Kulturland 0ldenburg - Oldenburgische Landschaft
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kulturland 0ldenburg oldenburgische landschaft 1.2021 | Nr. 187 Quarantäne, Abstandsregeln und Impfen in Friesland im 18. und frühen 19. Jahrhundert Vom Wandern zur Kohlfahrt Norddeutsche Tradition
Inhalt 18 22 48 28 36 August Karl Friedrich Mauerreste Franz Robert Czieslik Kirchbauverein in Eine Gräfin stiftet Schultze mit Vergangenheit Baumturen Schwei versetzt einen Kelch Vorreiter der und Zukunft Hauptwerk Ludwig Osternburger Industrialisierung Restaurierung der Münstermanns Abendmahlskelch im Herzogtum Klosterruine in Hude in authentischen war Geschenk Oldenburg abgeschlossen Zustand der Schwester Graf Anton Günthers 2 Über Quarantäne, Abstandsregeln und 26 Insektenprojekt der JVA Oldenburg Impfen 27 Oldenburger Pekol-Busse 8 Zur Entstehung des Oldenburger 28 Franz Robert Cziesliks Skulpturenpark Münsterlands 31 Verein ChaKa in Wilhelmshaven 10 Schaufenster zu Museums-Selbstreflexion 32 Storchenbrutkolonie in Berne 11 Zum 85. Geburtstag von 36 Instandsetzung von Münstermanns Hauptwerk Horst-Günter Lucke 40 Ausstellung zum Maler August Kathe 12 Geschichte der Kohlfahrt im 41 Auszeichnung für „theater wrede +“ Oldenburger Land 42 Familie Troschel in Tsingtau 15 Kohl- und Pinkelfahrt als 45 Dissertation über Franz Graf von Galen Familienunternehmung 46 Bildband zum Dümmer 16 100 Jahr „Ollnborger Kring“ 48 Entdeckung zum Osternburger Abendmahlskelch 18 Porträt August Karl Friedrich Schultze 52 Kurzberichte: Exkursion/Unpolitische Orte/UZW 21 In memoriam 53 Lydia Barr in den Ruhestand verabschiedet Anna Elisabeth Felicitas Westphal 54 Neuerscheinungen Alice Peters-Ohsam 55 Henk Wolf ist Beauftragter für das 22 Restaurierung der Klosterruine in Hude Saterfriesische 25 Alexander Niemietz stellt sich vor 55 Felix Fischer gewinnt Übersetzungswettbewerb 25 Neiet Foto van Adolf Diekmann updükert 56 Dr. Sven-Hinrich Siemers neuer Leiter im Küstenmuseum Wilhelmshaven 58 kurz notiert Titelbild: In der Storchenpflegestation Weser marsch dient die Krone eines Apfelbaumes jedes Jahr als komfortable Wohnung. Auf Seite 32 in diesem Heft finden Sie einen ausführ lichen Beitrag zu diesem Thema._Foto: Udo Hilfers kulturland 1.21
Editorial Impressum Foto: privat kulturland oldenburg Zeitschrift der Oldenburgischen Landschaft Liebe Leserin, lieber Leser, ISSN 1862-9652 Herausgegeben von der Oldenburgischen Landschaft für mich ist es klar. Covid 19 hängt damit zusammen, wie wir leben. Umwelt- Gartenstraße 7, 26122 Oldenburg zerstörung und deren Auswirkungen auf unsere Gesundheit werden immer Tel. 0441.77918-0 noch weitestgehend verdrängt. Ein Virus springt vom Tier auf uns Menschen Fax 0441.77918-29 über, es folgt eine Pandemie. Mit Folgen für unser Leben: Bedrohung un- info@oldenburgische-landschaft.de www.oldenburgische-landschaft.de serer Gesundheit, soziale Isolation, wirtschaftliche Einschränkungen. Die Exekutive reagiert auf diese Bedrohung mit unterschiedlichen Maß- Redaktionsschluss nahmen und federt diese mit Hilfsprogrammen ab, die die wirtschaftlichen für Heft 188, 2. Quartal 2021, ist der 6. April 2021. Auswirkungen der Einschränkungen mildern sollen. Kritik am Handeln der Erscheint vierteljährlich. Exekutive ist aus meiner Sicht in Teilen berechtigt, in Teilen komplett über- zogen; vor allem dort, wo sie verschwörungstheoretisch abgleitet. Für unverlangt eingesandte Manu- skripte wird keine Haftung übernom- Bei allem Verständnis dafür, dass diese Ausnahme-Situation für uns alle men. Namentlich gekennzeichnete neu ist und wir uns allen gegenseitig Fehler und Fehleinschätzungen zuge- Artikel geben nicht unbedingt die Auf- stehen und verzeihen sollten, möchte ich hier einen Aspekt einbringen, der fassung der Redaktion wieder. mich als künstlerisch soloselbstständig Tätigen mit vielen Kolleg*innen be- Die Redaktion behält sich das Recht auf Kürzungen der eingesandten Texte vor. wegt. Es geht um Wertschätzung. Wie beim Pflegepersonal sehe ich eine Differenz zwischen öffentlichen Verlautbarungen und realem Handeln. Redaktion: Vielleicht ist es einer gewissen Realitätsferne der Entscheider*innen ge- verantwortlich i. S. d. P. Michael Brandt (MB.) schuldet, dass viele der Hilfsprogramme zwar gut gemeint sind, aber zum Teil im nachvollziehbar schwierigen Spagat zwischen Betrugsvermeidung, Sarah-Christin Siebert (SCS.) ordentlicher Verwendung von Steuermitteln und dem Wunsch nach schnel- Stefan Meyer (SM.) Matthias Struck (MS.) ler und unbürokratischer Hilfe stecken bleiben. Vielleicht ist es fehlende Kenntnis über die Details des Berufsalltags der Gestaltung: als soloselbständig organisierten, künstlerisch arbeitenden Menschen, vor mensch und umwelt, 26122 Oldenburg allem aus dem sogenannten freien Bereich. Druck: Mir scheint, all dies Gutgemeinte ist geprägt von einer gesellschaftlichen Brune-Mettcker, 26382 Wilhelmshaven Haltung freien Künstler*innen gegenüber, die in „Die Zeit“, Nr. 18 vom Verlag: 23. April 2020: „Die Kulturszene liegt am Boden“ wie folgt beschrieben wird: Isensee-Verlag, 26122 Oldenburg „Die Arbeit der Künstler, vor allem jene der ,Freien‘, wird als interessan Erscheint vierteljährlich. ter Wildwuchs gewürdigt, als ein Überschuss aus besseren Zeiten für bessere © 2021 Oldenburgische Landschaft Zeiten. Der Künstler wird, jedenfalls von weiten Teilen der Bevölkerung, Alle Rechte vorbehalten. Jahresabonnement 15 Euro, inkl. Versand. als ein Hofnarr betrachtet, der letzten Endes an seiner Not selbst schuld ist: Der Bezug kann mit einer Frist von vier Hätte er sich doch enger an den Hof gebunden, in den fetten Jahren.“ Wochen zum Jahresende gekündigt Nach Corona darf es kein schlichtes Zurück zum Vorher geben. Arbeiten werden. wir gemeinsam an den notwendigen Veränderungen unserer Gesellschaft Einzelheft 3,80 €. in den Bereichen Umwelt, Zusammenleben und Kultur. Und freuen wir uns weiter an einer Oldenburgischen Landschaft, die alle Arten von Förderpro- grammen im Rahmen ihrer Gestaltungshoheit unbürokratisch und als Mög- lichmacherin weitergibt. Bleiben Sie gesund! Dieter Hinrichs Dieter Hinrichs ist Schauspieler und Regisseur. Er betreibt mit Frauke Allwardt das „theater hof/19“ in Oldenburg und arbeitet als Kulturberater für den Landesverband Soziokultur. kulturland 1.21 |1
„ÜBERSTANDENE SORGE, GEFAHR UND MÜHE “ Über Quarantäne, Abstandsregeln und Impfen in Jever und Varel im 18. und frühen 19. Jahrhundert Von Antje Sander chrecklich und schmerzhaft waren sie, schule Johann Michael Herbart (1706–1768) die Pocken; eine Seuche, die vor allen fasste seine Beobachtungen 1760 in einer Ab- Dingen Kinder traf und im 18. Jahrhun- handlung „Über die Ausrottung der Pocken“ zu- dert noch eine Mortalitätsrate von 20 sammen. Es fiel ihm auf, dass alle Kinder, die bis 30 Prozent aufwies. Die Blattern, die Pocken bereits einmal durchlitten hatten, wie die Pocken in Norddeutschland auch genannt wurden, waren eine weltweit bekannte Krankheit, die seit Die Strategien gegen Blattern dem Altertum auch in Europa gefürch- tet war. Die hochansteckende Plage zog von Haus zu Haus, grassierte in den Schulzim- waren Quarantäne und auch bereits mern und traf junge Familien schwer. Am 1. Juli 1795 annoncierte die Witwe Tiemes in den „Jever im 18. Jahrhundert das Impfen schen wöchentlichen Anzeigen und Nachrich- ten“, dass es „dem allgütigen Beherrscher un- serer Schicksale ... gefallen hat, meine beyden geliebten jüngsten Söhne durch die Blatternkrank- diese kein zweites Mal bekamen. Zudem stellte heit in jene Gefilde zu versetzen“. Innerhalb Herbart fest, dass, „wenn erst ein Haus Pocken von zehn Tagen verlor die Mutter erst Johann hat“, sie eine ganze Region betrafen und die An- August im Alter von fünf und dann Christian steckungen „durch das Atemholen in den Kran- Gottfried mit sieben Jahren. Durchforstet man kenzimmern, durch das Anfassen der Pocken- die Todesanzeigen oder die Kirchenregister in kranken“, ja sogar eine Übertragung durch dieser Zeit, so findet man, gleichsam in Wellen, Mittelspersonen möglich war. Ähnlich wie der immer Phasen, in denen nicht nur das Mar- Oldenburger Gelehrte folgerte und forderte auch schenfieber grassierte, sondern in denen vor der Rezensent in der Beilage des „Jeverischen allem die Blattern den Tod für Kinder und Ju- Intelligenz-Blattes“, Quarantäneregeln für Er- gendliche brachten. krankte strikt umzusetzen. Letzterer beschäf- Die Strategien gegen diese Seuche waren Qua tigte sich 1703 mit dem Werk „Versuch über die rantäne und auch bereits im 18. Jahrhundert Pflicht der Menschen jeden Blatternkranken aus das Impfen. Der Rektor der Oldenburger Knaben- der Gemeinschaft auszusondern, und dadurch 2 | kulturland 1.21
Todesanzeige eines nach einer Impfung verstorbenen Kleinkindes in den „Jeverschen Wöchentlichen Anzeigen“ 1793 (rechts). Edward Jenner bei der ersten Impfung gegen Pocken, die er bei dem achtjährigen James Phipps am 14. Mai 1796 durchführt. Gemälde von Ernest Board (unten)._Bild: gemeinfrei werden. Die Zimmer sollten gut gelüftet, Bett, Laken und die Kleidung des Kranken nicht nur gewaschen, sondern auch geräuchert werden. Jeder, der spürt, dass er krank wird, sollte sich absondern und nur die Hilfe eines Arztes suchen und von allen „schädlichen Hausmitteln und überhaupt aller Quacksalberei schlechterdings gänzlich sich enthalten“. Beklemmend aktuell zugleich in den Städten und Ländern in Europa sind auch die Regeln, wenn ein Patient an der die Ausrottung der Blatternpest zu bewirken“ Seuche verstirbt. Alle trostbringenden Sitten von B. C. Faust. Es wurde angeregt, Blatternhäu- und Gebräuche, wie der Besuch der Nachbarn, ser einzurichten beziehungsweise alles zu tun, Freunde und Familie im Trauerhaus, das gemein- um nur möglichst wenige Menschen miteinander same Waschen und Ankleiden des Verstorbenen, in Kontakt zu bringen. Distanz und Abgrenzun die Bekanntgabe des Todesfalls durch Leichen- gen waren zentrale Möglichkeiten, die Krankheit bitter waren untersagt. Der Sarg wurde schnell einzudämmen. geschlossen, abgedichtet und durfte auch nicht In die gleiche Richtung zielten auch die obrig in der Kirche aufgebahrt werden. Besonderer keitlichen Verordnungen in dieser Zeit. Im Namen Strafe unterlag die Beerdigungsfeier. Hier war es Zarin Katharinas II., die seit 1793 die Herrschaft bei „Poena (Strafe) von 100 fl. Oder wenn eines Jever inne hatte und durch ihre Schwägerin Frie diese Geldstrafe zu erlegen unvermögend seyn derike Auguste Sophie verwalten ließ, wurde in sollte, bey einer verhältnismäßigen Leibesstrafe der Beilage zum „Jeverischen Intelligenz-Blatt die vorhergehenden Puncte nicht nur auf das No. 13“ (28. März 1796) eine umfangreiche Ver- genaueste beobachten, …, nemlich das Gefolge ordnung publiziert. Als Erstes wird hier die Maß- und die Anzahl der Träger auf alle nur erdenk- nahme formuliert, dass alle „Verwandten, Nach- liche Art und Weise einzuschränken auch soll das baren, und sonstigen guten Freunden der an Einkehren der Leichen-Begleiter und Träger einer bösartigen Krankheit danieder liegenden und überhaupt dabei alles Schmausen schlechter- Patienten alle unnöthigen, unnütze und oft sehr dings wegfallen und niemand hierwider das ge- lästige Besuche auf das ernstliche verboten“ ringste vorzunehmen sich gelüsten lassen“. kulturland 1.21 |3
Die Strategie der Verordnung von Quarantäne und Abstandsregeln konnten seit dem frühen 18. Jahrhundert um die Möglichkeit der Impfung Die Pockenimpfung ist ein ergänzt werden. In England machte die Diplo- matengattin Lady Mary Wortley Montagu nach einem Aufenthalt in Konstantinopel 1716 bis Erfolgsmodell, das sich jedoch nur 1718 die dort beobachtete Inokulation bekannt. Dies ist das Einbringen beziehungsweise Einrit- langsam durchsetzte zen von Sekreten und Schorf Pockenkranker mit mildem Verlauf in die Haut Gesunder zur Immunisierung; eine Praktik, die in China und im Orient bereits in den Jahrhunderten zuvor die natürlichen Blattern von Tage zu Tage um sich greifen, manches Kind, welches vermutlich durch obiges Mittel, nächst Gott, hätte gerettet werden können, dahin reichen und viele die ganze Lebenszeit, elend und unglücklich machen; so wäre zu erwegen, ob nicht wir, als Vorsteher des Waisenstiftes schuldig sind, für die Erhaltung und Gesundheit der unserer Pflege anvertrauten Waisen auch in diesem Punkte zu sorgen und denen Kindern, die der so grausamen Krankheit annoch ausgesetzt sind, deren etwa 4–5 in un- serem Stifte seyn werden, die Blattern impfen zu lassen. Ich meinen theils bin von dieser Schul- digkeit überzeuget, mithin des ohnmaßgeblichen dafürhaltens, daß der Herr Dr. Toel, als gnä- digste bestallter Physikus zu aquirieren sey, uns darüber ein Gutachten und ob er allenfalls die Impfung verrichten wolle; seine Erklärung zu ertheilen, da dann das weitere nach obigem Gut achten zu verhalten seyn würde.“ Bereits vier Tage später findet Dr. Toel lobende Worte für das Engagement der Vareler Vorsteher nachgewiesen ist. Durch die Fürsprache der und beruhigt mögliche Zweifler mit den Worten: Lady wurde diese Art der Impfung, die Variola- „ … und obgleich in einem der größten europäi tion, nachdem man sie bei Gefangenen und schen Staaten die Sache noch zweifelhaft scheint, Waisenkindern getestet hatte, vor allen Dingen ob sie erlaubt werden möchte oder nicht, den- bei den Kindern der Oberschicht durchgeführt. noch durch eine 30jährige Erfahrung und unzäh Auf diese Art der Impfung beziehen sich auch liger Beispiele des glücklichsten Erfolges es die Überlegungen, die in der Mitte des 18. Jahr- außer allen Streit zu seyn scheint, daß man hunderts die Vorsteher des Waisenhauses in Varel durch diese leichte Opention, umtrieben. Zu den Ritualen der 1671 gegründe- die Zufuhr einer sonst ten karitativen Einrichtung gehörte auch eine grausamen Krank- ärztliche Untersuchung der zur Aufnahme vor- heit mit ihren gesehenen Kinder. Die Angehörigen und Fürspre- oft elenden cher wurden gründlich danach befragt, ob die Folgen, Kinder bereits „geblattert“ hätten. Wenn dies glücklich der Fall war, bedeutete es eine geringe Gefähr- abwenden dung beim Pockenausbruch in der Region. Auf- könne. bauend auf dieser Erkenntnis erstellten die Vor Es zeugen steher Hardenburg und Kuhlmann am 20. Mai auch schon 1760 ein Memorandum, das sie zur Fürsprache augen- auch dem Amtsphysikus Dr. Toel übersandten. scheinlich Sie fassten ihre Gedanken folgendermaßen zu- Exempel in sammen: „Da man die vielen Proben von dem den hiesigen guten Erfolg der Inoculation der Kinderblattern, Gegenden von nunmehr auch in unseren Gegenden hat, und dieser Wahrheit …“. 4 | kulturland 1.21
Links und rechts: Todes anzeigen in den Jeverschen wöchentlichen Anzeigen 1795 Linke Seite: Französische Medaille von 1804: Aeskulap, Venus mit Pockenverband am linken Arm, links eine Kuh, rechts Impf utensilien._Foto: Jörgen Welp Dr. Toel hatte auch bereits die Aus- stattung des Vareler Waisenhauses für die Versorgung der geimpften Kinder begutachtet: „da auch die gewöhnlichen Schlafzimmer der Kinder sehr reinlich und luftig sind, so könnten selbige am besten dazu dienen, wenn nur allenfalls so noch Bettzeug vorhanden wäre, das im benöthigten Fall ein jedes Kind allein gebettet werden könnte, auch ein Mensch bestellet wer- den würde, um die Kinder zu behandhaben und in allen Fall des nachts zu wachen …“. Diese erleichtert, „dass nach dem Zeugnisse des erfah- Vorsichtsmaßnahmen zeigen bereits, dass eine renen und sorgsamen Arztes aller sechs Kinder Impfung mit dem menschlichen Sekret nicht für vollkommen hergestellet erklären“. Vater immer ohne Komplikationen verlief und die Kin Andreae hofft, „dass nun wieder ein kinderrei- der die Krankheit auch mit deutlich milderen cher Vater durch dieses glückliche Beyspiel auf- Symptomen durchleiden konnten. Diese Nach- gemuntert werde, den natürlichen Blattern durch die Inoculation zuvor kommen und da- durch ein Retter seiner lieben Kinder werde … Dank sei indessen der Güte Gottes für alle über- Erstes Impfen wurde bei Gefangenen standene Sorgen, Gefahr und Mühe! Heil der medicinischen Kunst!“ und Waisenkindern getestet, die Als der Oldenburger Schriftsteller und Jurist Gerhard Anton von Halem (1752–1819) einen Bericht über seine „Ferien-Reise“ in die Friesi ersten Impfungen dann bei den Kindern sche Wehde in den „Blätter vermischten Inhalts“ veröffentlichte, erwähnte er auch die Offenheit der Oberschicht durchgeführt der Zeteler für die Impfung: „Doch hegen sie [die Zeteler Einwohner, A.S.] nicht das Vorurtheil, daß es ein Eingriff in die göttlichen Rechte sey, durch Inoculation der Blattern die den Kindern richten über kritische Verläufe nach einer Imp- drohende Gefahr zu mindern. Es wird fleißig in fung waren es auch, die eine gewisse Impfskep dieser Gegend [der Zeteler Marsch, A.S.] inocu- sis in der Bevölkerung aufkommen ließen. Am liert. Der Chirugus Heder inoculierte in den Jah- 29. Juni 1795 machen die Eheleute Frerichs in den ren 1795 und 1796 überhaupt 127, wovon 124 „Jeverschen Wöchentlichen Anzeigen und Nach- die Pocken gut überstanden und 3 starben.“ richten“ bekannt, „daß am 27ten d.M. unser Ganz im Sinne der Aufklärung hob von Halem einziger Sohn an den inoculierten Blattern, zu die Informiertheit der Bürger, die statistische welchen zuletzt noch Zahnfieber gekommen, Genauigkeit und die Abkehr vom Glauben an die in einem Alter von 6 Monathen gestorben sey“. göttliche Fügung hervor. Doch im selben Jahr annoncierte Familie Die Probleme bei der Impfung mit mensch- Andreae aus Horsten ebendort, dass sie „den lichem Pockensekret traten bei einer anderen bedenklichen Schritt“ wagten, „unserer ganzen Art des Impfserums nicht so stark auf. In den kleinen Familie die Blattern einsetzen zu las- 90er-Jahren des 18. Jahrhundert werden in der sen“. Nach sechs Wochen verkündet der Vater medizinischen Literatur auch Erfahrungen und kulturland 1.21 |5
Rechts: Impfschein für den fünf Monate alten Johann Hin rich Helmerichs aus Cleverns, Amt Jever vom 23. August 1865. Rechte Seite: Edward Jenner, Öl auf Holz 20,7 x 17,6 cm. _Bild: Wellcome Collections V0023503, CC-BY-4.0 Das 1874 erlassene Reichsimpfgesetz setzte die Verpflichtung zur an die „Geliebten Stadt- und Landbewohner“ und forderte: „Die so glücklichen als starken Fortschritte der in England zuerst versuchten Pockenimpfung durch, welche bis zur Inoculation der Kuhpocken, welche zwey wa- ckere Männer in Hannover im vorigen Jahre Ausrottung der Seuche Ende der (1798) auf deutschen Boden verpflanzten und die gegenwärtig schon an mehreren Orten in und außerhalb Deutschland eingeführet ist, ver- 1970er-Jahre bestand dient auch bei uns Aufnahme.“ Der Arzt klärte über den milderen Verlauf der Kuhpockenimp- fung auf, verwies auf die Publikation „Jenners Untersuchungen über die Ursachen und Wirkun Beobachtungen mit der Impfung von Kuhpocken gen der Kuhpocken“ und weitere medizinische publiziert, deren Verlauf wesentlich milder er- Abhandlungen. Er stellte zudem auch seine eige schien. Hierbei stützte man sich auf eigene Be nen Studien und Erfahrungen vor, die er bereits obachtungen, aber auch auf das Wissen von bei 58 geimpften Kindern gemacht hatte. Dr. Ey Melkerinnen. In Holstein probierte der Hauslehrer ting versprach „öffentlich“, dass er allen, ins- Peter Plett die Vakzination (nach vacca = Kuh) besondere den Armen und „Minderbegüterten“, 1790 mit Erfolg aus. Ganz ähnlich verliefen die die Impfung ermöglichen will. Niemand soll aus wesentlich bekannteren Versuche von Edward Mangel an finanziellen Mitteln von der Impfung Jenner 1796 in England, die dann schnelle Ver- zurückgehalten werden. Sein Appell endet mit breitung fanden. Durch die Personalunion mit den aufrüttelnden Worten: „Nun geliebte Mit- England wurde die Vakzination auch im König- bürger! Die Sie die schöne junge Schaar der he- reich Hannover bekannt. Bereits 1799 wandte ranwachsenden Jugend – unbesorgt der ihnen sich der jeversche Stadt- und Landpysikus, Leib- bevorstehenden Gefahr – fröhlich um sich her- und Militärarzt Dr. Gerhard Eyting in den „Jever- springen sehen … Sie bitte ich um der Ihrigen, schen wöchtlichen Anzeigen und Nachrichten“ um das Wohl der gesammten Menschheit willen, 6 | kulturland 1.21
überzeugen Sie sich doch ohne Vorurtheil von gut informierter Bürger und Bürgerinnen im der Wichtigkeit dieses vortrefflichen Mittels und nördlichen Oldenburger Land Verbreitung fand, säumen Sie nicht, es den Ihrigen noch ehender ist ein Erfolgsmodell – doch setzte sie sich angedeihen zu lassen, als sie von der wirklichen weltweit nur langsam durch. Auch in Deutsch- Blatternpest, die schon in unserer Nachbar- land kam es im 19. Jahrhundert immer wieder schaft zu fürchterlich wüthen soll, ergriffen und zu Pockenausbrüchen. Mit dem 1874 erlassenen ich zittere bei dem Gedanken – ein Opfer des Reichsimpfgesetz wurde die Verpflichtung zur Todes werden mögen.“ Pockenimpfung durchgesetzt. Diese bestand bis Inwieweit die Worte des Arztes Gehör gefun- Ende der 1970er-Jahre, als diese gefährliche den haben, ist unbekannt. Doch hat es um 1800 Seuche durch die weltweiten, gemeinsamen sicherlich noch keine Durchimpfung der gesam Impfkampagnen weitgehend ausgerottet war. ten Bevölkerung gegeben. Die Durchsetzung der Impfungen mit Kuhpocken geschah in Deutsch- land wie in ganz Europa schrittweise und setzte sich erst mit obrigkeitlichem Druck und ent- sprechender Förderung durch. Im Oldenburger Land war es vor allen Dingen der unter der fran- zösischen Herrschaft 1812 durchgesetzte Impf- zwang, der Erfolge brachte. Mit der Ausführung wurden die jeweiligen Amtsärzte, die Kreis physikusse, beauftragt. Zu ihrer Unterstützung setzte man auch die Pfarrer und Pastoren ein. Sie sollten gegen die Vorturteile kämpfen, die „aus Unkunde mit der wahren Beschaffenheit und den Vorteilen der Vaccination oder aus miß- verstandenen Religiosität und anderen Bedenk- lichkeiten entsprungen, noch unter den Land- leuten obwalten, zu zerstreuen“. Druck wurde vor allen Dingen dadurch aufgebaut, dass Kinder, die nicht geimpft waren oder die nicht die na- türlichen Blattern durchgemacht hatten, vom Schulunterricht ausgeschlossen und auch nicht in öffentlichen Wohlfahrtsanstalten oder als Lehr- ling aufgenommen werden durften. Die Pockenimpfung, die vergleichsweise früh durch das Engagement einzelner Ärzte und Literatur- und Quellenhinweise: Gerhard Anton von Halem, Meine Ferien- Oldenburg, S. 161–167 Reise 1796, in: Blätter vermischten Inhalts Bd. 6, H. 6, Landesarchiv Oldenburg Abt. Oldenburg Thomas Hartung, Zur Entwicklung der Oldenburg 1797, S. 423 NLO 28, 6, Nr. 10 Waisenhaus Varel, Pockenschutzimpfung unter besonderer Krankheiten der Waisen Bernhard Christoph Faust, Öffentliche Anstalten: die Berücksichtigung Thüringens im 18. und Blattern, durch die Einimpfung der Kuhpocken, aus- 19. Jahrhundert, Jena/Weimar 2001 Johann Michael Herbart, Ueber die Ein zurotten. Nebst der ältesten Urkunde von den Kuh impfung der Pocken, Oldenburg 1760 Axel C. Hüntelmann, Pockenimpfung pocken und einer beyliegenden Volksschrift: Zuruf an in Deutschland vor und nach Jenner, Jeversche wöchentliche Anzeigen und die Menschen, Bückeburg 1804 in: Trillium Immunologie H. 3/2019 Nachrichten Jg. 1793, 1794, 1795, 1796, Gerhard Anton Hermann Gramberg, … gegen die Ver- (www.trillium.de/zeitschriften/trillium- 1800 breitung der Pocken-Epidemie, Oldenburg 1814 immunologie/archiv/ausgaben-2019/ „Beylage bey dem Jeverischen Intel- heft-32019/aus-der-geschichte/ Hugo Ephraim, Skizzen aus der Mairie Oldenburg ligenz-Blatt“, No. 13, 30.3.1795, S. pockenimpfung-in-deutschland-vor- 1811/13, in: Jahrbuch für die Geschichte Oldenburgs, 110–116 und-nach-jenner.html) 1913, bes. S. 141ff Friedrich Christoph Hellwag, Ein Wort Martin Roth, Aufsätze zur Geschichte der Medizin im über die Blattern an die guten Einwoh- Herzogtum Oldenburg, Oldenburg 1921, darin: Etwas ner Eutins, Eutin 1797 über die Pocken und die Einführung der Impfung in kulturland 1.21 |7
„EINE RIESENKUNGELEI“ 1803 erhielt das Herzogtum Oldenburg die Ämter Vechta und Cloppenburg. Heute spricht man vom Oldenburger Münsterland. Ein treffender Begriff, sagt der Historik er und Archivar Gerd Steinwascher. Wolfgang Stelljes hat sich mit ihm über die Genese dieses Begriffs und die territorialen Veränderungen vor gut 200 Jahren unterhalten. Was geht Ihnen spontan durch den Kopf, wenn Sie Nun hatte Oldenburg ja keine links den Begriff „Oldenburger Münsterland“ hören? rheinischen Besitzungen. Als Historiker, der sich mit der Geschichte Nie- Nein, aber im Zuge dieser ganzen dersachsens beschäftigt, denke ich an eine his Verhandlungen wurde beschlossen, torische Landschaft, die erwachsen ist aus dem dass der Weserzoll in Elsfleth ab- Niederstift Münster, aber eben nicht identisch geschafft werden sollte, der für ist mit diesem Niederstift. Und als Archivar, der Oldenburg sehr einträglich war. Ol- das Oldenburger Münsterland lange betreut hat, denburg hat deshalb auf eine Kom- fällt mir auf: Aus einem Armenhaus der Bun- pensation gedrungen. Die hat es desrepublik ist eine relativ wohlhabende Region auch bekommen, unter anderem mit einer hohen wirtschaftlichen Wachstums die beiden Ämter Vechta und Clop- rate und einer sehr gesunden Bevölkerungsent- penburg. Das allerdings ist auch wicklung geworden. nur gelungen, weil Peter Friedrich Ludwig, der Landesherr in Olden- Im Jahr 1803 kamen die beiden Ämter Vechta und burg, Unterstützung durch Russ- Cloppenburg durch den Reichsdeputationshaupt- land hatte. Dank der Verwandtschaft schluss zum Herzogtum Oldenburg. So ein Reichs- zwischen dem Oldenburger Her- deputationshauptschluss ist eine erklärungsbe- zogshaus und dem russischen Kai- dürftige Sache ... serhaus konnte man genügend Ja, das war im Grunde eine Einigung der dama- Druck aufbauen, um eine Kompensation zu erhalten – also neben Wildes- ligen deutschen Staaten des Heiligen Römischen hausen diese beiden Ämter des aufgelösten Niederstifts Münster. Reiches, das ein paar Jahre später aufgelöst wurde, mit Frankreich. Frankreich unter Napo- Das hätte auch ganz anders ausgehen können? leon hatte die linksrheinischen Gebiete des Rei- Man muss sagen: In der gesamten napoleonischen Zeit hat man über- ches annektiert. Nun sollte eine Kompensation haupt keine Rücksicht genommen auf historische Traditionen. Es wurde geschaffen werden für die Staaten, die davon geschachert, es wurde zum Teil einfach gesagt: Ihr bekommt 20.000 betroffen waren. Das war natürlich eine Riesen- Untertanen mehr, wo wollt ihr die herhaben? Aus Paris erhielt Peter kungelei, anders kann man es nicht bezeichnen. Friedrich Ludwig wenige Jahre später sogar das Angebot, Erfurt als Dabei gingen neben den meisten Reichsstädten Landesherr zu übernehmen, um ihn für den Verlust Oldenburgs zu ent- vor allem die Staaten zugrunde, die ein geistliches schädigen, das Teil Frankreichs wurde. Das ist aus heutiger Sicht sehr Oberhaupt hatten, also in der Regel einen Bi- befremdlich, was da passierte. schof. Ganz besonders betroffen war der Westen Niedersachsens, denn da lagen große geistliche Wenn wir uns die Folgen für das Herzogtum Oldenburg ansehen: Mit den Territorien wie das Hochstift Osnabrück oder Ämtern Vechta und Cloppenburg hat sich die Fläche nahezu verdoppelt. eben auch das Niederstift Münster. Aus diesen Die Einwohnerzahl stieg von 91.000 auf 134.000. Vor allem aber war ein Territorien wurden die Staaten entschädigt, knappes Drittel der Bevölkerung nun katholisch. die meinten, sie hätten einen Anspruch, weil sie Diese beiden Ämter waren erst einmal ein Fremdkörper im Herzogtum Opfer der napoleonischen Politik waren. Oldenburg, genauso wie Wildeshausen, das ebenfalls dazukam, aber 8 | kulturland 1.21
Oben: Blick übers Goldensted ter Moor._Fotos: Anne Rinke, bikonfessionell war. Peter Friedrich Ludwig diese landwirtschaftlichen Produkte durch die Oldenburgische Landschaft konnte damit aber umgehen, weil für ihn Reli Eisenbahn leichter zu transportieren waren – das Links: Georg Friedrich Adolph gion keine ausschlaggebende Bedeutung hatte. konnte Peter Friedrich Ludwig natürlich nicht Schöner: Bildnis des Herzogs Außerdem waren in Deutschland die konfessio absehen. Von daher hat er durchaus mit Recht ein Peter Friedrich Ludwig, nellen Gegensätze um 1800, einer Zeit, in der bisschen gejammert, aber es war ein Jammern 1819._Foto: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte die Aufklärung nachwirkte, nicht so groß wie vor auf hohem Niveau. Oldenburg her oder nachher, also im späteren 19. Jahr hundert. Das heißt, in der Zeit, in der diese bei Wann taucht nach Ihrem Kenntnisstand der den Ämter zu Oldenburg kamen, herrschte Begriff „Oldenburger Münsterland“ das erste eine gewisse konfessionelle Toleranz. Freilich Mal auf? forderten die Katholiken im Oldenburger Der Begriff „Oldenburger Münsterland“ taucht Münsterland eine administrative Lösung für erstmals 1824 in Kohlis statistischer Beschrei- ihre Situation in einem ansonsten protestan- bung des Herzogtums Oldenburg auf. Bedeutung tischen Herzogtum. Nach langen Verhandlun gewinnt er aber erst Ende des 19. Jahrhunderts. gen hat man sich dann 1830 verständigt: In Entscheidend war die Presse, insbesondere die Vechta wurde ein Offizialat eingerichtet, das regionalen Zeitungen: Durch sie wurde der zwar dem Bischof in Münster unterstand, aber Begriff „Oldenburger Münsterland“ eingeführt weitgehende Autonomie genoss. Eine Lösung, und bis heute weitergetragen. Wichtig war hier die für Peter Friedrich Ludwig ideal war, denn für zudem der 1919 gegründete Heimatbund er wollte kein katholisches Bistum in Olden- Oldenburger Münsterland, das heißt: Alle, die burg, aber auch keinen Bischof aus Preußen, sich für Geschichte interessieren, stoßen auf den der ihm reinredete. Begriff „Oldenburger Münsterland“. Und auch für die touristischen Belange wird dieser Begriff Dann war die eigentliche Kröte für Peter Friedrich genutzt, es gibt hierfür den „Verbund Olden- Ludwig der Verlust des Weserzolls? burger Münsterland“. So setzt sich ein Begriff Den hat er noch fast zwanzig Jahre erheben dür fest und kann überleben. fen, erst dann wurde er aufgehoben, auch auf Druck Bremens, denn die Stadt war davon am Ist es ein treffender Begriff, ist er trennscharf? meisten betroffen. Ich finde diesen Begriff durchaus treffend. Ich bin Historiker und freue mich, wenn solche Die Ämter Cloppenburg und Vechta waren ja auf Landschaftsbezeichungen auch etwas Histori den ersten Blick nicht der allerbeste Tausch, viel sches wiedergeben. Münsterland rekuriert da- Heide, viel Moor ... rauf, dass dieses Gebiet früher zum Niederstift Ja. Dass aus diesen beiden Ämtern einige Jahr- Münster gehörte. An dieses Niederstift Münster zehnte später durch den Ausbau der Viehwirt- erinnert eigentlich nichts mehr. Das kennt nur schaft durchaus prosperierende Gebiete werden noch der Historiker. Und die letzten zwei Jahr- sollten, nicht zuletzt durch den Bedarf an hunderte ist dieses Gebiet durch Oldenburg ge- Fleisch im sich entwickelnden Ruhrgebiet, dass prägt. Also: Oldenburger Münsterland! kulturland 1.21 |9
Entwicklung erklären, die die beiden Landkreise genommen haben. Dafür gibt es eine ganze Rei- he von Gründen. So geht zum Beispiel eine eher konservative und bodenständige Grundhaltung einher mit einem sehr innovativen Bewusstsein. Daran hat auch die vor allem im Landkreis Clop- penburg hohe Zuwanderung bislang wenig ge- ändert. Dies hat sicherlich die Ansiedelung mit- telständischer Industriebetriebe und den Aufbau einer hochindustriell geprägten Lebensmittel- produktion erleichtert – allerdings mit all den Problemen, die wir damit haben. Ob dies zukunfts- fähig ist, wird man sehen. Unter dem Strich: Was vor gut 200 Jahren recht hemdsärmelig zusammengefügt worden ist – ist es gut zusammengewachsen? Kloster Vechta._Foto: Bild Die Menschen im Oldenburger Münsterland ha- archiv der Oldenburgischen Und der Begriff Südoldenburg? ben weiterhin einen Bezug zu Oldenburg. Die Landschaft/Bestand Stephan Meyer-Schürg Südoldenburg geht leichter über die Zunge, Verbindung zu Oldenburg hat Tradition, nicht drückt aber nicht aus, was diese beiden Land- zuletzt durch die Gerichtsbarkeit und durch kreise historisch auszeichnet. Institutionen wie die Handwerkskammer und die Industrie- und Handelskammer oder durch das Sie haben die positive Entwicklung des Oldenbur- Kulturangebot. Man kann also durchaus sagen, ger Münsterlandes erwähnt. Inwieweit spielt die es ist eine gelungene Fusion, an deren Dauer- Konfession dabei eine Rolle? haftigkeit die Akteure im Jahre 1803 wohl nicht Das Bevölkerungswachstum hat sicher etwas geglaubt haben dürften. Viele Menschen in mit der Konfession zu tun, katholische Gebiete den Landkreisen Vechta und Cloppenburg sind haben eine höhere Geburtenrate. Aber damit auf Oldenburg orientiert. Und ich denke, das allein lässt sich sicher nicht die wirtschaftliche wird auch erst einmal so bleiben. SCHAUFENSTER- AUSSTELLUNG Im Winter wurde am Damm 38, Oldenburg, ein Schaufenster vom Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg gestaltet. Es befasst sich mit der Frage, was ein Museum der Gesellschaft heutzutage zu bieten hat. Es ist Ausdruck eines internen Reflexionsprozesses zum Wandel der Museumsarbeit. Foto: Landesmuseum Natur und Mensch Eva Kirschenmann 10 | kulturland 1.21
Zum 85. GEBURTSTAG von HORST-GÜNTER LUCKE Ehrenpräsident der Oldenburgischen Landschaft m 1. Februar 2021 feierte Horst-Günter Lucke, Ehrenpräsident der Oldenburgischen Land- schaft, seinen 85. Geburtstag. Dazu gratulie- ren wir ihm auch auf diesem Wege ganz be- sonders herzlich. In Pandemie-Zeiten erscheint es angebracht, in den bunten Strauß der Gratu- lationen den Wunsch stabiler Gesundheit fest einzubinden. Erfreulicherweise geht es dieser sensiblen Pflanze im unverändert sprießenden Garten von Herrn Lucke gut. Möge es so bleiben, auf dass wir weiterhin auf seine Empfehlungen, Horst-Günter Lucke._Foto: Anregungen und klugen Ideen zurückgreifen Oldenburgische Landschaft können. Zur Vita des Ehrenpräsidenten gehört die lange Phase des erfolgreichen Bankers in den 1960er- bis frühen 2000er-Jahren. Und schon in diesen Zeiten ließ er deutlich durchblicken, Mir ist es vergönnt gewesen, mit Horst- dass ihm die Pflege und Förderung von Kultur Günter Lucke in verschiedenen Gremien zusam- am Herzen liegt. Kultur habe keine starke Lobby, menzuarbeiten, sei es in den Organen der Land- deshalb bedürfe sie der besonderen Fürsorge. schaft selbst, im oldenburgischen „Kulturrat“ Dieser Grundmaxime fühlt sich der kulturaffine oder in der Evangelischen Kirchbaustiftung, ge- Wirtschaftsfachmann bis heute verbunden. Aus- kennzeichnet durch die ihm eigene Zielstrebig- gestattet mit strategischem Geschick und diplo- keit, Kompetenz und Menschlichkeit. Dass er matischem Gespür, hat er in seiner fast 22-jäh- darüber hinaus für den Erhalt der Universität rigen ehrenamtlichen Präsidentschaft für die Vechta erfolgreich gestritten hat, kommt heute Oldenburgische Landschaft von 1991 bis 2012 unserer Region insgesamt zugute. Bei allem (und als Ehrenpräsident weit darüber hinaus) Einsatz für die fachlichen Inhalte ist ihm seine die Sinne für die Kultur als gesellschaftsrele- persönliche Empathie für das Oldenburger Land vanten Faktor geschärft – unter den Kultur- besondere Motivation gewesen. Dass diese Em- schaffenden selbst, vor allem aber auch im öf- pathie bis auf den heutigen Tag mit der Fähig- fentlichen Raum. Und dabei die Notwendigkeit keit verkoppelt ist, über den Tellerrand hinaus- für Neuerungen und Veränderungen nie aus zuschauen und das regionale Geschehen dem Blick verloren, gerade in schwierigen Pha- souverän in größere Zusammenhänge zu binden, sen, als die Landschaft selbst vor großen in machen die Gespräche mit Horst-Günter Lucke ternen Herausforderungen stand und mit der stets zu einem horizonterweiternden Gewinn. Auflösung der Bezirksregierungen den Land- Ganz abgesehen von dem Menschen selbst, dem schaften und Landschaftsverbänden in Nieder für das bislang Geleistete großer Respekt und sachsen neue Aufgaben zufielen. höchste Anerkennung gebührt. Alles erdenklich Gute, lieber Herr Lucke – ad multos annos! Uwe Meiners kulturland 1.21 | 11
NORDDEUTSCHE TRADITION Vom Wandern zur Kohlfahrt Von Ulrich Linser Oben: Kohlfahrt der OTB-Vor turnerschaft am 19. Januar 1922 nach Huntlosen. Aus den Vorgeschichte Winterfahrten entwickelten sich ab 1871 die Kohlfahrten. Ludwig Jahn (genannt „Turnvater Jahn“) spielte In der ersten Strophe des Liedes „Der frohe das Wandern eine große Rolle, wie folgende Wandersmann“ (1826 von Joseph von Eichen- Zitate Jahns zeigen: „Die Wanderfahrt ist die Rechte Seite: Turnfahrt der dorff geschrieben) heißt es: Mannschaft Jockheck des Bienenfahrt nach dem Honigtau des Erden Oldenburger Turnerbundes am lebens. An lieblichen Erinnerungen, seligen Ge Wem Gott will rechte Gunst erweisen, 24. September 1905 in den fühlen, würdigen Gedanken und huldvollen Neuenburger Urwald._Fotos: Den schickt er in die weite Welt, OTB Augenblicken überladet sich keiner.“ Dem will er seine Wunder weisen „Wandern, zusammen wandern erweckt In Berg und Wald und Strom und Feld. schlummernde Tugenden: Mitgefühl, Teilnahme, Gemeingeist und Menschenliebe.“ Jahn kombi- In der Romantik war das Thema „Wandern“ von nierte das Wandern mit seinen Leibesübungen, großer Bedeutung. Wandern war eine der Mög- was mit dem Begriff „Turnfahrt“ zusammen lichkeiten, einerseits der persönlichen und poli- gefasst wurde. tischen Enge zu entfliehen und andererseits Land Die erste Oldenburger Turnfahrt veranstaltete und Leute kennenzulernen. Auch für Friedrich ein 1845 gegründeter Turnverein am 11. Januar 12 | kulturland 1.21
1846. Teilnehmer waren etwa 20- bis 30-jährige Männer, die durch Gesang und Reden ausgefüllt wurde, und als erstes Ziel der Wanderung wurde der Ort „Ofen“ aus- erfolgte am Nachmittage der Aufbruch nach gesucht, einige Kilometer westlich von Oldenburg liegend. Rastede, das in eineinhalb Stunden erreicht wurde. Da der Verein sich nur wenige Jahre später auflöste, dauerte Hier verlebte man beim Glase Bier noch einige es wiederum einige Jahre, bis es ab 1861 regelmäßige Turn- vergnügte Stunden und fuhr per Bahn nach fahrten gab, nun organisiert vom 1859 gegründeten Oldenbur- Haus. – Diese durch viel Humor in Wort und ger Turnerbund. Da es zu dieser Zeit noch keine Eisenbahnen Lied gewürzte sogenannte Kohlfahrt fand einen gab, mussten fast alle Wege zu Fuß gemacht werden, und so allgemeinen Anklang, dass sie bis jetzt alljähr- eine Tagesleistung von 50 Kilometern war keine Ausnahme. lich wiederholt worden ist.“ Interessant ist zum Beispiel der Bericht des Schriftwartes Diese Kohlfahrten waren zunächst eine reine Geuther zu einer Turnfahrt am 31. Juli 1865. Die OTB-Turner Männersache. Eine Frauenabteilung (Damen waren frühmorgens über Hude nach Berne gewandert und abteilung sagte man damals) gab es im OTB erst hatten sich dort mit Turnern aus Berne und Delmenhorst ge- ab dem 8. November 1894. Ab 1895 gab es aber troffen, dort in Witzlebens Park wurde dann ein öffentliches schon eigene Frauenturnfahrten. In den ersten Vergleichs- und Schauturnen dargeboten. Anschließend ging Jahrzehnten der Turn- und Kohlfahrten wurde es unter die schattigen Bäume der Huder Klosterschänke. jedoch getrennt marschiert. Allerdings gibt es Hin- Da auch eine Musikkapelle vorhanden war, wurde zum Tanzen weise, dass beim Essen manchmal auch Frauen aufgespielt, und alsbald „schwebten die Turner mit den Hu- zugegen waren. Der Sattlermeister H. A. Spieske der Grazien über den rasigen Tanzboden“. Auf dem Rückweg beschrieb in seinen „Erinnerungen eines alten wurde wieder gewandert, Abendbrot gab es in Moorhausen Oldenburgers“, die sich auf die Anfangszeit der im Wirtshaus, und für die letzten zwölf Kilometer bis zum Kohlfahrten bezieht, dass beim Kohlessen selbst Oldenburger Schlossplatz hatte man einen Möbelwagen „eine Kanne mit heißer Milch für die Damen und (natürlich von Pferden gezogen) organisiert. Dazu heißt es: eine Flasche mit deutschem Kornbranntwein „Was eine Fahrt im Koopschen Möbelwagen ist, lässt sich für die Herren bereit stand“. weder sagen noch beschreiben. Ein Tierschutz-Verein sollte Eine gemeinsame Kohlfahrt von Turnern und doch dafür sorgen, dass dieser Marterkasten nur seiner Turnerinnen gibt es erst seit 1959. Zum 100. Jubi- Bestimmung gemäß und nicht auch zum Transport lebender läum wurde diese geschlechtsübergreifende Wesen benutzt werde.“ Diese letzte Etappe der Turnfahrt im Möbelwagen verursachte Verstau- chungen und viele blaue Flecke. Die Wanderziele in diesen ersten Jahren und Jahrzehnten waren Metjendorf, Ofen, Wiefelstede, Rastede, Hundsmühlen, Sandkrug, Hude, der Hasbruch, der Stüher Wald und der Neuenburger Urwald. In der Regel gab es vier Turnfahrten pro Jahr. Als eine im Winter angesetzte Turnfahrt (15. Januar 1871) mit einem gemeinsamen Kohl essen organisiert wurde, war das die Geburts- stunde der ersten Oldenburger Kohlfahrt. Die erste Kohlfahrt am 15. Januar 1871 Der Stadtkämmerer Hermann Dümeland (zu- gleich auch Oberturnwart des OTB) beschrieb im Rahmen des Kohlfahrt am 31. Januar 1959 zum ersten Mal 25-jährigen Vereinsjubiläums 1884 die erste Kohlfahrt folgen durchgeführt, erstaunlicherweise entgegen der dermaßen: Meinung „einiger traditionsbewusster Boßler“. „Am 15. Januar 1871 machte der Turnerbund zum ersten Apropos „Boßeln“: Zum ersten Mal wurde Male eine Winterturnfahrt. Bei leichtem Frost und hellem 1920 das Boßeln mit der Kohlfahrt kombiniert. Sonnenschein gelangte man im dreistündigen Marsche über Man kann sich fragen, warum das Boßeln, eine Metjendorf nach Wiefelstede, wo bei dem biederen Wirte ideale Ergänzung zum Wandern, erst so spät Zur Brügge das Mittagsmahl bereitet war, bestehend aus dem dazukam. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts ent- Oldenburger Nationalgericht: brauner Kohl mit Pinkel, Wurst, wickelte sich das Boßeln in Ostfriesland zu Schweinefleisch und Bratkartoffeln. Nach dem erfrischenden einem Volkssport und drängte das bis dahin Marsche mundete dies leckere und für deutsche Turner fast dominierende Klootschießen zurück. Kloot- lukullische Mahl umso besser, als auch pro Mann eine halbe schießen ist recht gefährlich, denn eine 425 Flasche Rotwein verabfolgt wurde. Nach einer Ruhepause, Gramm schwere Holzkugel, die mit Blei gefüllt kulturland 1.21 | 13
Turnfahrt der OTB-Damen abteilung nach Damme im September 1910. Eine Frauenabteilung gab es erst seit 1894._Foto: OTB ist, wird durch die Luft geschleu- Wichtig bei allen Touren ist ein gemeinsam mit allen zu feiern und dert. Außerdem kann der Kloot nur gut ausgestatteter Bollerwagen, zu tanzen. bei gefrorenem Boden gut wieder- der diverse alkoholische Getränke, Es ist nicht unüblich, dass man gefunden werden. Beim weniger ge Kaffee und Kuchen, belegte Bröt- als Oldenburger an mehreren Kohl- fährlichen Boßeln ist man aller- chen und so weiter transportieren fahrten teilnimmt (Nachbarschaft, dings auf eine Straße oder Straßen muss. Es gibt in Sachen Bollerwa- Sportverein, Freundeskreis, Betrieb ähnliches angewiesen. Gute Straßen gen erstaunliche Exemplare, die und so weiter), sodass es tatsäch- gibt es aber erst seit Beginn des komplette Licht- und Musikanlagen lich zu Terminproblemen kommen 20. Jahrhunderts. aufweisen. kann. Seit 1871 werden die OTB-Kohl- Von großer Bedeutung bei den Abschließend kann man also fest- fahrten regelmäßig durchgeführt. Kohlfahrten ist die Wahl des neuen stellen, dass die Kohlfahrt eine sehr Unterbrechungen gab es nur durch Königshauses. Einerseits wird die gute Erfindung ist, die zu viel Fröh den 1. Weltkrieg, die Inflation 1921 ehrenvolle Königswürde vergeben, lichkeit und Geselligkeit unterein bis 1923 und den 2. Weltkrieg. Auch aber andererseits wird dadurch ander beiträgt und ausgiebig genutzt in diesem Januar 2021 konnte auf die Organisation der nächsten Fahrt wird. Das wird zum Beispiel deut- Grund der Pandemie keine Veranstal- sichergestellt. Kohlkönigin und lich daran, dass durch manche Stra tung stattfinden. In den letzten Kohlkönig können auf vielerlei Arten ßen, die zu bestimmten Kohlfahrt- Jahren nahmen immer etwa 100 Ver- ermittelt werden: Von einer ein- lokalen führen (an einer dieser einsmitglieder an der Kohlfahrt teil. fachen Ernennung durch das alte Straßen wohnt übrigens der Autor Königshaus über die heimliche Ab- dieser Zeilen), an jedem Winter- machung, dass die, die am lang- wochenende mehrere Kohlfahrtgrup- Die heutige samsten essen, Königin und König pen pilgern. Kohlfahrtkultur werden, bis hin zu kompletten Tanzwettbewerben (manchmal in Ulrich Linser ist pensio- Kohlfahrten heutzutage gibt es in Holzschuhen), in denen sich ein nierter Sport- und vielen Varianten: Man kann zu Fuß Paar gegen die gesamte Konkurrenz Deutschlehrer (Wittmund von zu Hause aus losmarschieren, durchsetzen muss. Das neue Kö- und Wiesmoor). An der denn im Oldenburger Stadtgebiet nigspaar erhält im Anschluss an die Kooperativen Gesamt- gibt es viele Lokale, die ein Kohles- Wahl die entsprechenden Königs- schule Wiesmoor leitete sen anbieten. Weil das Boßeln im insignien und gibt in der Regel eine er die Oberstufenkurse Stadtgebiet schwierig ist, wird es oft Runde Schluck aus. „Ostfriesische Sport durch mehr oder weniger lustige Sehr beliebt sind die sogenannten arten“. Er ist seit 2019 Spielchen wie Teebeutelweitwurf Gemeinschaftskohlfahrten: Ein Archivar des Oldenburger und Ähnliches ersetzt. Beliebt sind Lokal bietet einen großen Saal an, Turnerbundes. die Fahrten mit Bus oder Bahn in es gibt ausreichendes Essen und die Umgebung, weil dann ausgiebig Musik und verschiedene Kohlfahrt- gewandert und geboßelt werden kann. gruppen steuern das Lokal an, um 14 | kulturland 1.21
KOHL- UND PINKELFAHRT ALS FAMILIENUNTERNEHMUNG VOR 90 JAHREN von Dieter Rüdebusch ls der seinerzeit berühmte Philosoph und Philo- loge Justus Lipsius aufgrund von Kriegswirren im Oktober 1586 für längere Zeit in Oldenburg Quartier nehmen musste, bezeichnete er die örtlichen Gasthöfe als „Ställe“: Mit Schweinetreibern und Fuhrknechten saß er bei Dünn- bier ums flackernde Herdfeuer. Nach jedem gereichten Trunk gab man sich feierlich die Hand. Die Speisen der ‚Westfälin- ger‘, so nannte Lipsius die Oldenburger, bezeichnete er als Frohgestimmte Kohlpartie von kaum menschenwürdig. Der erste Gang bestand aus unge- vier Delmenhorster Ehepaaren 1932._Foto: privat kochtem dicken Speck, der Hauptgang aus einer riesigen Kumme voll braunen Kohls, über den einen Finger breit eine Brühe aus Schweinefett floss. Den Kohl, so der elegant-feine Aber nicht nur große Gruppen durchstreiften Universitätsgelehrte aus Leiden, aßen die Einheimischen nicht, das Oldenburger Land zur Kohlsaison, sondern sie verschlangen diese Ambrosia, dieses allergieauslösende auch Freundes- und Verwandtenkreise organi- einjährige Unkraut. sierten ihre individuelle Kohlfahrt. Ziel musste War der Grün- oder Braunkohl zur Winterzeit in Privat- nicht immer ein Gasthof sein, sondern beliebt und Gasthäusern im Nordwesten das, wie wir heute wissen, war auch ein Grünkohlessen im Bauernhof einer nahrhafte und gesunde tägliche Hauptgericht, so wurde – befreundeten Landwirtsfamilie. Während die sieht man einmal von Schlitten- und Kutschfahrten wohl Bauersleute das Essen vorbereiteten, kämpften habender Herrschaften ab – in der zweiten Hälfte des 19. Jahr sich die kleinen Gruppen oft durch hohen hunderts das gemeinschaftliche Kohlessen zum gesellig- Schnee, warm angezogen und bunt ausstaffiert. gesellschaftlichen Ereignis. Das Foto zeigt drei Ehepaare aus Delmenhorst, Insbesondere für Delmenhorster Kohlhungrige waren die wohlgelaunt trotz des langen Fußmarsches von Bauerschaften der großen Gemeinde Ganderkesee und andere zwölf Kilometern, bei einem Zwischenstopp auf der Delmenhorster Geest beliebte Ansteuerungspunkte. kurz vor dem Ziel an einer Findlingsmauer in Fast jedes Dorf hatte früher seinen gemütlichen Landgasthof, der Ganderkeseer Bauerschaft Steinkimmen. der sich zur Winterzeit auf frohgestimmte Kohlgäste freute. Danach sprach man hungrig Grünkohl, Pinkel Für größere Gruppen erfolgte die Anreise vorzugsweise auch und Würsten zu. Eine Kaffeetafel mit Oldenbur- mit der Eisenbahn in Richtung Oldenburg beziehungsweise ger Butterkuchen beschloss den Tag. Hesepe/Osnabrück. In den Bahnhöfen Ganderkesee, Immer, Während die „Stenumer Kohlinvasoren“ oft Bookholzberg und anderen stiegen die Kohlfahrer/-innen schwer angeschlagen mit einem der letzten Züge aus und legten den Rest des Weges zu Fuß zurück. Vom Hal- von Schierbrok nach Bremen die Rückreise tepunkt Schierbrok ging es, durch Schnäpse gut vorgewärmt, antraten – es wundert nicht, dass über solche durch das Stenumer Holz zu „Lüschens Bauerndiele“ oder zu Heimfahrten nur wenige Berichte erhalten sind –, „Backenköhlers Gasthof“ in Stenum, wo die Gesellschaften nahmen die Steinkimmer Kohlwanderer Hut gesellige Stunden bei Speis, Trank und anschließendem Tanz filters Überlandbus, der auch schon mal auf verbrachten. Der heute in sechster Generation geführte Gast- Verspätete wartete, und sie in 20 Minuten ins hof Backenköhler bewirtete in jeder Kohlsaison Tausende von abendliche Delmenhorst zurückbrachte. Gästen und galt dabei wegen des Massenbetriebs als „Baller- mann“ der Kohlfahrer. kulturland 1.21 | 15
„Dör dat Duuster van de Tiet lucht min Schienfatt wiet un siet.“ Karl Fissen De „OLLNBORGER KRING“ is vör 100 Jahr grünnt wurrn Van Stefan Meyer e Eerst Weltkrieg weer man in’t „Haus Schöneck“ an’n Julius- erst en paar Jahr vörbi. De Mosen-Platz en Bespreken. Dor Monarchie weer ok to Enn. De hett Albert Hilmer de Naam „Olln- Kaiser in’t Exil. De Spanisch borger Kring“ fastleggt. De Grün- Gripp gung dör Europa un dor dungsversammeln för de Vereen sind mehr Minschen an Dood ble- weer an’n 21. Märzmaand 1921 in ven as in de Krieg. Not, Elend, Smacht de Aula van’t Lehrerseminar an de un Reparationen dukten de Min- Peterstraat mit över 100 Lüe. De schen in Düütschland daal. Vele Schrieverskeerl un Studienrat Dr. noch traumatiseert van de Krieg. Karl Fissen (1885–1978) ut Jever Nich blots dat Brot fehlde, ok dat hett dor ok en Vördrag holln. An’t Hapen up betere Tieden. Enn van de Avend is de Ollnborger En Besinnen up de egen Heimat, Kring as Heimatvereen van de Stadt de egen Werte un dat Bewahren Ollnborg mit 89 Maten in de Gan- un Ut’nannersetten mit de Welt un gen kamen. Vörnweg seh de Olln- de Kultur um sik to – dat is dat, borger Kring sien Upgaven in wat för vele Minschen weer en Sinn 3 de Pleeg un de Stütt van de in’t Leven geven kunn. Vör all in plattdüütsch Spraak un Literatur de fröhen 1920er-Jahren sind denn 3 Heimat- un Kulturpleeg vele Heimatvereen in Düütschland 3 Altertums- un Spraakforschung grünnt wurrn. So ünner annern in 3 Schuul van Altertümern un us Kuntrei 1919 de Heimatbund Bruukdoom. Oldenburger Münsterland, 1920 de De eerst Kringbaas is denn Dr. Heimatvereen Jever un 1921 de Hei August Frese wurrn. matvereen Varel. Bekannt wurrn is de Kring över Ok in de Stadt Ollnborg hebbt sik de Jahren vör all mit de „Lüttjen kloke Lüe tosamen funnen un sik Kringabende“. De eerst Kringabend up ehr Heimat, ehr Spraak un ehr geev dat al an’n 27. Aprilmaand Kultur besinnt. In’n Januarmaand in de Handwerkskammer Ollnborg. 1921 funn in’n Etzhorner Kroog en Dor is ok denn de „Speeldäl“ ut plattdüütsch Lesung mit de School- de Dööp nahmen wurrn. Flink gung mester Jan Heinken (1897–1978) dat mit dat lebennig Kring-Leven statt. Tosamen mit de Schoolmester wieter: De „Heimatkundliche Vor- Albert Hilmer (1896–1927) sind de tragsreihe“ nehm Fahrt up. De eerst beid dor up kamen, en plattdüütsch Vördrag hett Pastor Carl Woebcken Vereen in Ollnborg up de Been to ut Sillenstede an’n 22. Junimaand stelln. An’n 3. Märzmaand weer 1921 in de „Union“ in de Heiligen- 16 | kulturland 1.21
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