Kulturland 0ldenburg - Oldenburgische Landschaft

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Kulturland 0ldenburg - Oldenburgische Landschaft
kulturland
0ldenburg
                                    oldenburgische
                                         landschaft
                                    1.2021 | Nr. 187

Quarantäne, Abstandsregeln
und Impfen in Friesland
im 18. und frühen 19. Jahrhundert

Vom Wandern zur Kohlfahrt
Norddeutsche Tradition
Kulturland 0ldenburg - Oldenburgische Landschaft
Inhalt

18                                22                                                                          48

                                                           28                       36
August Karl Friedrich            Mauerreste                Franz Robert Czieslik    Kirchbauverein in         Eine Gräfin stiftet
Schultze                         mit Vergangenheit         Baumturen                Schwei versetzt           einen Kelch
Vorreiter der                    und Zukunft                                        Haupt­werk Ludwig         Osternburger
Industrialisierung               Restaurierung der                                  Münstermanns              Abendmahlskelch
im Herzog­tum                    Klosterruine in Hude                               in authentischen          war Geschenk
Oldenburg                        abgeschlossen                                      Zustand                   der Schwester
                                                                                                              Graf Anton Günthers

                             2 Über Quarantäne, Abstandsregeln und             26   Insektenprojekt der JVA Oldenburg
                                 Impfen                                        27   Oldenburger Pekol-Busse
                             8 Zur Entstehung des Oldenburger                  28   Franz Robert Cziesliks Skulpturenpark
                                 Münsterlands                                  31   Verein ChaKa in Wilhelmshaven
                            10 Schaufenster zu Museums-Selbstreflexion         32   Storchenbrutkolonie in Berne
                            11 Zum 85. Geburtstag von                          36   Instandsetzung von Münstermanns Hauptwerk
                                 Horst-Günter Lucke                            40   Ausstellung zum Maler August Kathe
                            12 Geschichte der Kohlfahrt im                     41   Auszeichnung für „theater wrede +“
                                 Oldenburger Land                              42   Familie Troschel in Tsingtau
                            15 Kohl- und Pinkelfahrt als                       45   Dissertation über Franz Graf von Galen
                                 Familien­unternehmung                         46   Bildband zum Dümmer
                            16 100 Jahr „Ollnborger Kring“                     48   Entdeckung zum Osternburger Abendmahlskelch
                            18 Porträt August Karl Friedrich Schultze          52   Kurzberichte: Exkursion/Unpolitische Orte/UZW
                            21 In memoriam                                     53   Lydia Barr in den Ruhestand verabschiedet
                                 Anna Elisabeth Felicitas Westphal             54   Neuerscheinungen
                                 Alice Peters-Ohsam                            55   Henk Wolf ist Beauftragter für das
                            22 Restaurierung der Klosterruine in Hude               Saterfriesische
                            25 Alexander Niemietz stellt sich vor              55 Felix Fischer gewinnt Übersetzungswettbewerb
                            25 Neiet Foto van Adolf Diekmann updükert          56 Dr. Sven-Hinrich Siemers neuer Leiter im
                                                                                    Küstenmuseum Wilhelmshaven
                                                                               58 kurz notiert

Titelbild: In der Storchenpflegestation Weser­
marsch dient die Krone eines Apfelbaumes
jedes Jahr als komfortable Wohnung. Auf Seite
32 in diesem Heft finden Sie einen ausführ­
lichen Beitrag zu diesem Thema._Foto: Udo
Hilfers

 kulturland 1.21
Kulturland 0ldenburg - Oldenburgische Landschaft
Editorial

Impressum
                                                                                                      Foto: privat
kulturland oldenburg
Zeitschrift der
Oldenburgischen Landschaft                 Liebe Leserin, lieber Leser,
ISSN 1862-9652

Herausgegeben von der
Oldenburgischen Landschaft                 für mich ist es klar. Covid 19 hängt damit zusammen, wie wir leben. Umwelt-
Gartenstraße 7, 26122 Oldenburg            zerstörung und deren Auswirkungen auf unsere Gesundheit werden immer
Tel. 0441.77918-0                          noch weitestgehend verdrängt. Ein Virus springt vom Tier auf uns Menschen
Fax 0441.77918-29
                                           über, es folgt eine Pandemie. Mit Folgen für unser Leben: Bedrohung un-
info@oldenburgische-landschaft.de
www.oldenburgische-landschaft.de           serer Gesundheit, soziale Isolation, wirtschaftliche Einschränkungen.
                                              Die Exekutive reagiert auf diese Bedrohung mit unterschiedlichen Maß-
Redaktionsschluss
                                           nahmen und federt diese mit Hilfsprogrammen ab, die die wirtschaftlichen
für Heft 188, 2. Quartal 2021,
ist der 6. April 2021.                     Auswirkungen der Einschränkungen mildern sollen. Kritik am Handeln der
Erscheint vierteljährlich.                 Exekutive ist aus meiner Sicht in Teilen berechtigt, in Teilen komplett über-
                                           zogen; vor allem dort, wo sie verschwörungstheoretisch abgleitet.
Für unverlangt eingesandte Manu-
skripte wird keine Haftung übernom-           Bei allem Verständnis dafür, dass diese Ausnahme-Situation für uns alle
men. Nament­lich gekennzeichnete           neu ist und wir uns allen gegenseitig Fehler und Fehleinschätzungen zuge-
Artikel geben nicht unbedingt die Auf-     stehen und verzeihen sollten, möchte ich hier einen Aspekt einbringen, der
fassung der Redaktion wieder.
                                           mich als künstlerisch soloselbstständig Tätigen mit vielen Kolleg*innen be-
Die Redaktion behält sich das Recht auf
Kürzungen der eingesandten Texte vor.      wegt. Es geht um Wertschätzung. Wie beim Pflegepersonal sehe ich eine
                                           Differenz zwischen öffentlichen Verlautbarungen und realem Handeln.
Redaktion:
                                             Vielleicht ist es einer gewissen Realitätsferne der Entscheider*innen ge-
verantwortlich i. S. d. P.
Michael Brandt (MB.)                       schuldet, dass viele der Hilfsprogramme zwar gut gemeint sind, aber zum
                                           Teil im nachvollziehbar schwierigen Spagat zwischen Betrugsvermeidung,
Sarah-Christin Siebert (SCS.)              ordentlicher Verwendung von Steuermitteln und dem Wunsch nach schnel-
Stefan Meyer (SM.)
Matthias Struck (MS.)
                                           ler und unbürokratischer Hilfe stecken bleiben.
                                             Vielleicht ist es fehlende Kenntnis über die Details des Berufsalltags der
Gestaltung:                                als soloselbständig organisierten, künstlerisch arbeitenden Menschen, vor
mensch und umwelt, 26122 Oldenburg
                                           allem aus dem sogenannten freien Bereich.
Druck:                                        Mir scheint, all dies Gutgemeinte ist geprägt von einer gesellschaftli­chen
Brune-Mettcker, 26382 Wilhelmshaven        Haltung freien Künstler*innen gegenüber, die in „Die Zeit“, Nr. 18 vom

Verlag:
                                           23. April 2020: „Die Kulturszene liegt am Boden“ wie folgt beschrieben wird:
Isensee-Verlag, 26122 Oldenburg              „Die Arbeit der Künstler, vor allem jene der ,Freien‘, wird als interessan­
Erscheint vierteljährlich.                 ter Wildwuchs gewürdigt, als ein Überschuss aus besseren Zeiten für bessere
© 2021 Oldenburgische Landschaft
                                           Zeiten. Der Künstler wird, jedenfalls von weiten Teilen der Bevölkerung,
Alle Rechte vorbehalten.
Jahresabonnement 15 Euro, inkl. Versand.   als ein Hofnarr betrachtet, der letzten Endes an seiner Not selbst schuld ist:
Der Bezug kann mit einer Frist von vier    Hätte er sich doch enger an den Hof gebunden, in den fetten Jahren.“
Wochen zum Jahresende gekün­digt              Nach Corona darf es kein schlichtes Zurück zum Vorher geben. Arbeiten
werden.
                                           wir gemeinsam an den notwendigen Veränderungen unserer Gesellschaft
Einzelheft 3,80 €.                         in den Bereichen Umwelt, Zusammenleben und Kultur. Und freuen wir uns
                                           weiter an einer Oldenburgischen Landschaft, die alle Arten von Förderpro-
                                           grammen im Rahmen ihrer Gestaltungshoheit unbürokratisch und als Mög-
                                           lichmacherin weitergibt.

                                           Bleiben Sie gesund!
                                           Dieter Hinrichs

                                           Dieter Hinrichs ist Schauspieler und Regisseur. Er betreibt mit
                                           Frauke Allwardt das „theater hof/19“ in Oldenburg und arbeitet
                                           als Kultur­berater für den Landesverband Soziokultur.

                                                                                                             kulturland 1.21   |1
Kulturland 0ldenburg - Oldenburgische Landschaft
„ÜBERSTANDENE

             SORGE, GEFAHR
             UND MÜHE “
              Über Quarantäne, Abstandsregeln und Impfen in Jever
              und Varel im 18. und frühen 19. Jahrhundert
              Von Antje Sander

                           chrecklich und schmerzhaft waren sie,            schule Johann Michael Herbart (1706–1768)
                          die Pocken; eine Seuche, die vor allen            fasste seine Beobachtungen 1760 in einer Ab-
                         Dingen Kinder traf und im 18. Jahrhun-             handlung „Über die Ausrottung der Pocken“ zu-
                           dert noch eine Mortalitätsrate von 20            sammen. Es fiel ihm auf, dass alle Kinder, die
                             bis 30 Prozent aufwies. Die Blattern,          die Pocken bereits einmal durchlitten hatten,
                             wie die Pocken in Norddeutschland
                             auch genannt wurden, waren eine
                            weltweit bekannte Krankheit, die seit    Die Strategien gegen Blattern
                           dem Altertum auch in Europa gefürch-
                        tet war. Die hochansteckende Plage zog
             von Haus zu Haus, grassierte in den Schulzim-
                                                                     waren Quarantäne und auch bereits
             mern und traf junge Familien schwer. Am 1. Juli
             1795 annoncierte die Witwe Tiemes in den „Je­ver­       im 18. Jahrhundert das Impfen
             schen wöchentlichen Anzeigen und Nachrich-
             ten“, dass es „dem allgütigen Beherrscher un-
             serer Schicksale ... gefallen hat, meine beyden
             geliebten jüngsten Söhne durch die Blatternkrank-              diese kein zweites Mal bekamen. Zudem stellte
             heit in jene Gefilde zu versetzen“. Innerhalb                  Herbart fest, dass, „wenn erst ein Haus Pocken
             von zehn Tagen verlor die Mutter erst Johann                   hat“, sie eine ganze Region betrafen und die An-
             August im Alter von fünf und dann Christian                    steckungen „durch das Atemholen in den Kran-
             Gottfried mit sieben Jahren. Durchforstet man                  kenzimmern, durch das Anfassen der Pocken-
             die Todesanzeigen oder die Kirchenregister in                  kranken“, ja sogar eine Übertragung durch
             dieser Zeit, so findet man, gleichsam in Wellen,               Mittelspersonen möglich war. Ähnlich wie der
             immer Phasen, in denen nicht nur das Mar-                      Oldenburger Gelehrte folgerte und forderte auch
             schenfieber grassierte, sondern in denen vor                   der Rezensent in der Beilage des „Jeverischen
             allem die Blattern den Tod für Kinder und Ju-                  Intelligenz-Blattes“, Quarantäneregeln für Er-
             gendliche brachten.                                            krankte strikt umzusetzen. Letzterer beschäf-
                Die Strategien gegen diese Seuche waren Qua­                tigte sich 1703 mit dem Werk „Versuch über die
             rantäne und auch bereits im 18. Jahrhundert                    Pflicht der Menschen jeden Blatternkranken aus
             das Impfen. Der Rektor der Oldenburger Knaben-                 der Gemeinschaft auszusondern, und dadurch

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Kulturland 0ldenburg - Oldenburgische Landschaft
Todesanzeige eines nach
               einer Impfung verstorbenen
                        Kleinkindes in den
                „Jeverschen Wöchentlichen
                  Anzeigen“ 1793 (rechts).

              Edward Jenner bei der ersten
             Impfung gegen Pocken, die er
               bei dem achtjährigen James
                   Phipps am 14. Mai 1796
                  durchführt. Gemälde von
                Ernest Board (unten)._Bild:
                                gemeinfrei

                                                     werden. Die Zimmer sollten gut gelüftet, Bett,
                                                     Laken und die Kleidung des Kranken nicht nur
                                                     gewaschen, sondern auch geräuchert werden.
                                                     Jeder, der spürt, dass er krank wird, sollte sich
                                                     absondern und nur die Hilfe eines Arztes suchen
                                                     und von allen „schädlichen Hausmitteln und
                                                     überhaupt aller Quacksalberei schlechterdings
                                                     gänzlich sich enthalten“. Beklemmend aktuell
zugleich in den Städten und Ländern in Europa        sind auch die Regeln, wenn ein Patient an der
die Ausrottung der Blatternpest zu bewirken“         Seuche verstirbt. Alle trostbringenden Sitten
von B. C. Faust. Es wurde angeregt, Blatternhäu-     und Gebräuche, wie der Besuch der Nachbarn,
ser einzurichten beziehungsweise alles zu tun,       Freunde und Familie im Trauerhaus, das gemein-
um nur möglichst wenige Menschen miteinander         same Waschen und Ankleiden des Verstorbenen,
in Kontakt zu bringen. Distanz und Abgrenzun­        die Bekanntgabe des Todesfalls durch Leichen-
gen waren zentrale Möglichkeiten, die Krankheit      bitter waren untersagt. Der Sarg wurde schnell
einzudämmen.                                         geschlossen, abgedichtet und durfte auch nicht
   In die gleiche Richtung zielten auch die obrig­   in der Kirche aufgebahrt werden. Besonderer
keitlichen Verordnungen in dieser Zeit. Im Namen     Strafe unterlag die Beerdigungsfeier. Hier war es
Zarin Katharinas II., die seit 1793 die Herrschaft   bei „Poena (Strafe) von 100 fl. Oder wenn eines
Jever inne hatte und durch ihre Schwägerin Frie­     diese Geldstrafe zu erlegen unvermögend seyn
derike Auguste Sophie verwalten ließ, wurde in       sollte, bey einer verhältnismäßigen Leibesstrafe
der Beilage zum „Jeverischen Intelligenz-Blatt       die vorhergehenden Puncte nicht nur auf das
No. 13“ (28. März 1796) eine umfangreiche Ver-       genaueste beobachten, …, nemlich das Gefolge
ordnung publiziert. Als Erstes wird hier die Maß-    und die Anzahl der Träger auf alle nur erdenk-
nahme formuliert, dass alle „Verwandten, Nach-       liche Art und Weise einzuschränken auch soll das
baren, und sonstigen guten Freunden der an           Einkehren der Leichen-Begleiter und Träger
einer bösartigen Krankheit danieder liegenden        und überhaupt dabei alles Schmausen schlechter-
Patienten alle unnöthigen, unnütze und oft sehr      dings wegfallen und niemand hierwider das ge-
lästige Besuche auf das ernstliche verboten“         ringste vorzunehmen sich gelüsten lassen“.

                                                                                    kulturland 1.21   |3
Kulturland 0ldenburg - Oldenburgische Landschaft
Die Strategie der Verordnung von Quarantäne
             und Abstandsregeln konnten seit dem frühen
             18. Jahrhundert um die Möglichkeit der Impfung     Die Pockenimpfung ist ein
             ergänzt werden. In England machte die Diplo-
             matengattin Lady Mary Wortley Montagu nach
             einem Aufenthalt in Konstantinopel 1716 bis
                                                                Erfolgsmodell, das sich jedoch nur
             1718 die dort beobachtete Inokulation bekannt.
             Dies ist das Einbringen beziehungsweise Einrit-    langsam durchsetzte
             zen von Sekreten und Schorf Pockenkranker
             mit mildem Verlauf in die Haut Gesunder zur
             Immunisierung; eine Praktik, die in China und
             im Orient bereits in den Jahrhunderten zuvor              die natürlichen Blattern von Tage zu Tage um
                                                                       sich greifen, manches Kind, welches vermutlich
                                                                       durch obiges Mittel, nächst Gott, hätte gerettet
                                                                       werden können, dahin reichen und viele die ganze
                                                                       Lebenszeit, elend und unglücklich machen; so
                                                                       wäre zu erwegen, ob nicht wir, als Vorsteher des
                                                                       Waisenstiftes schuldig sind, für die Erhaltung
                                                                       und Gesundheit der unserer Pflege anvertrauten
                                                                       Waisen auch in diesem Punkte zu sorgen und
                                                                       denen Kindern, die der so grausamen Krankheit
                                                                       annoch ausgesetzt sind, deren etwa 4–5 in un-
                                                                       serem Stifte seyn werden, die Blattern impfen zu
                                                                       lassen. Ich meinen theils bin von dieser Schul-
                                                                       digkeit überzeuget, mithin des ohnmaßgeblichen
                                                                       dafürhaltens, daß der Herr Dr. Toel, als gnä-
                                                                       digste bestallter Physikus zu aquirieren sey, uns
                                                                       darüber ein Gutachten und ob er allenfalls die
                                                                       Impfung verrichten wolle; seine Erklärung zu
                                                                       ertheilen, da dann das weitere nach obigem Gut­
                                                                       achten zu verhalten seyn würde.“
                                                                         Bereits vier Tage später findet Dr. Toel lobende
                                                                       Worte für das Engagement der Vareler Vorsteher
             nachgewiesen ist. Durch die Fürsprache der                und beruhigt mögliche Zweifler mit den Worten:
             Lady wurde diese Art der Impfung, die Variola-            „ … und obgleich in einem der größten europäi­
             tion, nachdem man sie bei Gefangenen und                  schen Staaten die Sache noch zweifelhaft scheint,
             Waisenkindern getestet hatte, vor allen Dingen            ob sie erlaubt werden möchte oder nicht, den-
             bei den Kindern der Oberschicht durchgeführt.             noch durch eine 30jährige Erfahrung und unzäh­
                Auf diese Art der Impfung beziehen sich auch           liger Beispiele des glücklichsten Erfolges es
             die Überlegungen, die in der Mitte des 18. Jahr-          ­außer allen Streit zu seyn scheint, daß man
             hunderts die Vorsteher des Waisenhauses in Varel                              durch diese leichte Opention,
             umtrieben. Zu den Ritualen der 1671 gegründe-                                       die Zufuhr einer sonst
             ten karitativen Einrichtung gehörte auch eine                                           grausamen Krank-
             ärztliche Untersuchung der zur Aufnahme vor-                                              heit mit ihren
             gesehenen Kinder. Die Angehörigen und Fürspre-                                               oft elenden
             cher wurden gründlich danach befragt, ob die                                                  Folgen,
             Kinder bereits „geblattert“ hätten. Wenn dies                                                  glücklich
             der Fall war, bedeutete es eine geringe Gefähr-                                                 abwenden
             dung beim Pockenausbruch in der Region. Auf-                                                    könne.
             bauend auf dieser Erkenntnis erstellten die Vor­                                                Es zeugen
             steher Hardenburg und Kuhlmann am 20. Mai                                                       auch schon
             1760 ein Memorandum, das sie zur Fürsprache                                                    augen-
             auch dem Amtsphysikus Dr. Toel übersandten.                                                    scheinlich
             Sie fassten ihre Gedanken folgendermaßen zu-                                                 Exempel in
             sammen: „Da man die vielen Proben von dem                                                   den hiesigen
             guten Erfolg der Inoculation der Kinderblattern,                                         Gegenden von
             nunmehr auch in unseren Gegenden hat, und                                             dieser Wahrheit …“.

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Kulturland 0ldenburg - Oldenburgische Landschaft
Links und rechts: Todes­
                      anzeigen in den Jeverschen
                    wöchentlichen Anzeigen 1795

                                         Linke Seite:
                          Französische Medaille von
                          1804: Aeskulap, Venus mit
                    Pockenverband am linken Arm,
                        links eine Kuh, rechts Impf­
                      utensilien._Foto: Jörgen Welp

       Dr. Toel hatte auch bereits die Aus-
       stattung des Vareler Waisenhauses
       für die Versorgung der geimpften
       Kinder begutachtet: „da auch die
       gewöhnlichen Schlafzimmer der
       Kinder sehr reinlich und luftig sind,
       so könnten selbige am besten dazu
       dienen, wenn nur allenfalls so noch
       Bettzeug vorhanden wäre, das im
       benöthigten Fall ein jedes Kind allein gebettet
       werden könnte, auch ein Mensch bestellet wer-
       den würde, um die Kinder zu behandhaben und
       in allen Fall des nachts zu wachen …“. Diese        erleichtert, „dass nach dem Zeugnisse des erfah-
       Vorsichtsmaßnahmen zeigen bereits, dass eine        renen und sorgsamen Arztes aller sechs Kinder
       Impfung mit dem menschlichen Sekret nicht           für vollkommen hergestellet erklären“. Vater
       immer ohne Komplikationen verlief und die Kin­      Andreae hofft, „dass nun wieder ein kinderrei-
       der die Krankheit auch mit deutlich milderen        cher Vater durch dieses glückliche Beyspiel auf-
       Symptomen durchleiden konnten. Diese Nach-          gemuntert werde, den natürlichen Blattern
                                                           durch die Inoculation zuvor kommen und da-
                                                           durch ein Retter seiner lieben Kinder werde …
                                                           Dank sei indessen der Güte Gottes für alle über-
Erstes Impfen wurde bei Gefangenen                         standene Sorgen, Gefahr und Mühe! Heil der
                                                           medicinischen Kunst!“
und Waisenkindern getestet, die                              Als der Oldenburger Schriftsteller und Jurist
                                                           Gerhard Anton von Halem (1752–1819) einen
                                                           Bericht über seine „Ferien-Reise“ in die Friesi­
ersten Impfungen dann bei den Kindern                      sche Wehde in den „Blätter vermischten Inhalts“
                                                           veröffentlichte, erwähnte er auch die Offenheit
der Oberschicht durchgeführt                               der Zeteler für die Impfung: „Doch hegen sie
                                                           [die Zeteler Einwohner, A.S.] nicht das Vorurtheil,
                                                           daß es ein Eingriff in die göttlichen Rechte sey,
                                                           durch Inoculation der Blattern die den Kindern
       richten über kritische Verläufe nach einer Imp-     drohende Gefahr zu mindern. Es wird fleißig in
       fung waren es auch, die eine gewisse Impf­skep­     dieser Gegend [der Zeteler Marsch, A.S.] inocu-
       sis in der Bevölkerung aufkommen ließen. Am         liert. Der Chirugus Heder inoculierte in den Jah-
       29. Juni 1795 machen die Eheleute Frerichs in den   ren 1795 und 1796 überhaupt 127, wovon 124
       „Jeverschen Wöchentlichen Anzeigen und Nach-        die Pocken gut überstanden und 3 starben.“
        richten“ bekannt, „daß am 27ten d.M. unser         Ganz im Sinne der Aufklärung hob von Halem
       einziger Sohn an den inoculierten Blattern, zu      die Informiertheit der Bürger, die statistische
       welchen zuletzt noch Zahnfieber gekommen,           Genauigkeit und die Abkehr vom Glauben an die
       in einem Alter von 6 Monathen gestorben sey“.       göttliche Fügung hervor.
          Doch im selben Jahr annoncierte Familie             Die Probleme bei der Impfung mit mensch-
       Andreae aus Horsten ebendort, dass sie „den         lichem Pockensekret traten bei einer anderen
       bedenklichen Schritt“ wagten, „unserer ganzen       Art des Impfserums nicht so stark auf. In den
       kleinen Familie die Blattern einsetzen zu las-      90er-Jahren des 18. Jahrhundert werden in der
       sen“. Nach sechs Wochen verkündet der Vater         medizinischen Literatur auch Erfahrungen und

                                                                                          kulturland 1.21   |5
Kulturland 0ldenburg - Oldenburgische Landschaft
Rechts: Impfschein für den
fünf Monate alten Johann Hin­
 rich Helmerichs aus Cleverns,
    Amt Jever vom 23. August
                         1865.

 Rechte Seite: Edward Jenner,
  Öl auf Holz 20,7 x 17,6 cm.
  _Bild: Wellcome Collections
         V0023503, CC-BY-4.0

                 Das 1874 erlassene Reichsimpfgesetz
                                 setzte die Verpflichtung zur       an die „Geliebten Stadt- und Landbewohner“
                                                                    und forderte: „Die so glücklichen als starken
                                                                    Fortschritte der in England zuerst versuchten
                 Pockenimpfung durch, welche bis zur                Inoculation der Kuhpocken, welche zwey wa-
                                                                    ckere Männer in Hannover im vorigen Jahre
                            Ausrottung der Seuche Ende der          (1798) auf deutschen Boden verpflanzten und
                                                                    die gegenwärtig schon an mehreren Orten in
                                                                    und außerhalb Deutschland eingeführet ist, ver-
                                          1970er-Jahre bestand      dient auch bei uns Aufnahme.“ Der Arzt klärte
                                                                    über den milderen Verlauf der Kuhpockenimp-
                                                                    fung auf, verwies auf die Publikation „Jenners
                                                                    Untersuchungen über die Ursachen und Wirkun­
                Beobachtungen mit der Impfung von Kuhpocken         gen der Kuhpocken“ und weitere medizinische
                publiziert, deren Verlauf wesentlich milder er-     Abhandlungen. Er stellte zudem auch seine eige­
                schien. Hierbei stützte man sich auf eigene Be­     nen Studien und Erfahrungen vor, die er bereits
                ob­achtungen, aber auch auf das Wissen von          bei 58 geimpften Kindern gemacht hatte. Dr. Ey­
                Melkerinnen. In Holstein probierte der Hauslehrer   ting versprach „öffentlich“, dass er allen, ins-
                Peter Plett die Vakzination (nach vacca = Kuh)      besondere den Armen und „Minderbegüterten“,
                1790 mit Erfolg aus. Ganz ähnlich verliefen die     die Impfung ermöglichen will. Niemand soll aus
                wesentlich bekannteren Versuche von Edward          Mangel an finanziellen Mitteln von der Impfung
                Jenner 1796 in England, die dann schnelle Ver-      zurückgehalten werden. Sein Appell endet mit
                breitung fanden. Durch die Personalunion mit        den aufrüttelnden Worten: „Nun geliebte Mit-
                England wurde die Vakzination auch im König-        bürger! Die Sie die schöne junge Schaar der he-
                reich Hannover bekannt. Bereits 1799 wandte         ranwachsenden Jugend – unbesorgt der ihnen
                sich der jeversche Stadt- und Landpysikus, Leib-    bevorstehenden Gefahr – fröhlich um sich her-
                und Militärarzt Dr. Gerhard Eyting in den „Jever-   springen sehen … Sie bitte ich um der Ihrigen,
                schen wöchtlichen Anzeigen und Nachrichten“         um das Wohl der gesammten Menschheit willen,

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Kulturland 0ldenburg - Oldenburgische Landschaft
überzeugen Sie sich doch ohne Vorurtheil von                           gut informierter Bürger und Bürgerinnen im
der Wichtigkeit dieses vortrefflichen Mittels und                      nördlichen Oldenburger Land Verbreitung fand,
säumen Sie nicht, es den Ihrigen noch ehender                          ist ein Erfolgsmodell – doch setzte sie sich
angedeihen zu lassen, als sie von der wirklichen                       weltweit nur langsam durch. Auch in Deutsch-
Blatternpest, die schon in unserer Nachbar-                            land kam es im 19. Jahrhundert immer wieder
schaft zu fürchterlich wüthen soll, ergriffen und                      zu Pockenausbrüchen. Mit dem 1874 erlassenen
ich zittere bei dem Gedanken – ein Opfer des                           Reichsimpfgesetz wurde die Verpflichtung zur
Todes werden mögen.“                                                   Pockenimpfung durchgesetzt. Diese bestand bis
   Inwieweit die Worte des Arztes Gehör gefun-                         Ende der 1970er-Jahre, als diese gefährliche
den haben, ist unbekannt. Doch hat es um 1800                          Seuche durch die weltweiten, gemeinsamen
sicherlich noch keine Durchimpfung der gesam­                          Impfkampagnen weitgehend ausge­rottet war.
ten Bevölkerung gegeben. Die Durchsetzung der
Impfungen mit Kuhpocken geschah in Deutsch-
land wie in ganz Europa schrittweise und setzte
sich erst mit obrigkeitlichem Druck und ent-
sprechender Förderung durch. Im Oldenburger
Land war es vor allen Dingen der unter der fran-
zösischen Herrschaft 1812 durchgesetzte Impf-
zwang, der Erfolge brachte. Mit der Ausführung
wurden die jeweiligen Amtsärzte, die Kreis­
physikusse, beauftragt. Zu ihrer Unterstützung
setzte man auch die Pfarrer und Pastoren ein.
Sie sollten gegen die Vorturteile kämpfen, die
„aus Unkunde mit der wahren Beschaffenheit
und den Vorteilen der Vaccination oder aus miß-
verstandenen Religiosität und anderen Bedenk-
lichkeiten entsprungen, noch unter den Land-
leuten obwalten, zu zerstreuen“. Druck wurde
vor allen Dingen dadurch aufgebaut, dass Kinder,
die nicht geimpft waren oder die nicht die na-
türlichen Blattern durchgemacht hatten, vom
Schulunterricht ausgeschlossen und auch nicht in
öffentlichen Wohlfahrtsanstalten oder als Lehr-
ling aufgenommen werden durften.
   Die Pockenimpfung, die vergleichsweise früh
durch das Engagement einzelner Ärzte und

Literatur- und Quellenhinweise:           Gerhard Anton von Halem, Meine Ferien-                     Oldenburg, S. 161–167
                                          Reise 1796, in: Blätter vermischten Inhalts Bd. 6, H. 6,
Landesarchiv Oldenburg Abt. Oldenburg                                                                Thomas Hartung, Zur Entwicklung der
                                          Oldenburg 1797, S. 423
NLO 28, 6, Nr. 10 Waisenhaus Varel,                                                                  Pockenschutzimpfung unter besonderer
Krankheiten der Waisen                    Bernhard Christoph Faust, Öffentliche Anstalten: die       Berücksichtigung Thüringens im 18. und
                                          Blattern, durch die Einimpfung der Kuhpocken, aus-         19. Jahrhundert, Jena/Weimar 2001
Johann Michael Herbart, Ueber die Ein­
                                          zurotten. Nebst der ältesten Urkunde von den Kuh­
impfung der Pocken, Oldenburg 1760                                                                   Axel C. Hüntelmann, Pockenimpfung
                                          pocken und einer beyliegenden Volksschrift: Zuruf an
                                                                                                     in Deutschland vor und nach Jenner,
Jeversche wöchentliche Anzeigen und       die Menschen, Bückeburg 1804
                                                                                                     in: Trillium Immunologie H. 3/2019
Nachrichten Jg. 1793, 1794, 1795, 1796,
                                          Gerhard Anton Hermann Gramberg, … gegen die Ver-           (www.trillium.de/zeitschriften/trillium-
1800
                                          breitung der Pocken-Epidemie, Oldenburg 1814               immunologie/archiv/ausgaben-2019/
„Beylage bey dem Jeverischen Intel-                                                                  heft-32019/aus-der-geschichte/
                                          Hugo Ephraim, Skizzen aus der Mairie Oldenburg
 ligenz-Blatt“, No. 13, 30.3.1795, S.                                                                pocken­impfung-in-deutschland-vor-
                                          1811/13, in: Jahrbuch für die Geschichte Oldenburgs,
110–116                                                                                              und-nach-jenner.html)
                                          1913, bes. S. 141ff
Friedrich Christoph Hellwag, Ein Wort
                                          Martin Roth, Aufsätze zur Geschichte der Medizin im
über die Blattern an die guten Einwoh-
                                          Herzogtum Oldenburg, Oldenburg 1921, darin: Etwas
ner Eutins, Eutin 1797
                                          über die Pocken und die Einführung der Impfung in

                                                                                                                        kulturland 1.21   |7
Kulturland 0ldenburg - Oldenburgische Landschaft
„EINE RIESENKUNGELEI“
              1803 erhielt das Herzogtum Oldenburg die Ämter Vechta und Cloppenburg. Heute

              spricht man vom Oldenburger Münsterland. Ein treffender Begriff, sagt der

              Histori­k er und Archivar Gerd Steinwascher. Wolfgang Stelljes hat sich mit ihm

              über die Genese dieses Begriffs und die territorialen Veränderungen vor gut

              200 Jahren unterhalten.

Was geht Ihnen spontan durch den Kopf, wenn Sie                                             Nun hatte Oldenburg ja keine links­
den Begriff „Oldenburger Münsterland“ hören?                                                rheinischen Besitzungen.
Als Historiker, der sich mit der Geschichte Nie-                                            Nein, aber im Zuge dieser ganzen
dersachsens beschäftigt, denke ich an eine his­                                             Verhandlungen wurde beschlossen,
torische Landschaft, die erwachsen ist aus dem                                              dass der Weserzoll in Elsfleth ab-
Niederstift Münster, aber eben nicht identisch                                              geschafft werden sollte, der für
ist mit diesem Niederstift. Und als Archivar, der                                           Oldenburg sehr einträglich war. Ol-
das Oldenburger Münsterland lange betreut hat,                                              denburg hat deshalb auf eine Kom-
fällt mir auf: Aus einem Armenhaus der Bun-                                                 pensation gedrungen. Die hat es
desrepublik ist eine relativ wohlhabende Region                                             auch bekommen, unter anderem
mit einer hohen wirtschaftlichen Wachstums­                                                 die beiden Ämter Vechta und Clop-
rate und einer sehr gesunden Bevölkerungsent-                                               penburg. Das allerdings ist auch
wicklung geworden.                                                                          nur gelungen, weil Peter Friedrich
                                                                                            Ludwig, der Landesherr in Olden-
Im Jahr 1803 kamen die beiden Ämter Vechta und                                              burg, Unterstützung durch Russ-
Cloppenburg durch den Reichsdeputationshaupt-                                               land hatte. Dank der Verwandtschaft
schluss zum Herzogtum Oldenburg. So ein Reichs-                                             zwischen dem Oldenburger Her-
deputationshauptschluss ist eine erklärungsbe-                                              zogshaus und dem russischen Kai-
dürftige Sache ...                                                                          serhaus konnte man genügend
Ja, das war im Grunde eine Einigung der dama-          Druck aufbauen, um eine Kompensation zu erhalten – also neben Wildes-
ligen deutschen Staaten des Heiligen Römischen         hausen diese beiden Ämter des aufgelösten Niederstifts Münster.
Reiches, das ein paar Jahre später aufgelöst
wurde, mit Frankreich. Frankreich unter Napo-          Das hätte auch ganz anders ausgehen können?
leon hatte die linksrheinischen Gebiete des Rei-       Man muss sagen: In der gesamten napoleonischen Zeit hat man über-
ches annektiert. Nun sollte eine Kompensation          haupt keine Rücksicht genommen auf historische Traditionen. Es wurde
geschaffen werden für die Staaten, die davon           geschachert, es wurde zum Teil einfach gesagt: Ihr bekommt 20.000
betroffen waren. Das war natürlich eine Riesen-        Untertanen mehr, wo wollt ihr die herhaben? Aus Paris erhielt Peter
kungelei, anders kann man es nicht bezeichnen.         Friedrich Ludwig wenige Jahre später sogar das Angebot, Erfurt als
Dabei gingen neben den meisten Reichsstädten           Landesherr zu übernehmen, um ihn für den Verlust Oldenburgs zu ent-
vor allem die Staaten zugrunde, die ein geistli­ches   schädigen, das Teil Frankreichs wurde. Das ist aus heutiger Sicht sehr
Oberhaupt hatten, also in der Regel einen Bi-          befremdlich, was da passierte.
schof. Ganz besonders betroffen war der Westen
Niedersachsens, denn da lagen große geistliche         Wenn wir uns die Folgen für das Herzogtum Oldenburg ansehen: Mit den
Territorien wie das Hochstift Osnabrück oder           Ämtern Vechta und Cloppenburg hat sich die Fläche nahezu verdoppelt.
eben auch das Niederstift Münster. Aus diesen          Die Einwohnerzahl stieg von 91.000 auf 134.000. Vor allem aber war ein
Territorien wurden die Staaten entschädigt,            knap­pes Drittel der Bevölkerung nun katholisch.
die meinten, sie hätten einen Anspruch, weil sie       Diese beiden Ämter waren erst einmal ein Fremdkörper im Herzogtum
Opfer der napoleonischen Politik waren.                Oldenburg, genauso wie Wildeshausen, das ebenfalls dazukam, aber

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Oben: Blick übers Goldensted­
ter Moor._Fotos: Anne Rinke,     bikonfessionell war. Peter Friedrich Ludwig           diese landwirtschaftlichen Produkte durch die
Oldenburgische Landschaft
                                 konnte damit aber umgehen, weil für ihn Reli­         Eisenbahn leichter zu transportieren waren – das
Links: Georg Friedrich Adolph    gion keine ausschlaggebende Bedeutung hatte.          konnte Peter Friedrich Ludwig natürlich nicht
Schöner: Bildnis des Herzogs     Außerdem waren in Deutschland die konfes­sio­         absehen. Von daher hat er durchaus mit Recht ein
Peter Friedrich Ludwig,
                                 nel­len Gegensätze um 1800, einer Zeit, in der        bisschen gejammert, aber es war ein Jammern
1819._Foto: Landesmuseum
für Kunst und Kulturgeschichte   die Aufklärung nachwirkte, nicht so groß wie vor­     auf hohem Niveau.
Oldenburg                        her oder nachher, also im späteren 19. Jahr­
                                 hun­dert. Das heißt, in der Zeit, in der diese bei­   Wann taucht nach Ihrem Kenntnisstand der
                                 ­den Ämter zu Oldenburg kamen, herrschte              Begriff „Oldenburger Münsterland“ das erste
                                 eine gewisse konfessionelle Toleranz. Freilich        Mal auf?
                                 forder­ten die Katholiken im Oldenburger              Der Begriff „Oldenburger Münsterland“ taucht
                                 Müns­terland eine administrative Lösung für           erstmals 1824 in Kohlis statistischer Beschrei-
                                 ihre Situ­ation in einem ansonsten protestan-         bung des Herzogtums Oldenburg auf. Bedeutung
                                 tischen Herzogtum. Nach langen Verhandlun­            gewinnt er aber erst Ende des 19. Jahrhunderts.
                                 gen hat man sich dann 1830 verständigt: In            Entscheidend war die Presse, insbesondere die
                                 Vechta wurde ein Offizialat eingerichtet, das         regionalen Zeitungen: Durch sie wurde der
                                 zwar dem Bischof in Münster unterstand, aber          Begriff „Oldenburger Münsterland“ eingeführt
                                 weitgehende Autonomie genoss. Eine Lösung,            und bis heute weitergetragen. Wichtig war hier­
                                 die für Peter Friedrich Ludwig ideal war, denn        für zudem der 1919 gegründete Heimatbund
                                 er wollte kein katholisches Bistum in Olden-          Oldenburger Münsterland, das heißt: Alle, die
                                 burg, aber auch keinen Bischof aus Preußen,           sich für Geschichte interessieren, stoßen auf den
                                 der ihm reinredete.                                   Begriff „Oldenburger Münsterland“. Und auch
                                                                                       für die touristischen Belange wird dieser Begriff
                                 Dann war die eigentliche Kröte für Peter Friedrich    genutzt, es gibt hierfür den „Verbund Olden-
                                 Ludwig der Verlust des Weserzolls?                    burger Münsterland“. So setzt sich ein Begriff
                                 Den hat er noch fast zwanzig Jahre erheben dür­­      fest und kann überleben.
                                 fen, erst dann wurde er aufgehoben, auch auf
                                 Druck Bremens, denn die Stadt war davon am            Ist es ein treffender Begriff, ist er trennscharf?
                                 meisten betroffen.                                    Ich finde diesen Begriff durchaus treffend. Ich
                                                                                       bin Historiker und freue mich, wenn solche
                                 Die Ämter Cloppenburg und Vechta waren ja auf         Landschaftsbezeichungen auch etwas Histori­
                                 den ersten Blick nicht der allerbeste Tausch, viel    sches wiedergeben. Münsterland rekuriert da-
                                 Heide, viel Moor ...                                  rauf, dass dieses Gebiet früher zum Niederstift
                                 Ja. Dass aus diesen beiden Ämtern einige Jahr-        Münster gehörte. An dieses Niederstift Münster
                                 zehnte später durch den Ausbau der Viehwirt-          erinnert eigentlich nichts mehr. Das kennt nur
                                 schaft durchaus prosperierende Gebiete werden         noch der Historiker. Und die letzten zwei Jahr-
                                 sollten, nicht zuletzt durch den Bedarf an            hunderte ist dieses Gebiet durch Oldenburg ge-
                                 Fleisch im sich entwickelnden Ruhrgebiet, dass        prägt. Also: Oldenburger Münsterland!

                                                                                                                         kulturland 1.21    |9
Entwicklung erklären, die die beiden Landkreise
                                                                                   genommen haben. Dafür gibt es eine ganze Rei-
                                                                                   he von Gründen. So geht zum Beispiel eine eher
                                                                                   konservative und bodenständige Grundhaltung
                                                                                   einher mit einem sehr innovativen Bewusstsein.
                                                                                   Daran hat auch die vor allem im Landkreis Clop-
                                                                                   penburg hohe Zuwanderung bislang wenig ge-
                                                                                   ändert. Dies hat sicherlich die Ansiedelung mit-
                                                                                   telständischer Industriebetriebe und den Aufbau
                                                                                   einer hochindustriell geprägten Lebensmittel-
                                                                                   produktion erleichtert – allerdings mit all den
                                                                                   Problemen, die wir damit haben. Ob dies zukunfts-
                                                                                   fähig ist, wird man sehen.

                                                                                   Unter dem Strich: Was vor gut 200 Jahren recht
                                                                                   hemdsärmelig zusammengefügt worden ist – ist
                                                                                   es gut zusammengewachsen?
Kloster Vechta._Foto: Bild­                                                        Die Menschen im Oldenburger Münsterland ha-
archiv der Oldenburgischen    Und der Begriff Südoldenburg?                        ben weiterhin einen Bezug zu Oldenburg. Die
Landschaft/Bestand Stephan
Meyer-Schürg                  Südoldenburg geht leichter über die Zunge,           Verbindung zu Oldenburg hat Tradition, nicht
                              drückt aber nicht aus, was diese beiden Land-        zuletzt durch die Gerichtsbarkeit und durch
                              kreise historisch auszeichnet.                       Institutionen wie die Handwerkskammer und die
                                                                                   Industrie- und Handelskammer oder durch das
                              Sie haben die positive Entwicklung des Oldenbur-     Kulturangebot. Man kann also durchaus sagen,
                              ger Münsterlandes erwähnt. Inwieweit spielt die      es ist eine gelungene Fusion, an deren Dauer-
                              Konfession dabei eine Rolle?                         haftigkeit die Akteure im Jahre 1803 wohl nicht
                              Das Bevölkerungswachstum hat sicher etwas            geglaubt haben dürften. Viele Menschen in
                              mit der Konfession zu tun, katholische Gebiete       den Landkreisen Vechta und Cloppenburg sind
                              haben eine höhere Geburtenrate. Aber damit           auf Oldenburg orientiert. Und ich denke, das
                              allein lässt sich sicher nicht die wirtschaftliche   wird auch erst einmal so bleiben.

SCHAUFENSTER-
AUSSTELLUNG
Im Winter wurde am Damm 38,
Oldenburg, ein Schaufenster vom
Landesmuseum Natur und Mensch
Oldenburg gestaltet. Es befasst sich
mit der Frage, was ein Museum der
Gesellschaft heutzutage zu bieten
hat. Es ist Ausdruck eines internen
Reflexionsprozesses zum Wandel
der Museumsarbeit.
                                                                                                     Foto: Landesmuseum Natur und Mensch
Eva Kirschenmann

 10   | kulturland 1.21
Zum      85. GEBURTSTAG
von      HORST-GÜNTER LUCKE
Ehrenpräsident der Oldenburgischen Landschaft

m 1. Februar 2021 feierte Horst-Günter Lucke,
 Ehrenpräsident der Oldenburgischen Land-
  schaft, seinen 85. Geburtstag. Dazu gratulie-
   ren wir ihm auch auf diesem Wege ganz be-
sonders herzlich. In Pandemie-Zeiten erscheint
es angebracht, in den bunten Strauß der Gratu-
lationen den Wunsch stabiler Gesundheit fest
einzubinden. Erfreulicherweise geht es dieser
sensiblen Pflanze im unverändert sprießenden
Garten von Herrn Lucke gut. Möge es so bleiben,
auf dass wir weiterhin auf seine Empfehlungen,                   Horst-Günter Lucke._Foto:
Anregungen und klugen Ideen zurückgreifen                        Oldenburgische Landschaft
können.
  Zur Vita des Ehrenpräsidenten gehört die
lange Phase des erfolgreichen Bankers in den
1960er- bis frühen 2000er-Jahren. Und schon
in diesen Zeiten ließ er deutlich durchblicken,      Mir ist es vergönnt gewesen, mit Horst-
dass ihm die Pflege und Förderung von Kultur       Günter Lucke in verschiedenen Gremien zusam-
am Herzen liegt. Kultur habe keine starke Lobby,   menzuarbeiten, sei es in den Organen der Land-
deshalb bedürfe sie der besonderen Fürsorge.       schaft selbst, im oldenburgischen „Kulturrat“
Dieser Grundmaxime fühlt sich der kulturaffine     oder in der Evangelischen Kirchbaustiftung, ge-
Wirtschaftsfachmann bis heute verbunden. Aus-      kennzeichnet durch die ihm eigene Zielstrebig-
gestattet mit strategischem Geschick und diplo-    keit, Kompetenz und Menschlichkeit. Dass er
matischem Gespür, hat er in seiner fast 22-jäh-    darüber hinaus für den Erhalt der Universität
rigen ehrenamtlichen Präsidentschaft für die       Vechta erfolgreich gestritten hat, kommt heute
Oldenburgische Landschaft von 1991 bis 2012        unserer Region insgesamt zugute. Bei allem
(und als Ehrenpräsident weit darüber hinaus)       Einsatz für die fachlichen Inhalte ist ihm seine
die Sinne für die Kultur als gesellschaftsrele-    persönliche Empathie für das Oldenburger Land
vanten Faktor geschärft – unter den Kultur-        besondere Motivation gewesen. Dass diese Em-
schaffenden selbst, vor allem aber auch im öf-     pathie bis auf den heutigen Tag mit der Fähig-
fentlichen Raum. Und dabei die Notwendigkeit       keit verkoppelt ist, über den Tellerrand hinaus-
für Neuerungen und Veränderungen nie aus           zuschauen und das regionale Geschehen
dem Blick verloren, gerade in schwierigen Pha-     sou­verän in größere Zusammenhänge zu binden,
sen, als die Landschaft selbst vor großen in­      machen die Gespräche mit Horst-Günter Lucke
ternen Herausforderungen stand und mit der         stets zu einem horizonterweiternden Gewinn.
Auflösung der Bezirksregierungen den Land-         Ganz abgesehen von dem Menschen selbst, dem
schaften und Landschaftsverbänden in Nieder­       für das bislang Geleistete großer Respekt und
sachsen neue Aufgaben zufielen.                    höchste Anerkennung gebührt.
                                                     Alles erdenklich Gute, lieber Herr Lucke – ad
                                                   multos annos!

                                                   Uwe Meiners

                                                                                             kulturland 1.21   | 11
NORDDEUTSCHE
         TRADITION
                            Vom Wandern zur Kohlfahrt
                                                                                    Von Ulrich Linser

                                                    Oben: Kohlfahrt der OTB-Vor­
                                                    turnerschaft am 19. Januar
                                                    1922 nach Huntlosen. Aus den
Vorgeschichte                                       Winterfahrten entwickelten
                                                    sich ab 1871 die Kohlfahrten.    Ludwig Jahn (genannt „Turnvater Jahn“) spielte
In der ersten Strophe des Liedes „Der frohe                                          das Wandern eine große Rolle, wie folgende
Wandersmann“ (1826 von Joseph von Eichen-                                            Zitate Jahns zeigen: „Die Wanderfahrt ist die
                                                    Rechte Seite: Turnfahrt der
dorff geschrieben) heißt es:                        Mannschaft Jockheck des          Bienenfahrt nach dem Honigtau des Erden­
                                                    Oldenburger Turnerbundes am      lebens. An lieblichen Erinnerungen, seligen Ge­
  Wem Gott will rechte Gunst erweisen,              24. September 1905 in den        füh­len, würdigen Gedanken und huldvollen
                                                    Neuenburger Urwald._Fotos:
  Den schickt er in die weite Welt,
                                                    OTB                              Augenblicken überladet sich keiner.“
  Dem will er seine Wunder weisen                                                      „Wandern, zusammen wandern erweckt
  In Berg und Wald und Strom und Feld.                                               schlummernde Tugenden: Mitgefühl, Teilnahme,
                                                                                     Gemeingeist und Menschenliebe.“ Jahn kombi-
In der Romantik war das Thema „Wandern“ von                                          nierte das Wandern mit seinen Leibes­übungen,
großer Bedeutung. Wandern war eine der Mög-                                          was mit dem Begriff „Turnfahrt“ zusammen­
lichkeiten, einerseits der persönlichen und poli-                                    gefasst wurde.
tischen Enge zu entfliehen und andererseits Land                                        Die erste Oldenburger Turnfahrt veranstaltete
und Leute kennenzulernen. Auch für Friedrich                                         ein 1845 gegründeter Turnverein am 11. Januar

 12   | kulturland 1.21
1846. Teilnehmer waren etwa 20- bis 30-jährige Männer,          die durch Gesang und Reden ausgefüllt wurde,
und als erstes Ziel der Wanderung wurde der Ort „Ofen“ aus-     erfolgte am Nachmittage der Aufbruch nach
gesucht, einige Kilometer westlich von Oldenburg liegend.       Rastede, das in eineinhalb Stunden erreicht wurde.
Da der Verein sich nur wenige Jahre später auflöste, dauerte    Hier verlebte man beim Glase Bier noch einige
es wiederum einige Jahre, bis es ab 1861 regelmäßige Turn-      vergnügte Stunden und fuhr per Bahn nach
fahrten gab, nun organisiert vom 1859 gegründeten Oldenbur-     Haus. – Diese durch viel Humor in Wort und
ger Turnerbund. Da es zu dieser Zeit noch keine Eisenbahnen     Lied gewürzte sogenannte Kohlfahrt fand einen
gab, mussten fast alle Wege zu Fuß gemacht werden, und          so allgemeinen Anklang, dass sie bis jetzt alljähr-
eine Tagesleistung von 50 Kilometern war keine Ausnahme.        lich wiederholt worden ist.“
   Interessant ist zum Beispiel der Bericht des Schriftwartes      Diese Kohlfahrten waren zunächst eine reine
Geuther zu einer Turnfahrt am 31. Juli 1865. Die OTB-Turner     Männersache. Eine Frauenabteilung (Damen­
waren frühmorgens über Hude nach Berne gewandert und            abteilung sagte man damals) gab es im OTB erst
hatten sich dort mit Turnern aus Berne und Delmenhorst ge-      ab dem 8. November 1894. Ab 1895 gab es aber
troffen, dort in Witzlebens Park wurde dann ein öffentliches    schon eigene Frauenturnfahrten. In den ersten
Vergleichs- und Schauturnen dargeboten. Anschließend ging       Jahrzehnten der Turn- und Kohlfahrten wurde
es unter die schattigen Bäume der Huder Klosterschänke.         jedoch getrennt marschiert. Allerdings gibt es Hin-
Da auch eine Musikkapelle vorhanden war, wurde zum Tanzen       weise, dass beim Essen manchmal auch Frauen
aufgespielt, und alsbald „schwebten die Turner mit den Hu-      zugegen waren. Der Sattlermeis­ter H. A. Spieske
der Grazien über den rasigen Tanzboden“. Auf dem Rückweg        beschrieb in seinen „Erinnerungen eines alten
wurde wieder gewandert, Abendbrot gab es in Moorhausen          Oldenburgers“, die sich auf die Anfangszeit der
im Wirtshaus, und für die letzten zwölf Kilometer bis zum       Kohlfahrten bezieht, dass beim Kohlessen selbst
Oldenburger Schlossplatz hatte man einen Möbelwagen             „eine Kanne mit heißer Milch für die Damen und
(natürlich von Pferden gezogen) organisiert. Dazu heißt es:     eine Flasche mit deutschem Kornbranntwein
„Was eine Fahrt im Koopschen Möbelwagen ist, lässt sich         für die Herren bereit stand“.
weder sagen noch beschreiben. Ein Tierschutz-Verein sollte         Eine gemeinsame Kohlfahrt von Turnern und
doch dafür sorgen, dass dieser Marterkasten nur seiner          Turnerinnen gibt es erst seit 1959. Zum 100. Jubi-
Bestimmung gemäß und nicht auch zum Transport lebender          läum wurde diese geschlechtsübergreifende
Wesen benutzt werde.“ Diese letzte Etappe der
Turnfahrt im Möbelwagen verursachte Verstau-
chungen und viele blaue Flecke.
   Die Wanderziele in diesen ersten Jahren und
Jahrzehnten waren Metjendorf, Ofen, Wiefelstede,
Rastede, Hundsmühlen, Sandkrug, Hude, der
Hasbruch, der Stüher Wald und der Neuenburger
Urwald. In der Regel gab es vier Turnfahrten
pro Jahr. Als eine im Winter angesetzte Turnfahrt
(15. Januar 1871) mit einem gemeinsamen Kohl­
essen organisiert wurde, war das die Geburts-
stunde der ersten Oldenburger Kohlfahrt.

Die erste Kohlfahrt am
15. Januar 1871
Der Stadtkämmerer Hermann Dümeland (zu-
gleich auch Oberturnwart des OTB) beschrieb im Rahmen des       Kohlfahrt am 31. Januar 1959 zum ersten Mal
25-jährigen Vereinsjubiläums 1884 die erste Kohlfahrt folgen­   durchgeführt, erstaunlicherweise entgegen der
dermaßen:                                                       Meinung „einiger traditionsbewusster Boßler“.
  „Am 15. Januar 1871 machte der Turnerbund zum ersten             Apropos „Boßeln“: Zum ersten Mal wurde
Male eine Winterturnfahrt. Bei leichtem Frost und hellem        1920 das Bo­ßeln mit der Kohlfahrt kombiniert.
Sonnenschein gelangte man im dreistündigen Marsche über         Man kann sich fragen, warum das Boßeln, eine
Metjendorf nach Wiefelstede, wo bei dem biederen Wirte          ideale Ergänzung zum Wandern, erst so spät
Zur Brügge das Mittagsmahl bereitet war, bestehend aus dem      dazukam. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts ent-
Oldenburger Nationalgericht: brauner Kohl mit Pinkel, Wurst,    wickelte sich das Boßeln in Ostfriesland zu
Schweinefleisch und Bratkartoffeln. Nach dem erfrischenden      einem Volkssport und drängte das bis dahin
Marsche mundete dies leckere und für deutsche Turner fast       dominierende Klootschie­ßen zurück. Kloot-
lukullische Mahl umso besser, als auch pro Mann eine halbe      schießen ist recht gefährlich, denn eine 425
Flasche Rotwein verabfolgt wurde. Nach einer Ruhepause,         Gramm schwere Holzkugel, die mit Blei gefüllt

                                                                                               kulturland 1.21   | 13
Turnfahrt der OTB-Damen­
                  abteilung nach Damme im
                      September 1910. Eine
                Frauenabteilung gab es erst
                        seit 1894._Foto: OTB

ist, wird durch die Luft geschleu-               Wichtig bei allen Touren ist ein     gemeinsam mit allen zu feiern und
dert. Außerdem kann der Kloot nur              gut ausgestatteter Bollerwagen,        zu tanzen.
bei gefrorenem Boden gut wieder-               der diverse alkoholische Getränke,        Es ist nicht unüblich, dass man
gefunden werden. Beim weniger ge­              Kaffee und Kuchen, belegte Bröt-       als Oldenburger an mehreren Kohl-
fährlichen Boßeln ist man aller-               chen und so weiter transportieren      fahrten teilnimmt (Nachbarschaft,
dings auf eine Straße oder Stra­ßen­           muss. Es gibt in Sachen Bollerwa-      Sportverein, Freundeskreis, Betrieb
ähnliches angewiesen. Gute Straßen             gen erstaunliche Exemplare, die        und so weiter), sodass es tatsäch-
gibt es aber erst seit Beginn des              komplette Licht- und Musikanlagen      lich zu Terminproblemen kommen
20. Jahrhunderts.                              aufweisen.                             kann.
   Seit 1871 werden die OTB-Kohl-                Von großer Bedeutung bei den           Abschließend kann man also fest-
fahrten regelmäßig durchgeführt.               Kohlfahrten ist die Wahl des neuen     stellen, dass die Kohlfahrt eine sehr
Unterbrechungen gab es nur durch               Königshauses. Einerseits wird die      gute Erfindung ist, die zu viel Fröh­
den 1. Weltkrieg, die Inflation 1921           ehrenvolle Königswürde vergeben,       lichkeit und Geselligkeit unterein­
bis 1923 und den 2. Weltkrieg. Auch            aber andererseits wird dadurch         ander beiträgt und ausgiebig genutzt
in diesem Januar 2021 konnte auf               die Organisation der nächsten Fahrt    wird. Das wird zum Beispiel deut-
Grund der Pandemie keine Veranstal-            sichergestellt. Kohlkönigin und        lich daran, dass durch manche Stra­
tung stattfinden. In den letzten               Kohlkönig können auf vielerlei Arten   ßen, die zu bestimmten Kohlfahrt-
Jahren nahmen immer etwa 100 Ver-              ermittelt werden: Von einer ein-       lokalen führen (an einer dieser
einsmitglieder an der Kohlfahrt teil.          fachen Ernennung durch das alte        Stra­ßen wohnt übrigens der Autor
                                               Königshaus über die heimliche Ab-      dieser Zeilen), an jedem Winter-
                                               machung, dass die, die am lang-        wochenende mehrere Kohlfahrtgrup-
Die heutige                                    samsten essen, Königin und König       pen pilgern.
Kohlfahrtkultur                                werden, bis hin zu kompletten
                                               Tanzwettbewerben (manchmal in          Ulrich Linser ist pensio-
Kohlfahrten heutzutage gibt es in              Holzschuhen), in denen sich ein        nierter Sport- und
vielen Varianten: Man kann zu Fuß              Paar gegen die gesamte Konkurrenz      Deutschlehrer (Wittmund
von zu Hause aus losmarschieren,               durchsetzen muss. Das neue Kö-         und Wiesmoor). An der
denn im Oldenburger Stadtgebiet                nigspaar erhält im Anschluss an die    Kooperativen Gesamt-
gibt es viele Lokale, die ein Kohles-          Wahl die entsprechenden Königs-        schule Wiesmoor leitete
sen anbieten. Weil das Boßeln im               insignien und gibt in der Regel eine   er die Oberstufenkurse
Stadtgebiet schwierig ist, wird es oft         Runde Schluck aus.                     „Ostfriesische Sport­
durch mehr oder weniger lus­tige                 Sehr beliebt sind die sogenannten    arten“. Er ist seit 2019
Spielchen wie Teebeutelweitwurf                Gemeinschaftskohlfahrten: Ein          Archivar des Oldenburger
und Ähnliches ersetzt. Beliebt sind            Lokal bietet einen großen Saal an,     Turnerbundes.
die Fahrten mit Bus oder Bahn in               es gibt ausreichendes Essen und
die Umgebung, weil dann ausgiebig              Musik und verschiedene Kohlfahrt-
gewandert und geboßelt werden kann.            gruppen steuern das Lokal an, um

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KOHL- UND PINKELFAHRT
ALS FAMILIENUNTERNEHMUNG
VOR 90 JAHREN
von Dieter Rüdebusch

           ls der seinerzeit berühmte Philosoph und Philo-
            loge Justus Lipsius aufgrund von Kriegswirren im
Oktober 1586 für längere Zeit in Oldenburg Quartier nehmen
musste, bezeichnete er die örtlichen Gasthöfe als „Ställe“:
Mit Schweinetreibern und Fuhrknechten saß er bei Dünn-
bier ums flackernde Herdfeuer. Nach jedem gereichten Trunk
gab man sich feierlich die Hand. Die Speisen der ‚Westfälin-
ger‘, so nannte Lipsius die Oldenburger, bezeichnete er als      Frohgestimmte Kohlpartie von
kaum menschenwürdig. Der erste Gang bestand aus unge-            vier Delmenhorster Ehepaaren
                                                                 1932._Foto: privat
kochtem dicken Speck, der Hauptgang aus einer riesigen
Kumme voll braunen Kohls, über den einen Finger breit eine
Brühe aus Schweinefett floss. Den Kohl, so der elegant-feine                       Aber nicht nur große Gruppen durchstreiften
Universitätsgelehrte aus Leiden, aßen die Einheimischen nicht,                  das Oldenburger Land zur Kohlsaison, sondern
sie verschlangen diese Ambrosia, dieses allergieauslösende                      auch Freundes- und Verwandtenkreise organi-
einjährige Unkraut.                                                             sierten ihre individuelle Kohlfahrt. Ziel musste
   War der Grün- oder Braunkohl zur Winterzeit in Privat-                       nicht immer ein Gasthof sein, sondern beliebt
und Gasthäusern im Nordwesten das, wie wir heute wissen,                        war auch ein Grünkohlessen im Bauernhof einer
nahrhafte und gesunde tägliche Hauptgericht, so wurde –                         befreundeten Landwirtsfamilie. Während die
sieht man einmal von Schlitten- und Kutschfahrten wohl­                         Bauersleute das Essen vorbereiteten, kämpften
habender Herrschaften ab – in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­                  sich die kleinen Gruppen oft durch hohen
hunderts das gemeinschaftliche Kohlessen zum gesellig-                          Schnee, warm angezogen und bunt ausstaffiert.
gesellschaftlichen Ereignis.                                                    Das Foto zeigt drei Ehepaare aus Delmenhorst,
   Insbesondere für Delmenhorster Kohlhungrige waren die                        wohlgelaunt trotz des langen Fußmarsches von
Bauerschaften der großen Gemeinde Ganderkesee und andere                        zwölf Kilometern, bei einem Zwischenstopp
auf der Delmenhorster Geest beliebte Ansteuerungspunkte.                        kurz vor dem Ziel an einer Findlingsmauer in
Fast jedes Dorf hatte früher seinen gemütlichen Landgasthof,                    der Ganderkeseer Bauerschaft Steinkimmen.
der sich zur Winterzeit auf frohgestimmte Kohlgäste freute.                     Danach sprach man hungrig Grünkohl, Pinkel
Für größere Gruppen erfolgte die Anreise vorzugsweise auch                      und Würsten zu. Eine Kaffeetafel mit Oldenbur-
mit der Eisenbahn in Richtung Oldenburg beziehungsweise                         ger Butterkuchen beschloss den Tag.
Hesepe/Osnabrück. In den Bahnhöfen Ganderkesee, Immer,                             Während die „Stenumer Kohlinvasoren“ oft
Bookholzberg und anderen stiegen die Kohlfahrer/-innen                          schwer angeschlagen mit einem der letzten Züge
aus und legten den Rest des Weges zu Fuß zurück. Vom Hal-                       von Schierbrok nach Bremen die Rückreise
tepunkt Schierbrok ging es, durch Schnäpse gut vorgewärmt,                      antraten – es wundert nicht, dass über solche
durch das Stenumer Holz zu „Lüschens Bauerndiele“ oder zu                       Heimfahrten nur wenige Berichte erhalten sind –,
„Backenköhlers Gasthof“ in Stenum, wo die Gesellschaften                        nahmen die Steinkimmer Kohlwanderer Hut­
gesellige Stunden bei Speis, Trank und anschließendem Tanz                      filters Überlandbus, der auch schon mal auf
verbrachten. Der heute in sechster Generation geführte Gast-                    Verspätete wartete, und sie in 20 Minuten ins
hof Backenköhler bewirtete in jeder Kohlsaison Tausende von                     abendliche Delmenhorst zurückbrachte.
Gästen und galt dabei wegen des Massenbetriebs als „Baller-
mann“ der Kohlfahrer.

                                                                                                             kulturland 1.21   | 15
„Dör dat Duuster van de Tiet
             lucht min Schienfatt wiet un siet.“
             Karl Fissen

De       „OLLNBORGER KRING“
         is vör 100 Jahr grünnt wurrn
          Van Stefan Meyer

                  e Eerst Weltkrieg weer man         in’t „Haus Schöneck“ an’n Julius-
                  erst en paar Jahr vörbi. De        Mosen-Platz en Bespreken. Dor
                 Monarchie weer ok to Enn. De        hett Albert Hilmer de Naam „Olln-
                 Kaiser in’t Exil. De Spanisch       borger Kring“ fastleggt. De Grün-
               Gripp gung dör Europa un dor          dungsversammeln för de Vereen
             sind mehr Minschen an Dood ble-         weer an’n 21. Märzmaand 1921 in
            ven as in de Krieg. Not, Elend, Smacht   de Aula van’t Lehrerseminar an de
             un Reparationen dukten de Min-          Peterstraat mit över 100 Lüe. De
             schen in Düütschland daal. Vele         Schrieverskeerl un Studienrat Dr.
             noch traumatiseert van de Krieg.        Karl Fissen (1885–1978) ut Jever
             Nich blots dat Brot fehlde, ok dat      hett dor ok en Vördrag holln. An’t
             Hapen up betere Tieden.                 Enn van de Avend is de Ollnborger
               En Besinnen up de egen Heimat,        Kring as Heimatvereen van de Stadt
             de egen Werte un dat Bewahren           Ollnborg mit 89 Maten in de Gan-
             un Ut’nannersetten mit de Welt un       gen kamen. Vörnweg seh de Olln-
             de Kultur um sik to – dat is dat,       borger Kring sien Up­gaven in
             wat för vele Minschen weer en Sinn      3 de Pleeg un de Stütt van de
             in’t Leven geven kunn. Vör all in         plattdüütsch Spraak un Literatur
             de fröhen 1920er-Jahren sind denn       3 Heimat- un Kulturpleeg
            vele Heimatvereen in Düütschland         3 Altertums- un Spraakforschung
            grünnt wurrn. So ünner annern in         3 Schuul van Altertümern un
             us Kuntrei 1919 de Heimatbund             Bruukdoom.
             Oldenburger Münsterland, 1920 de        De eerst Kringbaas is denn Dr.
             Heimatvereen Jever un 1921 de Hei­      August Frese wurrn.
             matvereen Varel.                          Bekannt wurrn is de Kring över
                Ok in de Stadt Ollnborg hebbt sik    de Jahren vör all mit de „Lüttjen
             kloke Lüe tosamen funnen un sik         Kringabende“. De eerst Kringabend
             up ehr Heimat, ehr Spraak un ehr        geev dat al an’n 27. Aprilmaand
             Kultur besinnt. In’n Januar­maand       in de Handwerkskammer Ollnborg.
            1921 funn in’n Etzhorner Kroog en        Dor is ok denn de „Speeldäl“ ut
             plattdüütsch Lesung mit de School-      de Dööp nahmen wurrn. Flink gung
             mester Jan Heinken (1897–1978)          dat mit dat lebennig Kring-Leven
             statt. Tosamen mit de Schoolmester      wieter: De „Heimatkundliche Vor-
            Albert Hilmer (1896–1927) sind de        tragsreihe“ nehm Fahrt up. De eerst
             beid dor up kamen, en plattdüütsch      Vördrag hett Pastor Carl Woeb­cken
            Vereen in Ollnborg up de Been to         ut Sillenstede an’n 22. Junimaand
            stelln. An’n 3. Märzmaand weer           1921 in de „Union“ in de Heiligen-

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