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* Peter Messerli präsentiert den Weltnachhaltigkeitsbericht – 32
* Anna Tumarkin, die erste gleichberechtigte Professorin – 36
* Leihmutterschaft, ein florierendes Geschäft – 26

UniPress*                                                          S ept emb e r 2 0 1 9   178

Archäologie

                       Die Pfahlbauer vom Balkan

Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern
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SPECIALIZED
                                                                                                                 MONO     MAJOR              MASTER

                      # verliebtinshaslital*                                                                    Mittwoch, 6. November 2019
                                                                                                                Einführung: 17.15 Uhr
                                                                                                                Weitere Infos unter: t.uzh.ch/masterinfo
                                                                                                                Universität Zürich | Hauptgebäude
                                                                  Wir suchen                                    Rämistrasse 71 | 8006 Zürich
                                                                  Assistenzärztinnen

                                                                                                                                                                            Foto: Brüderli Longhini
          * Meine Work-Life-Balance stimmt.                       und Assistenzärzte.
            Ich lebe und arbeite im Haslital…                     www.privatklinik-meiringen.ch
            Dort, wo andere Ferien machen!

          BOULDER HANDECK · 15:00 Einer von Yannick Glatthards
          Lieblings-Blöcken im Grimselgebiet. Foto: David Birri

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Bild ©: Marc Hostettler

DIE PFAHLBAUER VOM BALKAN

Die ersten Schweizer waren Pfahlbauer, sie lebten anders
als alle anderen, ein Sonderfall in Europa: Diese Vorstellung
elektrisierte die junge Schweizer Nation, als 1854 im
Zürichsee bei tiefem Pegelstand Holzpfähle, Knochen und
Keramik gefunden wurden. Und sie mag noch nachge-
klungen haben, als wir damals in den 1980er-Jahren im
Schullager am Hallwilersee ohne Uhr in den Tag hinein-
lebten, zum Zmittag über dem Feuer ein salzloses Linsen-
gericht kochten, Silexsteine zu Messerklingen zerschlugen
und dann mit dem Boot rausfuhren, um den Seegrund
nach alten Pfählen abzusuchen. Das Leben unserer
Urahnen, das wir da nachspielten, es kam uns frei und
abenteuerlich vor.

Nur: Pfahlbauer gab es nicht nur in der heutigen Schweiz.
Feuchtbodensiedlungen, wie man heute präziser sagt,
wurden inzwischen in vielen Ländern Europas entdeckt.
Noch längst nicht alle aber sind gut erforscht. Gerade hat
das von der Universität Bern initiierte europäische
Forschungsprojekt EXPLO gezeigt, dass einzelne Sied-
lungen am Ohridsee in Nordmazedonien älter sind als jene
an Schweizer Seen. Kein Wunder – kamen damals die
disruptiven Technologien doch aus dem Osten: Ackerbau,
Viehzucht und die damit verbundene sesshafte Lebens-
weise entwickelten sich im Alten Orient und verbreiteten
sich über Anatolien und den Balkan nach Westeuropa. In
interdisziplinärer Zusammenarbeit wollen die Forschenden
nun herausfinden, wie die ersten Bauern Europas gelebt
und wie sie sich an Umwelt und Klima angepasst haben.

Die Pfahlbauer vom Balkan und aus der Schweiz sind also
Teil derselben epochalen kulturellen Umwälzung. Wer
diese besser verstehen will, muss wie das EXPLO-Projekt
über nationale und fachspezifische Grenzen und Denk-
muster hinausgehen. Sonst sieht jeder nur die eigenen
Pfähle, Scherben und Sonderfälle. Aus diesem Gedanken
heraus wurde 1994 die European Association of Archaeolo-
gists (EAA) gegründet. Zum 25-jährigen Jubiläum kamen
jüngst mehr als 1800 Forschende aus aller Welt an der
Universität Bern zu einer Konferenz zusammen: Um
gemeinsam Paradigmen zu überwinden, die im Laufe der
Zeit zu Barrieren erstarrt sind. Das öffnet Horizonte – wie
vielleicht auch die Geschichten in diesem Heft.

Timm Eugster

                                                                UniPress   178/2019        1
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Albert-Einstein-Gesellschaft

                                                                                                 www.einsteinlectures.ch

EINSTEIN LECTURES
2019
Prof. Shafi Goldwasser
Simons Institute for the Theory of
Computing at UC Berkeley, USA
ACM Turing Award 2012

Vorträge:

The Cryptographic Lens
Montag, 7. Oktober 2019, 19.30 Uhr

Pseudo Deterministic Algorithms
and Proofs
Dienstag, 8. Oktober 2019, 17.15 Uhr

Safe Machine Learning
Mittwoch, 9. Oktober 2019, 19.30 Uhr

Alle Vorträge finden in der Aula der Universität Bern statt,
sie sind öffentlich, der Eintritt ist frei

Wir möchten
     2
             Sie darauf hinweisen, dass in dieser Veranstaltung Bild- und Tonaufnahmen gemacht
           UniPress 178/2019
werden, die durch die Universität Bern veröffentlicht werden können.
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Inhalt

                                                                                                    Bild©: Gino Caspari

                                                       ARCHÄOLOGIE

                                                   5   «Ötzi» ist kein Einzelfall
                                                       Von Albert Hafner

                                                   7   Kulturschätze im Krieg
                                                       Von Mirko Novák und Mohamad Fakhro

                                                  10   Tauchen und Sägen in der Knochenbucht
                                                       Von Kaspar Meuli

                                                  12   Die frühen Bauern Europas waren mobil
     FORSCHUNG UND RUBRIKEN                            Von Caroline Heitz

                                                  16   Focaccia für die Götter
     Forschung                                         Von Elena Mango und Aleksandra Mistireki

26   Geographie: Per Leihmutter zum Wunschkind    18   Indiana Jones von Steffisburg im sibirischen Tal
     Von Lea Muntwyler                                 der Könige
                                                       Von Susanne Wenger
29   Medizin: Mit Schlachtabfällen
     zur Bandscheibenrevolution                   22   Geheimkult in der Höhle
     Von Astrid Tomczak                                Von Christa Ebnöther, Maria Bütikofer
                                                       und Anaïs Corti

     Rubriken                                     24   Was kann man die Götter fragen?
                                                       Interview: Lisa Fankhauser
 1   Editorial

32   Gespräch
     Peter Messerli – «Wir müssen den Wohlstand
     neu erfinden»
     Interview: Timm Eugster

36   Begegnung
     Anna Turmakin – die Erste
     Von Franziska Rogger

38   Meinung
     Medizinalstandort Bern:
     Packen wir die einmalige Chance!
     Von Daniel Buser

39   Bücher

40   Impressum

                                                                                         UniPress    178/2019         3
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Das Schnidejoch (2756 Meter über
                          Meer) verbindet das Simmental mit
                          dem Rhonetal. Hier gab ein kleines
                          Eisfeld zahlreiche archäologische
                          Objekte frei.

                                                               Bild ©: Archäologischer Dienst Kanton Bern

4   UniPress   178/2019
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«Ötzi» ist kein Einzelfall
Schmelzende Gletscher wecken weltweit das
Interesse von Archäologen. Allein am Lötschen-
pass und Schnidejoch tauchten mehrere hundert
Ausrüstungsgegenstände neolithischer und
bronzezeitlicher Menschen auf – darunter ein
5000 Jahre altes Bogenfutteral.

Von Albert Hafner

In den letzten Jahren treten in Europa         der Regel nicht die Archäologie, sondern         auch Indizien, dass Hirten und ihre Herden
immer häufiger Hitzewellen auf. Lang-          Polizei und Rechtsmedizin. Weitaus seltener      die Pässe überschritten haben und dass
anhaltend hohe Temperaturen wie in den         kommen menschliche Überreste auch erst           frühe Formen von Alpwirtschaft betrieben
Sommern 2003, 2010 und 2018 lassen             nach Jahrhunderten zum Vorschein. In der         wurden. Weitere Funde aus dem Eis sind
Gletscher stark abschmelzen. Dadurch           Schweiz sind dies die Funde vom Porcha-          etwa Wracks von Flugzeugen, die während
wurden sie auch für die Archäologie            bellagletscher in Graubünden und vom             des Zweiten Weltkriegs auf Gletschern ab-
interessant – spätestens mit dem Fund          Theodulgletscher im Wallis. Die Körper der       gestürzt und im Eis versunken sind. Ein
einer mehr als 5000 Jahre alten Eismumie       Toten sind jeweils bis zur Unkenntlichkeit       Beispiel dafür ist eine Maschine der
am Tisenjoch in den Ötztaler Alpen             zerstückelt. Bekleidung, Ausrüstungsgegen-       US-Streitkräfte, die seit 1946 im Gauli-
im Jahr 1991. Im Wildhorngebiet der            stände und Körperteile werden oft über           gletscher der Berner Alpen eingeschlossen
Berner Alpen wurden ab 2004 zahl-              Jahre hinweg und über weite Strecken             ist. Seit wenigen Jahren tauchen Wrackteile
reiche Objekte am Rand eines Eisfelds          verteilt gefunden. Die Gletschermumie            und Ausrüstungen wieder auf. Schauplätze
geborgen: Sie zeigen, dass der «Ötzi» kein     «Ötzi» hingegen stammt aus einer flachen         der österreichisch-ungarisch-italienischen
Einzelfall ist.                                Mulde und wurde so mehr als 5000 Jahre           Kriegsfront des Ersten Weltkriegs im Ortler-
    Archäologische Funde aus dem Eis           im Eis eingeschlossen und vollständig            massiv des heutigen Südtirols reichten bis
haben immer ein grosses wissenschaftliches     konserviert.                                     auf über 3000 Meter Höhe. Nach Ende der
Potential, denn meist handelt es sich um                                                        Kämpfe wurden sie aufgegeben und
organisches Fundmaterial, das nur unter        Jäger, Hirten und Wrackteile                     versanken im Eis. Aktuell treten Stellungen
den besonderen Bedingungen im Eis die          Für den Alpenraum sind mehrere Formen            und Unterkünfte, aber auch Tagebücher
Zeiten überdauert. Allerdings bleiben          von Funden aus dem Eis typisch. An ehe-          und Gefallene aus dem Eis hervor.
archäologische Funde im Eis trotz Klima-       mals vergletscherten Passübergängen
erwärmung extrem selten. Obwohl es             werden Objekte gefunden, die im Lauf             Intensive Mobilität im Hochgebirge
global gesehen zahlreiche vergletscherte       der Zeit verlorengingen und gut geschützt        Am Lötschenpass und am Schnidejoch
Gebirge gibt, kommen sie bisher nur in         im Eis erhalten blieben. Mit Schnidejoch         wurden archäologische Funde in grossen
drei Räumen regelmässig vor: in den Alpen      und Lötschenpass liegen zwei wichtige            Mengen entdeckt. Auf die ersten Objekte –
und in den subarktischen Gebirgen Süd-         Fundpunkte in den Berner Alpen: Die ältes-       sechs knapp 4000 Jahre alte Pfeilbögen –
skandinaviens sowie Nordamerikas. Mit          ten Objekte sind hier fast 7000 Jahre alt. Sie   stiess bereits in den 1930er- und 1940er-
entsprechend ausgerichteten Forschungs-        belegen die Mobilität der frühen Alpen-          Jahren der Maler Albert Nyfeler. Aber erst
projekten dürften jedoch in Zukunft auch       bewohnerinnen und -bewohner und die              1991, nach der Entdeckung von Ötzi,
anderswo archäologische Objekte aus dem        Nutzung von Ressourcen des Hochgebirges.         wurden die Pfeilbögen in seinem Atelier
Eis geborgen werden (siehe auch Seite 18).     Vieles spricht dafür, dass die Menschen als      «ausgegraben». Als im Hitzesommer 2003
    Besonders interessant für archäologische   Jäger unterwegs waren. Jedoch gibt es            Wanderer das 2750 Meter hohe Schnide-
Funde sind kleine Eisflecken oder flache
Eismulden. Denn hier findet im Gegensatz
zu den grossen Gletschern kaum Massen-
bewegung statt. Unter diesen Bedingungen       Neue Disziplin «Gletscherarchäologie» entstand in Bern
können sich fragile Objekte perfekt er-        2008 fand an der Universität Bern die Tagung «Ötzi, Schnidi and the reindeer hunters»
halten – im Idealfall sogar über Jahr-         statt. Auf Einladung des Oeschger Centre for Climate Change Research (OCCR) tauschten
tausende. Grosse Gletscher hingegen            sich zum ersten Mal Forschende aus dem Alpenraum, Skandinavien und Nordamerika
«fliessen» talwärts und entwickeln grosse      über Funde aus dem Eis aus. Rückblickend kann man sagen, dass damit eine neue
Kräfte. Typische Funde sind verunglückte       archäologische Disziplin entstand, die seither im Kontext des Klimawandels grosse
Personen, die Jahrzehnte nach dem Sturz in     mediale Beachtung findet. Aus der Berner Tagung von 2008 entstand die Konferenz-
eine Gletscherspalte wieder zum Vorschein      serie «Frozen Pasts» in Norwegen, Kanada und Österreich, die 2020 in den USA
kommen. Solche Fälle beschäftigen aber in      fortgesetzt wird.

                                                                 Archäologie                                        UniPress   178/2019    5
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«Der weltweit
                                                                                                              einzige Fund eines
                                                                                                              5000 Jahre alten
                                                                                                              Bogenfutterals
                                                                                                              war eine Sensation.»
                                                                                                              Albert Hafner

                                                                                                              joch im hintersten Simmental überquerten,
                                                                                                              fanden sie erste, aus dem Eis freigeschmol-
                                                                                                              zene Objekte. Diese Entdeckungen lösten
                                                                                                              zwischen 2004 und 2012 zahlreiche hoch-
                                                                                                              alpine Einsätze des Archäologischen
Ein 5000 Jahre altes Bogenfutteral schmilzt aus dem tauenden Eis am Schnidejoch. Das Objekt ist ein Unikat,   Diensts des Kantons Bern aus: Rund 900
es gibt weltweit kein Vergleichsobjekt. Das Futteral besteht aus Birkenkork, Holz und Leder, die Nähte aus    Objekte wurden dabei geborgen.
Lindenbast.
                                                                                                                 Die gefundenen Objekte erstrecken
Foto und Rekonstruktion des Bogenfutterals, des 160 Zentimeter langen Pfeilbogens und einer Auswahl an        sich chronologisch über 6000 Jahre und
Pfeilen. Sie bilden eine vollständige Bogenausrüstung.                                                        sind zwischen 7000 und 1000 Jahre alt. Es
                                                                                                              handelt sich um einzigartige Ausrüstungs-
                                                                                                              gegenstände neolithischer und bronze-
                                                                                                              zeitlicher Menschen. Waffen, Schuhe,
                                                                                                              Kleider und vieles mehr aus Holz, Rinde,
                                                                                                              Leder und pflanzlichen Fasern geben
                                                                                                              Einblick in materielle Welten, die die
                                                                                                              Archäologie sonst nur selten zu bieten
                                                                                                              hat. Auch Objekte aus römischer Zeit
                                                                                                              und dem frühen Mittelalter wurden am
                                                                                                              Schnidejoch gefunden. Sie belegen eine
                                                                                                              intensive Mobilität im Hochgebirge über
                                                                                                              einen bis vor kurzem komplett vergessenen
                                                                                                              Pass. Die Kleine Eiszeit veränderte ab dem
                                                                                                              14. Jahrhundert die Situation am Schnide-
                                                                                                              joch komplett. Denn der einfach zu be-
                                                                                                              gehende Übergang wurde nun auf der
                                                                                                              Nordseite, etwa eine Wegstunde unterhalb
                                                                                                              der Passhöhe, durch den vorstossenden
                                                                                                              Wildhorngletscher blockiert. Erst mit dem
                                                                                                              massiven Rückzug der Gletscher in den
                                                                                                              letzten Jahren wurde der Weg wieder
                                                                                                              begehbar.

                                                                                                              Einzigartiges Bogenfutteral
                                                                                                              Archäologische Funde vom Schnidejoch
                                                                                                              beschäftigen aktuell auch die Universität
                                                                                                              Bern und die Berner Fachhochschule. Der
                                                                                                              weltweit einzige Fund eines 5000 Jahre
                                                                                                              alten Bogenfutterals aus Birkenkork war
                                                                                                              eine archäologische Sensation. Der Be-
                                                                                                              hälter diente zur Aufbewahrung eines
                                                                                                              Pfeilbogens, schützte die überlebens-
                                                                                                              wichtige Waffe beim Transport und
                                                                                                              gewährte, dass sie jederzeit einsatzfähig
                                                                                                              war. Die Forschung an den Fundstücken
                                                                                                              geht weiter – unterstützt vom Schweizeri-
                                                                                                              schen Nationalfonds (SNF).

                                                                                                              Kontakt: Prof. Dr. Albert Hafner,
                                                                                                              Institut für Archäologische Wissenschaften,
                                                                                                              Ur- und Frühgeschichte,
                                                                                                              albert.hafner@iaw.unibe.ch

Bild oben: © Archäologischer Dienst Kanton Bern
Bild unten: Rekonstruktion © Max Stöckli/Badri Rheda
            6     UniPress     178/2019                                        Bern im All
UNIPRESS* - UNIVERSITÄT BERN
Kulturschätze im Krieg
Wie schützt man das Kulturerbe der Menschheit
wenige Meter neben der Frontlinie im syrischen
Bürgerkrieg? Die Mitarbeitenden des National-
museums Aleppo hatten dafür einfache, aber
effektive Methoden entwickelt. Der ehemalige
Vizerektor des Museums arbeitet jetzt an der
Universität Bern an einem Museumskonzept für
die Nachkriegszeit.

Von Mirko Novák und Mohamad Fakhro

Der weltberühmte, überdachte Bazar. Die        evakuiert, doch die immobilen Statuen und        Zuhilfenahme der Aleppiner Abgüsse,
mittelalterliche Zitadelle. Die Baronstrasse   Stelen mussten vor Ort gesichert werden.         wieder zu kompletten Statuen zusammen-
am Rande der Altstadt mit dem ehemals          Die Mitarbeitenden des Museums erar-             gesetzt werden.
mondänen, im kolonialen Stil gehaltenen        beiteten hierfür – unter Gefahr für ihr
Hotel Baron. Und gleich daneben das            eigenes Leben – einfache, aber effektive         Älteste Hochkultur der Menschheit
Archäologische Nationalmuseum Aleppo,          Methoden. So wurden Statuen mit einer            In Syrien liegt einem das Kulturerbe der
eines der bedeutendsten Vorderasiens. Das      Holzkiste umgeben und dann einbetoniert.         Menschheit wortwörtlich zu Füssen. Der
waren bis zum Kriegsausbruch die High-         Das Gleiche wurde mit den Abgüssen der           moderne Staat Syrien erstreckt sich auf
lights kulturinteressierter Touristinnen und   monumentalen Götterbilder von Tell Halaf         einem Gebiet, dessen östlicher Teil zum
Touristen in Aleppo, der zweitgrössten         getan, die den Eingang zum Museum                antiken Mesopotamien und dessen west-
Stadt Syriens.                                 zieren und deren Originale einst im Berliner     licher zur Levante gehörte. Hier und im
   Im Verlauf des Bürgerkriegs seit 2011       Tell-Halaf-Museum gestanden hatten. Dort         benachbarten Irak entstand mit der Grün-
entwickelte sich eine Kampflinie, die nur      waren sie bereits im Zweiten Weltkrieg bei       dung der ersten Städte und der Verbrei-
knapp 100 Meter vom Museum entfernt            einem Bomberangriff zerstört worden und          tung der ersten Schrift die älteste Hoch-
verlief und dieses massiv gefährdete. Alle     konnten erst in den 2000er-Jahren aus            kultur der Menschheit, deren Bedeutung
mobilen Exponate wurden in Banksafes           tausenden von Trümmersteinen, unter              auch für unsere Zivilisation nicht hoch

                                                                                                                 Eingang zum National-
                                                                                                                 museum in Aleppo mit
                                                                                                                 Abgüssen der Götterbilder
                                                                                                                 aus Tell Halaf. Links der
                                                                                                                 erste Versuch, sie einzig mit
                                                                                                                 Sandsäcken gegen Kriegs-
                                                                                                                 schäden zu schützen – und
                                                                                                                 unten die definitive Strate-
                                                                                                                 gie: Die Statuen werden mit
                                                                                                                 Holzkästen umgeben, die
                                                                                                                 mit Sandsäcken geschützt
                                                                                                                 und einer Betonkonstruk-
                                                                                                                 tion verkleidet wurden. Die
                                                                                                                 Museumsmitarbeitenden
                                                                                                                 mussten sich bei den Arbei-
                                                                                                                 ten immer wieder vor
                                                                                                                 Scharfschützen in Sicherheit
                                                                                                                 bringen.

                                                                                Bilder ©: Mohamad Fakhro

                                                               Archäologie                                          UniPress   178/2019      7
UNIPRESS* - UNIVERSITÄT BERN
«Der Arbeitsweg führte
                                                                                                                        über die Frontlinie.»
                                                                                                                        Mohamad Fakhro

                                                                                                                            Mit der französischen Mandatszeit nach
                                                                                                                        dem Ersten Weltkrieg setzte eine intensive
                                                                                                                        archäologische Forschung in Syrien ein, die
                                                                                                                        unzählige bedeutende Objekte vom Paläo-
                                                                                                                        lithikum bis zum Mittelalter hervorbrachte.
                                                                                                                        Da das einzige Museum im Norden Syriens
                                                                                                                        damals in Aleppo stand, kamen die Arte-
                                                                                                                        fakte aller Ausgrabungen nördlich von
                                                                                                                        Homs nach Aleppo. Schnell schon wuchs
                                                                                                                        der Bestand derart an, dass die Kapazitäten
Museumsmitarbeitende schützen zwei monumentale Stelen des assyrischen Königs Asarhaddon (680–669 v. Chr.), um sie vor   des Museums nicht mehr ausreichten. Ein
Granateneinschlägen zu schützen. (Bild ©: Mohamad Fakhro)
                                                                                                                        Neubau wurde beschlossen und 1966 reali-
                                                                                                                        siert. Leider entschloss man sich, das alte
                                                                                                                        Gebäude, das selbst von konservatorischem
                                                                                                                        Wert war, abzureissen und den Neubau an
genug eingeschätzt werden kann. Seit                          kannten Guzana. Dabei kamen spektaku-                     gleicher Stelle zu errichten. So entstand das
150 Jahren erforscht die Vorderasiatische                     läre Funde, insbesondere monumentale                      Nationalmuseum Aleppo, das in fünf Sek-
Archäologie diese Epoche vor Ort und an                       Bildwerke, zum Vorschein. Waren die Aus-                  tionen gegliedert war: je eine für die prähis-
zahlreichen Universitäten weltweit. Die                       grabungen noch vor dem Ersten Weltkrieg                   torischen, altorientalischen, klassischen und
entsprechend bestückten Museen erfreuen                       zur Zeit des Osmanischen Reiches begon-                   islamischen Perioden sowie für moderne
sich grosser Beliebtheit.                                     nen worden, so wurden sie erst nach dem                   Kunst.
                                                              Krieg in der französischen Mandatszeit ab-                    Zwar war das Museum nun gross genug,
Funde zwischen Berlin                                         geschlossen. Ein Grossteil der Funde kam                  um zumindest für die nächsten Jahrzehnte
und Aleppo aufgeteilt                                         nach Berlin und wurde dort im Zweiten                     die weiterhin rasch anwachsende Samm-
Der Erste, der auf syrischem Gebiet syste-                    Weltkrieg schwer beschädigt (siehe                        lung beherbergen zu können, doch gab es
matische Ausgrabungen vornahm, war der                        Kasten), ein kleinerer Teil sowie zahlreiche              andere Probleme: Das Gebäude befindet
deutsche Bankierssohn und Diplomat Max                        Abgüsse dagegen kamen nach Aleppo. Hier                   sich in der Aue des mittlerweile weitge-
Freiherr von Oppenheim – und zwar auf                         öffnete 1931 in einem osmanischen Palast                  hend trocken gelegten Flusses Quweiq.
dem Tell Halaf im Nordosten des Landes,                       ausserhalb der ummauerten Altstadt das                    Nach den Winterregen steigt das Grund-
dem antiken und auch aus der Bibel be-                        erste archäologische Museum seine Türen.                  wasser hier so stark an, dass das gesamte
                                                                                                                        Untergeschoss des Museums, in dem sich
                                                                                                                        die Magazine befinden, geflutet wird. Vor
 Zerstört und wieder auferstanden: Das Tell-Halaf-Museum von Berlin                                                     Ausbruch des Bürgerkrieges wurde dieses
 Das Tell-Halaf-Museum wurde 1931 in                           Deutschlands ein halbes Jahrhundert und                  Wasser mittels Dieselpumpen abgeführt,
 Berlin eingeweiht und beherbergte vor                         waren nahezu vergessen. Zwischen 2001                    doch die Situation seit 2011 lässt dies nicht
 allem die aus dem frühen 1. Jahrtausend                       und 2010 wurden sie schliesslich in einem                mehr zu, so dass das Gebäude und seine
 vor Christus stammenden Bildwerke des                         gross angelegten Projekt unter der                       Bestände starke Grundwasserschäden
 Fundortes. 1943 brannte das Gebäude                           Leitung von Lutz Martin und Nadja                        erfahren.
 nach einem Bomberangriff vollständig                          Cholidis wieder zusammengesetzt. Die
 aus. An die 30 000 Bruchstücke aus Basalt                     folgende Ausstellung 2011 in Berlin                      Grosse Schäden am Gebäude
 wurden in die Magazine des Vorderasia-                        erreichte etwa 780 000 Zuschauer. Ein Teil               Auch wenn in den Jahren des Bürgerkriegs
 tischen Museums Berlin gebracht,                              der Exponate wurde 2019 im Louvre in                     das Schlimmste verhindert werden konnte,
 lagerten dort jedoch aufgrund der Teilung                     Paris gezeigt.                                           sind die Schäden am Gebäude selbst so

8     UniPress     178/2019                                                          Archäologie
Berner Archäologie in Syrien
                                              Das Institut für Archäologische Wissen-           Dies führte zur Mitwirkung bei der
                                              schaften (IAW) war selbst viele Jahre an          Gründung des internationalen Netzwerks
                                              Ausgrabungen in Syrien beteiligt, so zuletzt      shirín (www.shirin-international.org)
                                              in Tell Halaf in Zusammenarbeit mit dem           und zur Organisation der Tagung
                                              Vorderasiatischen Museum Berlin, der              «Strategies for Restoration and Re-
                                              Generaldirektion der Antiken und Museen           construction. Museums, Heritage Sites
                                              Damaskus sowie den Universitäten                  and Archaeological Parcs in Post-War
                                              Tübingen und Halle. In jahrzehntelanger           Countries» im Rahmen der 61e Rencontre
                                              Zusammenarbeit wuchsen persönliche und            Assyriologique Internationale in Genf
                                              wissenschaftliche Beziehungen zu syrischen        und Bern vom 22. bis 26. Juni 2015. Am
                                              Kolleginnen und Kollegen und nicht zuletzt        28.11.2015 wurde zudem an der Uni-
                                              auch ein Verantwortungsgefühl gegenüber           versität Bern die Sonderveranstaltung
                                              dem syrischen Kulturerbe. So entwickelte          «Syrien – Kulturland und Kriegsgebiet»
                                              sich der Wunsch, eine aktive Rolle beim           durchgeführt, durch die eine breitere
                                              Kulturgüterschutz sowie bei der künftigen         Öffentlichkeit über die Hintergründe der
                                              Umsetzung eines neuen Konzepts für das            Kulturgüterzerstörung informiert wurde.
                                              Nationalmuseum in Aleppo einzunehmen.             Videos unter: syrien.unibe.ch

evident, dass umfangreiche Renovierungen,     dierung des Tell-Halaf-Museums in Berlin         Aleppo in neuem, modernem Gewand
wenn nicht ein Neubau erforderlich sein       endgültig zerstört schien. Kurz vor seinem       wiederauferstehen wird. Vielleicht kann die
werden. Hinzu kommt, dass die Ausstellung     Tod 1946 brachte er seine Hoffnung auf           Universität Bern dazu einen bescheidenen
vor dem Bürgerkrieg einem mittlerweile        eine Wiederherstellung der Bildwerke             Beitrag leisten.
sehr überkommenen didaktischen Konzept        durch die Worte «Kopf hoch – Mut hoch –
folgte und auch daher eine Neukonzeptio-      Humor hoch» zum Ausdruck. Sieben Jahr-           Kontakte: Prof. Dr. Mirko Novák,
nierung sinnvoll wäre.                        zehnte später erfüllte sich seine Hoffnung       novak@iaw.unibe.ch;
   Mohamad Fakhro war bis 2015 Vize-          tatsächlich (siehe Kasten links). Das Beispiel   Mohamad Fakhro,
direktor des Museums und massgeblich an       lässt hoffen, dass das Nationalmuseum            mohamad.fakhro@students.unibe.ch
den Sicherungsarbeiten beteiligt. Sein
Arbeitsweg führte über die Frontlinie – aus
25 Minuten wurden 7 Stunden pro Weg, so
dass die Mitarbeitenden Schichten von
jeweils einer ganzen Woche einführten.             Im Freien lösten sich die Sandsäcke im Regen auf, die Mitarbeitenden mussten den Schutz mit
Seit der Flucht mit seiner Familie nach            Holz und Beton ergänzen. (Bild ©: Mohamad Fakhro)
Deutschland ist Fakhro Doktorand am
Institut für Archäologische Wissenschaften
der Universität Bern und erarbeitet ein
neues Ausstellungskonzept. Hierzu führte
er Studien an schweizerischen Museen
durch.

Berner Beitrag
zu einem neuen Museum
Die Arbeiten an dem neuen Konzept sind
nahezu abgeschlossen. Doch damit beginnt
die nächste, wohl schwierigste Phase: die
Realisierung. Dazu müssen die syrischen
Autoritäten genauso wie die internationale
Wissenschaftscommunity an Bord geholt
und eine Finanzierung gefunden werden.
Hierzu soll im kommenden Jahr zunächst
eine internationale Tagung in Bern mit
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
und aktuellen wie ehemaligen Mitarbeiten-
den der syrischen Antikenverwaltung statt-
finden.
    Ob diesem Unterfangen Erfolg be-
schieden sein wird, steht angesichts der
schwierigen Umstände in den Sternen. Hier
hilft es, sich an Max Freiherr von Oppen-
heim zu erinnern, den Ausgräber des Tell
Halaf, dessen Lebenswerk mit der Bombar-

                                                                                                                     UniPress   178/2019     9
Tauchen und Sägen
in der Knochenbucht
Die ersten Bauern Europas lebten in Pfahlbausied-
lungen auf dem Balkan. Wie haben sie sich an neue
Klimabedingungen angepasst und wie haben sie ihre
Umwelt beeinflusst? Dies untersucht ein von Berner                                               Erste Resultate zeigen:
Forschenden initiiertes interdisziplinäres EU-Gross-
projekt. Zwei Tage unterwegs mit den Forschenden.                                                Die Pfahlbauten
Von Kaspar Meuli                                                                                 in der Knochenbucht
28. Juli, 22 Uhr                                                                                 sind viel älter
Es ist dunkel, als wir im Camp der Berner      der Universität Bern, initiiert hat. Beide sind
Forschenden eintreffen. Kein Zeltlager in      Mitglieder des Oeschger-Zentrums für              als angenommen.
der Wildnis, sondern ein Wohnhaus mit          Klimaforschung. «Das Rückgrat des
Vorgarten in Peštani, einem verschlafenen      Projekts», sagt Hafner, «ist die hochpräzise
Ferienort am Ohridsee in Nordmazedonien.       Datierung von Pfählen, um die Fundstellen         hingegen, dass es lokale Taucher waren, die
Eine lange Tafel, beleuchtet von flackern-     in eine Chronologie zu bringen.» Am               entdeckt hatten, dass hier Pfähle aus dem
den Kerzen. Der grosse Topf mit Pasta steht    Ohridsee hat das Team bereits von rund            Seeboden ragen.
auf einem auffälligen Untersetzer – schwarz    800 Pfählen Proben entnommen – den                    Mittlerweile steht in der malerischen
und hart wie Ebenholz. Es ist der Abschnitt    Resten von Siedlungen aus der Bronzezeit          und vor Stürmen gut geschützten Bucht
eines 6000 Jahre alten Pfahls. Willkommen      und dem Neolithikum. Auf Grundlage die-           eine Rekonstruktion einer Pfahlbausied-
in der Welt der Unterwasserarchäologie!        ser zeitlichen Einordung will EXPLO zeigen,       lung. Am Ufer betreibt ein Tauchzentrum
Willkommen beim europäischen Exzellenz-        wie sich Klima, Umwelt und Landwirtschaft         seine Basis. Von hier aus sind in den ver-
projekt EXPLO (siehe Kasten)!                  in den vergangenen 10 000 Jahren ent-             gangenen Wochen die EXPLO-Teams zu
    Beim Nachtessen sitzen zehn Archäolo-      wickelt und gegenseitig beeinflusst haben.        ihrer Arbeit unter Wasser aufgebrochen.
ginnen und Taucher beisammen, die meis-        Dazu werden archäologische Fundstellen,           Ihre Aufgabe: Ein Feld von zehn auf zehn
ten von ihnen sind beides zugleich. Rund       Bohrkerne und Sedimente in Seen in                Metern von Ablagerungen zu befreien,
vierzig Personen geben sich in den zwei        Griechenland, Nordmazedonien und                  nach Pfählen abzusuchen, deren Lage zu
Monaten, über die sich die Feldarbeiten im     Albanien untersucht. Das auf fünf Jahre           vermessen und schliesslich von jedem Holz
ersten Projektjahr hinziehen, im Grabungs-     angelegte Projekt soll Fragen beantworten         eine Probe zu nehmen. Das tönt relativ
haus die Klinke in die Hand. Sie kommen        wie: Wann genau hat die bäuerliche                einfach, doch in Tat und Wahrheit brauchte
aus einem halben Dutzend Länder.               Lebensweise am südöstlichen Rand Europas          es dazu minutiöse Organisation, den Ein-
    Bei einem Glas Rotwein aus dem             angefangen? Warum ausgerechnet hier               satz von Hightech-Equipment und harte
«Market»-Laden über die Strasse schildert      und genau zu diesem Zeitpunkt? Und                körperliche Arbeit auf vier Metern Tiefe.
uns Albert Hafner, Professor für Prähisto-     schliesslich sollen sich aus dem Wissen           Und immer wieder kam es unter Wasser zu
rische Archäologie, die Grundzüge des Vor-     über die Vergangenheit auch Lehren für            Überraschungen, die die Archäologen an
habens, das er zusammen mit dem Paläo-         die Zukunft ziehen lassen. Zum Beispiel aus       ihre Grenzen brachten.
ökologen Willy Tinner, auch er Professor an    den bäuerlichen Anpassungsstrategien an               So hatten sie zum Beispiel nicht damit
                                               vergangene Klimaveränderungen.                    gerechnet, wie dicht die Pfähle stehen. Bis
                                                                                                 zu 14 zugespitzte Eichen-, Nadelholz- und
                                               29. Juli, 9 Uhr                                   Wacholderstämme pro Quadratmeter
Europäisches Exzellenzprojekt                  Der letzte Tauchgang der Saison steht             wurden hier während der Jungstein- und
EXPLO (kurz für Exploring the dynamics         bevor. Drei Taucher und ihre Helfer               Bronzezeit in den Boden gerammt. Die
and causes of prehistoric land use change      verladen Material. Ein schwarzes Zodiac-          vielen Pfähle waren nicht etwa nötig, um
in the cradle of European farming) wird        Boot mit Berner Zulassungsnummer füllt            Gebäude zu tragen. Die hohe Dichte erklärt
von der EU mit 6,4 Millionen Euro unter-       sich mit Dingen wie Messbändern, Maurer-          sich dadurch, dass immer wieder neu ge-
stützt und ist eines der zwei Dutzend          kellen, einer Fuchsschwanzsäge und, ja,           baut wurde. Nach ersten Auswertungen
Projekten, dem 2018 ein sogenannter «ERC       Cakeformen in verschiedenen Grössen.              gehen die Berner Forschenden davon aus,
Synergy Grant» für interdisziplinäre Zusam-    Alles praktisch verpackt in rote Einkaufs-        dass in der Knochenbucht im Verlauf der
menarbeit zugesprochen wurde – und             körbchen. Die Grabungsstätte, zu der sich         Jahrtausende über ein Dutzend Siedlungen
eines der ganz wenigen geisteswissen-          das Team aufmacht, liegt keine 50 Meter           errichtet wurden.
schaftlichen. Die Synergy Grants stellen die   vom Ufer entfernt in einer «Bay of Bones»             Diese Fülle von Material ist ein Glücks-
höchste Stufe der Exzellenzförderung der       genannten Bucht – warum sie diesen                fall – weniger angetan waren die Archäo-
Europäischen Kommission dar und sind           Namen trägt, ist nicht so klar. Viel eher         logen hingegen vom Aufwand, der das
unter Forschenden heiss begehrt. Weniger       müsste sie «Bay of Pots» heissen, denn der        Beproben all der Pfähle bedeutete. Mit
als 5 Prozent der eingereichten Anträge        Grund ist mit einer dicken Schicht bronze-
werden bewilligt.                              zeitlicher Keramik bedeckt. Gesichert ist         Forsetzung Seite 13

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Interdisziplinäre Feldarbeit: Von der
                           Bohrplattform aus ziehen Paläoökologen
                           des EXPLO-Teams einen Sedimentkern aus
                           dem See. Unmittelbar daneben sind auf dem
Bild ©: Marco Hostettler

                           Grabungsfeld die Unterwasserarchäologen
                           an der Arbeit.

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Die frühen Bauern Europas waren mobil
Die bäuerlichen Gesellschaften am Zürich- und
Bodensee waren keineswegs an ihre Feuchtbo-
densiedlungen gebunden – sondern bereits vor                                                         eine weltweit einzigartige Forschungs-
6000 Jahren vernetzt, mobil und offen. Dies                                                          situation. Und der Fundreichtum von
zeigen neue Keramikanalysen.                                                                         Artefakten aus Keramik, Stein, Metall,
                                                                                                     pflanzlichen und tierischen Materialien
Von Caroline Heitz                                                                                   ermöglichen detaillierte Erkenntnisse
                                                                                                     zur Lebensweise prähistorischer Gesell-
In der Forschung ist man jahrzehntelang             Mobilitätsforschung. Sie stammen aus             schaften.
ganz selbstverständlich davon ausge-                der Zeit zwischen 5000 bis 500 vor Christus
gangen, dass sich die frühen Bäuerinnen             und sind seit 2011 als serielle UNESCO-          Alles andere als kulturell homogen
und Bauern Europas hauptsächlich um ihre            Welterbestätte anerkannt.                        Die ältesten Feuchtbodensiedlungen
Siedlung bewegten. Mobilität und Migra-                Unter Wasser hat sich organisches Ma-         gehören in die Jungsteinzeit: Sie zeugen
tion waren für die prähistorische Archäo-           terial aussergewöhnlich gut erhalten. Das        davon, dass mit dem Wechsel von mobilen
logie kaum ein Thema. Dies ist erstaunlich,         erlaubt es, hölzerne Architekturelemente         wildbeuterischen zu ackerbäuerlichen
liefern doch die Reste von tausenden                mittels Dendrochronologie – also aufgrund        Wirtschaftsformen eine primär sesshafte
prähistorischen Pfahlbausiedlungen in Seen          der Baumjahrringe – präzise zu datieren.         Lebensweise notwendig wurde. Dass sich
und Mooren rund um die Alpen – heute                Die Gründung von Siedlungen, deren Bau-          die frühen Bäuerinnen und Bauern fast
werden sie als Feuchtbodensiedlungen                geschichte und schlussendliche Auflassung        nur noch um ihre Siedlung bewegten, ist
bezeichnet – ideale Bedingungen für die             kann jahrgenau rekonstruiert werden –            dennoch ein Fehlschluss, ebenso wie die

                Veränderungen der Töpferei durch Mobilität

                Gefässe im Gepäck
                1a: Beim Umzug von Siedlung B
                nach Siedlung A wird ein Gefäss
                aus Siedlung B mitgenommen.
                1b: Die neu zugezogene Person aus
                Siedlung B töpfert in Siedlung A ein
                Gefäss in Stil B und verwendet dabei
                lokale Materialien A.
                1c: Die nun in Siedlung A lebenden
                Bewohnerinnen und Bewohner töpfern               Tausch, Geschenke und Diebstahl                   Lokale Herstellung, anderer Stil
                gemeinsam und tauschen dabei ihr unter-          2a: Eine Bewohnerin oder ein Bewohner             2c: Das neu erworbene Gefäss
                schiedliches Töpferei-Know-how (A und            aus Siedlung A besucht die Siedlung B,            aus Siedlung B dient als Vorlage und
                B) aus: In diesem kreativen Prozess              erhält oder stiehlt dort ein Gefäss und           inspiriert die Bewohnerschaft der
                entstehen neue Gefässtypen oder solche,          geht damit zu Siedlung A zurück.                  Siedlung A. Sie töpfern stilistisch ähnlich
                in welchen beide Töpfereitraditionen             2b: Ein Gefäss aus Siedlung B ist Objekt          aussehende Gefässe in ihrer eigenen
                kombiniert sind. Eine neue Töpfereipraxis        eines Tauschgeschäfts und gelangt so in           Technik A und verwenden dabei lokale
                C entsteht.                                      die Siedlung A.                                   Rohmaterialien A.

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Wasser vollgesogen und unter Ausschluss
                                                                                                   von Sauerstoff in Sedimentschichten ge-
                                                                                                   lagert, sind sie nicht nur perfekt erhalten
                                                                                                   geblieben, sondern auch steinhart. Vor
                                                                                                   allem mit dem Wacholderholz hatten
                                                                                                   die Taucherinnen und Taucher ihre liebe
     Annahme, dass jede Siedlung von einer           Zeitraum von Hand nach einer bewährten        Mühe. Ganze anderthalb Tage nahm
     homogenen, abgeschlossenen Kultur               regionaltypischen Praxis gefertigt – von      das Zertrennen eines solchen Stamms
     geprägt gewesen sei. Dies zeigt die Unter-      der Gewinnung der natürlichen Tone bis        in Anspruch. Um mittels Handsäge die
     suchung von Keramik aus 15 Feuchtboden-         hin zum Keramikbrand. Am Zürich- wie          Probe eines Pfahls zu gewinnen, gingen
     siedlungen am Zürich- und Bodensee              am Bodensee gab es je einen lokalty-          die Füllungen von fünf Atemluftflaschen
     zwischen 3950 und 3800 vor Christus. Im         pischen Keramikstil. In allen untersuchten    drauf – und sehr viel Muskelkraft. Für
     Rahmen eines Nationalfonds-Projekts an          Siedlungen erinnern jedoch einige Ge-         die nächste Grabungssaison, so ist klar
     der Universität Bern ist es gelungen, Mobili-   fässe an Keramikstile anderer Regionen.       geworden, braucht es eine Unterwasser-
     tätsmuster der frühen Bauerngesellschaften      Handelt es sich dabei um Importe? Oder        kettensäge.
     aufzudecken. Die frühere Annahme, dass in       zeugen diese Gefässe vom Zuzug einiger
     einer Siedlung nur ein typischer Keramikstil    Töpferinnen und Töpfer mit anderem            29. Juli, 10.30 Uhr
     auftritt, was wiederum zeigen könnte, dass      kulturellen Hintergrund?                      Das Schlauchboot schaukelt an einer roten
     dort nur eine kulturelle Gruppe gelebt hat,         Diese Fragen lassen sich durch die        Boje, die Unterwasserarchäologen sind an
     ist damit widerlegt.                            Herkunftsbestimmungen der Töpfertone          der Arbeit, und nun wird es Zeit für die
                                                     beantworten. Dazu wurden minera-              Reporter, mit Maske und Schnorchel ins
     Scherben chemisch analysiert                    logischpetrographische Untersuchungen         glasklare Wasser zu steigen. Wir schwim-
     Die Flaschen, Krüge, Töpfe, Becher, Schüs-      sowie Analysen der chemischen Zu-             men zu einer Grube, in der ein Taucher in
     seln und Schalen wurden im untersuchten         sammensetzung vorgenommen. Dazu               rotem Anzug ein Sedimentprofil erstellt.
                                                     braucht es einen portablen sogenannten        Beim kurzen Abtauchen auf den Seegrund
                                                     «energie-dispersiven Röntgenfluores-          sehen wir, wie das vor sich geht: Den
                                                     zenzanalysator», der von jeder Scherbe        genauen Ort der Probeentnahme festlegen
                                                     eine Art chemischen Fingerprint misst.        und vermessen. Eine passende Cakeform
Lokaler Keramikstil A                                Mittels Statistik werden dann in den          wählen. Die Grubenwand von Steinen und
              Lokaltypische                          Messungen regionaltypische Material-          Keramikscherben säubern, damit sich die
              Töpfertechnik A                        gruppen aufgedeckt. Kombiniert man            Form möglichst gut ins Sediment einsetzen
              Lokal vorhandene                       nun die Ergebnisse der Herkunftsunter-        lässt. Und dann ganz vorsichtig drücken.
              Rohmaterialien A                       suchungen zu Material, Herstellung und        Anschliessend mit der gefüllten Form
                                                     Stil, ergeben sich Hinweise auf unter-        auftauchen und sie der Schlauchbootcrew
Lokaler Keramikstil B                                schiedliche Formen von Mobilität.             übergeben, die die Probe verpackt.
              Lokaltypische                          Wie komplex die denkbaren Szenarien
              Töpfertechnik B                        sind und wie sich diese an Keramik-           29. Juli, 12.30 Uhr
              Lokal vorhandene                       gefässen unterscheiden lassen, zeigt          Mittagspause. Bei Brot, Tomaten, Ajvar und
              Rohmaterialien B                       die Grafik.                                   Käse sprechen wir über Parallelen zwischen
                                                                                                   der Grabungsstätte vor unseren Augen und
Lokaler Keramikstil C                                Weitgespanntes Beziehungsnetz                 den Fundstätten in der Schweiz. Absolut
              Neue lokaltypische                     Überregionale Mobilität war in den            vergleichbar seien sie, erfahren wir – bloss
              Töpfertechnik C                        frühen bäuerlichen Gesellschaften             hier wahrscheinlich noch ein gutes Stück
              Anderes lokal vorhandenes              offenbar ein gängiges Phänomen. So            älter. Im Ohridsee leisten die Archäologen
              Rohmaterial C                          bestanden am Bodensee um 3900 vor             Pionierarbeit. In der Schweiz hingegen
                                                     Christus etwa Beziehungen nach Ober-          wurde der erste Pfahlbau bereits 1854 ent-
                                                     schwaben, an den Neckar und Oberrhein,        deckt. Ab den 1960er-Jahren wurde dann –
                                                     an den Zürichsee sowie nach Ostfrank-         dank der Unterstützung von Unterwasser-
                                                     reich. Neben einzelnen importierten           archäologen – intensiv zum Thema ge-
                                                     Gefässen scheinen häufiger die Töpfe-         forscht. Die ältesten Pfahlbauersiedlungen
                                                     rinnen und Töpfer mobil gewesen zu            der Schweiz sind 4300 Jahre vor Christi
Aneignung neuer Techniken
3a: Während eines Aufenthalts in Siedlung            sein. Die Siedlungsgemeinschaften             Geburt entstanden, die letzten 800 v. Chr.
B lernen Bewohnerinnen und Bewohner                  setzten sich somit aus Menschen mit           Dazwischen verlieren sich die Zeugnisse der
aus Siedlung A das Töpferei-Know-how der             unterschiedlicher Herkunft zusammen.          Besiedlung wegen der angestiegenen See-
Bewohnerschaft von Siedlung B.                       Diese interkulturellen Begegnungen            stände mehrmals. Es ist nicht nur bekannt,
3b: Nach ihrer Rückkehr in ihre Herkunfts-           führten zu Transformationen der jeweils       wo und wann die Pfahlbauer lebten,
siedlung A töpfern die Bewohnerinnen und
                                                     lokaltypischen Keramikstile. Das zeigt,       sondern auch, welche Getreide sie an-
Bewohner der Siedlung A nach ihrem neu
angeeigneten Töpferei-Know-how (B) und               dass die frühen bäuerlichen Gesellschaf-      bauten (etwa Emmer, Gerste und Ein-
stellen aus lokalen Rohmaterialien A                 ten fähig waren, Impulse von aussen           korn) und welche Haustiere sie hielten
Gefässe in Stil und Technik B her.                   aufzunehmen und zu integrieren.               (etwa Rinder, Schweine und Hunde). Und
                                                                                                   gesichertes Wissen gibt es auch darüber,
                                                     Kontakt: Dr. des. Caroline Heitz,             wie unsere Vorfahren Materialien ver-
In allen Szenarien können kreative Prozesse
ausgelöst werden, die zur Veränderung der            Institut für Archäologische Wissenschaften,   arbeiteten und wie sie diese über etablierte
lokalen Keramiktradition führen, wovon               Ur- und Frühgeschichte,                       Handelskanäle – etwa für Silex – be-
hier nur einige wenige dargestellt sind.             caroline.heitz@iaw.unibe.ch                   schafften. Ein Rätsel hingegen bleiben

                                                                      Archäologie                                       UniPress   178/2019      13
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                               Viel Handarbeit unter Wasser

                               1. Das Grabungsfeld besteht aus zehn 1 Meter breiten und
                                  10 Meter langen Bahnen. Die darin freigelegten Pfähle werden
                                  vermessen und markiert.
                               2. Die Taucherinnen und Taucher sammeln beim Abtragen der
                                  obersten Sedimentsschicht unter anderem Scherben von
                                  prähistorischen Gefässen ein.
                               3. Von den Pfählen werden mit einer Handsäge Proben abge-
                                  schnitten.
                               4. An Land werden die Proben mit einer Bandsäge zerkleinert und
                                  anschliessend vakuumiert.
                               5. Die Computervisualisierung zeigt eine dreidimensionale Rekon-
                                  struktion eines Teils des Grabungsfeldes. Die Darstellung wurde
                                  aus 645 Fotos rekonstruiert und dient als Grundlage für die
                                  Berechnung eines digitalen Höhenmodells oder Orthofotomo-
                                  saiks.

                               Bilder 2, 3 und 4 ©: Marco Hostettler
                           3   Bilder 1 und 5 ©: Johannes Reich

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gesellschaftliche Fragen: Wie zum Beispiel      30. Juli, 16 Uhr                               prähistorischen Nahrungsresten in Sedi-
sah die soziale Differenzierung aus? Und        Der schwarze und der weisse Kleinbus mit       menten der diversen archäologischen
wie haben diese Menschen ihre Toten             Uni-Bern-Logo vor dem Grabungshaus sind        Fundstellen will sie klären, was die
bestattet?                                      gepackt. Alle vakuumierten Holzproben          Menschen hier einst angebaut und
   Die Pfahlbauten in der Knochenbucht,         haben Platz gefunden, und auch die Aus-        gegessen haben. Ihr Ziel: eine bioarchäolo-
das zeigen erste EXPLO-Resultate, sind          rüstung ist glücklich verstaut. Nun hat die    gische Rekonstruktion der frühen euro-
übrigens viel älter als angenommen. Bis         Archäologin Ariane Ballmer, die als EXPLO-     päischen Landwirtschaft. Willy Tinner
anhin ging man davon aus, dass sie zwi-         Koordinatorin als eines der wenigen Team-      wiederum will analysieren, wie die ersten
schen 700 und 1200 vor Christus ent-            mitglieder den ganzen Sommer vor Ort           Bauern ihre Umwelt beeinflusst haben –
standen waren. Die Berner Forscher können       verbracht hat, Zeit für ein Gespräch über      und umgekehrt. Die Paläoökologen können
drei Siedlungsphasen belegen: 1400, 1800        das grosse Thema des Projekts: die Aus-        insbesondere abklären, ob die Einführung
und 4400 vor Christus. Doch sie rechnen         breitung der Landwirtschaft nach Europa.       der Landwirtschaft ein abrupter oder ein
damit, dass sich Siedlungen nachweisen                                                         gradueller Prozess war. Die Dendrochrono-
lassen, die bereits zwischen 5000 bis 6000                                                     logen ihrerseits werden nachweisen, wann
Jahre vor Christi Geburt entstanden sind.                                                      genau die ersten Siedlungen an den Seen
                                                Frau Ballmer, was weiss man heute über das     im südwestlichen Balkan errichtet wurden –
29. Juli, 17 Uhr                                Vordringen der Landwirtschaft aus dem          und wie lange sie besiedelt waren. So wird
Das EXPLO-Team betreibt in seinem               Westen Asiens nach Europa?                     sich schliesslich zeigen lassen, wie schnell
möbliert gemieteten Haus ein mobiles            Ariane Ballmer: Klar ist, dass frühe Vieh-     den ersten europäischen Bauern die Anpas-
Labor für Dendrochronologie. Im Salon           züchter und Ackerbauern aus Anatolien ab       sung ans neue Klima gelang.
stehen Seite an Seite mit Geschirrvitrine       dem 7. Jahrtausend vor Christus zunächst in
und Hausbar Baumschnitte und Mikro-             den ägäischen Raum, insbesondere Nord-         30. Juli, 21 Uhr
skope. An den Wänden Pläne der Pfahl-           griechenland, und danach via Süditalien        Nach dem Abendessen holt Johannes
bauten von Sutz-Lattrigen im Bielersee, wo      und den Balkan nach Mitteleuropa               Reich, der als Forschungstaucher die Tauch-
Albert Hafner vor seiner Zeit an der Uni-       gelangten.                                     einsätze leitet, seinen Laptop hervor.
versität Bern die Aussenstelle für Unter-                                                      Der künftige Doktorand, der im Rahmen
wasserarchäologie leitete – und das             Gab es tatsächlich Migrationsbewegungen        von EXPLO seine Dissertation schreiben
Unesco-Welterbe «Prähistorische Pfahl-          von bäuerlich lebenden Gemeinschaften,         wird, zeigt uns Visualisierungen, die
bauten um die Alpen» initiierte, das            oder verbreiteten sich die neuen Kulturtech-   aus Hunderten von Unterwasserfotos
111 Fundstellen in 6 Staaten umfasst.           niken nicht einfach dadurch, dass sie von      entstanden sind. Mit einer Unterwasser-
    Ebenfalls an die Wand gepinnt ist die       lokalen Wildbeutern nach Kontakten mit         kamera hat sein Team das freigelegte
sogenannte Süddeutsch-Schweizerische            Bauern übernommen wurden?                      Grabungsfeld lückenlos dokumentiert.
Eichen-Standardkurve, ein Jahrringkalender,     Die These der Adaption durch reinen            An den Abenden dann hat Reich die
der lückenlos bis ins 9. Jahrtausend v. Chr.    Wissenstransfer gilt als widerlegt, was die    Aufnahmen in ein 3D-Oberflächenmodell
zurückreicht. Referenzkurven wie diese sind     Einführung der Landwirtschaft betrifft,        eingegeben und mit den präzis vermes-
unerlässlich, um einen Baumschnitt präzise      denn Haustiere und Getreidesorten kamen        senen Standorten der Pfähle verknüpft.
zu datieren. Mit ihrer Hilfe lässt sich das     vermutlich mit Einwanderern aus Westasien      Nun baut sich vor unseren Augen ein
unter dem Mikroskop gemessene Wachs-            nach Europa. Es gibt aber auch Hinweise,       wahrer Wald von aus dem Seeboden
tumsmuster eines Baums in eine Chrono-          dass europäische Sammler- und Jäger-           herausragenden Stämmen auf.
logie einpassen und so sein absolutes Alter     gruppen dazu beigetragen haben, diese              Zurück in Bern wird diese Modellierung
bestimmen. In jahrzehntelanger wissen-          Innovationen den lokalen Bedingungen           mit Altersbestimmung der unterschied-
schaftlicher Grundlagenarbeit wurden            anzupassen.                                    lichen Generationen von Pfählen verknüpft,
Standardkurven aus Seeufersiedlungen für                                                       und alle gleich alten Bäumen werden farb-
den nordalpinen Raum erstellt. Für den          Die neuen europäischen Bauerngesell-           lich gekennzeichnet. Dann sollten sich im
Südbalkan hingegen fehlen sie komplett.         schaften lebten unter anderen klimatischen     wilden Muster der Pfähle Grundrisse von
«Deshalb», sagt Albert Hafner, «ist die         Bedingungen als jene in Westasien.             Häusern abzeichnen – so wie auf den
Einführung der Dendrochronologie in             Ja, sie mussten sich an eine Reihe neuer       Plänen der Pfahlbauersiedlung vom Bieler-
dieser Region einer der Schwerpunkte von        Bedingungen anpassen, nicht nur an klima-      see. «Ich erwarte, dass sich aus dem Gra-
EXPLO.» Für die angestrebte Referenzkurve       tische. Diese Herausforderung dürfte mit       bungsfeld, das wir in dieser Saison beprobt
werden aber nicht nur möglichst viele und       Erfolgen und Niederlagen einhergegangen        haben, die ersten Hausgrundrisse aus See-
möglichst unterschiedlich alte Baum-            sein und über viele Generationen zu neuen      ufersiedlungen des Balkans rekonstruieren
schnitte benötigt. Gefragt sind auch statis-    Strategien und Innovationen geführt            lassen», meint Johannes Reich und fügt
tische Modelle sowie eine Vielzahl von          haben. So wurden zum Beispiel Gersten          hinzu, «das allein wäre ein Riesenerfolg.»
C14-Altersbestimmungen, wie sie das             und Weizen aus dem trockenen, subtro-              Unterwasserarchäologie, so viel steht
Oeschger-Zentrum in seinem Radiokarbon-         pischen Klima des Nahen Ostens erfolgreich     fest, ist harte Arbeit. Knochenarbeit. Auch
labor durchführt.                               auf die kühl-feuchten und bewaldeten           hier in der «Bay of Bones», die ihren maka-
    EXPLO wird keine durchgehende, über         Bedingungen in Europa eingestellt.             beren Namen völlig zu Unrecht trägt.
10 000 Jahre reichende Chronologie er-
stellen können, aber die Kombination von                                                       Weitere Infos: www.exploproject.eu
modernen C14-Daten und Dendrodaten                                                             Kontakt: Prof. Dr. Albert Hafner,
liefert ein höchst brauchbares Arbeitsinstru-      An diesem Punkt kommt bei EXPLO die          albert.hafner@iaw.unibe.ch; Prof. Dr. Willy
ment. «Wir wollen beim Alter der prähisto-      interdisziplinäre Zusammenarbeit ins Spiel:    Tinner, willy.tinner@ips.unibe.ch,
rischen Seeufersiedlungen in der Region mit     Die am Projekt beteiligte Oxford-Profes-       beide Oeschger-Zentrum für Klimaforschung
einer klaren Chronologie wissenschaftliche      sorin Amy Bogaard ist auf frühe Landwirt-      Autor: Kaspar Meuli,
Fakten schaffen», erklärt Albert Hafner.        schaftsökologie spezialisiert. Anhand von      kaspar.meuli@oeschger.unibe.ch

                                                                Archäologie                                         UniPress   178/2019   15
Focaccia für die Götter
Ausgegrabene Backglocken und Terrakotta-
platten lassen vermuten, dass bereits die
Bewohnerinnen und Bewohner der griechischen
Koloniestadt Himera auf Sizilien vor mehr als
2500 Jahren «Focaccia» herstellten – und zwar
in einem Heiligtum.

Von Elena Mango und Aleksandra Mistireki

Bei archäologischen Ausgrabungen kommt        also die Funktion von wichtigen «kultu-       Kontext ausschöpfen. Dies ist im Hinblick
am häufigsten Gebrauchskeramik und            rellen Markern» einnehmen und erlauben        auf Himera von besonderem Interesse, da
sogenannte «Cooking Ware» zum Vor-            Rückschlüsse auf gesellschaftliche Aspekte.   diese griechische Koloniestadt am Schnitt-
schein: Unverziertes Alltagsgeschirr wie                                                    punkt von drei kulturellen Interessen-
Schüsseln, Kannen, Lagerungsgefässe und                                                     sphären lag: der einheimisch-sikanischen,
Kochgefässe. Wissenschaftliche Studien                                                      der griechischen und der karthagischen.
zu diesen Keramikgattungen sind jedoch                                                      In Himera wurde über 50 Jahre lang von
selten und legen den Fokus meist auf          «Hatten gar die                               Kolleginnen und Kollegen der Universität
typologische und herstellungstechnische                                                     und der Soprintendenza Palermo gegraben.
Aspekte. Doch der mögliche Erkenntnis-        Sizilianer die Pizza noch                     Das Fundmaterial stammt aus Wohn-
gewinn geht weit darüber hinaus. Die                                                        kontexten, Gräbern und Heiligtümern.
Erforschung dieser Gefässgattungen eignet     vor den Napoletanern                          Dazu kommen neue Funde aus den Aus-
sich nämlich besonders gut, um Einblick                                                     grabungen der Berner Forschenden hinzu,
in die Ernährungsgewohnheiten von             erfunden?»                                    die aus sakralen Bereichen stammen. Damit
Gesellschaften, in die Nahrungsvor- und                                                     sind optimale Vergleichsbedingungen für
Nahrungszubereitung sowie die Art des                                                       die neue Studie gegeben.
Verzehrs von Speisen zu gewinnen. Hier
locken neue Erkenntnisse.                                                                   Medienhype um Focacceria
                                              Keramik für Riten und Feste                   Konkret wurden Gefässe mit bisher nicht
Für Fondue oder Spaghetti?                    Dieser gesellschaftliche Aspekt wird mit      dokumentierten Formen gefunden, was auf
Man denke etwa an Fondue oder                 einem sehr innovativen und bisher nicht       ungewöhnliche Vorbereitungsweisen der
Spaghetti: Jedes Gericht benötigt ein mehr    ausgeloteten Forschungsansatz kombiniert:     Nahrung und möglicherweise auch auf
oder weniger spezifisches «Kitchen Set» für   Die Gebrauchskeramik und die Kochuten-        den Verzehr «fremder» Speisen verweisen
die Zubereitung und den Verzehr. Eine am      silien werden im Kontext eines Heiligtums     könnte. Ein Beispiel: In einem Vorrats- und
Institut für Archäologische Wissenschaften    und der darin stattfindenden rituellen        Magazinraum für Esswaren, der an den
im Rahmen des Himera-Projekts in Sizilien     Aktivitäten und Feste betrachtet. Denn        zentralen «Open Space» des Heiligtums mit
laufende Studie will nun die Bestandteile     die Studie will das Potential der Keramik     drei Altären angrenzt, wurden eine Herd-
möglicher «Kitchen Sets», also Gefässe        als Indikator von sozialem Wandel und         stelle, verschiedene Aufbewahrungs-
und Geräte, identifizieren und die Funk-      kulturellem Hintergrund in sakralem           und Kochgefässe (etwa ein rund einein-
tionen der einzelnen Teile definieren –
von Gefässen über Kochutensilien bis zu
mobilen Kochvorrichtungen. Ausserdem
sollen Hinweise zu den in den Gefässen        Interdisziplinäre Stadtforschung
verarbeiteten, gelagerten oder gekochten      Das 2012 offiziell gestartete Himera-         sehr wichtige Rolle für das soziale, poli-
Lebensmitteln gewonnen werden.                Projekt der Universität Bern unter der        tische und religiöse Leben der Bewohne-
   Dazu kombiniert die Postdoktorandin        Leitung von Professorin Elena Mango wird      rinnen und Bewohner der Kolonie spielte:
Aleksandra Mistireki archäologische Heran-    in Zusammenarbeit mit dem archäolo-           So war in der Antike der östliche Teil des
gehensweisen wie Formbestimmung, Typo-        gischen Park von Himera und verschie-         Piano del Tamburino mit mindestens zwei
logie und Funktionsanalyse mit naturwis-      denen europäischen Universitäten durch-       Heiligtümern unterschiedlichen Charak-
senschaftlichen Untersuchungen. In Ge-        geführt. Himera zeichnet sich durch eine      ters besetzt. Damit hat sich das Gebiet der
fässen zurückgebliebene oder eingekochte      vielfältige und interessante urbanistische    Polis Himera um einen wesentlichen
pflanzliche und tierische Rückstände          Planung aus. Der Piano del Tamburino, ein     «urbanistischen Raum» erweitert. Mit fort-
können durch chemische Analysen wichtige      rund 40 Hektar grosses Plateau 90 Meter       schreitender Forschung wird die Rolle und
Hinweise zu Diät, Ernährungsweise sowie       über der Unterstadt gelegen, war vor den      Funktion dieser Koloniestadt innerhalb
zur naturräumlichen Umgebung einer            Berner Forschungen kaum untersucht            des Netzwerkes griechischer Kolonien auf
Gesellschaft geben. Sowohl die «Kitchen       worden. Die Forschungen der letzten acht      Sizilien neu definiert werden können.
Sets» als auch die Art der Vorbereitung der   Jahre machen deutlich, dass dieser eine
Speisen und die Nahrung selbst können

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halb Meter grosser Pithos mit Deckel,
Amphoren, Kannen und Schüsseln) sowie
drei Backglocken gefunden.
    Insbesondere die Backglocken könnten
auf eine Zubereitungsart von Speisen ver-      Blick in die «Focacceria» mit Herdstelle und Scherben, etwa eines grossen Pithos (Vorratsgefäss).
                                               (Bilder ©: Universität Bern, IAW, Archäologie des Mittelmeerraumes)
weisen, die mit der im nordafrikanischen
Raum bekannten Tajine vergleichbar wäre.
In Verbindung mit den Terrakottaplatten
lässt die Verwendung der Backglocken
hingegen an die Herstellung von Fladen-
brot – also «Focaccie» – denken. Als im
Sommer 2018 die Entdeckung einer rund
2500 Jahre alten «Focacceria» bekannt
gemacht wurde, führte dies in Sizilien zu
einem medialen Hype. Der Stolz der Sizi-
lianer auf ihr Essen war angesprochen –
hatten gar sie die weltberühmte Pizza vor
den Napoletanern erfunden? Ob nun diese
«Focaccie» als Gaben für die Götter her-
gestellt wurden oder den reichlich doku-
mentierten Verzehr von Fleisch anlässlich
der religiösen Feste begleitet haben, das
allerdings wissen nur die Götter.

Kontakt: Prof. Dr. Elena Mango,
elena.mango@iaw.unibe.ch;
Dr. des. Aleksandra Mistireki,
aleksandra.mistireki@iaw.unibe.ch,
Institut für Archäologische Wissenschaften

Himera, Sizilien
Himera wurde im Jahr 648 vor Christus
im Norden Siziliens als chalkidisch-dorische
Mischkolonie von drei mythischen Grün-
dern – Euklides, Simo und Sakon – an-
gelegt. Die Kolonisten waren hauptsächlich
Siedler aus dem heutigen Messina sowie
vertriebene Myletiden aus Syrakus.
Himera war die einzige nur von Griechen
bewohnte Stadt an der Nordküste Siziliens.
Ausserdem stellt Himera – zusammen
mit Selinunt im Süden der Insel – die west-
lichste griechische Stadt zum Zeitpunkt
ihrer Gründung dar.

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