu steigen. Wir schwim- Die Flaschen, Krüge, Töpfe, Becher, Schüs- sowie Analysen der chemischen Zu- men zu einer Grube, in der ein Taucher in seln und Schalen wurden im untersuchten sammensetzung vorgenommen. Dazu rotem Anzug ein Sedimentprofil erstellt. braucht es einen portablen sogenannten Beim kurzen Abtauchen auf den Seegrund «energie-dispersiven Röntgenfluores- sehen wir, wie das vor sich geht: Den zenzanalysator», der von jeder Scherbe genauen Ort der Probeentnahme festlegen eine Art chemischen Fingerprint misst. und vermessen. Eine passende Cakeform Lokaler Keramikstil A Mittels Statistik werden dann in den wählen. Die Grubenwand von Steinen und Lokaltypische Messungen regionaltypische Material- Keramikscherben säubern, damit sich die Töpfertechnik A gruppen aufgedeckt. Kombiniert man Form möglichst gut ins Sediment einsetzen Lokal vorhandene nun die Ergebnisse der Herkunftsunter- lässt. Und dann ganz vorsichtig drücken. Rohmaterialien A suchungen zu Material, Herstellung und Anschliessend mit der gefüllten Form Stil, ergeben sich Hinweise auf unter- auftauchen und sie der Schlauchbootcrew Lokaler Keramikstil B schiedliche Formen von Mobilität. übergeben, die die Probe verpackt. Lokaltypische Wie komplex die denkbaren Szenarien Töpfertechnik B sind und wie sich diese an Keramik- 29. Juli, 12.30 Uhr Lokal vorhandene gefässen unterscheiden lassen, zeigt Mittagspause. Bei Brot, Tomaten, Ajvar und Rohmaterialien B die Grafik. Käse sprechen wir über Parallelen zwischen der Grabungsstätte vor unseren Augen und Lokaler Keramikstil C Weitgespanntes Beziehungsnetz den Fundstätten in der Schweiz. Absolut Neue lokaltypische Überregionale Mobilität war in den vergleichbar seien sie, erfahren wir – bloss Töpfertechnik C frühen bäuerlichen Gesellschaften hier wahrscheinlich noch ein gutes Stück Anderes lokal vorhandenes offenbar ein gängiges Phänomen. So älter. Im Ohridsee leisten die Archäologen Rohmaterial C bestanden am Bodensee um 3900 vor Pionierarbeit. In der Schweiz hingegen Christus etwa Beziehungen nach Ober- wurde der erste Pfahlbau bereits 1854 ent- schwaben, an den Neckar und Oberrhein, deckt. Ab den 1960er-Jahren wurde dann – an den Zürichsee sowie nach Ostfrank- dank der Unterstützung von Unterwasser- reich. Neben einzelnen importierten archäologen – intensiv zum Thema ge- Gefässen scheinen häufiger die Töpfe- forscht. Die ältesten Pfahlbauersiedlungen rinnen und Töpfer mobil gewesen zu der Schweiz sind 4300 Jahre vor Christi Aneignung neuer Techniken 3a: Während eines Aufenthalts in Siedlung sein. Die Siedlungsgemeinschaften Geburt entstanden, die letzten 800 v. Chr. B lernen Bewohnerinnen und Bewohner setzten sich somit aus Menschen mit Dazwischen verlieren sich die Zeugnisse der aus Siedlung A das Töpferei-Know-how der unterschiedlicher Herkunft zusammen. Besiedlung wegen der angestiegenen See- Bewohnerschaft von Siedlung B. Diese interkulturellen Begegnungen stände mehrmals. Es ist nicht nur bekannt, 3b: Nach ihrer Rückkehr in ihre Herkunfts- führten zu Transformationen der jeweils wo und wann die Pfahlbauer lebten, siedlung A töpfern die Bewohnerinnen und lokaltypischen Keramikstile. Das zeigt, sondern auch, welche Getreide sie an- Bewohner der Siedlung A nach ihrem neu angeeigneten Töpferei-Know-how (B) und dass die frühen bäuerlichen Gesellschaf- bauten (etwa Emmer, Gerste und Ein- stellen aus lokalen Rohmaterialien A ten fähig waren, Impulse von aussen korn) und welche Haustiere sie hielten Gefässe in Stil und Technik B her. aufzunehmen und zu integrieren. (etwa Rinder, Schweine und Hunde). Und gesichertes Wissen gibt es auch darüber, Kontakt: Dr. des. Caroline Heitz, wie unsere Vorfahren Materialien ver- In allen Szenarien können kreative Prozesse ausgelöst werden, die zur Veränderung der Institut für Archäologische Wissenschaften, arbeiteten und wie sie diese über etablierte lokalen Keramiktradition führen, wovon Ur- und Frühgeschichte, Handelskanäle – etwa für Silex – be- hier nur einige wenige dargestellt sind. caroline.heitz@iaw.unibe.ch schafften. Ein Rätsel hingegen bleiben Archäologie UniPress 178/2019 13
1 2 Viel Handarbeit unter Wasser 1. Das Grabungsfeld besteht aus zehn 1 Meter breiten und 10 Meter langen Bahnen. Die darin freigelegten Pfähle werden vermessen und markiert. 2. Die Taucherinnen und Taucher sammeln beim Abtragen der obersten Sedimentsschicht unter anderem Scherben von prähistorischen Gefässen ein. 3. Von den Pfählen werden mit einer Handsäge Proben abge- schnitten. 4. An Land werden die Proben mit einer Bandsäge zerkleinert und anschliessend vakuumiert. 5. Die Computervisualisierung zeigt eine dreidimensionale Rekon- struktion eines Teils des Grabungsfeldes. Die Darstellung wurde aus 645 Fotos rekonstruiert und dient als Grundlage für die Berechnung eines digitalen Höhenmodells oder Orthofotomo- saiks. Bilder 2, 3 und 4 ©: Marco Hostettler 3 Bilder 1 und 5 ©: Johannes Reich 14 UniPress 178/2019 4 5
gesellschaftliche Fragen: Wie zum Beispiel 30. Juli, 16 Uhr prähistorischen Nahrungsresten in Sedi- sah die soziale Differenzierung aus? Und Der schwarze und der weisse Kleinbus mit menten der diversen archäologischen wie haben diese Menschen ihre Toten Uni-Bern-Logo vor dem Grabungshaus sind Fundstellen will sie klären, was die bestattet? gepackt. Alle vakuumierten Holzproben Menschen hier einst angebaut und Die Pfahlbauten in der Knochenbucht, haben Platz gefunden, und auch die Aus- gegessen haben. Ihr Ziel: eine bioarchäolo- das zeigen erste EXPLO-Resultate, sind rüstung ist glücklich verstaut. Nun hat die gische Rekonstruktion der frühen euro- übrigens viel älter als angenommen. Bis Archäologin Ariane Ballmer, die als EXPLO- päischen Landwirtschaft. Willy Tinner anhin ging man davon aus, dass sie zwi- Koordinatorin als eines der wenigen Team- wiederum will analysieren, wie die ersten schen 700 und 1200 vor Christus ent- mitglieder den ganzen Sommer vor Ort Bauern ihre Umwelt beeinflusst haben – standen waren. Die Berner Forscher können verbracht hat, Zeit für ein Gespräch über und umgekehrt. Die Paläoökologen können drei Siedlungsphasen belegen: 1400, 1800 das grosse Thema des Projekts: die Aus- insbesondere abklären, ob die Einführung und 4400 vor Christus. Doch sie rechnen breitung der Landwirtschaft nach Europa. der Landwirtschaft ein abrupter oder ein damit, dass sich Siedlungen nachweisen gradueller Prozess war. Die Dendrochrono- lassen, die bereits zwischen 5000 bis 6000 logen ihrerseits werden nachweisen, wann Jahre vor Christi Geburt entstanden sind. genau die ersten Siedlungen an den Seen Frau Ballmer, was weiss man heute über das im südwestlichen Balkan errichtet wurden – 29. Juli, 17 Uhr Vordringen der Landwirtschaft aus dem und wie lange sie besiedelt waren. So wird Das EXPLO-Team betreibt in seinem Westen Asiens nach Europa? sich schliesslich zeigen lassen, wie schnell möbliert gemieteten Haus ein mobiles Ariane Ballmer: Klar ist, dass frühe Vieh- den ersten europäischen Bauern die Anpas- Labor für Dendrochronologie. Im Salon züchter und Ackerbauern aus Anatolien ab sung ans neue Klima gelang. stehen Seite an Seite mit Geschirrvitrine dem 7. Jahrtausend vor Christus zunächst in und Hausbar Baumschnitte und Mikro- den ägäischen Raum, insbesondere Nord- 30. Juli, 21 Uhr skope. An den Wänden Pläne der Pfahl- griechenland, und danach via Süditalien Nach dem Abendessen holt Johannes bauten von Sutz-Lattrigen im Bielersee, wo und den Balkan nach Mitteleuropa Reich, der als Forschungstaucher die Tauch- Albert Hafner vor seiner Zeit an der Uni- gelangten. einsätze leitet, seinen Laptop hervor. versität Bern die Aussenstelle für Unter- Der künftige Doktorand, der im Rahmen wasserarchäologie leitete – und das Gab es tatsächlich Migrationsbewegungen von EXPLO seine Dissertation schreiben Unesco-Welterbe «Prähistorische Pfahl- von bäuerlich lebenden Gemeinschaften, wird, zeigt uns Visualisierungen, die bauten um die Alpen» initiierte, das oder verbreiteten sich die neuen Kulturtech- aus Hunderten von Unterwasserfotos 111 Fundstellen in 6 Staaten umfasst. niken nicht einfach dadurch, dass sie von entstanden sind. Mit einer Unterwasser- Ebenfalls an die Wand gepinnt ist die lokalen Wildbeutern nach Kontakten mit kamera hat sein Team das freigelegte sogenannte Süddeutsch-Schweizerische Bauern übernommen wurden? Grabungsfeld lückenlos dokumentiert. Eichen-Standardkurve, ein Jahrringkalender, Die These der Adaption durch reinen An den Abenden dann hat Reich die der lückenlos bis ins 9. Jahrtausend v. Chr. Wissenstransfer gilt als widerlegt, was die Aufnahmen in ein 3D-Oberflächenmodell zurückreicht. Referenzkurven wie diese sind Einführung der Landwirtschaft betrifft, eingegeben und mit den präzis vermes- unerlässlich, um einen Baumschnitt präzise denn Haustiere und Getreidesorten kamen senen Standorten der Pfähle verknüpft. zu datieren. Mit ihrer Hilfe lässt sich das vermutlich mit Einwanderern aus Westasien Nun baut sich vor unseren Augen ein unter dem Mikroskop gemessene Wachs- nach Europa. Es gibt aber auch Hinweise, wahrer Wald von aus dem Seeboden tumsmuster eines Baums in eine Chrono- dass europäische Sammler- und Jäger- herausragenden Stämmen auf. logie einpassen und so sein absolutes Alter gruppen dazu beigetragen haben, diese Zurück in Bern wird diese Modellierung bestimmen. In jahrzehntelanger wissen- Innovationen den lokalen Bedingungen mit Altersbestimmung der unterschied- schaftlicher Grundlagenarbeit wurden anzupassen. lichen Generationen von Pfählen verknüpft, Standardkurven aus Seeufersiedlungen für und alle gleich alten Bäumen werden farb- den nordalpinen Raum erstellt. Für den Die neuen europäischen Bauerngesell- lich gekennzeichnet. Dann sollten sich im Südbalkan hingegen fehlen sie komplett. schaften lebten unter anderen klimatischen wilden Muster der Pfähle Grundrisse von «Deshalb», sagt Albert Hafner, «ist die Bedingungen als jene in Westasien. Häusern abzeichnen – so wie auf den Einführung der Dendrochronologie in Ja, sie mussten sich an eine Reihe neuer Plänen der Pfahlbauersiedlung vom Bieler- dieser Region einer der Schwerpunkte von Bedingungen anpassen, nicht nur an klima- see. «Ich erwarte, dass sich aus dem Gra- EXPLO.» Für die angestrebte Referenzkurve tische. Diese Herausforderung dürfte mit bungsfeld, das wir in dieser Saison beprobt werden aber nicht nur möglichst viele und Erfolgen und Niederlagen einhergegangen haben, die ersten Hausgrundrisse aus See- möglichst unterschiedlich alte Baum- sein und über viele Generationen zu neuen ufersiedlungen des Balkans rekonstruieren schnitte benötigt. Gefragt sind auch statis- Strategien und Innovationen geführt lassen», meint Johannes Reich und fügt tische Modelle sowie eine Vielzahl von haben. So wurden zum Beispiel Gersten hinzu, «das allein wäre ein Riesenerfolg.» C14-Altersbestimmungen, wie sie das und Weizen aus dem trockenen, subtro- Unterwasserarchäologie, so viel steht Oeschger-Zentrum in seinem Radiokarbon- pischen Klima des Nahen Ostens erfolgreich fest, ist harte Arbeit. Knochenarbeit. Auch labor durchführt. auf die kühl-feuchten und bewaldeten hier in der «Bay of Bones», die ihren maka- EXPLO wird keine durchgehende, über Bedingungen in Europa eingestellt. beren Namen völlig zu Unrecht trägt. 10 000 Jahre reichende Chronologie er- stellen können, aber die Kombination von Weitere Infos: www.exploproject.eu modernen C14-Daten und Dendrodaten Kontakt: Prof. Dr. Albert Hafner, liefert ein höchst brauchbares Arbeitsinstru- An diesem Punkt kommt bei EXPLO die albert.hafner@iaw.unibe.ch; Prof. Dr. Willy ment. «Wir wollen beim Alter der prähisto- interdisziplinäre Zusammenarbeit ins Spiel: Tinner, willy.tinner@ips.unibe.ch, rischen Seeufersiedlungen in der Region mit Die am Projekt beteiligte Oxford-Profes- beide Oeschger-Zentrum für Klimaforschung einer klaren Chronologie wissenschaftliche sorin Amy Bogaard ist auf frühe Landwirt- Autor: Kaspar Meuli, Fakten schaffen», erklärt Albert Hafner. schaftsökologie spezialisiert. Anhand von kaspar.meuli@oeschger.unibe.ch Archäologie UniPress 178/2019 15
Focaccia für die Götter Ausgegrabene Backglocken und Terrakotta- platten lassen vermuten, dass bereits die Bewohnerinnen und Bewohner der griechischen Koloniestadt Himera auf Sizilien vor mehr als 2500 Jahren «Focaccia» herstellten – und zwar in einem Heiligtum. Von Elena Mango und Aleksandra Mistireki Bei archäologischen Ausgrabungen kommt also die Funktion von wichtigen «kultu- Kontext ausschöpfen. Dies ist im Hinblick am häufigsten Gebrauchskeramik und rellen Markern» einnehmen und erlauben auf Himera von besonderem Interesse, da sogenannte «Cooking Ware» zum Vor- Rückschlüsse auf gesellschaftliche Aspekte. diese griechische Koloniestadt am Schnitt- schein: Unverziertes Alltagsgeschirr wie punkt von drei kulturellen Interessen- Schüsseln, Kannen, Lagerungsgefässe und sphären lag: der einheimisch-sikanischen, Kochgefässe. Wissenschaftliche Studien der griechischen und der karthagischen. zu diesen Keramikgattungen sind jedoch In Himera wurde über 50 Jahre lang von selten und legen den Fokus meist auf «Hatten gar die Kolleginnen und Kollegen der Universität typologische und herstellungstechnische und der Soprintendenza Palermo gegraben. Aspekte. Doch der mögliche Erkenntnis- Sizilianer die Pizza noch Das Fundmaterial stammt aus Wohn- gewinn geht weit darüber hinaus. Die kontexten, Gräbern und Heiligtümern. Erforschung dieser Gefässgattungen eignet vor den Napoletanern Dazu kommen neue Funde aus den Aus- sich nämlich besonders gut, um Einblick grabungen der Berner Forschenden hinzu, in die Ernährungsgewohnheiten von erfunden?» die aus sakralen Bereichen stammen. Damit Gesellschaften, in die Nahrungsvor- und sind optimale Vergleichsbedingungen für Nahrungszubereitung sowie die Art des die neue Studie gegeben. Verzehrs von Speisen zu gewinnen. Hier locken neue Erkenntnisse. Medienhype um Focacceria Keramik für Riten und Feste Konkret wurden Gefässe mit bisher nicht Für Fondue oder Spaghetti? Dieser gesellschaftliche Aspekt wird mit dokumentierten Formen gefunden, was auf Man denke etwa an Fondue oder einem sehr innovativen und bisher nicht ungewöhnliche Vorbereitungsweisen der Spaghetti: Jedes Gericht benötigt ein mehr ausgeloteten Forschungsansatz kombiniert: Nahrung und möglicherweise auch auf oder weniger spezifisches «Kitchen Set» für Die Gebrauchskeramik und die Kochuten- den Verzehr «fremder» Speisen verweisen die Zubereitung und den Verzehr. Eine am silien werden im Kontext eines Heiligtums könnte. Ein Beispiel: In einem Vorrats- und Institut für Archäologische Wissenschaften und der darin stattfindenden rituellen Magazinraum für Esswaren, der an den im Rahmen des Himera-Projekts in Sizilien Aktivitäten und Feste betrachtet. Denn zentralen «Open Space» des Heiligtums mit laufende Studie will nun die Bestandteile die Studie will das Potential der Keramik drei Altären angrenzt, wurden eine Herd- möglicher «Kitchen Sets», also Gefässe als Indikator von sozialem Wandel und stelle, verschiedene Aufbewahrungs- und Geräte, identifizieren und die Funk- kulturellem Hintergrund in sakralem und Kochgefässe (etwa ein rund einein- tionen der einzelnen Teile definieren – von Gefässen über Kochutensilien bis zu mobilen Kochvorrichtungen. Ausserdem sollen Hinweise zu den in den Gefässen Interdisziplinäre Stadtforschung verarbeiteten, gelagerten oder gekochten Das 2012 offiziell gestartete Himera- sehr wichtige Rolle für das soziale, poli- Lebensmitteln gewonnen werden. Projekt der Universität Bern unter der tische und religiöse Leben der Bewohne- Dazu kombiniert die Postdoktorandin Leitung von Professorin Elena Mango wird rinnen und Bewohner der Kolonie spielte: Aleksandra Mistireki archäologische Heran- in Zusammenarbeit mit dem archäolo- So war in der Antike der östliche Teil des gehensweisen wie Formbestimmung, Typo- gischen Park von Himera und verschie- Piano del Tamburino mit mindestens zwei logie und Funktionsanalyse mit naturwis- denen europäischen Universitäten durch- Heiligtümern unterschiedlichen Charak- senschaftlichen Untersuchungen. In Ge- geführt. Himera zeichnet sich durch eine ters besetzt. Damit hat sich das Gebiet der fässen zurückgebliebene oder eingekochte vielfältige und interessante urbanistische Polis Himera um einen wesentlichen pflanzliche und tierische Rückstände Planung aus. Der Piano del Tamburino, ein «urbanistischen Raum» erweitert. Mit fort- können durch chemische Analysen wichtige rund 40 Hektar grosses Plateau 90 Meter schreitender Forschung wird die Rolle und Hinweise zu Diät, Ernährungsweise sowie über der Unterstadt gelegen, war vor den Funktion dieser Koloniestadt innerhalb zur naturräumlichen Umgebung einer Berner Forschungen kaum untersucht des Netzwerkes griechischer Kolonien auf Gesellschaft geben. Sowohl die «Kitchen worden. Die Forschungen der letzten acht Sizilien neu definiert werden können. Sets» als auch die Art der Vorbereitung der Jahre machen deutlich, dass dieser eine Speisen und die Nahrung selbst können 16 UniPress 178/2019 Archäologie
halb Meter grosser Pithos mit Deckel, Amphoren, Kannen und Schüsseln) sowie drei Backglocken gefunden. Insbesondere die Backglocken könnten auf eine Zubereitungsart von Speisen ver- Blick in die «Focacceria» mit Herdstelle und Scherben, etwa eines grossen Pithos (Vorratsgefäss). (Bilder ©: Universität Bern, IAW, Archäologie des Mittelmeerraumes) weisen, die mit der im nordafrikanischen Raum bekannten Tajine vergleichbar wäre. In Verbindung mit den Terrakottaplatten lässt die Verwendung der Backglocken hingegen an die Herstellung von Fladen- brot – also «Focaccie» – denken. Als im Sommer 2018 die Entdeckung einer rund 2500 Jahre alten «Focacceria» bekannt gemacht wurde, führte dies in Sizilien zu einem medialen Hype. Der Stolz der Sizi- lianer auf ihr Essen war angesprochen – hatten gar sie die weltberühmte Pizza vor den Napoletanern erfunden? Ob nun diese «Focaccie» als Gaben für die Götter her- gestellt wurden oder den reichlich doku- mentierten Verzehr von Fleisch anlässlich der religiösen Feste begleitet haben, das allerdings wissen nur die Götter. Kontakt: Prof. Dr. Elena Mango, elena.mango@iaw.unibe.ch; Dr. des. Aleksandra Mistireki, aleksandra.mistireki@iaw.unibe.ch, Institut für Archäologische Wissenschaften Himera, Sizilien Himera wurde im Jahr 648 vor Christus im Norden Siziliens als chalkidisch-dorische Mischkolonie von drei mythischen Grün- dern – Euklides, Simo und Sakon – an- gelegt. Die Kolonisten waren hauptsächlich Siedler aus dem heutigen Messina sowie vertriebene Myletiden aus Syrakus. Himera war die einzige nur von Griechen bewohnte Stadt an der Nordküste Siziliens. Ausserdem stellt Himera – zusammen mit Selinunt im Süden der Insel – die west- lichste griechische Stadt zum Zeitpunkt ihrer Gründung dar. (Bilder ©: E. Mango, IAW, Archäologie des Mittelmeerraumes) Archäologie UniPress 178/2019 17
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