WOLFEGGER BLÄTTER - Bauernhausmuseum Wolfegg
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SONDERAUSGABE 2014 WOLFEGGER BLÄTTER Die Schwabenkinder Geschichlicher Hintergrund, Wege und Ausstellung Christine Brugger | Zwei grenzüberschreitende Projekte auf den Spuren der Schwabenkinder Stefan Zimmermann | Arbeiten in der Fremde Elmar Bereuter | Die Wege der Schwabenkinder Stefan Zimmermann | Wie ging es eigentlich weiter?
WOLFEGGER BLÄTTER Fotografie der Reiterprozession anlässlich des Blutfreitags in Weingarten, 1924 Traditionell stand den Schwabenkindern zu diesem Termin in der Woche vor Pfingsten ein freier Tag zu, den sie in Weingarten verbringen konnten – die seltene oder gar die einzige Möglichkeit für Monate, Geschwister oder Freunde zu treffen, die an entfernt liegenden Dienstorten arbeiteten. Manche Schwabenkinder erhielten von ihren Dienstherren sogar wenige Mark „Handgeld“ für diesen Tag. Man könnte in dem Jungen mit Hut („Tirolerhut“) auf der linken Seite des Bildes ein Schwabenkind vermuten… Als musikalischer Beitrag zu dem grenzüberschreitenden EU-Projekt „Die Schwabenkinder“, kam es am 9. Juni 2012 zur Aufführung einer Neufassung der von Enjott Schneider komponierten Messe. Die Schwabenkinder-Messe entstand aus Materialien der Filmmusik zu Jo Baiers Film „Die Schwabenkinder“. Für die Neufassung der Messe zeichnet der Dirigent des Vorarlberger Madrigalchores, Guntram Simma, sowie der Pianist und Kompositeur, Iván Kárpáti, verantwortlich. Neben Weingarten gab es auch weitere Aufführungen in Dornbirn und Schruns. |2 Brugger | Zimmermann | Bereuter
S O N D E R A U S G A B E 2 01 4 Editorial Sehr geehrte Leser des Sonderhefts der Wolfegger Blätter, besondere Ereignisse fordern auch besondere Maßnah- ment für das Museum. Denn immer wieder ist es men. Erstmals in der Geschichte der Wolfegger Blätter Thema heftiger Diskussionen in der Vorstandschaft, hat sich die Fördergemeinschaft des Bauernhausmuse- ob der finanzielle und auch der zeitliche Aufwand ums Wolfegg dazu entschlossen, ein Sonderheft zu den mit unserem Satzungsauftrag vereinbar ist. Denn aktuellen Ausstellungen im Museum herauszugeben. gerade bei einem Museum wie unserem, das von ehrenamtlicher Unterstützung und Zuschüssen von Nach der Eröffnung der Schwabenkinder-Daueraus- außen lebt, ist es wichtig, mit personellen und finan- stellung zu Beginn der Museumssaison 2012, folgte ziellen Ressourcen bedacht zu haushalten. 2013 die neue Sonderausstellung „Enge Täler - Wei- tes Land‘‘. Doch damit nicht genug: das Museum Trotz vielem Für und Wider haben wir uns in der eröffnete zum Saisonauftakt 2014 die Ausstellung Vorstandschaft dazu entschlossen, ein Sonderheft „1914/1918 Erinnerungen an einen Weltkrieg‘‘, ein mit einer Auswahl an Artikeln der letzten drei Hef- weiteres aktuelles Thema aus der Region. te zu fertigen. In dieser Ausgabe sind alle wichti- gen Artikel zu den drei laufenden Ausstellungen Wie die Besucherzahlen des Jahres 2012 mit ca. abgedruckt. Wir haben versucht die Fülle an Infor- 94.000 Besuchern und 2013 mit ca. 86.000 Besu- mationen, die der Besucher in den Ausstellungen chern zeigen, ist das Museum auf dem richtigen vermittelt bekommt, in unserer Sonderausgabe der Weg. Mit seinen pädagogischen Programmen, Aus- Wolfegger Blätter zu bündeln, so daß sich die Be- stellungen und Veranstaltungen ist es eine echte Be- sucher in ruhiger Minute nochmals ausführlich mit reicherung der Museumslandschaft in der Region. Es dem Thema beschäftigen können. ist nicht nur Ausstellungsort für längst vergangene Zeiten, sondern widmet sich auch aktuellen Themen Um die Trennung der unterschiedlichen Themenge- und arbeitet diese in Form von Ausstellungen wis- biete gestalterisch zu verdeutlichen, haben wir uns senschaftlich auf und bringt sie Besuchern aller Al- eines Tricks bedient: Sie können das Heft von vorn tersklassen näher. und von hinten lesen, je nachdem, welches Thema Sie interessiert. Das Heft hat deshalb auch zwei Ti- In der jährlichen Ausgabe der Wolfegger Blätter telseiten, die den Heften 2012 und 2014 entnommen berichten wir, die Fördergemeinschaft, über aktuel- sind. Zur sichbaren Trennung der beiden Themen le Themen wie z.B. die Ausstellungen im Museum. haben wir das Beitrittsformular der Fördergemein- Diese Berichte sind als Vorabinformation für unsere schaft eingefügt, denn unsere Fördergemeinschaft Mittglieder zum jährlichen Ausstellungsprogramm lebt mit und von seinen Mittgliedern. gedacht, da es sich im ursprünglichen Sinn um ein Mittgliederheft handelt. Doch die Entwicklung der Wir wünschen Ihnen vergnüglichen Lesespaß und letzten Jahre lehrte uns, daß die Besucher der Aus- eine spannende Lektüre unseres Heftes! PS: Lob, stellungen unser Heft gerne als Informationsbro- Tadel und Anregungen nehmen wir gern entgegen. schüre zur Ausstellung mit nach Hause nahmen. Das Schreiben Sie uns doch einmal, was Ihnen gut oder stets gute Feedback über die Qualität und die Form gar nicht gefallen hat! Wir möchten nämlich gern unseres Heftes bestätigte uns in unserem Engage- immer noch besser werden. Ihr Chefredakteur Ihr 1. Vorsitzender Bernd Auerbach Eberhard Lachenmayer bernd_auerbach@me.com eberhard.lachenmayer@t-online.de Brugger | Zimmermann | Bereuter 3|
WOLFEGGER BLÄTTER Zwei grenzüberschreitende Projekte auf den Spuren der Schwabenkinder Abb. 1: Die Schwabenkinderwege im Bregenzerwald bei Sibratsgfäll von Christine Brugger der im Alpenraum mit ihren ehemaligen Arbeitsplät- zen in Oberschwaben zu verbinden. 27 Museen, Archive und Kultureinrichtungen in fünf Initiiert wurde die grenzüberschreitende Zusam- Ländern – in den Herkunftsregionen der Kinder in menarbeit im Jahr 2007 vom Bauernhaus-Museum Österreich, der Schweiz, Liechtenstein und Italien so- Wolfegg. Mit dem Themenbereich Schwabenkinder/ wie der Dienstregion Deutschland – nähern sich dem Arbeitsmigration wird damit ein heute noch aktu- Themenbereich „Arbeitsmigration aus den Alpen“ und elles Thema aufgegriffen, das in der Vergangenheit „Schwabenkinder“ in dauerhaften Ausstellungen auf die Alpenregionen und Oberschwaben eng verbun- verschiedene Weise. Ziel der grenzüberschreitenden den hat. Die Schwabenkinder waren alljährlich über Zusammenarbeit ist es, die Geschichte der Schwaben- sieben Monate hinweg Teil der oberschwäbischen kinder aufzuarbeiten und einer breiten Öffentlichkeit Bauernhöfe und deren Anwesenheit in den Dörfern zu präsentieren sowie die Herkunftsgebiete der Kin- selbstverständlich. Damit liegt es nahe, dass das |4 Brugger | Zimmermann | Bereuter
S O N D E R A U S G A B E 2 01 4 Bauernhaus-Museum Wolfegg sich mit dieser Wan- derbewegung und vor allem mit dem Alltag der Kin- der in Oberschwaben auseinandersetzt. Die Schwabengängerei – ein historischen Phänomen Schwabenkinder oder Schwabengänger beschreibt eine Kinderwanderung aus den Alpengebieten nach Oberschwaben. Seit dem 17. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zogen Söhne und Töchter armer Berg- bauernfamilien im Alter zwischen 6 und 14 Jahren nach Oberschwaben, in die Bodenseeregion und ins Allgäu, um auf Hütekindermärkten als saisona- le Arbeitskräfte an die dortigen Bauern vermittelt zu werden. Neben zahlreichen, durch die Suche nach Arbeit ausgelösten Migrationsströmen von Erwachsenen aus dem Alpenraum nach Süddeutschland bewegten sich mehr als drei Jahrhunderte lang auch Kinder in die Fremde. Enge politische, ökonomische und kulturelle Verbindungen zwischen den Herkunfts- Abb. 2: Wege der Schwabenkinder nach Oberschwaben. gebieten – Vorarlberg, Tirol, Südtirol, Graubünden und Liechtenstein – und den Zielgebieten – Ober- schwaben und das Allgäu – existierten seit jeher. Schwabenkinder, trifft man trotz ihrer großen Zahl Große Teile Oberschwabens waren als vorderöster- nur selten. reichisches Herrschaftsgebiet eng mit Vorarlberg Jahrhunderte lang war es für viele Familien in und Tirol verbunden; wirtschaftliche Beziehungen den Alpengebieten fester Bestandteil des Alltags, bestanden insbesondere durch den Export von Ge- dass erwachsene Familienmitglieder während des treide aus Oberschwaben nach Vorarlberg und in die Sommers oder gar für mehrere Jahre in der Frem- Schweiz, ein seit dem 18. Jahrhundert bedeutender de ihren Lebensunterhalt verdienten. Als Teil dieses Wirtschaftsfaktor für Oberschwaben. Stroms von Arbeitssuchenden ist auch die Wande- Über Generationen hinweg prägte die saisonale rung der Schwabenkinder zu sehen, die ab dem be- oder dauerhafte Auswanderung von Erwachsenen ginnenden 17. Jahrhundert alljährlich nach Ober- oder ganzen Familien aus den Alpen nach Ober- schwaben, in die Bodenseeregion und ins Allgäu schwaben die betroffenen Regionen: Die gezielte geschickt wurden. ¢ Anwerbung von Schweizer oder Vorarlberger Sied- lern nach dem Dreißigjährigen Krieg, als große Teile Oberschwabens durch die Kriegsfolgen entvölkert waren, genauso wie saisonale Arbeitskräfte aus den BILDMATERIAL Alpen, deren Spuren in Oberschwaben manchmal • Abb. 1: Gemeinde Schwarzenberg augenfällig, in anderen Fällen kaum nachzuwei- sen sind. Vom Sesshaftwerden der Siedler aus dem Rheintal im 17. Jahrhundert zeugen die so genann- LITERATUR ten Rheintalhäuser wie das Haus Füssinger im Bau- • Elmar Bereuter, Die Schwabenkinder. Die Geschichte des ernhaus-Museum Wolfegg. Die Neuankömmlinge Kaspanaze, München¹ 2011. brachten den Baustil ihrer Heimat mit nach Ober- • Elmar Bereuter, Schwabenkinder-Wege. Oberschwaben. Bregenz-Friedrichshafen-Ravensburg-Wolfegg, schwaben. Auch die barocken Baumeister aus dem München 2011. Bregenzerwald, die zeitlich beschränkt in der Frem- • Regina Lampert, Die Schwabengängerin. Erinnerungen de tätig waren, haben sich und ihrer Baukunst in einer jungen Magd aus Vorarlberg 1864 - 1874, ganz Oberschwaben bedeutende Denkmäler gesetzt. hrsg. von Bernhard Tschofen, Zürich und Basel 2000. Auf Hinterlassenschaften anderer Migrationsgrup- • Othmar Franz Lang, Hungerweg. Das Schicksal der Schwabenkinder, München und Ulm¹ 2011. pen, wie der Krauthobler aus dem Montafon oder saisonaler Hilfskräfte in der Landwirtschaft wie die Brugger | Zimmermann | Bereuter 5|
WOLFEGGER BLÄTTER „Arbeiten in der Fremde“ Vier Jahrhunderte Arbeitsmigration in die oberschwäbische Landwirtschaft von Stefan Zimmermann aber die Arbeitsmigration auch zu diesem Zeitpunkt von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Es gab Arbeitsmigration im ländlichen Raum ist kein Phäno- bereits eine Vielzahl von Saisonwanderungen, die men ausschließlich jüngeren Datums. Zu allen Zeiten sich über den gesamten europäischen Kontinent er- hat es größere und langfristig wirksame Wanderungs- streckten. Dem Prinzip der „Kettenmigration“ fol- bewegungen auf dem Land gegeben, die - ebenso wie gend zogen ehemalige Saisonarbeiter, die sich in heute - unterschiedlich motiviert waren.1 ökonomisch prosperierenden Regionen niederließen, Besonders Regionen, die seit Jahrhunderten weitere Landsleute nach. Auch die religiösen Verfol- durch eine intensive agrarische Nutzung geprägt gungen dieser Jahrhunderte weisen nicht selten zu- waren, waren stets zusätzlich auf den Zufluss frem- gleich Aspekte der Wirtschaftsmigration auf. Denn der Arbeitskräfte angewiesen. Auch in Oberschwa- eine aufgrund ihres Glaubens vertriebene Bevölke- ben und dem angrenzenden Bodenseeraum oder rungsgruppe wurde andernorts beispielsweise wegen dem Allgäu gibt es seit nahezu vier Jahrhunderten ihrer handwerklichen Fähigkeiten hoch geschätzt. eine vorwiegend saisonale Zuwanderung ausländi- Erwähnenswert ist zudem eine der ältesten Formen scher Arbeitskräfte in die Landwirtschaft. Dieser Bei- der Arbeitsmigration: die Gesellenwanderung in trag möchte die Kontinuität dieser Arbeitsmigration den Handwerkerberufen. Auf diese Weise gelangten über einen Zeitraum von nahezu 400 Jahren chro- bereits früh ausländische Arbeitsmigranten – vor- nologisch fassen und dabei deren unterschiedliche nehmlich aus dem an den Bodensee angrenzenden Phasen, Unterschiede und Kontinuitäten aufzeigen. Alpenraum - auf die Höfe Oberschwabens. Ihre Zahl Die Bewertung der einzelnen Phasen erfolgt dabei ist aufgrund der schwierigen Quellenlage und da es primär unter regionalgeschichtlichem Fokus, aller- sich in den allermeisten Fällen um unorganisier- dings spielten sich die wenigsten explizit begrenzt te Wanderungsbewegungen handelte nur äußerst auf Oberschwaben und die angrenzenden Regionen schwer zu quantifizieren. ab, sondern betrafen ganz Süddeutschland, den ge- Kriegerische Konflikte, insbesondere der Dreißig- samten deutschsprachigen Raum oder gar darüber jährige Krieg (1618 - 1648), dezimierten die Bevöl- hinaus. Bei der Einordnung und Bewertung einzel- kerung schlagartig und hatten die Zerstörung und ner Phänomene der Arbeitsmigration wie beispiels- fast vollständige Entvölkerung ganzer Landstriche weise des „Arbeitseinsatzes“ von Kriegsgefangenen Europas zur Folge. Für die Arbeitsmigration in die und Zwangsarbeitern während der beiden Weltkrie- oberschwäbische Landwirtschaft bildete der Dreißig- ge oder der Anstellung vorwiegend osteuropäischer jährige Krieg in dieser Hinsicht eine schwerwiegen- Saisonarbeiter nach der Öffnung des „Eisernen Vor- de Zäsur. Wie zahlreiche Gegenden Süddeutschlands hangs“ 1989 müssen selbstverständlich auch grö- hatte auch Oberschwaben durch Kämpfe, Vertrei- ßere historische Zusammenhänge und Perspektiven bungen, Hunger und Seuchen enorme Bevölke- berücksichtigt werden. rungsverluste erlitten. Nun warben sowohl weltliche wie geistige Herrschaften, deren ökonomische Macht 17. bis 18. Jahrhundert und politischer Einfluss ganz entscheidend von den In historischer Perspektive werden die europäischen regelmäßigen Einnahmen aus den Steuern und Ab- Migrationsbewegungen des 16. bis 18. Jahrhunderts gaben ihrer Untertanen abhing, um Siedler aus den vor allem mit Krieg und Religionsverfolgung in Ver- Nachbarregionen. Zahlreiche Menschen aus Vorarl- bindung gebracht. Als drittes Wanderungsmotiv ist berg und Graubünden folgten diesem Ruf, siedelten |6 Brugger | Zimmermann | Bereuter
S O N D E R A U S G A B E 2 01 4 sich in Oberschwaben an und begannen zerstörte aus dem Alpenraum den Weg auf oberschwäbische oder verlassene Hofstätten wieder zu bewirtschaf- Höfe, doch entwickelte sich daraus zu keiner Zeit ten. Mit anfänglichen Steuer- und Abgabenerlassen ein Massenphänomen wie dies in anderen, ebenfalls suchten die Grundherren einen attraktiven „Stand- stark agrarisch geprägte Regionen der Fall war. Die ortvorteil“ für die Neuankömmlinge zu schaffen. Züge der Schwabenkinder bildeten daher innerhalb Obwohl diese Migrationsbewegung der oberschwä- der Tradition saisonaler Arbeitsmigration aus dem bischen Landwirtschaft nach dem tiefen Einschnitt Alpenraum nach Oberschwaben über einen langen des Dreißigjährigen Krieges einen starken Impuls Zeitraum sowohl quantitativ, als auch den Organi- verlieh, hat sie dennoch vergleichsweise wenig greif- sationsgrad der jährlichen Wanderungsbewegung bare Spuren hinterlassen. Vielmehr fand eine rasche betreffend, eine Ausnahmeerscheinung. Assimilierung der Migranten an die bestehenden sozialen, ökonomischen und kulturellen Strukturen 19. Jahrhundert der Aufnahmeregion statt. Ein bedeutendes bauhis- Die Migrationsbewegungen des 19. Jahrhunderts torisches Zeugnis dieser Wanderungsbewegung nach waren vorwiegend politisch und wirtschaftlich mo- Oberschwaben befindet sich heute auf dem Gelände tiviert. „Wirtschaftlich war die Ausländerbeschäfti- des Bauernhaus-Museums Wolfegg. Das ursprüng- gung vor allem Ausdruck des Strukturwandels […] lich 1705 in Sieberatsreute bei Waldburg erbaute und vom Agrar- zum Industriestaat; die Zufuhr von aus- 1980 nach Wolfegg translozierte „Haus Füssinger“ ländischen Arbeitskräften konnte dabei die Land- weist alle architekturgeschichtlichen Charakteristika wirtschaft vor der direkten Lohnkonkurrenz zur eines „Rheintalhauses“1 auf, wie man sie heute noch Industrie noch längere Zeit bewahren [...]. Gleich- im Vorarlberger und Schweizer Rheintal findet. zeitig aber beschleunigte die Ausländerbeschäfti- Als die Zuwanderung aus den Alpenländern gung die Saisonalisierung des landwirtschaftlichen 2 Ende des 17. Jahrhunderts abebbte, tauchten im Arbeitsmarktes.“ Die Arbeitsmigration vor allem 18. Jahrhundert neue Gruppen von Migranten auf, am Ende des 19. Jahrhunderts war von der Indus- deren Hinterlassenschaften wir heute noch zahl- trialisierung und dem raschen Bevölkerungswachs- reich finden, z.B. italienische Künstler und Archi- tum in den Städten, verbunden mit dem Prozess der tekten. Auch in dieser Zeit fanden sicherlich wei- „Landflucht“, geprägt. Dies waren Phänomene des terhin regelmäßig landwirtschaftliche Arbeitskräfte Übergangs von der Agrar- zur Industriegesellschaft in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. Oberschwaben blieb bis weit in das 20. Jahrhundert hi- nein stark agrarisch geprägt, jedoch brachte das 19. Jahrhundert einen grundlegenden Strukturwandel in der Landwirtschaft mit sich.3 Die zuneh- mende Spezialisierung auf Viehzucht bzw. Milchproduktion zur Käseher- stellung bedeutete einen immer grö- ßeren Bedarf an Grünfutter für das Vieh, deshalb wurde der Ertrag der Weiden weiter gesteigert. In der Heu- saison wurden daher erheblich mehr Arbeitskräfte als in den restlichen Monaten des Jahres benötigt. Diese Entwicklung erreichte gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen Höhe- punkt. Besonders zwischen Mai und September brachte dieser Struktur- Abb. 12: Das „Haus Füssinger“ aus Sieberatsreute auf dem Gelände wandel im Agrarsektor und der damit des Bauernhaus-Museums Wolfegg ist ein typisches Rheintalhaus, verbundene Arbeitskräftebedarf zahl- wie es mit den Siedlern aus dieser Region nach dem Dreißigjährigen reiche Wanderarbeiter aus anderen Krieg auch nach Oberschwaben und den Bodenseeraum gelangte. Regionen Württembergs vor allem Brugger | Zimmermann | Bereuter 7|
WOLFEGGER BLÄTTER der Schwäbischen Alb und aus Bayern aber auch Arbei- ter aus Vorarlberg, vereinzelt sogar aus den östlichen Pro- vinzen der Habsburger Mon- archie (v.a. Polen und Galizi- en), nach Oberschwaben und in die angrenzenden Regionen mit vergleichbarer landwirt- schaftlicher Nutzung.4 Verdingt wurden die meis- ten inländischen wie auslän- dischen Saisonkräfte teilweise bis in die 50er- Jahre des 20. Jahrhunderts über die örtli- chen Gesindemärkte. Bei der Vermittlung ausländischer Arbeitskräfte in die Land- wirtschaft schalteten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend staatliche Instan- p Abb. 13: Passfotos von russischen Zwangsarbeitern für zen und Behörden ein und deren Arbeitspapiere. Zwangsarbeiter aus den besetzten versuchten einen institutio- Gebieten der Sowjetunion waren gezwungen, ein Stoff- nellen Rahmen und einheit- abzeichen mit den Buchstaben „OST“ sichtbar auf ihre liche Arbeitsbedingungen zu Kleidung aufgenäht zu tragen. schaffen. In der Praxis wur- den die neu geschaffenen Kriterien, die für ganz dischen Arbeitskräfte stammte aus Deutschland gelten sollten, den jeweiligen regiona- Russland und Österreich-Ungarn. len Gegebenheiten angepasst und durch die Tatsa- Sowohl das Jahrzehnt vor dem che, dass viele Saisonarbeitskräfte einfach immer Ersten Weltkrieg als auch die Jahre wieder den gleichen Arbeitgeber aufsuchten, entfiel der Weimarer Republik waren, ge- die staatliche Vermittlung sowieso. Eine massen- prägt durch staatliche Maßnahmen hafte saisonale Zuwanderung wie es in den deut- mit dem Ziel die Anwerbung und schen Ostprovinzen mit polnischen Erntehelfern der Zuwanderung ausländischer Ar- Fall war, entwickelte sich auch im 19. Jahrhundert beitskräfte zu zentralisieren stärker zu kontrollieren in Oberschwaben nicht. Die alljährlichen Wande- und effektiver zu organisieren. Die 20ger- und 30ger rungen der Schwabenkinder aus den verschiede- Jahre des 20. Jahrhunderts waren geprägt durch ei- nen Regionen des Alpenraums nach Oberschwaben nen sich stetig verschärfenden Arbeitskräftemangel blieben also auch während des 19. Jahrhunderts in der Landwirtschaft in ganz Deutschland. Vorran- der zahlenmäßig stärkste Zuwanderungsstrom an giges Ziel der Politik war es vor diesem Hintergrund, ausländischen Arbeitskräften. ein Instrumentarium zu schaffen, dass die Zulassung von ausländischen Arbeitskräften – gerade auch in 20. Jahrhundert der Landwirtschaft eng an die wirtschaftliche Lage Insgesamt erreichte die Zuwanderung von ausländi- Deutschlands anpasste. Besonders im Agrarsektor schen Arbeitskräften bereits zu Beginn des 20. Jahr- kam ausländischen Arbeitskräften eine Funktion als 6 hunderts in Deutschland neue Dimensionen. „Zwi- „konjunkturelle Reservearmee“ zu. Wollte ein Land- schen 1871 und 1910 stieg die Zahl der Ausländer im wirt Ausländer einstellen, musste er zunächst nach- Deutschen Reich von etwa 206.000 bei der Reichs- weisen, dass ihm entsprechende einheimische Arbei- gründung (0,5% der Gesamtbevölkerung) auf 1,259 ter nicht zu Verfügung standen. Gleichzeitig wurde Mio. im Jahre 1910 (1,9%)“5. Mehr als die Hälfte aller die Arbeits-und Aufenthaltsgenehmigung für alle in Deutschland beschäftigten Ausländer arbeitete zu Ausländer auf zwölf Monate begrenzt. In den 20er- diesem Zeitpunkt bereits in der Industrie, ein Drit- und 30er Jahren waren es vor allem Landarbeiter aus tel in der Landwirtschaft. Zwei Drittel der auslän- Österreich, der Schweiz und Italien, die auf den Hö- |8 Brugger | Zimmermann | Bereuter
S O N D E R A U S G A B E 2 01 4 t Abb. 14: Serbische Kriegs- gefangene während des Ersten Weltkriegs. In der Landwirt- schaft wurden größtenteils serbische und russische Kriegsgefangene eingesetzt. t Abb. 15: Die Kriegsgefan- genen wurden von den großen p Abb.16: Da aufgrund der landwirtschaft- Sammellagern aus - wie z.B. in lichen Struktur der Region keine flächen- Ulm – meist mit der Bahn auf die deckende Bewachung der Kriegsgefangenen einzelnen Dörfer verteilt. Die An- möglich war, kam es immer wieder zu Flucht- kunft eines Gefangenentransports versuchen. Diese wurden in der Regel, wie hier wurde der Gemeinde wie hier im im Fall eines russischen Kriegsgefangenen im August 1918 vorab angekündigt. Sommer 1916, mit Arrest bestraft. fen der Region arbeiteten. Zahlreiche ausländische schen Landwirtschaft und damit selbstverständlich Arbeitskräfte zog es bereits um 1900 auch in die im auch in der Region Oberschwaben beschäftigt. Be- ländlichen Raum entstehenden Industriebetriebe. In sonders die Deportationen von Millionen Menschen der Region Ravensburg waren dies beispielsweise zur Zwangsarbeit auf das Territorium des Deutschen das Torfwerk in Bad Wurzach oder eine Papierfabrik Reiches während des Zweiten Weltkriegs stellen bis in Wolfegg. Beide Betriebe beschäftigten zahlreiche, heute eine der größten von Menschen organisierten vorwiegend italienische Saisonkräfte. – gleichwohl erzwungenen – Wanderungsbewegun- gen der Weltgeschichte dar. Exkurs: Einsatz von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen – Zwangsmigration 1945 bis in die Gegenwart während der beiden Weltkriege Trotz eines kontinuierlichen Zustroms von Arbeits- Ein besonderes Kapitel der Beschäftigung ausländi- kräften aus dem Osten Deutschlands und einer Ar- scher Arbeitskräfte in der Landwirtschaft stellen der beitslosenquote von 5,6% mit etwa 1 Million Ar- massenhafte Einsatz von Kriegsgefangenen während beitsloser im Westen Deutschlands bestand bald des Ersten Weltkriegs sowie die Ausbeutung der Ar- nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der Landwirt- beitskraft von zivilen Zwangsarbeitern und Kriegs- schaft erneut Bedarf an einem raschen Zufluss von gefangenen während des Zweiten Weltkriegs dar. Arbeitskräften. „Entgegen der späteren Verschiebung Zahlenmäßig waren während der beiden Weltkrie- in der Wahrnehmung der Anwerbebedingungen ge mit Abstand die meisten Ausländer in der deut- wurden Arbeitskräfte zu einem erheblichen Teil für Brugger | Zimmermann | Bereuter 9|
WOLFEGGER BLÄTTER p Abb. 17: Das Arbeitsamt in Ravensburg in der Raueneggstrasse zu Beginn der 1930er Jahre. Die gesetzlichen Vorgaben und Bestimmungen der Aus- länderbeschäftigung wurden in den Jahren der Weimarer Republik weiter vereinheitlicht und alle Befugnisse in diesem Bereich bei den Arbeitsämtern angesiedelt. Deutschland besaß Anfang der 1930er Jahre eine der fort- schrittlichsten und effektivsten Gesetzgebungen in diesem Bereich in Europa. die Landwirtschaft gesucht“.7 Bemerkenswerterweise Industrie wurden bei ging nach 1945 die erste Initiative mit dem Ziel aus- geregelten Arbeitszeiten ländische Arbeitskräfte in die Landwirtschaft zu ho- bessere Löhne gezahlt. len von württembergischen Boden aus. Noch bevor In der Folge blieben die junge Bundesrepublik 1955 die erste bilaterale viele Stellen in landwirtschaftlichen Betrieben un- Anwerbevereinbarung mit Italien abschloss, der bis besetzt, da sich nun auch fast keine ausländischen Ende der 1960er-Jahre weitere derartige Abkommen Gastarbeiter mehr fanden, die bereit waren dort zu mit anderen Staaten folgten8, reiste im Jahr 1953 den vorherrschenden Bedingungen zu arbeiten. Karl Lutterbeck, damaliger Vorsitzender des baden- Die Technisierung und Mechanisierung der württembergischen Bauernverbands, nach Italien deutschen Landwirtschaft läutete 1945 einen grund- um dort auf eigene Faust Landarbeiter anzuwerben. legenden Strukturwandel im Agrarsektor ein, der Lutterbeck beschrieb später das Prozedere vor dem zahlreiche Arbeitsplätze von Saisonkräften zudem Arbeitsamt der Staat Udinese, wo sich etwa 600 Ar- überflüssig werden ließ. Ausländische Arbeitskräfte beitswillige versammelt hatte so: „Da saßen wir an wurden in der Region Oberschwaben und dem an- einem Tisch, so wie bei einer Musterungskomissi- grenzenden Bodenseeraum nun in Sonderkulturen on, und die defilierten dann also an uns vorbei. benötigt, bei denen wie z. B. im Hopfenanbau die Und dann haben wir sie nach Größe, nach der Stär- Mechanisierung erst später einsetzte oder bestimm- ke, nach Körperbau angeguckt. Manchmal haben te Arbeitsvorgänge weiterhin in Handarbeit erledigt wir uns auch die Hände zeigen lassen, ob sie auch werden mussten. Noch zu Beginn der 1950er Jah- möglichst große Hände und feste Schwielen an den re kamen bis zu 5.000 Saisonarbeiter während der Fingern haben. Daraus meinten wir zu sehen ob er Hopfenernte in das Gebiet um Tettnang. Auf einem also das Arbeiten gewohnt ist. Ab und zu guckte Hof mit einem Anbaugebiet von etwa 10 Hektar man einem dieser Italiener in den Mund, um festzu- wurden in dem engen Zeitfenster der Ernte von etwa stellen, ob auch seine Zähne einigermaßen in Ord- drei Wochen bis zu 250 Saisonkräfte beschäftigt, 9 nung sind.“ Einige dieser Arbeitskräfte gelangten in der großen Mehrheit Frauen. Sie waren alle auf auch nach Oberschwaben und mehrere Jahre folgten den Höfen untergebracht und wurden dort verpflegt. ihnen zahlreiche Landsleute. Doch rasch wurden die Die Saisonarbeitskräfte zum „Hopfenbrocken“ ka- Stellen in der Landwirtschaft auch für ausländische men aus anderen Regionen Süddeutschlands wie Arbeitsmigranten immer unattraktiver, denn in der dem Schwarzwald, der Schwäbischen Alb oder dem | 10 Brugger | Zimmermann | Bereuter
S O N D E R A U S G A B E 2 01 4 t Abb. 19: Nach 1933 und besonders in den Jah- ren unmittelbar vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde die Überwachung und Kontrolle von ausländischen Arbeitskräften auf deutschem Boden durch die nationalsozialistischen Machthaber spürbar verschärft. Auch Wanderarbeiter wie hier ein italienischer Kesselflicker – im ländlichen Raum keine Seltenheit – mussten sich die entsprechenden Bescheinigungen der Behörden besorgen. t Abb. 20: Das Back- haus des Maierhofs aus Bergatreute. Das t Abb. 18: Verpflichtungsschein Backhaus steht heute aus dem Jahr 1922. Vor dem auf dem Gelände des Hintergrund der wirtschaftlichen Bauernhaus-Museums Krisensituation und Massen- in Wolfegg und wurde arbeitslosigkeit in Deutschland während des Zweiten wurde die Anstellung ausländi- Weltkriegs für einige scher Saisonkräfte – auch in der Jahre als Sammelunter- Landwirtschaft – genau kontrol- kunft für belgische und liert und durch neue Regelungen französische Kriegsge- erschwert. fangene benutzt. nahen Allgäu, zu etwa 70% jedoch aus Vorarlberg. Biberach tätig. Etwa 65% von ihnen stammten aus Während in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Polen, die übrigen aus Rumänien und den Nachfol- die Tettnanger Hopfenbauern noch alljährlich in den gestaaten des ehemaligen Jugoslawien. Das Boden- Vorarlberger Zeitungen annoncierten, um ausrei- seegebiet hatte in den letzten Jahren für Saisonkräf- chend Saisonkräfte zu bekommen, ging der Bedarf te aus Ost- und Südosteuropa etwas an Attraktivität ab Mitte der 1950er-Jahre zurück, nachdem auch bei verloren, da sich einerseits die ökonomische Situ- der Hopfenernte zunehmend neue Maschinen einge- ation in deren Heimatländern verbesserte und an- setzt wurden. Dennoch findet bis heute in der Hop- dererseits zahlreiche Arbeitskräfte zunehmend nach fenanbauregion Tettnang ausländische Saisonkräfte Großbritannien oder Irland auswichen, weil dort z.B. – allerdings nicht mehr während der Ernte. Zahlrei- im Baugewerbe höhere Löhne bezahlt wurden. Dieser che Höfe beschäftigen für die im Frühjahr anfallen- Trend erfuhr durch die weltweite Wirtschafts- und den Tätigkeiten wie das Aufhängen und Stecken der Finanzkrise, die Irland, Großbritannien und einige Drähte und das Anleiten der jungen Hopfenpflanzen osteuropäische Staaten ab 2009 besonders traf, eine meist polnische Saisonarbeiter.10 Abschwächung. Einheimische Arbeitskräfte lassen Mit den politischen Umwälzungen in Ost-und sich trotz immer noch vorhandener Arbeitslosigkeit Südosteuropa Ende der 80er- und zu Beginn der kaum finden. Einen bestimmten Mindestprozent- 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts eröffnete sich satz einheimischer Arbeitsloser (seit 2006 gilt eine der deutschen Landwirtschaft ein neues Reservoir „Deutschen-Quote“ von 10%) in diesem Sektor zu an Saisonarbeitern. Seit der Öffnung des Eisernen erreichen, scheint trotz verschiedener Anstrengun- Vorhangs arbeiten in landwirtschaftlichen Betrieben gen nicht zu gelingen.11 Oberschwabens und des Bodenseeraums jährlich Tausende Saisonkräfte aus verschiedenen Staaten Zusammenfassung und Schlussgedanken Osteuropas – v. a. im Obstbau, in geringerer Zahl Historische Kontinuitäten und die Schwabenkinder auch bei Spargel- und Hopfenkulturen. Im Jahr 2010 als Ausnahmeerscheinung waren etwa 6.100 ausländische Erntehelfer im Bo- Oberschwaben und der Bodenseeraum weisen eine denseekreis und den Landkreisen Ravensburg und über nahezu 400 Jahre ungebrochene Geschichte Brugger | Zimmermann | Bereuter 11 |
WOLFEGGER BLÄTTER t Abb. 21: Der polnische Zwangsarbeiter Josef Stafi- niak (ganz links) kam mit 17 Jahren als Zwangsarbeiter auf den Hof Häusing bei Amtzell. Er wurde dort gut behandelt und blieb nach Kriegsende noch einige Zeit auf dem Hof. 1948 wanderte er in die USA aus. Das Bild zeigt ihn nach 1945 mit der damaligen Hofbesitzer Fami- lie Fuchs. Der Hof steht heu- te im Bauernhaus-Museum Wolfegg. der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte in den landwirtschaftlichen Sektor auf. Diese Kontinuität differiert naturgemäß über die Jahrhunderte in den Kategorien Beweggrund für die Migration, Anzahl der Migranten und Organisationsgrad der Migrati- onsbewegung stark. Eine regelmäßige massenhafte Zuwanderung und eine daraus resultierende Abhän- gigkeit des Agrarsektors von ausländischen Arbeits- kräften hat es ungeachtet dieser Kontinuität von Arbeitsmigration in die oberschwäbische Landwirt- schaft zu keinem Zeitpunkt gegeben. Die jährlichen Abb. 22: Arbeitsausweis eines polnischen Zwangsar- Wanderungen der Schwabenkinder stellen daher in beiters. Zahlreiche Deportierte waren noch im Kin- vielerlei Hinsicht, v.a. auch die Quantität der Zu- desalter und wurden während der oft wochenlangen wanderer betreffend – wenn man den Sonderfall der Transporte an ihre Bestimmungsorte in Deutschland Zwangsmigration während der beiden Weltkriege von ihren Familien getrennt. nicht berücksichtigt – eine Ausnahmeerscheinung dar. Dies gilt insbesondere ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch für den Organisationsgrad z.B. der Geschichte von Mobilität und Verkehrswe- dieser Wanderungsbewegung. sen wie auch der Sozialgeschichte, bilden die ein- zelnen Phasen der Zuwanderung von ausländischen Migration als Folge und Spiegel von Weltgeschichte Arbeitskräften nach Oberschwaben Entwicklungs- Die Wanderungsbewegungen von Arbeitssuchenden stadien und Veränderungen ab. Während die Schwa- in die oberschwäbische Landwirtschaft waren stets benkinder und andere Arbeitsmigranten mit dem auch Folge und Spiegel größerer historischer Ereig- Ziel Oberschwaben bis weit in das 19. Jahrhundert nisse, Zäsuren und Entwicklungen, nicht selten von hinein meist tagelange, beschwerliche Fußmärsche welthistorischer Bedeutung wie im Falle der Zuwan- zu ihren Arbeitsplätzen auf sich nehmen mussten, derung nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, bringen kaum 150 Jahre später regelmäßig verkeh- der Deportation von Zwangsarbeitern während des rende Fernbusse Erntehelfer aus ihren polnischen Zweiten Weltkriegs oder als jüngstes Beispiel der Heimatorten nach Ravensburg, Tettnang, Lindau Anwerbung von Saisonkräften aus Osteuropa nach und Friedrichshafen. In den gleichen Gemeinden den politischen Wendejahren Ende des 20. Jahrhun- und auf denselben Höfen, wo während des Zweiten derts. Auch in anderen Sektoren, die in direktem Zu- Weltkrieges polnische Zwangsarbeiter und Kriegs- sammenhang mit der Migrationsgeschichte stehen, gefangene zum „Arbeitseinsatz“ durch das NS-Re- | 12 Brugger | Zimmermann | Bereuter
S O N D E R A U S G A B E 2 01 4 Abb. 23: Französische Kriegsgefangene im Stamm- Abb. 24: Hopfenernte bei Tettnang. Bis in die lager Ludwigsburg. Von den Stammlagern aus wur- Mitte der 1950er Jahre warben die Hopfenbauern den die Kriegsgefangenen in Arbeitskommandos zu um Saisonkräfte – v. a. Frauen – im benachbarten je zehn bis fünfzehn Mann auf die Dörfer verteilt Vorarlberg. Später wurden die meisten der und dort in Sammelunterkünften untergebracht. Arbeitsgänge von Maschinen erledigt. gime gezwungen wurden, arbeiten heute selbstver- ständlich jährlich Tausende ihrer Landsleute und BILDMATERIAL & LITERATUR verdienen als Erntehelfer viermal mehr als bei ver- • 1: vgl. Sylvia Hahn: Migration-Arbeit-Geschlecht. Arbeits- gleichbaren Tätigkeiten in ihrer Heimat. Waren die migration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Wanderungsbewegungen der Arbeitsmigranten lan- Jahrhunderts. In: Sylvia Hahn / Christiane Harzig / Dirk Hoerder ge unorganisiert und kaum einer umfassenden Kon- (Hg.): Transkulturelle Perspektiven. Band 5. Göttingen 2008. trolle durch herrschaftliche oder staatliche Instanzen • 2: Karlheinz Buchmüller: Das Bauernhaus in Oberschwaben. unterworfen, begann sich dies v.a. während des 19. Stuttgart 1982. Jahrhunderts zu ändern. Die Jahre der Weimarer Re- • 3: Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerbeschäftigung in publik brachten die erste demokratisch legitimierte Deutschland 1880 bis 1980. Saisonarbeiter Zwangsarbeiter Ausländergesetzgebung auf deutschem Boden und Gastarbeiter. Berlin/Bonn 1986. S. 145. siedelte auch die Befugnisse für die Anwerbung und • 4: vgl. Peter Eitel: Geschichte Oberschwabens im 19. und 20, Vermittlung ausländischer Arbeitskräfte bei den Ar- Jahrhundert. Band 1: Der Weg ins Königreich Württemberg beitsämtern an. Heutzutage beklagen die oberschwä- (1800-1870). Stuttgart 2010. S.131-146 bischen Landwirte und deren Interessenvertreter den • 5: Sibylle Schmidt-Lawrenz: Ländliche Wanderarbeit im beträchtlichen bürokratischen Aufwand und die sich Allgäu. In: Konrad Bedal (Hg): Mägde Knechte Landarbei- ständig ändernden Regelungen bei der Einstellung ter. Arbeitskräfte in der Landwirtschaft in Süddeutschland ausländischer Erntehelfer im vereinten Europa. (Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseums 27) Neustadt a.d. Aisch 1997. S. 147-159. Geografische Verschiebungen • 6: Herbert (wie Anm.) Während über Jahrhunderte der Zuzug von Arbeits- • 7: Herbert (wie Anm. 3) S 117 migranten nach Oberschwaben zum überwiegenden • 8: Franz Hamburger: Abschied von der interkulturellen Päda- Teil aus dem südlich an den Bodensee angrenzen- gogik. Plädoyer für einen Wandel sozialpädagogischer Kon- den Alpenraum und noch weiter südlich gelegenen zepte. Weinheim/München 2009. S.187-188. Regionen erfolgte und weitere nicht-einheimische • 9: Die Bundesrepublik Deutschland schloss in der Folge An- Arbeitskräfte meist Binnenmigranten aus anderen werbeabkommen mit Spanien und Griechenland (1960), der Teilen Württembergs oder Süddeutschlands waren, Türkei (1961), Portugal (1964), Tunesien und Marokko (1965) hat sich dies grundlegend geändert. Im Gefolge der sowie Jugoslawien (1968) ab. politischen Wende 1989/1990 und den beiden Ost- • 10: Karl-Heinz Meier-Braun: 40 Jahre „Gastarbeiter“ und Aus- erweiterungen der Europäischen Union haben sich länderpolitik in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. die Grenzen, die es zu überschreiten galt, um günsti- Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 35/95 ( 1995) S. 14. ge Arbeitskräfte anzuwerben, auf dem europäischen • 11: Interview des Autors mit Frau Locher, Museumsleiterin Kontinent immer weiter ostwärts verschoben, erst Hopfenmuseum Tettnang nach Polen, dann nach Rumänien und Bulgarien • 12: Matter (wie Anm 7.) S. 141 und nun schon in die Ukraine oder Weißrussland. ¢ Brugger | Zimmermann | Bereuter 13 |
WOLFEGGER BLÄTTER Schwabenkinder-Wanderweg Wolfegg Die Idee zu diesem zusätzlichen, neuen „Schwaben- len Arbeitsmigration aus dem Alpenraum in unsere kinder-Wanderweg“ in Wolfegg entstand im Zuge Region hin. Auf der Wanderung rund um Wolfegg der Überlegungen zur Erreichbarkeit der Ausstel- ergeben sich wertvolle Einblicke in die Lebenswelt lung im Bauernhaus-Museum mit öffentlichen Nah- und den Alltag der kleinen Saisonarbeiter auf den verkehrsmitteln. oberschwäbischen Höfen. Der Wanderweg ist auf der Wolfegger Wander- karte eingezeichnet sowie vor Ort mit dem Schwa- benkinder-Logo auf den Wanderschildern ausge- zeichnet. (Länge 7 km, Dauer 1:45 h) Wegbeschreibung vom Bahnhof Wolfegg ins Bauernhaus-Museum Ausgangspunkt: Bahnhof Wolfegg Vom Bahnhof folgen Sie der Wanderwegsbeschil- derung (Logo) nach links dem Fußweg entlang der Bahngleise; nach ca. 800 m queren Sie die Gleise und gehen den Feldweg entlang bis zur Straße, dort folgen Sie der Beschilderung nach Brenden. In Bren- den der Straße nach rechts folgen Richtung Hofstatt und Schlegelsberg. Im Weiler Hofstatt kommen Sie an einem historischen Hofgebäude vorbei: Dort ar- beitete 1882 und 1883 Johann Anton Brenn aus Stierva in Graubünden (*5.9.1870) als Hirte; und auch Mauriz Richard Derungs aus Vella in Graubün- In enger Kooperation mit der Gemeinde Wolfegg den, der 1891 für einen Sommer hier angestellt war. und Bodo (Bodensee Oberschwaben Verkehrsver- Weiter zum Nachbarhof nach Schlegelsberg: Auch bund) reifte dann schnell ein Konzept zu diesem spe- hier sind Schwabenkinder nachgewiesen: Anna Ma- ziell markierten Schwabenkinder-Wanderweg vom ria Derungs (*10.8.1878), die Schwester von Mauriz Bahnhof hinunter zur Ausstellung ins Bauernhaus- Richard. Nun der Straße folgen, nach rechts gehen Museum. Im August 2012 wurde dieser Wanderweg bis zur Abzweigung; hier nach links in Richtung offiziell seiner Bestimmung übergeben. Ca. 60 Mit- Loreto-Kapelle, die rechterhand sichtbar ist, abzwei- wanderer hatten sich am Bahnhof eingefunden, um gen. Ein kurzer Abstecher hoch zur Kapelle lohnt sich auf die Spuren des 10-jährigen Mauriz Richard sich: Der Aussichtspunkt zeigt einen weiten Blick in Derungs und seinen Geschwistern zu machen. Sechs die Alpenregionen, aus denen die Schwabenkinder Kinder der Familie Derungs kamen zwischen 1891 kamen. Ansonsten der Rötenbacher Straße entlang, und 1896 als so genannte Schwabenkinder in die am Reisemobilplatz vorbei bis zur Schule; dort die Gemeinden Wolfegg und Vogt. Straße queren und der Friedhofstraße bis zum Ende Die Route wurde nach historischen Gesichts- folgen; dann den Feldweg bergab bis zum Bauern- punkten so gewählt, dass sie an zwei ehemaligen haus-Museum mit der Schwabenkinderausstellung. Arbeitsstätten von Schwabenkindern vorbei führt. Vom Bauernhaus-Museum zurück zum Bahnhof Am Weg und an den ehemaligen Dienstplätzen, in durch den Ort Wolfegg der Wandermarkierung ent- Hofstatt und in Schlegelsberg, weisen Texttafeln auf lang der Ravensburger und dann der Alttanner Stra- dieses sozialgeschichtliche Phänomen der saisona- ße folgend. ¢ | 14 Brugger | Zimmermann | Bereuter
S O N D E R A U S G A B E 2 01 4 Die Wege der Schwabenkinder Ein grenzüberschreitendes Projekt mit 26 Partnern von Elmar Bereuter Vor dem beginnenden Aufbau eines Eisenbahnnetzes zu Anfang des 19. Jahrhunderts und dem Einsetzen der sukzessiven Motorisierung des Verkehrs hundert Jahre später war Reisen eine im Regelfall beschwer- liche und viel Zeit erfordernde Angelegenheit. Der Zustand der Straßen entsprach etwa dem heutiger Güterwege oder besserer Feldwege. Bei Überlandrei- sen war die Kutsche – zumindest für diejenigen, die es sich leisten konnten - noch bis Ende des 19. Jahr- hunderts das bevorzugte Reisemittel. Dem weitaus größten Teil der Bevölkerung aber blieb schon wie je- her auch bei der Überwindung größerer Entfernungen nur die Fortbewegung zu Fuß. Mit dem Aufkommen moderner Verkehrsmittel ging auch ein Wandel einher, der so gut wie alle Le- bensbereiche grundlegend verändern sollte. Die al- ten Wege wurden kaum mehr benutzt und verfielen nach und nach. Zunehmend höhere Geschwindig- keiten der Verkehrsmittel forderten breitere Straßen, die ehemals dem Gelände angepassten Wege folgten bald nicht mehr den von der Natur vorgegebenen Verläufen, sondern wurden begradigt, führten nun durch Galerien und Tunnels. Die uns auf alten Sti- chen und Postkarten romantisch anheimelnden wi- chen Gebilden aus Beton, die nun in oftmals kühnen Höhen die Tobel und Schluchten überspannen. Die alten Wege Viele der abseits von Handelsrouten oder anderen wichtigen Straßenverbindungen gelegenen Talschaf- ten und deren Orte waren bis Mitte des 19. Jahr- hunderts – manche sogar noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts nur zu Fuß erreichbar. Auch der Wa- rentransport erfolgte auf diesen oft schmalen und manchmal nicht ganz ungefährlichen Wegen mit Saumtieren. Das Alter vieler dieser Verbindungen lässt sich nicht mehr genau bestimmen, da eine Reihe von Wegen schon in Zeiten benutzt wurden, aus denen Abb. 1: Bis heute nur zu Fuß oder einer kleinen keine Aufzeichnungen vorliegen. Je nach Bevölke- Seilbahn erreichbar: Das Dörfchen Landarenca im rungsdichte und Besiedlung durchzogen solche Pfa- Schweizer Calancatal. Brugger | Zimmermann | Bereuter 15 |
WOLFEGGER BLÄTTER de wie mehr oder weniger engmaschige Netze die Landschaften. Die Routenverläufe waren den klima- tischen und individuellen Bedingungen angepasst: Oft verliefen sie auf sonnseitig gelegenen Hängen, um dem noch in den schattigen Tallagen bis ins spä- te Frühjahr liegenden Schnee auszuweichen. Im Regelfall waren es Einheimische, die hier unterwegs waren und sich auskannten, entspre- chend schwierig gestaltete sich für Fremde die Orientierung. Die Wege der Schwabenkinder „Schwabenkinderwege“ im Sinne von festgelegten und einheitlich begangenen Routen gab es zu keiner Zeit. Es handelte sich um Wege und Pfade, wie sie allgemein benutzt wurden. Begleitet und angeführt wurden die nach Schwaben ziehenden Kinder von einer erwachsenen Person, die den Weg kannte und auch wusste, wo es eine Übernachtungsmöglichkeit gab oder wo eine warme Suppe zu bekommen war. Jede dieser Begleitpersonen hatte meist ihre eigene Streckenführung, die sich an den individuellen An- forderungen orientierte. Mit kleineren Kindern, die zudem noch ihr Gepäck selber tragen mussten, war das Vorwärtskommen eben anders als mit bereits äl- teren und kräftigeren Jugendlichen. Beim Aufbruch Abb. 2: Wege der Schwabenkinder nach Oberschwaben. im März konnte es durchaus vorkommen, dass man- che Abschnitte nur erschwert passierbar waren und umgangen werden mussten. Die Distanzen, welche frühere Generationen an einem Tag zu Fuß zurücklegten, mag uns Heutigen unglaublich erscheinen. Bis zu 60 Kilometer wa- ren keine Seltenheit. Aber nicht nur die Erwachse- nen waren flott unterwegs, sondern auch schon die Kinder. Der in Galtür gebürtige Johann Pfeifer ging mehrmals ins Schwäbische. Er berichtet: „Aus Gal- tür gingen 15 bis 20 Buben miteinander ins Schwa- benland. Die jüngsten waren 9 Jahre alt. Auf dem Buckel trugen sie den weißen Tragsack mit Werk- tagshäs und Schuhen nebst Speck, Schmalz und Käse. Den Regenschirm hatten sie unterm Arm, den Stock in der Hand und das Paßzertifikat in der Ta- sche. Fünf Tage ging es zu Fuß bis Ravensburg[…]“ Die erste Übernachtung erfolgte in Brunnenfeld kurz vor Bludenz. Das entspricht einer Wegstrecke von 45 (!) Kilometern, wobei Johann Pfeifer und seine Kameraden aber auch noch das Zeinisjoch im Aufstieg und den Steilabstieg ins Montafon zu be- wältigen hatten. Trotz der Verbesserung der Verkehrswege für den Warentransport blieben die Wege in den Talsohlen für Fußgänger eher zweitrangig. Man nahm weiter- Abb. 3: Ausschnitt Bregenzerwaldroute: hin die kürzeste Verbindung – und diese führte wie Der kürzeste Weg führt über die Berge. | 16 Brugger | Zimmermann | Bereuter
S O N D E R A U S G A B E 2 01 4 schon seit Urzeiten über die Berge. Haupthindernisse waren dabei die meist im März noch schneebe- deckten Pässe, die es auf dem Weg nach Oberschwaben zu überque- ren galt. Besonders hart traf es die Südtiroler, die nach Überwindung des Reschenpasses nun auch noch den mit tiefem Schnee bedeckten Arlberg vor sich hatten. Für die Nordtiroler Kinder aus dem Paz- nauntal stellte sich das Zeinisjoch als beschwerliche Hürde in den Weg. Für die Kinder aus dem Albu- latal und dem Oberhalbstein hieß die Hürde Lenzerheide. Leichter war es für die Kinder aus den tiefer gelegenen Talschaften Vorarlbergs, der Schweiz und Liechtensteins. Welche Dramen sich besonders auf diesen Routen abgespielt haben, können wir nur erahnen. So sind auch die Namen von sechs Kindern aus Trimmis bei Abb. 4: Franz Kurz aus Pettneu a. A. wurde später Lehrer. Chur in Graubünden bekannt, die sich 1802 bereits Ende Janu- ar auf den Weg nach Ravensburg Fuß [ca. 1,2–1,5 m] hoch, so daß man kaum in machten. Der Winter dieses Jah- die Stadt kommen kann. Schon ziehen scharenwei- res war im Graubündner Rheintal se Kinder aus Graubünden und dem Bregenzerwald extrem kalt, zudem lag im gesam- durch unsere Stadt, was früher erst zu Anfang und ten Bündner Rheintal den ganzen Mitte März der Fall war, um sich jetzt schon den Monat Schnee. Für Familien, de- Bauern hiesiger Gegend über den Sommer als Hirten ren Einkommen sich auch in der zu verdingen und man sieht es ihren bleichen Wan- kalten Jahreszeit auf Tagelöhner- gen an, wie die gegenwärtige Zeit auf ihnen lastet. tätigkeiten beschränkte, brach der (Siehe ausführlicher: Wanderführer „Schwabenkin- spärliche Verdienst nun endgültig derwege Oberschwaben, Seite 174-175). weg und für Kleinbauern bedeute- Schnee war aber nicht nur ein Begleiter ins „Ge- te die weitere Rationalisierung des lobte Land“, sondern auch um die Zeit der Rückkehr knappen Futters für die Kühe ein in die Heimat um Martini lag in den höheren Lagen damit einhergehendes Nachlassen bereits wieder Schnee. der Milchleistung. Der 12-jährige Tiroler Hütebub Franz Kurz wäre Dass die aber kein Einzelfall 1858 bei der Heimreise über den Arlberg im Schnee- gewesen zu sein schien und der sturm ums Leben gekommen, wenn ihn nicht von Hunger noch mitten im Winter Bregenz kommende Soldaten gefunden hätten. (Sie- Kinder vom heimischen Tisch an he ausführlicher: Wanderführer „Schwabenkinder- die Teller in Oberschwaben trieb, wege Vorarlberg, Seite 155-157). zeigt eine Meldung vom 15 Feb- Wer sich – wenn auch eine nur vage – Vorstel- ruar 1847 im »Intelligenzblatt Ra- lung von den Verhältnissen machen möchte, mit de- vensburg«: nen die Schwabenkinder zu kämpfen hatten, sollte Seit einigen Tagen ist der Ende März den Arlberg besuchen. Wenn in den Tal- oberschwäbische Winter mit aller lagen oft schon die ersten Krokusse sprießen, türmen Macht eingetreten, es schneit den sich mit zunehmender Höhe noch die Schneemassen, ganzen Tag, der Schnee ist 4–5 alle Seilbahnen und Lifte sind in Betrieb. Brugger | Zimmermann | Bereuter 17 |
WOLFEGGER BLÄTTER Abb. 7: Im Valser Tobel. Stich von Ludwig Hess, 1798 Zwei Pässe für die Südtiroler Für die Kinder aus Südtirol bedeutete der Gang nach Schwaben die Überwindung von gleich zwei Pässen. Vor dem Marsch über den Arlberg lag noch der 1405 Meter hohe Reschenpass vor ihnen. Verlief der Weg von Süden her eher moderat ansteigend, so ging es auf der Nordseite ab Nauders steil auf einer schma- len Hangstraße hinab nach Finstermünz und von Abb. 5: 1800 Jahre verlief der Weg durch die dort aus weiter durch die Schlucht nach Pfunds. Der Schlucht bei Finstermünz. in Lienz (Osttirol) geborene Schriftsteller und späte- re Pfarrer in Frankfurt a. M. Beda Weber beschreibt 1837 diesen Wegabschnitt so: „Die schauerliche Einsamkeit der Talschlucht ergreift jeden fühlenden Betrachter mit unwiderstehlicher Gewalt. Die unge- heueren Felsmassen, die mit sparsamem Nadelholz in die Lüfte ragen, das in tausend Stücke zersplit- terte Gebirge, über welches der Inn in lautem Sturze niedereilt…müssen einen schaurigen Eindruck her- vorbringen. Steil zieht sich die Straße aus der Tiefe an die Höhe von Nauders.“ 1854 wurde mit dem Bau der Hochfinstermünz- straße von Pfunds nach Nauders begonnen. Damit verband sich auch eine erhebliche Erleichterung für die Südtiroler Schwabenkinder. In Landeck vereinig- ten sich die Wege der Süd- und Nordtiroler Schwa- bengänger zum Übergang durch das Stanzertal über den Arlberg. Ab 1840 setzte der tägliche Postverkehr mit Stell- wagen und Schlitten ein. Dies wiederum bedingte die Offenhaltung des Übergangs auch im Winter. Nach starken Schneefällen musste erst das Ende der Lawinengefahr abgewartet werden, ehe mit der zu- mindest notdürftigen Freilegung der Straße begon- Abb. 6: Alter Weg aus dem Oberhalbstein nach nen werden konnte. Ein anderer Übergang, der von Tiefencastel. den Kindern aus dem inneren Paznauntal benutzt | 18 Brugger | Zimmermann | Bereuter
S O N D E R A U S G A B E 2 01 4 wurde, war das Zeinisjoch, wo noch heute das berühmte Rearkappali steht, bei dem die Kinder Abschied von ihren Eltern und Geschister nahmen. Die Wege der Schweizer, Vorarlberger und Liechtensteiner Die Hauptwege aus den Tälern Grau- bündens, den Kantonen St. Gallen und Appenzell-Innerrhoden ähnelten denen aus den Talschaften Vorarlbergers und Liechtensteins und hatten überwiegend moderaten Charakter. Den Schwa- bengängern aus dem Albulatal und dem Oberhalbstein blieb als Hürde der Übergang über die oft sturmumtoste Lenzerheide. Einen ähnlich langen Weg wie die Südtiroler aus dem unteren Vinschgau hatten die kleinen Wanderer aus dem Tujetsch in der Surselva mit 200 Kilo- metern und mehr. Der wohl halsbre- cheriste Abschnitt aber blieb den Kin- dern aus Vals im Valsertal vorbehalten. Bis zum Bau der Kunststraße 1877 blieb talauswärts nur der exponierte Saumpfad. Der spätere, 1860 geborene Valser Volkskundler Johann Josef Jör- ger, der als Zwölfjähriger das Kollegi- Abb. 8: Tunnelportal in Langen am Arlberg. um in Schwyz besuchte, erinnert sich auch noch im Alter mit einem gewissen Schaudern an den Weg aus dem abgelegenen Tal: bahn als Stichbahn Schruns mit Bludenz. Da ist mein Studentenkoffer noch so manches Für die Tiroler entfiel der beschwerliche Fuß- Jahr auf dem Saumrosse hin- und hergewandert. marsch mit der Gründung des 1891 gegründeten Kein Säumer hat ihn gern übernommen; auswärts Hütekindervereins: Anstatt in einzelnen Gruppen durfte er nur links aufs Roß, einwärts nur rechts fuhren die Kinder nun in Sammeltransporten von geladen werden, damit er nicht an die überhän- Landeck durch den 1884 eröffneten Arlbergtunnel genden Felsen stoße und Roß und Ladung in die und weiter nach Bregenz. Tiefe stürze. Bei der Kapelle St. Nicolaus […] ist Die Südtiroler mussten ab jetzt auch nicht mehr die Schlucht am tiefsten, engsten und grausigs- zu Fuß über den Reschenpass, sondern wurden mit ten. Dort ist […] eine Runse, die ehemals in eine Fuhrwerken zum Sammelplatz Landeck gebracht. Ab schwarze Tiefe leitete, wo manch ein Saumroß Bregenz ging es dann mit erst mit dem Kursschiff, verschwunden ist … später mit einem eigens angeheuerten Schiff nach Friedrichshafen. Damit verlagerten sich auch die Mit Bahn und Schiff Märkte, womit Ravensburg zwar immer noch ein Eine wesentliche Erleichterung der Reise ins Schwa- Marktplatz blieb, aber an Bedeutung verlor. Kinder, benland stellte der Ausbau der Eisenbahn dar: Ab die in Friedrichshafen an keinen Platz kamen, ver- 1858 war Chur mit dem Dampfross erreichbar, 1872 suchten es weiter in Ravensburg, das von Friedrichs- wurde die Bahnstrecke von Bludenz bis zur österrei- hafen ebenfalls mit der Bahn erreichbar war. Die chisch-deutschen Grenze bei Lochau fertig gestellt. Heimfahrt verlief ähnlich: Wie schon vor der Ankunft 1902 fuhr erstmals ab Bezau das „Wälderbähnle“ als wurden auch die Abfahrtstermine in den Zeitungen Schmalspurbahn nach Bregenz und seit 1905 ver- bekannt gegeben. Mit dem Beginn des 1. Weltkriegs bindet die knapp 13 Kilometer lange Montafoner- wurde 1915 auch der Verein aufgelöst. ¢ Brugger | Zimmermann | Bereuter 19 |
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