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     Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°138 / November 2021

                                 Mehr!

   Gespräch                       Standpunkte                       Album             Essay
Die Vermessung               Müssen wir Gesetzen                 Rückkehr          Wofür steht
  der Psyche. 8               immer gehorchen? 36                der Natur.   38   der Islam? 56
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Editorial

                     Die Kurve zeigt
                     nach oben.
                     Erst war es beunruhigend, dann wurde es schnell beängstigend.
                     Der steile Anstieg der Infektionszahlen zu Beginn der Pandemie
                     überrumpelte die Politik und die Bevölkerung. Exponentielles
                     Wachstum ist schwer vorstellbar, sogar für manche Mathematik-
 Angelika Jacobs,    Studierende, sagt Helmut Harbrecht im Interview, das Sie
Redaktion UNI NOVA
                     im Dossier dieser Ausgabe finden. Im Kontrast zu den Fallzahlen
                     schien vieles andere zu schrumpfen, unser Bewegungsradius,
                     die Wirtschaftsleistung, nach einiger Zeit auch der Zusammen-
                     halt der Gesellschaft.

                     Wir widmen diese Ausgabe den verschiedenen Aspekten von
                     Wachstum, das teilweise erst durch sein Ausbleiben auffällig
                     wird. Was lässt Gemeinschaften zusammenwachsen?
                     Was, wenn wir uns vom Konzept der ewig wachsenden Wirt-
   Noëmi Kern,       schaft verabschieden würden? Wir präsentieren Forschungs-
Redaktion UNI NOVA
                     projekte zur Frage, wie wir mit der knappen Ressource Land
                     umgehen sollten, um die ständig wachsende Weltbevölke-
                     rung zu ernähren, wie wir mit der Flut unserer eigenen digitalen
                     Daten umgehen und was Nährstoffe und Wachstum verbin-
                     det. Nicht zuletzt haben Homeoffice und eingeschränkte Bewe-
                     gungsmöglichkeiten bei manchen Menschen auch zu einer
                     Gewichtszunahme beigetragen. Deshalb haben wir der Leiterin
                     der Adipositas-Sprechstunde des Universitätsspitals und For-
                     scherin an der Universität Basel einige Schlüsselfragen gestellt.
                     Daneben zeigen wir Ihnen in einer Serie von Infografiken, was
                     während der oder durch die Pandemie gewachsen ist, und
                     zeichnen damit Spuren der Pandemie nach – jenseits von Fall-
                     zahlen und neuen Virusvarianten.

                     Wir wünschen Ihnen eine angenehme Lektüre, mit Wissens-
                     zuwachs und vielen Aha-Momenten.

                     Angelika Jacobs und Noëmi Kern
                     Redaktion UNI NOVA

                                  UNI NOVA   138 / 2021                                  3
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Inhalt

                                                                                                                                          + 6,3%                                                    + 4,6%

                                                                                                                                       Schwellen- und                                             Eurozone
                                                                                                                                     Entwicklungsländer

                                                                                                                Übersicht nach Ländergruppen                                                                   Übersicht Schweiz und ausgewählte Länder Europas                                 Übersicht ausgewählte Länder weltweit
                                                                                                                Veränderung des Bruttoinlandprodukts in Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

                                                                                                                   2019       2020      2021 (Outlook April)           2021 (Update Juli)                          2019      2020           2021 (Outlook April)   2021 (Update Juli)               2019        2020             2021 (Outlook April)            2021 (Update Juli)

                                                                                                                Welt                                                                                           Schweiz*                                                                         USA                                                 2,2
                                                                                                                                                                                        2,8                                                                           1,1
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        – 3,5
                                                                                                                                                                                                                                                         – 3,0
                                                                                                                                                          – 3,2                                                                                                                                                                                                     3,4
                                                                                                                                                                                                                                                                                 3,5
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      7,0
                                                                                                                                                                                                     6,0
                                                                                                                                                                                                               Deutschland                                          0,6                         China                                                              6,0
                                                                                                                                                                                                     6,0                                         – 4,8                                                                                              2,3
                                                                                                                                                                                                                                                                                 3,6                                                                                         8,4
                                                                                                                                                                                                                                                                                 3,6                                                                                        8,1
                                                                                                                Industrieländer                                                   1,6
                                                                                                                                                                                                               Frankreich                                                 1,8                   Neuseeland*
                                                                                                                                                      – 4,6                                                                                                                                                                                         2,4
                                                                                                                                                                                                                                    – 8,0
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         – 3,0
                                                                                                                                                                                                                                                                                          5,8
                                                                                                                                                                                                  5,1                                                                                     5,8                                                             4,0

                                                                                                                                                                                                    5,6
                                                                                                                                                                                                               Italien                                             0,3                          Indien                                                    4,0
                                                                                                                                                                                                                                 – 8,9
                                                                                                                                                                                                                                                                                      4,1                     – 7,3                                                                12,5
                                                                                                                Schwellen- und                                                                                                                                                          4,9                                                                              9,5
                                                                                                                                                                                            3,7
                                                                                                                Entwicklungsländer
                                                                                                                                                               – 2,1                                           Österreich                                                                       Südafrika                                   0,2
                                                                                                                                                                                                                                                                         1,4
                                                                                                                                                                                                         6,7                             – 6,6
                                                                                                                                                                                                                                                                                                               – 7,0                                    3,1
                                                                                                                                                                                                                                                                                 3,5
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           4,0
                                                                                                                                                                                                        6,3
                                                                                                                                                                                                               Grossbritannien                                           1,4                    Brasilien                                         1,4
                                                                                                                Eurozone                                                                                                                                                                                              – 4,1
                                                                                                                                                                                 1,3                                                – 9,8                                                5,3                                                              3,6
                                                                                                                                                                                                                                                                                         7,0                                                                     5,3
                                                                                                                                              – 6,5
                                                                                                                                                                                              4,4              Schweden*
                                                                                                                                                                                                                                                                       1,3
                                                                                                                                                                                                                                                         –2,8
                                                                                                                                                                                              4,6                                                                               3,0
                                                                                                                                                                                                                                                                                                * Keine Werte für Juli 2021 vorhanden.

  Die Psychiatrie braucht exaktere Methoden.                                                                                                                                        Was im Zuge der Pandemie gewachsen ist, Seite 12
Psychiaterin Annette Brühl im Gespräch, Seite 8

                                                                                                                                                                                                               Dossier

6

8
    Kaleidoskop

    Gespräch
	Die Psyche ist für die Medizin
  schwierig zu fassen. Mit Bluttests
                                                                                                                                                                                    Mehr!
  und Hirnscans könnte die
  ­Psychiatrie allerdings neue Wege                                                                           14 Ein Modell, um die Welt zu                                                                                      24 Künstliche Intelligenz räumt auf.
   ­beschreiten, ist Annette Brühl                                                                                ernähren.                                                                                                      	Technische Lösungen helfen, den
    ­überzeugt.                                                                                                   Wie soll man den Boden am besten                                                                                Überblick über die Flut an Fotos und
                                                                                                                   nutzen, um den Hunger einer                                                                                     Videos zu behalten. Doch sie haben
                                                                                                                   ­wachsenden Weltbevölkerung zu                                                                                  auch Nachteile.
                                                                                                                    stillen?
                                                                                                                                                                                                                                 26 Besser sparen.
                                                                                                              17 Gemeinsam stark.                                                                                                                Wer Geld anlegt, will sein Vermögen
                                                                                                                   ich mit Gleichgesinnten zusam­
                                                                                                                  S                                                                                                                              vergrössern – etwa im Hinblick aufs
                                                                                                                  menzutun, liegt in der Natur des                                                                                               Alter. Was es dabei zu beachten gilt.
                                                                                                                  ­Menschen. Heterogenität ist für das
                                                                                                                   Zusammenwachsen einer Gemein­                                                                                 28 Das Tausendsassa-Protein.
                                                                                                                   schaft kein Hindernis. Im Gegenteil.                                                                          	Vor 30 Jahren machte Michael N.
              UNI NOVA
                Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°138 / November 2021
                                                                                                                                                                                                                                    Hall mit seinem Team eine grosse
                                                                                                              20 Schluss mit dem ewigen                                                                                             Entdeckung. Erfolg und Anerken­
                                                                                                                  Wachstum?!                                                                                                        nung liessen aber auf sich warten.
                                            Mehr!                                                                 Unser Wirtschaftssystem muss nach­
                                                                                                                  haltiger werden. Je drei Argumente                                                                             32 Gewichtige Fragen.
                                                                                                                  für und gegen eine Postwachstums­                                                                                              Katharina Timper berät und behan­
                                                                                                                  ökonomie.                                                                                                                      delt stark übergewichtige Menschen
              Gespräch                       Standpunkte                       Album             Essay
                                                                                                                                                                                                                                                 in der Adipositas-Sprechstunde.
                                                                                                              23 «Selbst Mathematiker                                                                                                            Dabei muss sie manche Irrtümer
           Die Vermessung               Müssen wir Gesetzen                 Rückkehr          Wofür steht
             der Psyche. 8               immer gehorchen? 36                der Natur.   38   der Islam? 56

                   Titelbild                                                                                      verschätzen sich.»                                                                                                             richtigstellen.
        Gemeinschaften, Datenberge,                                                                               Über die mathematischen Grund­
            Zellen – ein Blick auf
                                                                                                                   lagen des exponentiellen Wachs­
        die Facetten des Wachstums.
                                                                                                                   tums – und warum man es sich nur
                                                                                                                   schwer vorstellen kann.

4                                                                                                                                         UNI NOVA                                     138 / 2021
UNI NOVA Mehr! - Universität Basel
Inhalt

                                                                                        Impressum
                                                                                        UNI NOVA,
                                                                                        Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel.
                                                                                        Herausgegeben von der Universität Basel,
                                                                                        ­Kommunikation & Marketing (Leitung: Matthias
                                                                                         Geering).
                                                                                        UNI NOVA erscheint zweimal im Jahr, die
                                                                                        nächste Ausgabe im Mai 2022. Das Heft kann
                                                                                        kostenlos abonniert werden; Bestellungen
                                                                                        per E-Mail an uni-nova@unibas.ch. Exemplare
                                                                                        liegen an mehreren Orten innerhalb der
                                                                                        ­Universität Basel und an weiteren Institutionen
                                                                                         in der Region Basel auf.
                                                                                        KONZEPT: Matthias Geering, Reto Caluori,
                                                                                        Urs Hafner
                                                                                        REDAKTION: Angelika Jacobs, Noëmi Kern, Reto
                                                                                        Caluori; Mitarbeit: Niklas Bienbeck, Cornelia
                                                                                        Niggli
                                                                                        ADRESSE: Universität Basel, Kommunikation &
                                                                                        Marketing, Postfach, 4001 Basel
                                                                                        Tel.  +41 61 207 30 17
                                                                                        E-Mail: uni-nova@unibas.ch
                                                                                        GESTALTUNGSKONZEPT: New Identity Ltd., Basel
                                                                                        GESTALTUNG: STUDIO NEO, Basel
                                                                                        ÜBERSETZUNGEN: Sheila Regan und Team,
                                                                                        UNIWORKS (uni-works.org)
                                                                                        BILDER: Cover: Tim Drivas Photography/Getty
                                                                                         Images; S.   4: Oliver Hochstrasser; Marina
                 Wo einst Ackerland war, kehrt nun die Natur zurück, Seite 40            Bräm; S.   5: Christian Flierl; S.   6/7: Historisches
                                                                                        Museum Basel (HMB), Peter Portner; HMB,
                                                                                        ­Maurice Babey; HMB, Natascha Jansen; S.   49:
                                                                                         Halfpoint/iStock; S.   50: Keystone SDA / Robert
                                                                                         Walser-Stiftung Bern; S.   52: Hans Bertolf,
                                                                                         ­Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1013 1-272 1; S.   60/61:
                                                                                          Jonas Landolt, ­i natura.ch; Niklas ­Bienbeck;
                                                                                          ­Valentin Jeck; S.   62: Rahel Schneider; S.   63:
                                                                                           AlumniBasel; S.   6 4: VIAC; Daniel Peter; S.   65:
                                                                                           Fabienne Gribi; S.   6 7: Eugene/Unsplash; KOBU
                                                                                           Agency/Unsplash; T   ­ homas Jensen/Unsplash;
34 Mein Arbeitsplatz                            52 Forschung                               Nationaal Archief/ ­Wikimedia Commons,
                                                                                           CC BY-SA 3.0 nl.
	Umweltforschende wollen den Was­              	Eingewandert, weiblich, arm.          ILLUSTRATION: Studio Nippoldt, Berlin
                                                                                        KORREKTORAT: Birgit Althaler, Basel (deutsche
  serkreislauf der Erde besser verste­          	Eine Basler Historikerin erforscht,   Ausgabe), Lesley Paganetti, Basel (englische
                                                                                        Ausgabe)
  hen. Dazu untersuchen sie, wie sich             wie sich die bezahlte Hausarbeit im   DRUCK: Birkhäuser+GBC AG, Reinach BL
  Schwebeteilchen in der Luft verhalten.          20. Jahrhundert entwickelte.          INSERATE: Universität Basel, Marketing &
                                                                                        Event, E-Mail: alessandra.rigillo@unibas.ch
                                                                                        AUFLAGE DIESER AUSGABE:
                                                                                        13 000 Exemplare deutsch
36 Standpunkte                                  55 Bücher                               2200 Exemplare englisch
	Müssen wir Gesetzen immer                     	Neuerscheinungen von Forschenden      Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit
                                                                                        Genehmigung der Herausgeberin.
  gehorchen?                                      der Universität Basel.                ISSN 1661-3147 (gedruckte Ausgabe deutsch)
                                                                                        ISSN 1661-3155 (Online-Ausgabe deutsch)
	Die Einschätzung einer Juristin und                                                   ISSN 1664-5669 (gedruckte Ausgabe englisch)
                                                                                        ISSN 1664-5677 (Online-Ausgabe englisch)
  eines Philosophen.                            56 Essay                                ONLINE:
                                                                                        unibas.ch/uninova
                                                   ofür steht der Islam?
                                                  W                                     facebook.com/unibasel
                                                                                        instagram.com/unibasel
38 Album                                        	Diese Frage taucht aufgrund wieder­   twitter.com/unibasel
	Rückkehr der Natur.                             holter Gewalttaten immer wieder
	Ein Renaturierungsprojekt in der                auf. Der Versuch einer Antwort.
  Petite Camargue soll das ehemalige
  Ackerland zu einem sich selbst                58 Porträt
  erhaltenden Wald- und Wiesengebiet              Der Gradlinige.
  entwickeln.                                   	Für eine Professur ist Scott McNeil
                                                   nach Basel gezogen – mitten in
48 Forschung                                       der Pandemie. Für den US-Amerika­
	Trainieren fürs Herz.                            ner nicht der erste Neuanfang.
	Sport und Bewegung können den
  Blutdruck senken. Eine Basler                 60 Nachrichten
  ­Untersuchung zeigt, welche Übun­
   gen besonders effektiv sind.                 62 Alumni
                                                                                                        UNI NOVA
50 Forschung                                    66 Mein Buch                                     gibt es auch in Englisch.
                                                                                                     Und im Internet:
	Robert, was steht denn da?                    	Dystopien haben es der Literatur­               issuu.com/unibasel
	Basler Forschende machen das                    wissenschaftlerin Anna Karško                    unibas.ch/uninova
  Gesamtwerk des Schweizer Autors                 ­besonders angetan.
  Robert Walser in einer textkriti­
  schen Ausgabe zugänglich.

                                                              UNI NOVA     138 / 2021                                                         5
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Kaleidoskop

            Antike Trinkspiele

    Jedem Getränk
      das richtige
        Gefäss.
Sehr gute Weine muss man sich leisten
können. Wer dies auch tut, unterstreicht sei­
nen Status. Und wer andere zum G     ­ enuss
des edlen Weins einlädt, kann ein Netzwerk
aufbauen und pflegen.
     Um die Geselligkeit des Weinkonsums
noch zu unterstreichen, nutzten vor allem
Männer im vormodernen Basel Rituale des
Zutrinkens sowie Trinkspiele in Zunftstuben
und Wirtshäusern. In diesem Rahmen
konnte man sich Aufträge beschaffen und
Männlichkeit demonstrieren.
     Im 16. und 17. Jahrhundert trank man
dabei nicht nur aus gewöhnlichen Bechern
oder Gläsern. Die verwendeten Gefässe
waren ziemlich ausgeklügelt und prunkvoll
und hatten alle möglichen Formen. Das
­unterstreicht ihren repräsentativen Charak­
 ter. Repräsentation war neben dem Gefühl
 der Zusammengehörigkeit eine wichtige
 Funktion von Trinkspielen.
     Dergleichen erfährt man im Blog «Mate­
 rialized History». Er wurde anlässlich des
 65. Geburtstags von Professorin Susanna
 Burghartz lanciert, als digitale Festschrift.
 Diese Form wie auch der Inhalt der knapp
 70 Beiträge verschiedener Historikerinnen
 und Historiker mit Bezug zum Departement
 ­Geschichte der Universität Basel stehen
  in Zusammenhang mit den Forschungs­
  interessen der Basler Professorin.

bit.ly/uni-nova-histories

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                        1 Schreitender Rebmann als
                        Trinkgefäss, wohl aus Zürich,
                        um 1620.
                        2 Trinkspiel sogenannter
                        Werthemannscher Hirsch,
       4                Augsburg 1610 –1615.
                        3 Trinkspiel des heiligen
                        Georgs im Kampf mit dem
                        Drachen, Basel um 1600.
                        4 Trinkspiel respektive Trink-
                        gefäss der Basler Schuhmacher-
                        zunft aus dem Jahr 1661.

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Gespräch

                                Die Vermessung
                                  der Psyche.
                     Die Seele ist für die Medizin schwieriger zu fassen als ein
                          auffälliger Hautfleck oder ein gebrochenes Bein.
                     Mit Bluttests und Hirnscans könnte die Psychiatrie neue
                          Wege beschreiten, ist Annette Brühl überzeugt.

                                              Interview: Urs Hafner   Foto: Oliver Hochstrasser

UNI NOVA:  Frau Brühl, Sie sind Professorin   lösen kann und keine Balance mehr fin­              tive Bilanz aufweist für ihr Leben mit
für affektive Störungen, also für «Gefühls­   det, ist sie womöglich in eine Depression           Zwang, dann stimmt das so für sie – aber
störungen». Sind heftige Gefühle nicht        geraten.                                            was ist mit dem Umfeld? Ich hatte eine
immer störend?                                UNI NOVA: Das Sich-Lösen gelingt auch in            Klientin, die von ihrem Mann verlangte,
ANNETTE BRÜHL: Nein, Gefühle sind aus         weniger traurigem Kontext nicht immer,              dass er sich jedes Mal von Kopf bis Fuss
meiner Sicht sozusagen das Gewürz des         nehmen wir etwa die Anfang Sommer                   desinfizierte und die Kleidung wechselte,
Lebens. Sie sind wichtig, weil sie uns sa­    erfolgte Aufhebung der Corona-Masken­               bevor er die Wohnung betrat.
gen, was wir mögen und was nicht. Sie         pflicht im Freien. Trotzdem liefen weiter­          UNI NOVA: Der Hobbypsychologe sagt: Sie
helfen uns dabei, uns besser kennenzuler­     hin viele Menschen mit einer Maske                  wollte ihren Mann loswerden …
nen. Aber ein Gericht kann zu viel Chili      ­herum. Stehen sie am Anfang einer Ge­              BRÜHL: Nein, sie hatte einfach panische
oder Salz enthalten, und dann wird es          fühlsstörung?                                      Corona-Angst. Sie hat sich jeden Tag stun­
ungeniessbar.                                 BRÜHL: Eher nicht. Erstens war das Tragen           denlang die Hände gewaschen. Der Hund
UNI NOVA: Wann wird ein Gefühl unge­          einer Gesichtsmaske etwa in Japan und               musste sein Geschäft auf dem Balkon ver­
niessbar?                                     Südkorea im Fall einer Infektionskrank­             richten, auch das Kind durfte das Haus
BRÜHL: Nehmen wir ein Beispiel: Jemand        heit schon vor der Pandemie gang und                nicht mehr verlassen. Die Umgebung litt
verliert einen Angehörigen. Wenn die          gäbe, zweitens ist das Tragen so lange              zusehends unter ihrem Zwang.
trauernde Person eine Woche lang nicht        unproblematisch, wie die Person damit               UNI NOVA: Was haben Sie gemacht?
mehr aus dem Bett kommt, ist das akzep­       niemanden stört und selbst nicht darun­             BRÜHL: Die Symptomatik war zum Glück
tabel, wenn sie einen Monat liegen bleibt     ter leidet. Schwieriger wird es, wenn die           noch frisch und nicht chronifiziert. Ich
vor lauter Verzweiflung, wird es auffällig    Person einen Wasch- und Hygienezwang                habe der Patientin klare Informationen
und schränkt das Leben ein. Die Zeit ist      entwickelt, von dem sie gerne befreit               zur Pandemie, eine realistische Einschät­
aber nur ein Faktor. Hinzu kommen die         wäre.                                               zung des Gefahrenpotenzials sowie struk­
Intensität der Trauer und die durch sie       UNI NOVA: Und wenn jemand Genuss aus                turierende Instruktionen gegeben, also
hervorgerufene Beeinträchtigung des ei­       dem Leiden zieht?                                   dass sie die Konfrontation mit dem, was
genen Lebens und der Umwelt. Wenn die         BRÜHL: Sie meinen Masochismus? Nun,                 sie stresst, nicht vermeiden solle. Das ist
Person sich gar nicht mehr vom Ereignis       wenn die Person in der Summe eine posi­             der springende Punkt.

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Gespräch

 «Man darf nicht vergessen: Corona
hat viele Menschen verängstigt, aber
 auch vielen Entlastung gebracht.»
               Annette Brühl

             UNI NOVA   138 / 2021     9
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Gespräch

UNI NOVA:  Sie haben die Frau also geheilt?                                                  gehen. Die Hysterie ist verschwunden,
BRÜHL:  Sie ging wieder aus dem Haus mit                                                     noch in den 1980er-Jahren galt Homo­
Kind und Hund. Sie merkte, dass keine                             Annette Brühl              sexualität als Störung, heute leiden Kinder
Katastrophe passiert, wenn sie sich ihren                 ist seit 2020 Professorin für      an Dysphorie, an der Geschlechts­iden­ti­
Ängsten stellt.                                    Affektive Störungen an der Univer­        tätsstörung. Schafft sich jede Gesellschaft
UNI NOVA: Die Patientin hat sich vorbildlich
                                                           sität Basel. Zugleich ist sie     ihre eigenen Krankheiten?
                                                  ­Chefärztin des Zentrums für Affek­
und vernünftig verhalten. Was machen                                                         BRÜHL: Die Psychiatrie ist mehr als andere
                                                   tive, Stress- und Schlafstörungen
Sie, wenn der Kranke nicht auf Sie hört?                 und des Zentrums für Alters­        medizinische Fächer in gesellschaftliche
BRÜHL: Die Heilung erfolgte hier nicht nur          psychiatrie an den Universitären         und moralische Fragen verstrickt. Für die
mit Vernunft: Ich verschrieb der Frau zu­             Psychiatrischen Kliniken Basel.        Hautärztin bleibt der Fleck auf der Haut
nächst ein Psychopharmakon, weil sie               1977 in ­Koblenz geboren, studierte       ein Fleck, was es aber mit der Angst auf
                                                          Brühl in Mainz Medizin und
aufgrund des Stresses nicht mehr schla­                                                      sich hat, unter der jemand leidet, ist
                                                      ­promovierte in Pharmakologie.
fen konnte. Der Stimmungsaufheller be­                  Nach ihrer Habi­li­tation an der     schwieriger zu fassen. Gerade darum ist
günstigte die erfolgreiche psychothera­            ­Psychiatrischen Universitätsklinik       die Biologie für uns so wichtig. Mit ihr
peutische Behandlung. Aber auch für                       (PUK) Zürich forschte sie im       stossen wir in eine neue Dimension vor.
schwere Fälle gilt das Prinzip: Der Patient          ­bri­tischen Cambridge zu Verhal­       Ich glaube, dass wir bald schon genau de­
                                                      tens- und Neurowissenschaften
muss herausfinden, welche Ängste und                                                         finierten Krankheitsgruppen die passen­
                                                            und war stell­vertretende
Verhaltensweisen ihm im Weg stehen,                     ­Chef­ärztin an der PUK Zürich.      den Medikamente zuordnen können, so
und die Motivation finden, ein Leben zu                                                      wie die Onkologie bei Brustkrebs auf­
führen, das mit seinen Zielen und Werten                                                     grund genetischer Diagnosen passende
im Einklang steht. Hätte ich die Frau zu       im Lockdown vermisst habe, mit Freun­         Therapien durchführt.
einem späteren Zeitpunkt behandelt,            den auszugehen, macht mich das traurig,       UNI NOVA: Was meinen Sie mit Biologie?
hätte sich vielleicht inzwischen der quasi     aber ich habe noch keine Depression. Die      BRÜHL: Die Analyse der Daten des Hirns
desinfizierte Mann von ihr getrennt, das       Trauer ist eine Reaktion, die der Situation   und des Blutes der Patientinnen und Pa­
isolierte Kind hätte Schulschwierigkeiten      angemessen ist. Wenn ich an anderen           tienten. Mit der Biologie machen wir
bekommen, und sie wäre verzweifelt.            Dingen Freude finde, mich mit Hobbies         ­unser Fach objektiver, weil wir die Sub­
Aber die Heilung wäre nicht grundsätz­         beschäftige und nach der Lockerung der         jektivität des Kranken um eine Dimen­
lich anders verlaufen.                         Massnahmen und dem Nachlassen der              sion erweitern. Aber wir stehen erst am
UNI NOVA: Oft hört man, die Pandemie           Bedrohung wieder auflebe, dann war ich         Anfang. Da wir noch über keine präzisen
habe viele Menschen psychisch krank ge­        zwar belastet, bin aber nicht depressiv.       Laborwerte und Hirnbilder verfügen wie
macht. Wie haben Sie das erlebt?               Patienten mit Depressionen sind traurig,       die innere Medizin, sind wir noch immer
BRÜHL: Weder in Basel noch in Zürich, wo       freud- und antriebslos, obwohl ihre Um­        vor allem auf die Aussagen der untersuch­
ich vorher arbeitete, ist bis jetzt eine Zu­   gebung eigentlich positiv ist.                 ten Person angewiesen.
nahme von diagnostizierten Erkrankun­          UNI NOVA: Im Klassifikationssystem psy­       UNI NOVA: Die Psychiatrie dachte immer
gen zu verzeichnen. Wenn ich eine an           chischer Störungen, im DSM, kommen             wieder, sie finde die Ursachen psychi­
Corona verstorbene Person betrauere, bin       seit Jahren mit jeder Aktualisierung neue      scher Krankheiten im Körper. Um die
ich ja noch nicht krank, sondern erst          Krankheiten hinzu. Werden die Men­             Mitte des 20. Jahrhunderts war die Erbbio­
dann, wenn ich nicht mehr aus der Trauer       schen immer irrer oder schaut die Medi­        logie dominant, gemäss der sich Schwach­
herausfinde und diese mich lähmt. Das          zin einfach genauer hin?                       sinn von einer Generation zur nächsten
können wir aber erst mit zeitlicher Verzö­     BRÜHL: Letzteres! Wir stehen heute in der      fortpflanze, die These wurde aber aufgege­
gerung feststellen, wir werden also wahr­      Psychiatrie an dem Punkt, wo die innere        ben. Dreht sich die Psychiatrie im Kreis?
scheinlich bald mehr Patientinnen und          Medizin in den 1970er-Jahren stand. Wir       BRÜHL: Wir sind in der genetischen For­
Patienten haben. Und man darf nicht            werden immer präziser. Die Psychiatrie         schung viel weiter als damals! Wir wissen
vergessen: Corona hat viele Menschen           ist ja eine relativ junge Wissenschaft, nur    nun, dass es kein einzelnes Gen für De­
verängstigt, aber auch vielen Entlastung       etwas älter als hundert Jahre. Um 1900         pression oder Schizophrenie gibt. Die
gebracht, etwa von Konflikten am Arbeits­      verfügte sie nur über drei Diagnosen,          Vererbung psychischer Krankheiten fin­
platz. Den Belasteten stehen die Erleich­      nämlich Depression, Manie und Neurose.         det statt, aber sie verläuft viel komplexer.
terten gegenüber.                              Daneben ging sie vor allem deskriptiv          Es gibt in der Psychiatrie keine Krankhei­
UNI NOVA: Die Corona Stress Study hat in       vor, indem sie die Symptome und Ver­           ten, die auf einem einzigen vererbten
der Bevölkerung jedoch vermehrt depres­        läufe von Krankheiten beschrieb, ohne          Gen beruhen, sondern nur solche, bei
sive Symptome festgestellt. Wie erklären       die Ursachen zu kennen. Da sind wir            denen viele kleine genetische Faktoren
Sie sich die Diskrepanz zu Ihrer Erfah­        heute viel weiter.                             zusammenspielen. Dank genetischer Ana­
rung?                                          UNI NOVA: Das klingt optimistisch. Der         lysen wissen wir heute, dass bipolare Er­
BRÜHL: Depressive Symptome sind noch           Blick in die Geschichte zeigt aber, dass       krankungen, also wenn jemand manisch-
lange keine Erkrankungen. Wenn ich es          psychische Krankheiten kommen und              depressiv ist, genetisch der Schizophrenie

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Gespräch

   näher stehen als der unipolaren Depres­          als nicht normal gilt. Hat dies Ihren Blick   den Dienst moralisch fragwürdiger Ent­
   sion. Dieses Wissen hat zu erfolgreiche­         auf das Leben geprägt?                        scheidungen gestellt und unerwünschte
   ren Medikationen geführt. Wenn wir noch          BRÜHL: Da müssten Sie meine Freunde           Personen ausgegrenzt hat. Das ist heute
   mehr Daten haben, können wir die Medi­           fragen. Ich bin nicht der grüblerische        anders, ich erlebe die Psychiatrie als re­
   kamente noch genauer verschreiben.               Typ, der den Kontakt zur Realität verliert,   flektiert und ethisch bewusst. Dazu
   UNI NOVA: Sehen Sie bei der medikamen­           und ich bin damit gesegnet, nach Feier­       kommt, dass psychische Erkrankungen
   tenbasierten Psychiatrie auch Nachteile,         abend die Bürotür hinter mir schliessen       für die Öffentlichkeit mit Unbehagen und
   dass etwa die Patientinnen und Patienten         und die Themen im Büro lassen zu kön­         Stigma besetzt sind, weil sie die Person
   nur mehr gedämpft durchs Leben gehen             nen. Im Lauf der Jahre habe ich ein grös­     direkt betreffen und schwierig zu verste­
   und keine Gefühle mehr empfinden?                seres Verständnis für die Vielfalt an Le­     hen sind – im Gegenteil zu einem gebro­
   BRÜHL: Wenn einer nur mehr gedämpft              bensgestaltungen gewonnen. Ich staune         chenen Bein oder einem Tumor, der auf
   durchs Leben geht, dann ist die Behand­          immer wieder, wie Menschen es schaffen,       dem Röntgenbild zu sehen ist. Schliess­
   lung schlecht. Sie beinhaltet immer auch         trotz ihrer Erkrankung gut zu leben. Ich      lich ist das Wissen der Bevölkerung darü­
   psychotherapeutische Elemente. Je nach           schaue mir allerdings kaum mehr Filme         ber, was in der Psychiatrie passiert, viel
   Erkrankung stehen Medikamente oder               an, in denen die Psychiatrie eine Haupt­      geringer als beispielsweise bei der Chirur­
   Psychotherapie im Vordergrund, aber die          rolle spielt, etwa «Black Swan» oder «Einer   gie. Die Psychiatrie braucht mehr Sicht­
   Behandlung ist nie nur medikamentös.             flog über das Kuckucksnest». Erkrankun­       barkeit, und die Öffentlichkeit braucht
   Generell sollte sie dazu führen, dass die        gen werden meist so verzerrt dargestellt,     mehr realistische Information.
   Patientin sowohl positive als auch nega­         dass ich mich nur aufregen und meine
   tive Gefühle in einem für sie guten Mass         Begleitung nerven würde.
   empfindet, sie möglichst wenig leidet            UNI NOVA: Die Filme artikulieren ein Unbe­
   und gut am Leben teilhat.                        hagen gegenüber der Psychiatrie. Woher
   UNI NOVA: Sie haben jeden Tag mit Men­           könnte dieses kommen?
   schen zu tun, die sich auf der Grenze zwi­       BRÜHL: Es ist nicht zu bestreiten, dass die
   schen dem bewegen, was als normal und            Psychiatrie sich in der Vergangenheit in

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Dossier

                                                                 195×

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                             2019

     Mehr!
     Der Mensch kennt vor allem eine
       Richtung: vorwärts. Alles soll
     besser, grösser und mehr werden.
         Ein Blick auf die Facetten
              des Wachstums.

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                                                   Begriff «Hühnerzucht» um 160 %.
                                                   Gemessener Zeitpunkt in der
                                                   ersten Welle 2020 gegenüber dem
                                                   Vorjahr.

                                                   Mehr Eier
                                                   Anstieg der Inlandproduktion im
                                                   Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr
                                                   um 6,3 %.

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Dossier

                                                                                 Die Spuren der
                                                                                 Pandemie
                                                                                 Infektionszahlen, Spitaleintritte, Todesfälle
                                                                                 und Impfquoten standen und stehen
                                                                                 während der Pandemie im Fokus. In dieser
       75×                 Haarschere und                                        Serie aus Infografiken klammern wir diese
                           Effilierschere                                        Statistiken bewusst aus und werfen einen
                                                                                 Blick auf anderes, das durch die Pandemie
                                                                                 oder während derselben gewachsen ist.
                                                                                 Recherche: Angelika Jacobs, Noëmi Kern
                                                                                 Infografik: Marina Bräm

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Mehr Produkte und                                                                Mehr kontaktlos         Mehr Umsatz
Nahrungsmittel                                                                   Anteil der              Anstieg stationärer
Anstieg der durchschnittlich                                                     kontaktlosen an         Detailhandel zum
täglichen Verkäufe in der                                                        allen Zahlungen.        neuen Rekordwert.
ersten Welle von 2020 im                                                                                 (in Mrd. CHF)
Vergleich zum Vorjahr.

                                     30×                                         Hamsterkäufe
                                                 WC-Papier
                                                                                 und Hühnerzucht
                                                                                 Die Corona­Pandemie hat uns eiskalt
                                                                                 erwischt: Von einem Tag auf den anderen
                                                                                 war nichts mehr wie davor, und wir
                                                                                 mussten uns in unterschiedlichen Lebens­
                               25×                                               bereichen neu einrichten. Wir deckten
                                                                                 uns mit dem ein, was uns am nötigsten
                                                                                 schien, und überlegten, Selbstversor­
                                                                                 ger zu werden. Den Umgang mit Bargeld
                               Handseife                                         vermieden viele, wenn möglich.
                 7×

                Campingkocher
     6,5×
                                                                                                                            Youtube Culture & Trends; BLW; SNB
                                                                                                                            Quelle: Digitec Galaxus AG;

     Kaffee

                                                         UNI NOVA   138 / 2021                                                            13
Dossier

                         Ein Modell, um die
                         Welt zu ernähren.
                     Die Weltbevölkerung wächst und mit ihr auch der Hunger
                          nach Nahrungsmitteln. Um diesen auch in Zukunft
                     stillen zu können, modellieren Ruth Delzeit und ihr Team,
                          wie man den Boden dafür am besten nutzen soll.

                                                         Text: Catherine Weyer

I
   n Hemmiken fährt ein Bauer mit dem         Boden beackern – und welche Auswirkun­       sich. Es wird zum Beispiel weniger Tier­
   Traktor über sein Feld. Er macht sich      gen das auf die Natur hat.                   futter in Industrieländer importiert, da­
   Gedanken über seinen Weizen: Wird er           Dabei ist auch dieses Wachstum von       für aber vielleicht mehr Gemüse. So erge­
künftig genug Geld erhalten, damit sich       vielen Faktoren abhängig: Der Bauer in       ben sich neue Marktgleichgewichte und
seine Arbeit lohnt? Will in fünf Jahren       Hemmiken lebt und arbeitet wohl in ei­       man kann dann die Situation mit und
überhaupt noch jemand seinen Weizen           nem kleinen Dorf, bezahlt seine Steuern      ohne Steuer vergleichen.»
kaufen? Und was wird auf seinem Acker         in der Gemeinde und kann mit seinem              Um Aussagen über die Zukunft der
noch wachsen, wenn die Temperaturen           Stimmrecht in der Schweizer Demokratie       Nahrungsmittelproduktion tätigen zu
immer weiter steigen und die Sommer           mitreden – seine Zukunft ist aber auch       können, müssen die Forschenden viel be­
entweder unglaublich trocken sind oder        geprägt von globalen Playern. Gerade das     rücksichtigen: Wie viele Leute werden
die Felder von Starkregen überschwemmt        macht die Arbeit von Delzeit und ihrem       künftig auf der Erde leben? Wollen sie
werden?                                       Team so komplex. «Im Moment arbeiten         eher Fleisch oder eher Hülsenfrüchte es­
     Antworten auf diese Fragen sucht         sich drei Doktoranden in das Modell ein –    sen? Wie wird sich der globale Lebensmit­
Ruth Delzeit. Die Professorin für Global      darum beneide ich sie nicht», sagt sie und   telhandel entwickeln? Wird es auf lokaler
and Regional Land Use Change model­           lacht herzlich.                              Ebene ein Umdenken in der Bewirtschaf­
liert zusammen mit ihrem Team am De­                                                       tung der Felder geben? Und welche Ent­
partement Umweltwissenschaften, wie           Kleine Änderung, grosse Auswirkung           scheidungen wird die Politik auf nationa­
wir in Zukunft die Natur nutzen werden.       Es handelt sich dabei um ein mikroöko­       ler und internationaler Ebene bis dann
Wobei es nicht so sehr darum geht, wie        nomisches Modell zur Berechnung des          getroffen haben?
wir das Land bebauen wollen, sondern          allgemeinen Gleichgewichtes. Dabei be­
darum, wie wir es bebauen müssen. «Mit­       rücksichtigen Delzeit und ihr Team alle      Forschung liefert Entscheidungshilfen
telfristig können wir es uns nicht leisten,   Industriezweige. Sie berechnen, was pas­     Fragt man Delzeit nach einer Prognose
den Umweltschutz auf die lange Bank zu        siert, wenn sich etwas an der momenta­       für die Agrarpolitik im Jahr 2050, winkt
schieben. Sonst haben wir bald keine          nen Lage verändert. «Mit dem Modell          sie ab. «Prognosen kann man für die
fruchtbaren Böden mehr für die Nah­           kann man unterschiedliche Szenarien          nächsten drei bis vier Monate tätigen,
rungsmittelproduktion», warnt Delzeit.        berechnen, indem man zum Beispiel eine       länger nicht.» Das ist aber auch nicht ihr
                                              Steuer auf den Fleischkonsum in Indus­       Ziel: «Wir schaffen Entscheidungshilfen»,
Abhängig von globalen Playern                 trieländern einführt», erklärt Delzeit.      stellt sie klar. Die konkreten Pflöcke müs­
Die Landwirtschaft bekommt das Wachs­         «Weil die Fleischprodukte somit für Kon­     sen andere einschlagen – mit ihren soge­
tum zu spüren, und zwar von allen Sei­        sumenten teurer werden, verteilen sie ihr    nannten Wenn-dann-Analysen schaffen
ten: das Wachstum der Bevölkerung, das        Einkommen auf andere Produkte. Diese         Delzeit und ihre Team Grundlagen zur
Wachstum des Wohlstandes, aber auch           werden wegen der höheren Nachfrage           Orientierung. Und das ist auch ihr Ziel:
das Wachstum der Kritik, wie wir unseren      auch etwas teurer, der Handel ändert         «Ich finde es richtig, dass man in der For­

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Dossier

schung wenig interpretiert. Und wenn,          Sollte die Schweiz also aufhören, gewisse    geworfen, die geniessbar wären. «Wir
dann muss es klar gekennzeichnet sein.»        Lebensmittel zu produzieren, wenn diese      haben einen enorm hohen Anspruch an
    Delzeit hat vor beinahe zwanzig Jah­       in anderen Ländern effizienter angebaut      die Lebensmittel und werfen deshalb
ren begonnen, sich mit den Themen              werden können? «Das ist nicht realis­        Dinge weg, die gesundheitlich völlig un­
Landnutzung und Nutzungskonflikte zu           tisch», sagt Delzeit. «Staaten wollen Aut­   bedenklich sind», kritisiert sie. Ein Luxus,
beschäftigen. Als studentische Hilfskraft      arkie, sie wollen sich nicht komplett ab­    den man sich eigentlich nicht leisten
forschte sie damals zu Biogas. «Da gab es      hängig machen von anderen Staaten. Was       kann – und unter dem vor allem die Na­
anfangs einen grossen Hype, über die ne­       sonst passieren kann, hat die Corona-        tur leidet. Auch hier gäbe es politische
gativen Effekte hat man sich keine Ge­         Pandemie eindrücklich gezeigt, wenn          Hebel, die man tätigen könnte, ist Delzeit
danken gemacht», erzählt sie. Dann kam         plötzlich dringend benötigte Güter am        überzeugt. «Wenn die Lebensmittel teurer
die Wirtschaftskrise 2008, gepaart mit         Zoll zurückgehalten werden.» Also auch       wären, würde man sie nicht in diesem
klimatischen Veränderungen und Börsen,         hier: Eine einfache Lösung gibt es nicht.    Ausmass verschwenden.» Weil die Land­
an denen auf Lebensmittelpreise gewettet                                                    wirtschaft aber subventioniert wird, spie­
wurde. Und plötzlich gab es in Südame­         Ertragreich oder robust?                     gelt das Preisschild im Laden nicht die
rika keinen Mais mehr zu kaufen, die           Genau damit setzt sich Delzeit seit zwei     effektiven Kosten wider – und die Hem­
arme Bevölkerung musste hungern, In­           Jahrzehnten auseinander: Wo setzt man        mungen der Konsumentinnen und Kon­
dustrieländer verarbeiteten den Mais lie­      an, um die Ernährungssicherheit über         sumenten sinken, das Lebensmittel weg­
ber zu Kraftstoff. «Es war sicher eine Ver­    Jahrzehnte hinaus zu garantieren? Baut       zuwerfen.
kettung mehrerer negativer Umstände            man effiziente Pflanzensorten in riesigen        Delzeit ist im Februar dem Ruf an die
damals. Das hat aber gezeigt, welche           Monokulturen an oder soll man eher auf       Universität Basel gefolgt, nachdem sie in
emotionale und auch moralische Auf­            alte Sorten zurückgreifen, die robuster      Kiel das Research Center «Umwelt und
ladung das Thema Biokraftstoffe hat», so       sind, aber weniger ertragreich? «Indien      natürliche Ressourcen» am Institut für
Delzeit.                                       baut beispielsweise wieder alte Reissorten   Weltwirtschaft leitete. Hier will sie ihren
                                               an, die besser mit Überschwemmungen          Forschungsschwerpunkt ausbauen: mit
Intensiver anbauen, wo es Sinn macht           zurechtkommen», erzählt Delzeit. «Das ist    Projekten zur nachhaltigen Wassernut­
Um Situationen wie diese zu verhindern,        eine sinnvolle Anpassung an den Klima­       zung, regionalen Fallstudien und einem
rechnen Delzeit und ihr Team Szenarien         wandel.» Aber auch hier gelte: Es gibt       Blick auf die Subventionierungspolitik.
durch. Sollen mehr Flächen landwirt­           nicht einen richtigen Weg, um die ganze      «Heute werden sowohl Biokraftstoffe als
schaftlich bebaut oder die bestehenden         Weltbevölkerung zu ernähren und gleich­      auch fossile Energieträger vom Staat un­
Flächen intensiver bewirtschaftet wer­         zeitig die Biodiversität zu schützen.        terstützt. Es wird spannend sein, zu mo­
den? Welchen Einfluss hat das auf die              Die Professorin betont aber auch,        dellieren, wie sich politische Entschei­
Lebensmittelpreise? Und was passiert mit       dass die Nahrungsmittelproduktion nicht      dungen auf die weitere Nutzung der
der Biodiversität?                             der einzige Hebel ist, um eine Verände­      Kraftstoffe auswirken werden», sagt sie.
    Eine von Delzeits Erkenntnissen: In­       rung zu bewirken: «Wir müssen über die       Auch hier wird es sicher keine einfache
tensivere Landwirtschaft ist für die Bio­      Kalorien­effizienz nachdenken: Welcher       Lösung geben. Aber damit rechnet Ruth
diversität schonender, als wenn mehr           Aufwand ist nötig, um 1000 Kilokalorien      Delzeit gar nicht erst.
Flächen bebaut werden. Aber auch hier          aufzunehmen – mit Fleisch oder mit ei­
muss man differenzieren: «In Industrie­        weisshaltigen Pflanzen?» Die Tendenz in
ländern ist eine intensivere Landwirt­         Schwellenländern, mehr Fleisch und
schaft nicht mehr möglich», stellt sie klar.   Milchprodukte zu konsumieren, werde
«Wir haben ja bereits heute Probleme mit       die weltweite Agrarpolitik vor neue Her­
Nitrat im Grundwasser.» In anderen Ge­         ausforderungen stellen. Auch dies ist ein
bieten, zum Beispiel in der Subsahara,         Rädchen in Delzeits grossem Modell.
sehe die Situation aber ganz anders aus:
«Hier könnte man mit gezielten Düngun­         Überhöhte Ansprüche
gen eine enorme Produktionssteigerung          «Gleichzeitig haben wir ein riesiges Po­                     Ruth Delzeit
schaffen, ohne dass mehr Fläche verbraucht     tenzial bei der Lebensmittelverschwen­                  ist seit Februar 2021
                                                                                                      Professorin für Global
wird.» Gleichzeitig blieben andere Gebiete     dung», sagt die Umweltwissenschaftle­
                                                                                                        and Regional Land
landwirtschaftlich ungenutzt, zugunsten        rin. Allein in der Schweiz werden jährlich               Use Change an der
der lokalen Biodiversität.                     2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel weg­                    ­Universität Basel.

                                                          UNI NOVA   138 / 2021                                                      15
Dossier

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Durchschnittliche tägliche Verkäufe                                                2020
im März und April 2020 im Vergleich
zur gleichen Periode 2019.
                                                    Webcams                     10×
                                                                                   2019

                                                 4×
                             Bürostühle

                                                 2019

                                      4×
                Headsets

                                        2019

                                  2,8×
             Bildschirme
                                  2019

                                          2×
                        Drucker           2019

                                                                                                                                        Quelle: Digitec Galaxus AG; SBB; Industrielle Werke Basel

Wir bleiben
zu Hause                                                           Mehr zu Hause
Das Leben fand in den eigenen vier
                                                                                 – 40,6 %       Nachfrage Personenverkehr
Wänden statt. Das Daheim war
neu auch Büro und Schulzimmer.                                                   –12,2 %        Generalabonnemente
Flexibilität war gefragt: Das Bügel­
brett taugt auch als Stehpult.
Und Online­Shopping war immer­                                     Mehr privater Energieverbrauch
hin noch möglich. Wir kochten auch
mehr. Das schlug sich im Strom­                                                   + 2,3 %       Privat­ und Kleinstgewerbe*
verbrauch der Privathaushalte nieder,
zum Beispiel in der Region Basel.                                                 – 6,7 %       Gewerbe und Industrie

                                                                                * In den vergangenen Jahren: Rückgang von 1,5 bis 2 %
                                                                                  aufgrund von Effizienzmassnahmen.

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Dossier

                           Gemeinsam stark.
                      Sich mit Gleichgesinnten zusammenzutun, liegt in der
                        Natur des Menschen. Was dabei entstehen kann,
                  zeigt das Beispiel Gundeldinger Feld in Basel. Für ein solches
                      Zusammenwachsen sind heterogene Gesellschaften
                             keine Bedrohung, sondern eine Chance.

                                                           Text: Noëmi Kern

T
       ooor! Die Leute jubeln, es entsteht ein kollek­   die Leute aktiv sind. Nur so kann etwas entstehen»,
       tiver Freudentaumel im Fussballstadion. Die       sagt Potluka.
       Liebe zum Fussball und «ihrem» Verein macht           Gemeinschaftliches Handeln kann einiges bewir­
die Menschen im Stadion zu Verbündeten, zu einer         ken. Das zeigt das Beispiel Gundeldinger Feld – ein
Gemeinschaft. Und das, obwohl – oder gerade weil –       privates Stadtentwicklungsprojekt im Basler «Gundeli»­        Oto Potluka
sie sich kaum kennen. Nach dem Spiel werden sie          Quartier. Oto Potluka hat in einer Fallstudie dazu        forscht am Center
wieder auseinandergehen – und sich vielleicht nie        untersucht, wie soziale Innovation in der Stadtent­         for Philantropy
wieder sehen.                                            wicklung erfolgreich sein kann.                          Studies. Er befasst
                                                                                                                  sich mit Wirkungs­
    Oto Potluka kennt solche Gemeinschaftsphäno­
                                                                                                                      analysen und
mene. Der Staatswissenschaftler forscht am Center        Ein gemeinsames Ziel eint                                interessiert sich da­
for Philanthropy Studies (CEPS) der Universität Basel    Ausgangspunkt des Projekts war der Wegzug eines           bei insbesondere
dazu, wie Gemeinschaften entstehen, was sie stärkt       Maschinenbauunternehmens vor 20 Jahren. «Die Un­             für regionale
und was sie schwächt. Gerade beim Sport zeige sich       sicherheit, wie es mit dem Areal weitergeht und wie      Entwicklungen und
                                                                                                                      die Rolle der
die Dynamik der Gemeinschaftsbildung gut: «Er ist        dies das Zusammenleben im Quartier beeinflusst,
                                                                                                                    Zivilgesellschaft.
der kleinste gemeinsame Nenner der Menschen im           bereitete den Anwohnern Sorge», erzählt Potluka. Um
Stadion. Aus dem Jubel kann mehr entstehen, muss         eine Lösung zu finden, die zum Quartier passt, mach­
aber nicht», sagt er.                                    ten sich fünf Privatpersonen gemeinsam Gedanken
    Aber nicht nur Erfolgserlebnisse sorgen für Ge­      zur Zukunft des Areals. Es sollte ein Raum werden, in
meinschaft. Im Gegenteil, negative Erfahrungen sind      dem sich die Quartierbevölkerung begegnet.
sogar ein stärkerer Treiber: «Krisen wie die Corona­         Anstatt ihre Ideen einfach umzusetzen, befrag­
Pandemie fördern den Zusammenhalt», sagt er. «Dann       ten die Initianten weitere Leute zu ihren Wünschen
sind die Menschen bereit, anderen zu helfen.» Man        und Bedürfnissen. So kamen auch deren Befürchtun­
führe sich vor Augen, dass man selber in einer schwie­   gen und Ängste auf den Tisch. «Das ist nur möglich,
rigen Situation auch froh wäre um Unterstützung.         wenn man miteinander kommuniziert», sagt Oto
    Schliesslich ist der Mensch ein soziales Wesen.      Potluka. Er ist überzeugt: Kommunikation und ge­
Wir wollen uns mit Gleichgesinnten zusammen­             genseitiges Vertrauen sind entscheidend, damit
schliessen, ein gemeinsames Ziel verfolgen. Deshalb      funktionierende Gemeinschaften entstehen.
entstehen Gemeinschaften – formell organisierte wie          Auf dem Gundeldinger Feld konnten sich ver­
Vereine oder lose Gruppierungen wie eine Jassrunde.      schiedene Interessengruppen einbringen. Das sorgte
Was zählt, ist der Einsatz: «Das Wichtigste ist, dass    allerdings auch für Konflikte: Je mehr Leute, desto

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Dossier

          unterschiedlicher die Ziele. Es war aber auch eine        Das ist nicht immer einfach: Die Bevölkerung wächst
          Chance: «Die Ressourcen wachsen mit der Anzahl der        und durch die Migration treffen Menschen mit unter­
          Involvierten. Und ein gemeinsames Ziel eint», so Pot­     schiedlichen Hintergründen aufeinander. «Dann ist
          luka. Durch die Möglichkeit, mitzugestalten, sei die      die Kommunikation untereinander besonders wich­
          Akzeptanz in der Bevölkerung besser, als wenn ir­         tig, um sich zu finden und gemeinsam zu Lösungen
          gendein Investor auf dem Areal seine Ideen im Al­         zu kommen», sagt der Wissenschaftler. Er ist über­
          leingang verwirklicht hätte, vermutet er.                 zeugt: «Gelingt dies, ist die Heterogenität eine Chance
              Ohne Geld ging es dennoch nicht. Die Initianten       für die Gemeinschaft.»
          aktivierten ihre eigenen Netzwerke, um Firmen als
          Mieterinnen und Investoren zu finden. Heute gibt es       Gemeinschaften bestehen weltweit
          auf dem Gundeldinger Feld unter anderem Kinder­           Sofern sich denn Menschen, die in der Fremde leben,
          krippe neben Gastronomie, Brauerei neben Kletter­         überhaupt einbringen. Den Vorwurf, dass Expats in
          halle, Tonstudio neben Büroräumlichkeiten. Das ist        ihrer eigenen Blase leben, hört man immer wieder.
          gelebte Heterogenität par excellence, die längst nicht    «Wer Kontakte knüpfen und sich engagieren will, tut
          nur Quartierbewohner anzieht.                             das, egal, wo auf der Welt er lebt», sagt Potluka aus
              Das Fazit aus Oto Potlukas Fallstudie: «Die Er­       eigener Erfahrung. Er selber ist seit drei Jahren akti­
          folgsfaktoren sind für mich Dialog, Machtteilung,         ves Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr in Binnin­
          Netzwerk und die Finanzierung.» Das erfolgreiche          gen. «Meiner Meinung nach ist eine Gemeinschaft
          Gundeldinger Feld lädt zur Nachahmung ein. Aber:          aber nicht zwangsläufig ortsgebunden, sie kann auch
          «Man kann ein Modell nicht einfach an einem ande­         im virtuellen Raum bestehen.» Die Digitalisierung
          ren Ort implementieren. Jeder Ort hat seine eigenen       habe es einfacher gemacht, sich rund um den Globus
          Gegebenheiten, denen man Rechnung tragen muss.»           mit Gleichgesinnten auszutauschen. Die Pandemie
                                                                    hat das nochmals unterstrichen. Dadurch entstehen
          Heterogenität als Chance                                  neue Formen von Gemeinschaften.
          Das Gundeldinger Feld ist ein Beispiel für eine «Bot­          Jene, die nur übers Internet existieren, unter­
          tom up»­Lösung: Das Projekt wurde von A bis Z auf         scheiden sich dabei von solchen, in denen sich die
          privater Ebene «von unten» durchgeführt, der Staat        Leute untereinander persönlich kennen. «Wenn man
          musste nicht «top down» eingreifen. Für Oto Potluka       an einem Ort lebt und die Menschen regelmässig
          ist «bottom up» eine gute Vorgehensweise in einer         trifft, wirkt die sogenannte innere Kohäsion stärker»,
          wachsenden, heterogenen Gesellschaft. Solche Initia­      weiss Potluka. Je ausgeprägter sie ist, desto höher die
          tiven entstehen vor Ort und berücksichtigen die Be­       Hürde, die Gemeinschaft zu verlassen. «Die Leute im
          dürfnisse der ansässigen Bevölkerung. In der Wissen­      ‹Gundeli› konnten nicht von heute auf morgen weg­
          schaft spricht man auch von Place Based Management.       ziehen, als sich die Verhältnisse auf dem Gundeldin­
               Das föderalistische System der Schweiz begüns­       ger Feld änderten. Aber weil sie sich einbringen
          tige das und die direkte Demokratie unterstütze den       konnten, wurde das Projekt zu ihrem eigenen. Das
          Dialog. «Nehmen wir die Berner Gemeinde Moutier:          stärkt ihre Verbindung zu diesem Ort.»
          Die Menschen durften an der Urne darüber entschei­             Funktionierende Gemeinschaften kommen allen
          den, dass sie künftig dem Kanton Jura angehören           zugute. Die Forschung zeigt, dass eine Gesellschaft,
          wollen», sagt Oto Potluka. Ohnehin stellt der Tsche­      in der sich die Menschen zusammenschliessen, sta­
          che fest: «In der Schweiz nimmt man sich Zeit, um         biler ist. Indem sie ihre Interessen mit anderen tei­
          einen Konsens zu finden.»                                 len, fühlen sie sich zugehörig. Man spricht dabei von
                                                                    sozialem Kapital: «Wo es viele Gemeinschaften gibt,
                                                                    sind die sozialen Netzwerke dichter. Man kennt sich
                                                                    besser, diskutiert Themen und findet dadurch schnel­
«Wer Kontakte knüpfen                                               ler Lösungen», erläutert Potluka. Das ist gut für den
  und sich engagieren                                               sozialen Frieden.
                                                                         Kann das Gefühl der Zugehörigkeit nicht auch
will, tut das, egal, wo auf                                         dazu führen, dass sich Gemeinschaften gegenseitig
     der Welt er lebt.»                                             bekriegen? Der Wissenschaftler verneint und schlägt
                                                                    nochmals die Brücke zum Fussball. «Fans unter­
          Oto Potluka                                               schiedlicher Clubs eines Landes sind zwar in der
                                                                    Meisterschaft Rivalen, aber sie können nicht ohne
                                                                    einander. Und auf internationaler Ebene feuern alle
                                                                    dasselbe Team an. Was dann zählt, ist die gemein­
                                                                    same Freude am Fussball.»

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Dossier

                                                                                                                                                                      Mehr Online-Verkäufe
                                                               + 23,3 %                                                                                               Anteil der online verkauften
                                                                                                                                                                      Produktsegmente am Gesamtverkauf
                                                                                                                                                                      (stationär und online).

                                                               Mehr Pakete
                                                               Zuwachs der Paket­                                   Heimelektronik
                                                               versände im Jahr 2020
                                                               gegenüber Vorjahr.

                                                                                                          19)
                                                                                                      (2 0
                                                                                                 36 %

                                                                                                                          0)
                                                                                                                                                                                                   + 27,2 %

                                                                                                                        02
                                                                                                                      (2
                                                                                                                                                   Fashion/Shoes
                                                                                                                   %
                                                                                                                48

                                                                                                                                                                                                    13,1
                                                                                                                                                                                            10,3
                                                                                                                                                                                            Mrd.
                                                                                                                                              %
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                                                                                                                20%
                                                                                                                                                                                             2019 2020
                                                                                                                                                                                           Mehr Umsatz
                                                                                                                                                                                           Ausgaben im
                                                                                                                                                                   Toys                    Online­Handel in
                                                                                                                                                                                           Mrd. Schweizer
                                                                                                            15 %                                                                           Franken.
                                                                                                                                               27 %

                                                                                                                16 %

                                                                                            9%
                                                                                   7%

                                                                                                                                        26 %                       Sport
                                                                                                 15
                                                                                                      %
                                                                                     12 %
Quelle: GfK Switzerland AG | Onlinehandelsmarkt Schweiz 2020

                                                                                                                                                        Home
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                                                                                                                                                                      Mausklick
                                                                                   211
Die Schweizerische Post AG; Forbes

                                                                                                                                                                      Was macht man, wenn viele Geschäfte
                                                                                                                                                                      im Lockdown geschlossen bleiben? Man
                                                                           114                                                                                        bestellt die Ware online. Entsprechend
                                                                           Mrd.                                       Do-It-Yourself/                                 viele Pakete wurden versendet, Pöstler
                                                                                                                         Garden                                       und Pöstlerinnen mussten mehr
                                                                           Jan. Juli                                                                                  arbeiten. Die Kauflust im Internet freute
                                                                                                                                                                      die Betreiber von Webshops. Das Ver­
                                                                          Mehr Vermögen                                                                               mögen von Amazon­Gründer Jeff Bezos
                                                                          Entwicklung von Amazon­Gründer                                                              legte kräftig zu.
                                                                          Jeff Bezos’ Vermögen im Jahr 2020.
                                                                          (Mrd. USD)

                                                                                                                               UNI NOVA        138 / 2021                                                     19
Dossier

                          Schluss mit dem
                         ewigen Wachstum?!
                      Umweltökonom Frank Krysiak und Umweltethiker
                Andreas Brenner sind sich einig: Unser Wirtschaftssystem muss
                nachhaltiger werden. Soll man dafür das Wachstumsparadigma
                     über Bord werfen? Je drei Argumente für und gegen
                               eine Postwachstumsökonomie.

                                                         Text: Samuel Schlaefli

1. Ohne Verzicht keine Nachhaltigkeit         lich ist. Trotzdem fungiert grenzenloses     Persönlichkeiten durch Konsum aufzula­
«Die Rede von grünem Wachstum und             Wachstum bis heute als eine Art kollek­      den. Der amerikanische Philosoph Michael
Kreislaufwirtschaft ist bislang vor allem     tive Lebenslüge der Industriewirtschaft.     Sandel zeigt in seinem Werk, dass mittler­
Politmarketing. Sie versucht die Wähler­      In Wahrheit kann es aber nur in eine         weile fast sämtliche Bereiche der Gesell­
schaft zu überzeugen, sich schuldfrei an      Richtung gehen: Wir müssen runter mit        schaft ökonomisiert wurden, darunter
den Ressourcen bedienen zu dürfen. Doch       dem Konsum! Und mit ‹wir› ist die wohl­      das Schul- und das Gesundheitssystem.
selbst Recycling braucht Ressourcen in        habende Bevölkerung reicher Industrie­       Selbst die Beschädigung der Natur wird
Form von Energie. Nicholas Georgescu-         nationen gemeint. Das oft genannte Argu­     heute im Rahmen eines CO2-Emissions­
Roegen, einer der Begründer der Umwelt­       ment, dass der Konsum der Reichen dazu       handels kommerzialisiert.»
ökonomie, hat sich schon in den 1970er-       beitragen soll, dass die Armen aufholen
Jahren mit den biophysikalischen Grenzen      können, überzeugt mich nicht. Warum          3. Gemeinwohl anstelle von
unseres Wirtschaftsmodells befasst. Er ist    sollte es rund einer Milliarde Menschen,     Utilitarismus
einer der Vordenker des Begriffs ‹Degrowth›   die in bitterer Armut leben, besser gehen,   «Die dem Kapitalismus zugrunde liegende
und realisierte, dass unendliches Wachs­      wenn wir mehr konsumieren? Umgekehrt         Philosophie des Utilitarismus zielt einsei­
tum in einem endlichen System unmög­          zwingen die reichen Staaten die armen        tig auf die materielle Vermehrung. Das
                                              dazu, ihre Wirtschaft zu reinen Ressour­     Wachstumsparadigma hat in den Hinter­
                                              cenlieferanten aufzubauen. Die armen         grund gedrängt, worauf es im Leben wirk­
                                              Länder verbleiben in der Abhängigkeit        lich ankommt, nämlich Sinn statt Quanti­
                                              und müssen zugleich die Zerstörung ihrer     tät. So war ja bereits Aristoteles überzeugt,
                                              Natur hinnehmen.»                            dass Freundschaft das Leben ausmacht
                                                                                           und Menschen politische Wesen sind, die
                                              2. Wachstum ohne Gewinn                      sich in Gemeinschaften engagieren wol­
                                              «In den industrialisierten Staaten trägt     len. Viele Menschen streben nach positi­
                                              Wirtschaftswachstum längst nicht mehr        ven Beziehungen zu anderen und zur Na­
              Andreas Brenner
                                              zu einer höheren Lebensqualität bei. Im      tur. Ein auf ökonomischen Gewinn
       ist Titularprofessor für Philo­
         sophie an der Universität
                                              Gegenteil, indem das Tempo ständig hoch­     ausgerichtetes Wirtschaftssystem macht
        Basel und Professor an der            geschraubt wird – und da spielt die Digi­    einem die Realisierung eines solchen Le­
       FHNW in Basel. Er forscht zu           talisierung eine wichtige Rolle –, fehlt     bens nicht gerade leicht. Aber es gibt eine
         umwelt- und wirtschafts­             zunehmend die Musse, nachzudenken            Alternative: eine Weltwirtschaft, die das
              ethischen Fragen.
                                              und das Leben zu geniessen. Das Marke­       Gemeinwohl höher wertet als die materi­
                                              ting schafft einen inhärenten Antrieb,       elle Bereicherung auf Kosten anderer
                                              immer mehr besitzen zu wollen und unsere     Menschen oder der Natur.»

20                                                       UNI NOVA    138 / 2021
Dossier

                           1. Qualitatives Wachstum ist die              Mobilitätsbereich: Im Kanton Basel-Stadt
                           Lösung                                        zum Beispiel besitzen rund 50 Prozent der
                           «Postwachstum ist vor allem eine ‹First       Haushalte kein Auto mehr und leben gut
                           world›-Idee. Wenn Sie nach Sambia oder        damit. Wichtig wäre vor allem, dass man
                           Äthiopien gehen, werden Sie wenig Men­        den Menschen Möglichkeiten eröffnet,
                           schen finden, die ein solches befürwor­       um mit solchen alternativen Lebenskon­
      Frank Krysiak
  ist Professor für Um­    ten. Rein objektiv betrachtet gibt es noch    zepten zu experimentieren. Unsere For­
weltökonomie an der Uni­   viele Regionen in der Welt, wo die Wirt­      schung zeigt: Ohne Druck und politische
   versität Basel. Seine   schaft quantitativ wachsen muss. Wo           Propaganda, einfach nur durch Möglich­
Forschungsschwerpunkte     Hunger herrscht, braucht es mehr Lebens­      keiten, fast kostenfrei mit Alternativen zu
   sind Wirkungen von
                           mittel. Wir müssen aber unbedingt zwi­        experimentieren, ist erstaunlich viel zu
 ­Umweltpolitik und die
  ökonomische Theorie      schen quantitativem und qualitativem          holen. Zusätzlich braucht es aber auch
    der Nachhaltigkeit.    Wachstum unterscheiden. Letzteres ist         politische Massnahmen und Anreize.»
                           allein durch die Innovationsfreudigkeit
                           des Menschen limitiert, mit denselben         3. Eigennutz bleibt ein wichtiger
                           natürlichen Ressourcen mehr menschli­         Treiber für grünes Wachstum
                           ches Wohlergehen zu schaffen. Etwa bio­       «Die Idee einer Gemeinwohlökonomie ist
                           logisch produziertes Fleisch, für das ich     nicht neu und wurde bereits in ehemali­
                           mehr bezahle als für Fleisch aus Massen­      gen Ostblockländern propagiert. Das hat
                           tierhaltung. Wenn ich meinen Fleisch­         nicht funktioniert. Eigennutz ist für viele
                           konsum halbiere, aber Fleisch kaufe, das      eine äusserst starke Motivation. Die An­
                           dreimal so teuer ist, entsteht am Ende        triebskraft, für sich selbst etwas zu schaf­
                           weiterhin Wachstum; das BIP steigt. Oder      fen, sollte man nicht unterschätzen. Es ist
                           bei Handys: Man kann jedes Jahr ein billi­    deshalb erfolgversprechender, wenn wir
                           ges kaufen oder alle fünf Jahre ein teures,   diesen Eigennutz in gesellschaftlich nütz­
                           stabiles, das auch noch reparaturfähig ist.   liche Bahnen lenken, anstatt zu versu­
                           Letzteres wäre für die meisten ein Mehr­      chen, davon grundlegend wegzukom­
                           wert und würde die Umwelt deutlich we­        men. Auch für grünes Wachstum stecken
                           niger belasten. Hinzu kommt: Wir kön­         dort enorme Kräfte.»
                           nen heute mit erneuerbaren Energien
                           unsere Klimaziele erreichen, selbst wenn
                           der Energieverbrauch steigt. Diese Ent­
                           kopplung von Ressourceneinsatz und
                           wirtschaftlichem Wachstum müssen wir
                           anerkennen.»

                           2. Experimentierfreude anstatt Zwang
                           zum Verzicht
                           «Suffizienz kann ein produktiver Begriff
                           sein, wenn er sinnvoll verwendet wird und
                           Freiwilligkeit beinhaltet. Nicht aber, wenn
                           damit eine erzwungene Askese gemeint
                           ist und der Versuch, den Menschen deut­
                           lich zu machen, dass sie ihren Anspruch
                           an Lebensqualität reduzieren müssen. Ich
                           verstehe darunter vielmehr die Einsicht,
                           dass man auf unterschiedliche Weise
                           glücklich werden kann. Wir sehen das im

                                      UNI NOVA   138 / 2021                                                       21
Dossier

                                                                                        2020

                                                                                        5×
                                                                                        2019

                                                        4,6×                    «Home Workout»

                                                                                                    Mehr Suchanfragen
                                                         2019                                       Anstieg der durchschnittlichen
                                                                                                    täglichen Views von Youtube­
                                                                                                    Videos mit den genannten
                                                                                                    Begriffen (erste Welle versus
     +37,2 %                                            «Sauerteigbrot»                             Januar bis Mitte März 2020).

                                       2×

                                       2019

Mehr Wandfarbe                               «Bubble-Tea-Rezept»
Anstieg der täglichen
Verkäufe in der ers­
ten Welle im Vergleich
zum Vorjahr.
                                      2×

                                      2019

                                                 «How to» und
                                                 «handstand»

                                                 1,2×

                                                             «Pommes frites
                                                             Rezept»

Neue Freizeit
Fitnesscenter: Zu! Restaurant: Zu!
                                                                                                                               Digitec Galaxus AG; Velosuisse; foodaktuell

Museum: Zu! Wir haben versucht,
uns zu Hause fit zu halten und uns                                 +38,1 %                     6×
Pommes frites und Bubble Tea mit­
                                                                                                                               Quelle: Youtube Culture & Trends;

hilfe von Youtube selber zu machen.
Endlich fanden wir Zeit zum Backen.
Und die Wände konnten einen neuen
Anstrich vertragen. Wenn schon
zu Hause, dann wenigsten in einem
schönen!
                                                                Mehr Bewegung            Mehr Hefewürfel
                                                                Zuwachs an Velo­ und     Verkaufsanstieg in der
                                                                E­Bike­Verkäufen.        3. Märzwoche 2020.
                                                                (2020 gegenüber 2019)

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