ZWISCHEN GEWINN UND GEWISSEN - WIE VIEL NÄCHSTENLIEBE KANN SICH DIE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT LEISTEN?

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ZWISCHEN GEWINN UND GEWISSEN - WIE VIEL NÄCHSTENLIEBE KANN SICH DIE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT LEISTEN?
Nr. 14

                                      DISKUSSION

                                      Wie viel Nächstenliebe kann sich
                                      die Soziale Marktwirtschaft leisten?

                                      Zwischen gewinn
                                      und gewissen
                                      Randolf Rodenstock / Wolfgang Huber /
                                      Bernd Uhl / Nils Goldschmidt

ISBN 978-3-941036-15-4

www.romanherzoginstitut.de                                    www.romanherzoginstitut.de
ZWISCHEN GEWINN UND GEWISSEN - WIE VIEL NÄCHSTENLIEBE KANN SICH DIE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT LEISTEN?
© 2010 ROMAN HERZOG INSTITUT e. V.
ISSN 1863-8090 / ISBN 978-3-941036-15-4
Herausgeber:
ROMAN HERZOG INSTITUT e. V.

Kontakt:
Dr. Neşe Sevsay-Tegethoff
ROMAN HERZOG INSTITUT e. V.
Max-Joseph-Straße 5
80333 München
Telefon 089 551 78-555
Telefax 089 551 78-755
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Gestaltung: KNOBLINGDESIGN GmbH
Produktion: Institut der deutschen Wirtschaft Köln Medien GmbH, Köln · Berlin
Fotos: Rainer Hofmann Photo Design, Stefan Obermeier Fotografie

Die Studie ist beim Herausgeber kostenlos erhältlich.
ZWISCHEN GEWINN UND GEWISSEN - WIE VIEL NÄCHSTENLIEBE KANN SICH DIE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT LEISTEN?
Wie viel Nächstenliebe kann sich
die Soziale Marktwirtschaft leisten?

ZWISCHEN GEWINN
UND GEWISSEN
Randolf Rodenstock / Wolfgang Huber /
Bernd Uhl / Nils Goldschmidt

1   Randolf Rodenstock
    Vorwort2

2   Wolfgang Huber
    Ethik, Unternehmensverantwortung und Wettbewerb                                6

3   Bernd Uhl
    Die Verantwortung christlicher Unternehmer: Von der Katholischen Soziallehre
    zur Unternehmensverantwortung                                                  9

4   Nils Goldschmidt
    Wirtschaftliches Handeln, Marktsystem und das ethische Vorsichtsprinzip       14

5   Einspruch
    Die Diskussion im Salonstreitgespräch                                         19

    Literatur                                                                     27

    Die Autoren                                                                   28
ZWISCHEN GEWINN UND GEWISSEN - WIE VIEL NÄCHSTENLIEBE KANN SICH DIE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT LEISTEN?
1 RANDOLF RODENSTOCK
   

Vorwort

Kommen Unternehmer in den Himmel? Wird ein                  gewinne der Gesellschaft nichts nützen. Jeder Dritte
Manager je an die Pforten klopfen, die Petrus so gut        hält Unter­nehmens­gewinne gar für „moralisch be-
bewacht? Der Weg dahin könnte sich als beschwer-            denklich“ (Bundesverband deutscher Banken, 2008).
lich erweisen, glaubt man dem Markus-Evangelium,
wo es bekanntlich heißt, dass eher ein Kamel durch          Wie schätzen Experten das Verhältnis von Gewinn
ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich        und Gewissen ein? Das Roman Herzog Institut (RHI)
Gottes gelangt. Gewinn und Gewissen – in der Bibel          hat im April 2010 Wirtschaftsethiker und Theologen
ist das ein schwieriges Kapitel: Die Heilige Schrift hält   zu einem Salonstreitgespräch – dem mittlerweile vier-
viele moralische Vorbildfiguren für uns parat – die         ten in Folge – eingeladen, um darüber zu diskutieren,
des erfolgreichen Unternehmers sucht man darunter           wie viel Nächstenliebe sich die Soziale Marktwirt-
aller­dings vergebens. Stattdessen sind es Persön-          schaft leisten kann.
lichkeiten wie die des Sankt Martin, die als Ideale
gelten. Sankt Martin teilte seinen Mantel mit einem         Das RHI sieht es als eine seiner primären Aufgaben
hungrigen und nackten Armen – und wurde nicht               an, unter seinem Leitthema „Die Zukunft der Arbeit“
zuletzt für seine Barmherzigkeit heiliggesprochen.          die Zusammenarbeit von Experten unterschiedlichs-
                                                            ter Disziplinen zu fördern und den Diskurs zu zentra-
Auch Unternehmer sorgen dafür, dass Hundert-                len wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Themen
tausende von Menschen etwas zu essen und                    voranzubringen. Es liegt auf der Hand, dass es in
anzuziehen haben. Dafür heiliggesprochen wurde              einer immer komplexer werdenden Welt nicht mehr
noch keiner von ihnen. Scheinbar, so empfinden es           genügt, Probleme nur aus einer Perspektive zu be-
zumindest große Teile der Gesellschaft, klebt am            trachten. Der Blick muss heute über den Tellerrand
unternehmerischen Gewinn seit Urzeiten ein Makel,           hinausgehen. Ein weiteres erklärtes Ziel des RHI ist
den man auch in Zeiten der Postmoderne nicht                es, auf die Auseinandersetzung rund um die „Ethik
ganz loswird, wie eine repräsentative Umfrage des           des Wirtschaftens“ moderierend und gestaltend
Banken­verbandes zeigt. 80 Prozent der Befragten            einzuwirken. Auf diese Weise setzt sich das RHI für
sind demnach der Meinung, dass Unternehmens-                ein Mehr an Mut und Erneuerung in der Gesellschaft

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ein, wie es der damalige Bundespräsident Roman            innovativen Produkten und Dienstleistungen. Damit
Herzog in seiner berühmten Ruckrede im Jahr 1997          werden die marktwirtschaftliche Allokation und deren
gefordert hatte.                                          Ergebnisse als grundsätzlich wünschenswert ange-
                                                          sehen. Gleichwohl wird explizit darauf hingewiesen,
Wie viel Nächstenliebe also kann sich die Soziale         dass Partizipationsgerechtigkeit als Voraussetzung
Marktwirtschaft leisten? Ausführliche Antworten auf       absolut notwendig ist, damit die Gesellschaft die
diese Frage gaben die beiden großen Kirchen erst          Marktwirtschaft überhaupt akzeptieren kann. An
vor kurzem: Die Evangelische Kirche in Deutschland        diesem Punkt nähert sich die EKD-Denkschrift der
(EKD) veröffentlichte im Jahr 2008 die Denkschrift        ordoliberalen Schule. Diese setzt in ähnlicher Weise
„Unternehmerisches Handeln in evangelischer Per-          vor allem darauf, die Rahmenbedingungen so zu
spektive“. Ein Jahr später legte Papst Benedikt XVI.      gestalten, dass am Ende Chancengerechtigkeit als
seine Enzyklika „Caritas in veritate“/„Die Liebe in der   Ziel erreicht wird: Wenn der Staat die Chancen aller
Wahrheit“ vor. Diese beiden aktuellen Kirchenschrif-      zur Erwerbsbeteiligung verbessert, dann lässt sich
ten waren Dreh- und Angelpunkt des Salon­streit­          auch Armut nachhaltig bekämpfen.
gesprächs.
                                                          Zusammenfassend betrachtet, erkennen beide
In seiner Enzyklika macht Papst Benedikt XVI.             Kirchenpapiere unmissverständlich Markt und Wett­
deutlich, dass nicht das marktwirtschaftliche System      bewerb als der Gesellschaft dienliche Institutionen an.
per se schlecht ist: Die Kirche vertrete seit jeher       Der Wettbewerb aber braucht ein Ordnungsprinzip: die
den Standpunkt, dass die Wirtschaftstätigkeit nicht       Soziale Marktwirtschaft. Weil das unternehmerische
als antisozial angesehen werden darf. Der Markt           Handeln eine funktionierende soziale Marktwirtschaft
sei an sich kein Ort der Unterdrückung der Armen          überhaupt erst möglich macht, resultiert für jeden Wirt-
durch die Reichen. Marktwirtschaft und Gewinn-            schaftsakteur eine individuelle Verantwortung.
streben seien aber nur so lange legitim, wie sie als
Mittel zur Entwicklung des ganzen Menschen und            Dieser individuellen Verantwortung werden Unterneh-
aller Menschen eingesetzt werden und nicht zum            mer aus meiner Sicht gerecht, indem sie ihre primäre
Selbstzweck degenerieren. „Caritas in veritate“ liest     Aufgabe gewissenhaft erfüllen: Sie befriedigen die
sich an vielen Stellen wie eine moderne Version           Bedürfnisse der Bevölkerung, indem sie Produkte
von Ordnungspolitik à la Ludwig Erhard und Walter         und Dienstleistungen in einem angemessenen Preis-
Eucken. Sich stützend auf die Prinzipien der Katho-       Leistungs-Verhältnis zur Verfügung stellen. Das ist
lischen Soziallehre fordert der Papst Subsidiarität,      die Kernaufgabe, ja die Existenzberechtigung der
Verantwortung und Wettbewerb innerhalb eines              Unternehmer schlechthin. Wird diese Kernaufgabe
globalen Regelwerks sowie einen internationalen,          erfolgreich erfüllt, so hat sie nebenbei eine weitere
unabhängigen Schiedsrichter. Transparenz, Ehr-            positive Wirkung für die Gesellschaft: Arbeitsplätze
lichkeit und Verantwortung sind weitere Prinzipien,       entstehen, Gewinne werden eingefahren, der Wohl-
die es zu befolgen gilt. Letztlich bedürfe es eines       stand aller steigt.
Dreiklangs von Markt, Staat und Zivilgesellschaft,
um Wohlstand und Gerechtigkeit weltweit zu sichern        Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass es
und zu fördern.                                           darauf ankommt, wie Unternehmer ihre primäre Auf-
                                                          gabe erfüllen. Das Leitbild des ehrbaren Kaufmanns
Auch die EKD-Denkschrift würdigt unter­nehme­             kann hierbei als Kompass dienen: Der ehrbare Kauf-
risches Handeln als wesentliche Quelle für gesell-        mann, redlich und tugendhaft, vertritt die Interessen
schaftlichen Wohlstand. Der kluge, also effiziente        der Shareholder, ohne die der Stakeholder aus den
Umgang mit den zur Verfügung stehenden Ressour-           Augen zu verlieren. Seine Ziele verfolgt er so, dass er
cen wird ebenso gelobt wie die Entwicklung von            der Gesellschaft keinen Schaden zufügt.

                                                                                                                3
ZWISCHEN GEWINN UND GEWISSEN - WIE VIEL NÄCHSTENLIEBE KANN SICH DIE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT LEISTEN?
1 RANDOLF RODENSTOCK
Vorwort

                                                                      Modell müsse sich außerdem in Richtung globaler
                                                                      Verantwortung und Nachhaltigkeit weiterentwickeln,
                                                                      den Menschen als ein ganzheitliches Wesen berück-
                                                                      sichtigen und ein Gleichgewicht zwischen Selbstliebe
                                                                      und Nächstenliebe anstreben. Wolfgang Huber
                                                                      betont schließlich den besonderen Charakter der
                                                                      Verantwortung, die ein christlicher Unternehmer hat,
                                                                      aber auch die herausragende Leistung, die er durch
                                                                      diese Verantwortungsübernahme erbringt.

                                                                      Dass sich das Modell der Sozialen Marktwirtschaft
                                                                      mit den Prinzipien der Katholischen Soziallehre gut
                                                                      vereinbaren lässt, macht Weihbischof Uhl in Kapi-
Die Teilnehmer des 4. Salonstreitgesprächs (von links nach rechts):
Weihbischof Dr. Bernd Uhl, Prof. Dr. Nils Goldschmidt,
                                                                      tel 3 deutlich. Der Wettbewerb sei berechtigt und
Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber und Randolf Rodenstock              von zweifellosem Nutzen. Die Zwänge, die er den
                                                                      Akteuren auferlegt, aber auch die Möglichkeiten,
                                                                      die er eröffnet, entbinden den Unternehmer nicht
Die Reflexion über die individuelle Verantwortung                     von seiner individuellen Verantwortung. Von einem
des Unternehmers ist eine Notwendigkeit, die auch                     christlichen Unternehmer werde erwartet, dass er die
von den am Salonstreitgespräch teilnehmenden                          theoretischen Impulse der christlichen Sozialethik,
Referenten gesehen wurde. Der Theologe Prof. Dr.                      vor allem die Nächstenliebe, in die Praxis umsetzt.
Dr. h.c. Wolfgang Huber, Weihbischof Dr. Bernd                        Weih­bischof Uhl betont die Mitverantwortung der
Uhl und der Ordnungsökonom Prof. Dr. Nils Gold-                       Konsumenten im Wirtschaftssystem: Auch sie
schmidt vertieften, diskutierten und interpretierten vor              könnten sich vom Prinzip der Nächstenliebe bei
diesem Hintergrund die zentralen Punkte der beiden                    Kaufentscheidungen leiten lassen. Der Kauf von
Kirchenpapiere – jeder auf seine Weise. Während die                   Produkten, die man mit Kinderarbeit oder Umwelt-
zentralen Denkanstöße der beiden Kirchenschriften                     sünden in Verbindung bringen kann, sei ethisch nicht
im Fokus standen, nahm auch die Auseinanderset-                       vertretbar. Der Staat müsse für die entsprechende
zung mit wirtschaftsethischen Fragestellungen im                      Produkttransparenz sorgen. Um Gewissen und
interreligiösen Dialog breiten Raum beim Salonstreit-                 Gewinn möglichst gut zusammenzubringen, fordert
gespräch ein. Auf den folgenden Seiten erfahren Sie,                  Weih­bischof Uhl eine Neubesinnung auf die Indivi-
mit welchen Thesen das Thema der Veranstaltung                        dual- und Institutionenethik und formuliert Hand-
diskutiert wurde.                                                     lungsempfehlungen an die Politik, an Unternehmen
                                                                      und die katholische Kirche.
Wolfgang Huber liefert dazu in Kapitel 2 die evange-
lische Sicht. Im Spannungsverhältnis zwischen der                     Bei der Antwort auf die Frage nach dem richtigen
Eigenlogik des Wirtschaftssystems und der christ­                     Maß der Nächstenliebe im Wirtschaftssystem geht
lichen Ethik ist für ihn die Soziale Marktwirtschaft die              der Ordnungsökonom Nils Goldschmidt in Kapitel 4
richtige Wirtschaftsordnung schlechthin. Allerdings                   von der Eigenlogik des Marktes aus, die einzig und
sieht er auch, dass Globalisierung, Finanzkrise                       allein im Erzielen von Gewinnen liegt. Im ökonomi-
und fragwürdiges Handeln einzelner Akteure die                        schen System haben Akteure folglich auch in Zeiten
Leistungsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft auf                   von Finanz- und Wirtschaftskrisen nur eine Wahl:
eine harte Probe stellen. In Zukunft sei es deshalb                   Entweder folgen sie der Eigenlogik des Marktes,
notwendig, das Modell der Sozialen Marktwirtschaft                    also der Gewinnorientierung, oder sie scheiden aus
stärker auf die gerechte Teilhabe auszurichten. Das                   dem System aus. Der Markt verursache mit dieser

4
ZWISCHEN GEWINN UND GEWISSEN - WIE VIEL NÄCHSTENLIEBE KANN SICH DIE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT LEISTEN?
Ausrichtung allerdings gesellschaftliche Probleme.     bei Unternehmen in ­sogenannter Corporate Social
Weil eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nur     Responsibility oder bei Konsumenten in moralisch
mit dem entsprechenden Einkommen möglich ist,          motivierten Kaufentscheidungen zum Ausdruck
müssen Markt und Wettbewerb einen Ordnungsrah-         kommen kann. Das zivil­gesell­schaft­liche Verhalten
men erhalten, der die vom Markt Ausgeschlossenen       ist für Nils Goldschmidt die eigentliche Bühne einer
(Arbeitslose, Kranke, alte Menschen) sozialstaatlich   Tugendethik, die ein vorrangig sozialethisch fundier-
unterstützt.                                           tes und ordnungspolitisch ausgestaltetes Konzept
                                                       der Sozialen Marktwirtschaft flankiert.
Die Frage nach der individuellen Verantwortung im
wirtschaftlichen Handeln stellt Nils Goldschmidt       Kapitel 5 gibt Ihnen Anregungen zum weiteren Nach-
daher unter ein ethisches Vorsichtsprinzip: Indi-      denken über das richtige Ausmaß an Nächstenliebe
viduelles tugendhaftes Verhalten könne nicht als       in der Sozialen Marktwirtschaft. Thematisch angeris-
Grundlage einer wohlgeordneten Gesellschaft            sen werden zum Beispiel die Unterschiede zwischen
dienen. Denn es würde die Akteure überfordern,         Moral und Gerechtigkeit, die besondere Rolle der
wenn sie immer wieder ihr „Gut-Sein“ der Logik des     Gerechtigkeit sowie von karitativen Unternehmen.
Marktes entgegensetzen müssten. Nils Goldschmidt       Die Grundlage für dieses Kapitel waren Fragen und
will stattdessen die Strukturen der Gesellschaft an    Anmerkungen des Publikums während des Salon­
der Sozialethik ausgerichtet wissen. Den Ordnungs-     streit­gesprächs.
rahmen einer Marktwirtschaft gerecht zu gestal-
ten, das ist seiner Ansicht nach die erste Aufgabe     Schließlich machte die Veranstaltung deutlich: Was
der Gesellschaft und der fundamentale Anspruch         Unternehmen tun, ist gut! Je mehr Nächstenliebe
an ein auf individuelle Zustimmung begründetes         im wirtschaftlichen Handeln zum Ausdruck kommt,
politisches System. Die Aufgabe eines jeden ist es     desto besser. Beide Aussagen gelten aber nur dann,
dabei, sich immer wieder der eigenen gesellschaft-     wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Diesem
lichen Verantwortung zu stellen, was zum Beispiel      Fazit bleibt nichts mehr hinzuzufügen.

                                                       Randolf Rodenstock
                                                       Vorstandsvorsitzender
                                                       des Roman Herzog Instituts e. V.

                                                                                                               5
ZWISCHEN GEWINN UND GEWISSEN - WIE VIEL NÄCHSTENLIEBE KANN SICH DIE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT LEISTEN?
2 WOLFGANG HUBER
    

Ethik, Unternehmens­                                    (­Laborem exercens/Über die menschliche Arbeit,
                                                        1981) und beschäftigte sich vornehmlich mit dem
verantwortung und Wettbewerb                            Anspruch des arbeitenden Menschen auf einen
                                                        gerechten Lohn sowie mit dem Recht auf gewerk-
                                                        schaftlichen Zusammenschluss.

                                                        Die Spannung zwischen der Eigenlogik wirt­schaft­
                                                        licher Abläufe und den Anforderungen einer christ­
                                                        lichen – wenn nicht jeder – Ethik wurde auch von der
                                                        Wirtschaftstheorie bekräftigt. Ökonomen sprachen
                                                        von einer Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft, die an
                                                        einem möglichst effizienten und profitablen Um-
                                                        gang mit knappen Gütern orientiert sei. Zum Wesen
                                                        der Wirtschaft gehöre die Konkurrenz, weshalb ihr
                                                        Selbstlosigkeit und Nächstenliebe gleichermaßen
                                                        wesensfremd seien. Es reiche zu, wenn die Wirt-
                                                        schaft insgesamt zur Wohlstandsmehrung beitrage;
                                                        auf die ethische Gesinnung der einzelnen Wirt-
                                                        schaftssubjekte komme es dagegen nicht an.

                                                        Markt und Ethik
                                                        in der Sozialen Marktwirtschaft
Das Spannungsverhältnis                                 Diese Vorstellung von einem Nebeneinander von
zwischen Markt und Ethik                                Wirtschaft und Ethik ist immer wieder in Zweifel
Als die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) vor    gezogen worden. Fundamentale Anfragen an die
zwei Jahrzehnten ihre erste Wirtschaftsdenkschrift      kapitalistische Wirtschaftsweise wurden im Namen
unter dem Titel „Gemeinwohl und Eigennutz“ (EKD,        ethischer Überzeugungen vorgebracht, unter denen
1991) veröffentlichte, erregte das kaum öffentliche     das Kriterium der Gerechtigkeit immer wieder
Aufmerksamkeit. Dass mit den beiden Stichworten         vorrangige Bedeutung hatte. Insoweit das Privat­
im Titel ein Spannungsverhältnis bezeichnet war,        eigen­tum an den Produktionsmitteln als unvereinbar
wunderte niemanden. Dass zwischen der christlichen      mit der Gerechtigkeit galt, forderte man immer
Ethik und den Anforderungen der Marktkonkurrenz         wieder die Vergesellschaftung oder doch die
nicht einfach Harmonie herrscht, wurde allgemein        Vergemeinschaftung dieses Eigentums.
vorausgesetzt.
                                                        Einen eigenen Weg zu einer ethisch verantworteten
Auch die Katholische Soziallehre hat das stets zum      Wirtschaftsordnung suchte Deutschland nach 1945
Ausdruck gebracht. Als Papst Leo XIII. mit seiner       mit dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft. Die
ersten Sozialenzyklika 1891 an die Öffentlichkeit       entscheidenden Merkmale dieser Ordnung sind der
trat, unterstrich er ausdrücklich, dass es sich um      Verfassungsgrundsatz, dass Eigentum verpflichtet,
eine neue Thematik – „Rerum novarum“/„Von neuen         die Verbindung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
Dingen“ – handelte. Als Papst Johannes Paul II.         zu Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung sowie
90 Jahre später den Solidaritätsansatz dieser           die besondere Verantwortung des Staates für eine
Denkschrift aktualisieren wollte, orientierte er sich   Rahmenordnung, die wirtschaftliches Handeln und
ausdrücklich am Vorrang der Arbeit vor dem Kapital      sozialen Ausgleich vereinbar machen soll.

6
ZWISCHEN GEWINN UND GEWISSEN - WIE VIEL NÄCHSTENLIEBE KANN SICH DIE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT LEISTEN?
Das Wirtschaftsmodell anpassen                            Die Beiträge der Kirchen
und neu ausrichten                                        zur Neuorientierung
Die Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte hat die       Die Kirchen haben in den letzten Jahren wichtige
Dichotomie zwischen Ethik und Wirtschaft grund-           Beiträge zu der notwendigen Neuorientierung
legend infrage gestellt. Die Entfesselung der Markt-      ­geleistet. Die EKD hat auf die Gerechtigkeits­
kräfte in einer globalisierten Wirtschaft ruft geradezu    probleme modernen Wirtschaftens mit dem Konzept
nach einer neuen ethischen Orientierung. Die Leis-         der gerechten Teilhabe geantwortet und deutlich
tungsfähigkeit des Modells der Sozialen Marktwirt-         gemacht, dass „Bildung für alle“ der Schlüssel
schaft ist neu herausgefordert.                            zu Befähigungsgerechtigkeit und damit auch zu
                                                           Beteiligungsgerechtigkeit ist. Die EKD hat unter-
Vier Faktoren lösen aktuell ein Nachfragen aus:            nehmerisches Handeln ethisch neu gewürdigt, weil
                                                           in der Bereitschaft, am konkreten Ort für sich und
   Mit der Globalisierung verbindet sich die Frage,        andere Verantwortung zu übernehmen, eine Antwort
   welche Akteure eine Rahmenordnung der                   auf Gottes Berufung liegt. Dabei hat sie die Wett­
   globalen Wirtschaft verantworten sollen und             bewerbs­ordnung als die erfolgreichste Wirtschafts-
   welche Kriterien für eine solche Rahmenordnung          ordnung ausdrücklich bejaht – unter der Voraus­
   unerlässlich sind.                                      setzung, dass diese in einen Rahmen eingefügt
                                                           ist, der die gleiche Freiheit aller achtet und soziale
   Die Finanzmarktkrise hat die Fragen aufgeworfen,        Gerechtigkeit fördert. Sie hat insbesondere mit Blick
   wie unverantwortliches Handeln zulasten der             auf den Klimawandel Aufgaben und Chancen einer
   Allgemeinheit verhindert werden und wie dem             nachhaltigen Entwicklung in weltweiter Perspek-
   Prinzip einer Sozialisierung der Risiken bei gleich-    tive konkret beschrieben. Auf die Finanzmarktkrise
   zeitiger Privatisierung der Gewinne ein Riegel          antwortete die EKD mit einem Appell zur Umkehr
   vorgeschoben werden kann.                               auf den vier Ebenen persönliches Verhalten, unter­
                                                           nehmerische Verantwortung, politische Regulierung
   Neben der Finanzmarktkrise tragen moralisch             und sozio­kulturelle Orientierungen.
   fragwürdige Handlungsweisen einzelner Mana-
   ger oder ganzer Unternehmen sowie die wach-            Papst Benedikt XVI. hat die wirtschafts- und
   sende Disparität innerhalb einzelner Gesellschaf-      ­sozialethische Fragestellung in seiner Enzyklika
   ten und der Weltgesellschaft zu einem drama­            „­Caritas in veritate“/„Die Liebe in der Wahrheit“
   tischen Vertrauensverlust der Marktwirtschaft           (2009) aufgenommen, deren Zielsetzung er in einer
   in Teilen der (Welt-)Gesellschaft bei. Dieser           Ansprache am 8. Juli 2009 zusammengefasst hat,
   Ver­trauens­verlust lässt sich nur überwinden,          die der deutschen Ausgabe der Enzyklika b     ­ eigefügt
   wenn die Orientierung an ethischen Maßstäben            wurde. In der Enzyklika gehe es ihm, so sagte der
   und das Einhalten rechtlicher Regeln wieder als         Papst, „nicht darum, technische Lösungen für
   oberste Prinzipien wirtschaftlichen Handelns            die großen wirtschaftlichen Probleme unserer Zeit
   anerkannt werden.                                       ­anzubieten. Die wichtigen Fragen unserer Gesell-
                                                            schaft reichen weit über die rein operative Ebene
   Der demografische Wandel sowie die Gefähr-               hinaus und müssen im größeren Zusammenhang
   dung sozialer, kultureller und ökologischer              ­gesehen werden. Daher wollte ich in Erinnerung
   Lebensbedingungen erfordern einen soziokultu-             rufen, dass die umfassende Entwicklung eines
   rellen und politischen Paradigmenwechsel hin zu           jeden Menschen und der ganzen Menschheit nur
   einer nachhaltigen Entwicklung. Der Wirtschaft            in Christus und nur auf Christus hin erfolgen kann.
   kommt bei diesem Paradigmenwechsel eine                   Der hauptsächliche Antrieb dazu ist die Liebe in der
   Schlüsselbedeutung zu.                                    Wahrheit, nämlich die Bereitschaft, sich auf die

                                                                                                                      7
ZWISCHEN GEWINN UND GEWISSEN - WIE VIEL NÄCHSTENLIEBE KANN SICH DIE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT LEISTEN?
2 WOLFGANG HUBER
Ethik, Unternehmens­v erantwortung und Wettbewerb

Logik des unentgeltlichen Schenkens einzulassen           dass es um Wohlstand für alle und nicht nur um
und das wirtschaftliche und soziale Leben nach            Gewinnmaximierung für wenige geht, muss nicht nur
den bleibenden großen Prinzipien auszurichten:            die Rahmenordnung sorgen. An diesem Maßstab
die Achtung vor dem menschlichen Leben, die               müssen sich vielmehr auch die Einzelnen in ihrem
­wahren Menschenrechte und -pflichten, die not­           Handeln ausrichten.
 wendige Tugendhaftigkeit der Wirtschaftstreibenden
 und der Verantwortlichen in der Politik, das Streben     Die päpstliche Sozialenzyklika orientiert sich stark
 nach dem Gemeinwohl auch auf weltweiter Ebene,           am Gegensatz zwischen dem christlichen Men-
 der ethische Umgang mit der Technologie und              schenbild und den besorgniserregenden Zeichen
 den Medien.“                                             unserer Zeit, in denen sich die Krise eines falsch
                                                          verstandenen Eigen­nutzes und eines gottvergesse-
Die Evangelische Sozialethik legt in ihren wirtschafts­   nen Materialis­mus zeige. Die Krisenentwicklungen
ethischen Vorschlägen besonderes Gewicht auf den          unserer Zeit offenbarten, dass die Vorherrschaft
verantwortlichen Gebrauch menschlicher Freiheit           materieller Werte einen weitgehenden Verlust an
und die Weiterentwicklung der Wirtschaftsordnung          geistig-moralischen Werten mit sich bringe. Die
zu einer global verantworteten, nachhaltigen und so-      Erosion kultureller Werte in den entwickelten Ge-
zialen Marktwirtschaft. Sie vertritt die Überzeugung,     sellschaften, aber ebenso auch die Armut in den
dass im wirtschaftlichen Handeln ein Gleichgewicht        Entwicklungs- und Schwellen­ländern fordern dazu
zwischen Eigennutz und Gemeinwohl, zwischen               heraus, wieder ein ganzheitliches Bild vom Men-
Gewinn und Gewissen, zwischen der Sorge um                schen zu entwickeln und die Ordnung der Wirtschaft
sich selbst und der Fürsorge für den Nächsten, also       an ihm zu orientieren.
zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe möglich
ist. Sie widerspricht damit der Auffassung, dass es       Auf die eine wie auf die andere Weise eröffnet die
für den einzelnen wirtschaftlich Handelnden reicht,       Soziallehre der Kirchen für Menschen in wirtschaft-
sich am Eigeninteresse zu orientieren, weil für die       licher Verantwortung einen Horizont, in dem sie ihr
Verträglichkeit des Handelns mit dem Gemeinwohl           Handeln mit einem guten, gemeinschaftsorientierten
allein die Rahmenordnung zuständig sei. Dafür,            Sinn verbinden, sich vor Größenwahn und Verblen-
                                                          dung bewahren und wirtschaftliche Effizienz mit
                                                          Nachhaltigkeit verbinden können. Auf die häufig
                                                          gestellte Frage, was ein christlicher Unternehmer in
                                                          einer sozialen Marktwirtschaft mehr tun könne als ein
                                                          anderer Unternehmer, lässt sich deshalb antworten:
                                                          Ein christlicher Unternehmer wird auch im Erfolg nie
                                                          vergessen, dass der Mensch ein geschöpfliches,
                                                          ein zeitliches und ein gemeinschaftliches Wesen ist;
                                                          das wird diesen Unternehmer vor Hochmut bewah-
                                                          ren. Er wird in guten wie in schweren Tagen nie die
                                                          biblische Option für die Armen vergessen und die
                                                          Auswirkungen seines Handelns für andere daran
                                                          prüfen. Aus der Motivation des Glaubens heraus
                                                          wird er seine Kraft für die Weiterentwicklung einer
                                                          nachhaltigen sozialen Marktwirtschaft einsetzen.
                                                          Wenn er dabei auch außerhalb der christlichen
                                                          Unternehmerschaft Mitstreiter findet, wird er sich
                                                          darüber von Herzen freuen.

8
3 BERND UHL
    

Die Verantwortung christ-                                Aus der unbedingten Achtung der menschlichen
                                                         Würde folgt, dass der Mensch „Urheber, Mittelpunkt
licher Unternehmer: Von der                              und Ziel aller Wirtschaft“ sein muss (Gaudium et
Katholischen Soziallehre zur                             spes/Freude und Hoffnung, 1965, 63). Demnach ist
Unte­r­nehmensverantwortung                              das Sachziel der Wirtschaft nicht die bloße Rentabili-
                                                         tät oder eine ausreichende Güterversorgung – so be-
                                                         deutsam beide Kriterien für eine effiziente Wirtschaft
                                                         auch sind. Vielmehr besteht es „in der dauernden
                                                         und gesicherten Schaffung jener materiellen Voraus-
                                                         setzungen, die dem Einzelnen und den Sozialgebil-
                                                         den die menschenwürdige Entfaltung ermöglichen“
                                                         (Höffner, 1985, 24).

                                                         Spätestens seit der Enzyklika „Centesimus a     ­ nnus“/
                                                         „Der hundertste Jahrestag“ (1991) von Papst
                                                         ­Johannes Paul II. kommt in der katholischen Sozial­
                                                          verkündigung der Sozialen Marktwirtschaft ein
                                                          Vorrang gegenüber anderen (planwirtschaftlichen
                                                          oder wirtschaftsliberalen) Wirtschaftssystemen zu.
                                                          Johannes Paul II. bezeichnete den freien Markt
                                                          „sowohl auf nationaler Ebene der einzelnen Natio-
                                                          nen wie auch auf jener der internationalen Bezie-
                                                          hungen … [als] das wirksamste Instrument für den
                                                          Einsatz der Ressourcen und für die Befriedigung der
                                                          Bedürfnisse“ (Centesimus annus, 1991, 34). Diese
                                                          Annäherung, die auch in der ersten Sozial­enzyklika
Das Verhältnis von Katholischer Sozial­                   „Caritas in v­ eritate“/„Die Liebe in der Wahrheit“
lehre und Sozialer Marktwirtschaft                        (2009) von Papst Benedikt XVI. deutlich wird, war
Die katholische Kirche befasst sich auf der Grund-        möglich, weil die Soziale Marktwirtschaft mit ihren
lage der Katholischen Soziallehre mit der Gesell-         Zielen „Freiheit“ und „sozialer Ausgleich“ sowie mit
schafts- und Wirtschaftsordnung der Sozialen Markt-       ihren Mitteln weithin kompatibel ist mit den Prinzipien
wirtschaft. Die Katholische Soziallehre basiert auf       der Katholischen Soziallehre, also Würde und Freiheit
dem christlichen Menschenbild, das den Menschen           des Einzelnen, Gemeinwohl, Solidarität und soziale
als Person mit einer Individual- und Sozialnatur          Gerechtigkeit. Die Soziale Marktwirtschaft kann bei
versteht. Seine Gottebenbildlichkeit begründet seine      entsprechender Ausgestaltung dem Menschen und
unveräußerliche Würde, die in allen gesellschaftlichen    seinem Wohl nachhaltiger dienen als andere Wirt-
und institutionellen Zusammenhängen unbedingt zu          schaftssysteme. Der Markt ist an sich eben „nicht ein
achten ist. Ökonomische und soziale Gegebenheiten         Ort der Unterdrückung der Armen durch die Reichen
sowie Institutionen werden daher durch die katho­         und darf daher auch nicht dazu werden“ (Caritas in
lische Kirche unter Bezugnahme auf die Sozialprinzi-      veritate, 2009, 36).
pien Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl in den
Blick genommen. Sie prüft, inwiefern die Gesell-
schafts- und Wirtschaftsordnung mithilfe dieser Prin-
zipien soziale Gerechtigkeit als Teilhabegerechtigkeit
ermöglicht.

                                                                                                               9
3 BERND UHL
Die Verantwortung christlicher Unternehmer

Der Unternehmer in der                                    Haftungsprinzip ist um des Gemeinwohls und der
Sozialen Marktwirtschaft                                  Gerechtigkeit willen eine notwendige Forderung der
Wettbewerb heißt vor allem: Marktbeschränkung.            Sozialen Marktwirtschaft. (Unternehmerische) Freiheit
Durch Markt und Wettbewerb schaut der Unter-              darf eben nicht „zu einem Götzendienst werden,
nehmer auf die Bedürfnisse der Konsumenten. Der           ohne Verantwortung, ohne Bindung, ohne Wur-
Wettbewerb ist ein marktwirtschaftliches Instrument,      zel“ (Erhard, 1961). Für Fehlentscheidungen muss
das die Kreativität und schöpferische Kraft des           gehaftet werden, ohne dabei Risiken zulasten Dritter
Unternehmers fördert und die Freiheit der Wirt-           abzugeben.
schaftssubjekte realisiert. Insofern ist er „berechtigt
und von zweifellosem Nutzen“ (Quadragesimo anno/
Im vierzigsten Jahr, 1931, 81). Der globale Wettbe-       Der christliche Unternehmer – verpflichtet
werb setzt eine beachtliche ökonomische Dynamik           zu besonderer Verantwortung?
frei und begünstigt ökonomisches Wachstum. Er             Jeder Unternehmer ist auf ein Höchstmaß an öko-
öffnet unternehmerischem Handeln und individueller        nomischem Sachverstand und ein Höchstmaß an
Entwicklung neue Möglichkeiten, birgt allerdings          ethischer Kompetenz angewiesen. Jeder Unterneh-
gleichzeitig unterschiedliche Risiken für Arbeitgeber     mer steht in der Verantwortung für sein Unternehmen
und Arbeitnehmer.                                         und diejenigen Personen, die in Verbindung mit dem
                                                          Unternehmen stehen (Stakeholder) – zum Beispiel
Dennoch kann Wettbewerb nicht das ausschließliche         seine Mitarbeiter, seine Kunden und seine Zulieferer.
regulative Prinzip der Wirtschaft sein. Vielmehr be-      Er muss sich die Frage stellen, welche Werte sein
dürfen Wettbewerb und Marktwirtschaft eines Ord-          Handeln leiten. Wenn ein Unternehmen in einer Kul-
nungsrahmens und entsprechender Institutionen, die        tur der Wertschätzung und Achtung vor der Würde
Wettbewerbsverzerrungen (zum Beispiel Monopole            der Beteiligten geführt wird, dann ist auch das Gebot
und Preisabsprachen) und Wettbewerbsverletzungen          der Nächstenliebe erfüllt. Zwischen ökonomischen
(zum Beispiel Steuerhinterziehung) verhindern.            Gesetzmäßigkeiten und den Anforderungen der Ethik
                                                          besteht ein stetes Spannungsverhältnis, das durch-
Der Unternehmer steht im permanenten Wettbewerb           aus bereichernd wirken kann.
mit anderen Marktakteuren. Hoher Wettbewerbs-
druck kann kurzfristige und risikoreiche Unterneh-        Der christliche Unternehmer steht in der besonderen
mensstrategien begünstigen, deren Erfolg oft nicht        Verantwortung, die theoretischen Impulse der christ­
über den Tag hinausreicht. Die Zwänge des Wett-           lichen Sozialethik in der unternehmerischen Praxis
bewerbs entheben den Unternehmer jedoch nicht             zu verwirklichen. Dazu gehört, die Menschen im
von der Verantwortung für sein unternehmerisches          und um das Unternehmen als „das erste zu schüt-
Handeln. Eine private Nutzen- und Gewinnmaximie-          zende und zu nutzende Kapital“ zu achten (Caritas
rung sowie Wettbewerbsfähigkeit um jeden Preis,           in veritate, 2009, 25). Ein christlicher Unternehmer
verbunden mit einer Übertragung der Risiken auf die       kann sein Christsein nicht am Unternehmenseingang
Solidargemeinschaft, legitimieren – wenn die Kate-        ablegen. Glaubwürdigkeit kommt erst dann zum
gorien Gemeinwohl und Gerechtigkeit berücksichtigt        Tragen, „wenn unser ganzes Leben im privaten, im
bleiben sollen – unternehmerisches Handeln nicht.         beruf­lichen, im wirtschaftlichen und im öffentlichen
Ebenso wenig entheben institutionelle Möglichkeiten       Bereich christlich ist“ (Höffner, 1949).
den Unternehmer von der Pflicht zu prüfen, ob das
Ausschöpfen dieser Möglichkeiten ethisch vertretbar       Der christliche Unternehmer ist in einer besonde-
ist. Der Unternehmer kann sich der Verantwortung          ren Weise der Nächstenliebe verpflichtet, die als
für seine Unternehmensstrategie nicht entziehen.          außerordentliche Kraft die Menschen bewegt, sich
Die Orientierung am Verantwortungsprinzip und am          für Gerechtigkeit und Gemeinwohl einzusetzen. Sie

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ist ein Prinzip der Mikro- und Makrobeziehungen,          Insbesondere die beiden letzten Sozialenzykliken
das Christen und Nichtchristen als Leitkriterium des      „Centesimus annus“ (1991) und „Caritas in veritate“
eigenen Handelns wahrnehmen sollten beziehungs-           (2009) bieten mit ihren Ausführungen Impulse für
weise können.                                             eine Debatte über die Ausgestaltung einer gerech-
                                                          ten, die Freiheit fördernden und menschenwürdigen
                                                          Wirtschaftsordnung. Die Soziale Marktwirtschaft
Enzykliken – ethische Impulsgeber                         wird dabei besonders in den Blick genommen. Diese
für die Herausforderungen der Zeit                        Diskussion ist notwendig, weil die Wirtschaft immer
Die evangelische und die katholische Kirche haben         wieder vor neue Herausforderungen gestellt wird
sich vielfach in die Diskussion über die Grund­lagen      (zum Beispiel Globalisierung, Digitalisierung, Volatili-
einer gerechten Wirtschaft eingebracht. Beide             tät). Die Diskussion ist aber auch erforderlich, weil die
haben sich zur jüngsten Finanz- und Wirtschafts-          Soziale Marktwirtschaft kein starres System darstellt.
krise in eigenen Publikationen geäußert: der Rat der      Auch ihre Gründungsväter hatten unterschiedliche
Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD, 2009) in        Auffassungen über die praktische Umsetzung der
der Publikation „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“       einzelnen Elemente. Die Soziale Marktwirtschaft fußt
und die deutschen Bischöfe (2009) in dem Text der         zwar auf grundlegenden Werten, bedarf jedoch der
Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen       konkreten Ausgestaltung unter den jeweiligen Bedin-
der Deutschen Bischofskonferenz „Auf dem Weg              gungen der Zeit.
aus der Krise“.

Enzykliken sind Lehrschreiben der Päpste, die sich        Konsumentenverantwortung
an die gesamte katholische Kirche wenden. Sozial­         und Finanzmärkte
enzykliken, die sich mit gesellschaftlichen und           Verantwortlich für die aktuelle Finanz- und Wirt-
ökonomischen Fragestellungen befassen, richten            schaftskrise ist ein „komplexes Ursachenbündel,
sich zudem an alle Menschen guten Willens. Sie            zu dem sowohl ein Versagen von Märkten als auch
zeigen ethische Prinzipien auf (Solidarität, Subsidia­    von Staaten gehören“ (Die deutschen Bischöfe,
rität, Gemeinwohl, Gerechtigkeit) und wenden sie          2009, 17). Die Krise der Finanzmärkte ist folglich
auf aktuelle soziale, ökologische und ökonomische         nicht nur durch die Unbesonnenheit von Managern
Herausforderungen an. Sie deuten die Gegenwart            verursacht worden. Gleichzeitig waren auch der
als Anruf Gottes an die Menschen von heute.               Wunsch von Anlegern nach hohen und schnellen
                                                          Renditen und die damit einhergehende Inkaufnahme
Enzykliken haben in der Vergangenheit unterschied-        von Risiken nicht unmaßgeblich für die Krise.
liche Auswirkungen gehabt. „Quadragesimo anno“
(1931) von Papst Pius XI. formulierte das Subsidia-       Der Kauf von Aktien eines börsennotierten Unter­
ritätsprinzip als Grundpfeiler jeder gesellschaftlichen   nehmens beinhaltet immer ein Bejahen seiner Ge-
Ordnung. „Laborem exercens“/„Über die mensch-             schäftspolitik. Hier kann es ethisch nicht vertretbare
liche Arbeit“ (1981) von Papst Johannes Paul II.          Geschäftsfelder und -praktiken geben: Kinderarbeit,
stärkte die Arbeiterbewegung in Polen und präzi-          Umweltsünden, Verweigerung von Mitbestimmung,
sierte den objektiven und subjektiven Wert mensch-        Bestechung als normales Geschäftsgebaren. Inso-
licher Arbeit. „Populorum progressio“/„Die Entwick-       fern ist der Anleger zur Prüfung verpflichtet, wem
lung der Völker“ (1967) von Papst Paul VI. unterstrich    er sein Geld überlässt und was mit seinem Geld
die Bedeutung der Entwicklungshilfe für Politik und       geschieht.
Kirche. Katholische Hilfswerke wie Misereor und Ad-
veniat haben aus dieser Enzyklika wichtige Anregun-       Grundsätzlich werden solche Finanzprodukte ange-
gen für ihre Arbeit erhalten.                             boten, die auch auf eine Nachfrage stoßen. Insofern

                                                                                                                11
3 BERND UHL
Die Verantwortung christlicher Unternehmer

                                                           Alle an der Wirtschaft beteiligten Akteure stehen in
                                                           der Verantwortung, eine „wirtschaftliche Ordnung zu
                                                           schaffen, die immer besser im Dienst des Menschen
                                                           steht und die dem Einzelnen wie den Gruppen dazu
                                                           hilft, die ihnen eigene Würde zu behaupten und zu
                                                           entfalten“ (Gaudium et spes, 1965, 9). Diese ethische
                                                           Forderung des II. Vatikanischen Konzils geht einher
                                                           mit Jean Monnets (1988, 387) Erkenntnis: „Nichts
                                                           ist möglich ohne die Menschen, nichts dauerhaft
                                                           ohne Institutionen.“ Die Humanisierung der sozialen
                                                           Beziehungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat
                                                           hängt von Tugen­den und Verhaltensweisen der
                                                           Menschen sowie von gesellschaftlichen Strukturen
                                                           und Institutionen ab. Gerade die jüngste Finanz- und
                                                           Wirtschaftskrise zeigt, dass es einer Neubesinnung
können die Konsumenten durch ihre Kaufentschei-            auf beides bedarf – auf die Individual- und Institutio-
dung dazu beitragen, dass ethisch vertretbare Pro-         nenethik. Nicht nur die Demokratie, auch die Soziale
dukte mehr angeboten werden als bisher. Die Kon-           Marktwirtschaft braucht Tugenden.
sumenten tragen eine Mitverantwortung; gleichzeitig
verfügen sie aber auch über Kaufmacht. Dennoch ist
der Konsument nicht allein verantwortlich für das An-      Die Verantwortung der Politik
gebot an Finanzprodukten. Die Finanzunternehmen            Die Politik ist nicht für das Gewissen der Men-
stehen ebenso in der Verantwortung, aber auch der          schen zuständig. Dennoch ist sie verantwortlich
Staat, der von den Finanzunternehmen eine entspre-         für Gemein­wohl und Gerechtigkeit und damit für
chende Produkttransparenz einfordern muss, um die          ihre Bürger. Die Auswirkungen der Finanz- und
Konsumenten vor Fehlentscheidungen zu schützen.            Wirtschaftskrise haben gezeigt, dass die Finanz-
                                                           markt- und Wirtschaftsordnung einer globalen
                                                           Ordnungs­politik bedarf. Dabei gibt es einen Ziel­
Was tun, um Gewissen und Gewinn                            konflikt „zwischen dem globalen Steuerungsbedarf
zusammenzubringen?                                         und der Bewahrung der Vielfalt von Institutionen
Die katholische Sozialverkündigung geht davon aus,         und Systemen auf natio­naler Ebene“ (Die deut-
dass der Bereich der Wirtschaft „weder moralisch           schen Bischöfe, 2009, 27). Gerade beim Krisen­
neutral noch von seinem Wesen her unmenschlich             management gilt es genau zu prüfen, welche
und antisozial [ist]. Er gehört zum Tun des ­Menschen      ­Kompetenzen dem Staat als wirtschaftlichem
und muss, gerade weil er menschlich ist, nach mo-           ­Akteur zukommen.
ralischen Gesichtspunkten strukturiert und institutio-
nalisiert werden“ (Caritas in veritate, 2009, 36). Papst
Benedikt XVI. erweist sich insofern als Befürworter        Die Verantwortung der Unternehmer
der Individual- und Institutionenethik, als er darauf      Zweck eines Unternehmens ist nicht nur Gewinn­
hinweist, dass der Markt sich „nicht nur auf sich          maximierung, sondern auch „die Verwirklichung einer
selbst verlassen [darf], denn er ist nicht in der Lage,    Gemeinschaft von Menschen, die auf verschiedene
von sich aus das zu erreichen, was seine Möglichkei-       Weise die Erfüllung ihrer grundlegenden Bedürfnisse
ten übersteigt. Er muss vielmehr auf die moralischen       anstreben und zugleich eine besondere Gruppe im
Kräfte anderer Subjekte zurückgreifen, die diese           Dienst der Gesamtgesellschaft darstellen“ (Centesi-
hervorbringen können“ (Caritas in veritate, 2009, 35).     mus annus, 1991, 35).

12
Wertorientiertes unternehmerisches Handeln ist Aus-        men zu finden … [Sie ist] Anlass zu Unterscheidung
druck der Achtung vor der Menschenwürde. Z    ­ udem       und neuer Planung“ (Caritas in veritate, 2009, 21).
steigert es die Attraktivität eines Unternehmens für die   Die katholische Kirche versteht sich als Dialogpart-
Stakeholder. Viele Unternehmen verfügen über Ethik-        ner der Unternehmen und damit der Wirtschaft. Mit
kodizes, an denen sie ihr unternehmerisches Handeln        ihrer Soziallehre will sie Orientierung bieten und zu
ausrichten. Die soziale Verantwortung von Unterneh-        einer Erneuerung der Grundwerte beitragen, welche
mern erfährt heute ­zahlreiche Ausprägungen.               die Fundamente unserer Gesellschafts- und Wirt-
                                                           schaftsordnung darstellen. Ihre Sozialprinzipien und
                                                           das christliche Menschenbild fördern eine Kultur der
Die Verantwortung der Kirche                               Freiheit, Achtung und Verantwortung. Sie sind leitend
„Die Krise verpflichtet uns, unseren Weg neu zu pla-       für ein christliches Leben und können dies auch für
nen, uns neue Regeln zu geben und neue Einsatzfor-         alle anderen Menschen guten Willens sein.

                                                                                                             13
4 NILS GOLDSCHMIDT

Wirtschaftliches Handeln,                               dem Parkett ausgesetzt sind, ist abstrakt. Demge-
                                                        genüber hat die weitaus griffigere Behauptung, dass
Marktsystem und das                                     es die Gier der Börsianer, Manager und Unternehmer
ethische Vorsichtsprinzip                               ist, welche die Finanz- und Wirtschaftswelt und mit
                                                        ihr das tägliche Handeln auf dem Markt und in der
                                                        Politik ins Schwanken bringt, vor allem medial eine
                                                        weitaus höhere Durchschlagskraft. Aus dieser Sicht
                                                        ist es vor allem das Fehlverhalten Einzelner, das die
                                                        Krise verursacht hat. Gefordert werden dann Moral
                                                        und Tugend als feste Anker wirtschaftlichen und
                                                        auch politischen Handelns.

                                                        Vor diesem Hintergrund erscheint es angebracht,
                                                        die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen in
                                                        wirtschaftlichen Zusammenhängen nochmals und
                                                        grundlegend neu zu stellen. In Zeiten der Finanz- und
                                                        Wirtschaftskrise betrifft das vor allem die soziale Ver-
                                                        antwortung des einzelnen Unternehmers und seiner
                                                        wirtschaftlichen Entscheidungen. In gesellschaftlicher
                                                        Perspektive ist interessant, welcher Stellenwert dem
                                                        moralischen Handeln des Einzelnen in der Gesell-
                                                        schaft zukommt (unabhängig von der Frage, welche
                                                        Rolle Moral in der Familie und kleinen Gemeinschaf-
                                                        ten spielt). Inwiefern sollten also der Unternehmer
                                                        und der Manager dazu genötigt sein, sich gerade
                                                        auch als Unternehmer und Manager am Wohlerge-
                                                        hen aller – und nicht nur an dem ihrer Aktionäre und
Markt und Moral                                         Kunden – zu orientieren? Wann ist ihr Handeln als
Die öffentliche Wahrnehmung der aktuellen Finanz-       Unternehmer und als Manager ethisch korrekt und
und Wirtschaftskrise zeigt ein ambivalentes Ge-         wann bloß gewinnorientiert?
sicht. Einerseits hat sich die Vorstellung, dass die
Gescheh­nisse am Markt systemisch sind, in weitem
Maße durchgesetzt und stößt auch landläufig nicht       Die Logik des Marktes
mehr auf Ablehnung. Nicht wenige sehen in „den          Der Markt hat tatsächlich seine eigene Logik –
Märkten“, in deren Eigenlogik und Eigendynamik, die     und diese Logik lässt sich bestimmen. Sie liegt
Ursachen für die Krise. Die computergestützten, ent-    im Erzielen von Gewinnen. Ein Unternehmer, der
personalisierten Finanztransaktionen sind geradezu      keine Gewinne macht, hat sein Ziel nicht erreicht.
sinnbildlich für einen nicht vom Einzelnen zu durch-    Der Markt ist folglich als ein in sich geschlossener
brechenden, in sich geschlossenen Mechanismus           Funktionszusammenhang entlang des Prinzips der
der Wirtschaft. Andererseits und zur gleichen Zeit      Gewinnerzielung zu verstehen. Folge ich diesem
wird dieses systemische Verständnis mit Blick auf die   Prinzip, bleibe ich Teil des Marktes. Verweigere ich
Krise infrage gestellt und stattdessen die Verantwor-   mich dieser Logik oder kann ich dieser Logik nicht
tung des Einzelnen eingeklagt. Die Vorstellung von      Genüge leisten, werde ich über kurz oder lang aus
den systemischen Anforderungen, denen ein Unter-        diesem System ausscheiden. Ein Unternehmen,
nehmer auf dem Markt und der Aktienhändler auf          das am Markt keine Gewinne erwirtschaftet, geht in

14
Konkurs. Milton Friedman hat dazu in unübertroffe­       Der Markt als Problemlöser
ner Klarheit formuliert: “The social responsibility of   und Problemerzeuger
business is to increase its profits.” Kurz gefasst:      Aus der Akzeptanz der systemischen Eigenlogik des
“The business of business is business.”                  Marktes folgt jedoch keineswegs, dass damit alle
                                                         gesellschaftlichen Probleme gelöst sind. Der Markt
Gewinne zu erwirtschaften ist der Kern jedes             ist nicht nur Problemlöser, sondern häufig auch
unternehmerischen Handelns. Einem Unternehmer            Problemerzeuger. Dies hat seinen Grund gerade
irgendeine andere Form von sozialer Verantwortung        in der systemischen Verfasstheit des Marktes. Am
abzuverlangen – dies ist die feste Überzeugung von       Markt können sich nur solche Interessen verwirk­
Friedman –, wird katastrophale Folgen für das Fun-       lichen lassen, die mit dem Prinzip der Gewinn­orien­
dament unserer freien Gesellschaft haben. Und es ist     tierung in Einklang zu bringen sind. Dabei ist das
wohl nicht zu bestreiten, dass die Marktgesellschaft     Interesse, Geld zu verdienen, grundlegend für jedes
mit ihrem Prinzip der Gewinnorientierung einen           Gesellschaftsmitglied. Der am Markt erworbene Lohn
Wohlstand herbeigeführt hat, der einmalig in der         ist in unserer modernen Gesellschaft die unabding-
Geschichte der Menschheit ist. Die Marktwirtschaft       bare Voraussetzung für das Führen eines sinnvollen
und ihr Prinzip der Gewinnorientierung sind ein Er-      Lebens. Wo dieser Lohn fehlt, ist die Teilhabe am
folgskonzept. Auch aus ethischer Sicht spricht nichts    gesellschaftlichen Leben kaum zu gewährleisten und
dagegen, auf diesen Mechanismus zu vertrauen.            muss durch gesellschaftliche Unterstützungsleistun-
                                                         gen ermöglicht werden.
In dieser Weise hat auch Papst Johannes Paul II.
in seiner Sozialenzyklika „Centesimus annus“/„Der        Dabei finden jedoch die vielen unterschiedlichen Inte-
hundertste Jahrestag“ (1991) das Gewinnprinzip als       ressen der einzelnen Subjekte nur insoweit Eingang
eine Leitlinie guter Unternehmensführung (neben          in den Markt, als sie sich in die Logik des Marktes
weiteren menschlichen und moralischen Faktoren)          einfügen. Interessen wie etwa das Interesse an Ge-
herausgestellt: „Die Kirche anerkennt die berechtigte    sundheit oder Bildung müssen jenseits des Marktes
Funktion des Gewinnes als Indikator für den guten        befriedigt werden (wobei freilich auch in diese Berei-
Zustand und Betrieb des Unternehmens. Wenn ein           che das Ökonomische hineinwirkt) oder dem Markt
Unternehmen mit Gewinn produziert, bedeutet das,         müssen für die Befriedigung dieser Ziele Ressourcen
dass die Produktionsfaktoren sachgemäß eingesetzt        abgewonnen werden. Strukturelle Risiken für das
und die menschlichen Bedürfnisse gebührend erfüllt       Geldverdienen – zum Beispiel durch Krankheit und
wurden“ (Centesimus annus, 1991, 35).                    Alter – sollten entsprechend über wohl­fahrts­staat­
                                                         liche Arrangements abgefedert werden.
Diese Logik gilt auch in der Finanz- und Wirt­
schaftskrise: Es wäre absurd, einer Bank und ihren       Freilich bleibt zu diskutieren, wie diese jeweiligen
Mitarbeitern die Finanzkrise anzulasten, nur weil sie    wohlfahrtsstaatlichen Arrangements sinnvoller-
risikobehaftete Papiere mit dem Ziel der Gewinn­         weise auszugestalten sind. Nicht zuletzt verweisen
erzielung verkaufen oder eine hohe Eigenkapitalren-      die anhaltenden Finanzierungsschwierigkeiten auf
dite anstreben – ausgenommen hiervon sind natür-         einen bleibenden Reformbedarf. Dennoch ergibt
lich rechtlich fragwürdige Praktiken. Vielmehr sind      sich für eine moderne, vom System Markt geprägte
Unternehmer, Manager und Mitarbeiter auch selbst         Gesellschaft folgende unumstößliche Einsicht: Aus
Teil des Systemzwangs. Sie haben zumeist nur die         der Funktionslogik des Marktes folgt, dass die vom
Wahl, entsprechend der marktlichen Logik und der         Markt Ausgeschlossenen der blinde Fleck des Mark-
systembedingten Vorgabe der Gewinnerzielung ihren        tes selbst sind. Wenn wir aber in einer modernen
Geschäften nachzukommen oder eben im Extremfall          aufgeklärten Gesellschaft nicht den Markt, sondern
aus dem System auszuscheiden.                            die individuelle Teilhabe an der Gesellschaft und

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4 NILS GOLDSCHMIDT
Wirtschaftliches Handeln, Marktsystem und das ethische Vorsichtsprinzip

die Möglichkeit, ein sinnvolles Leben zu führen, als        für das auch und vor allem die politische Gemein-
regulative Prinzipien unserer Gesellschaft bestim-          schaft sorgen muss. … Der Bereich der Wirtschaft
men, folgt daraus, dass wir – ganz im Sinne der             ist weder moralisch neutral noch von seinem Wesen
Ordnungspolitik der Sozialen Marktwirtschaft – Markt        her unmenschlich antisozial. Er gehört zum Tun des
und Wettbewerb einen Ordnungsrahmen setzen und              Menschen und muss, gerade weil er menschlich ist,
die vom Markt Ausgeschlossenen sozialstaatlich              nach moralischen Gesichtspunkten strukturiert und
unterstützen sollten.                                       institutionalisiert werden.“

So wie der Sozialstaat für seine Finanzierung auf ein
gut funktionierendes wirtschaftliches System ange-          Ethisches Vorsichtsprinzip
wiesen ist, bleibt die gesellschaftliche Akzeptanz des      und ethische Verantwortung
Marktes an ein grundlegendes System der sozialen            Mit dem Verweis auf die politischen Strukturen und
Sicherung und Integration gebunden. Dass aktuell            Institutionen lässt sich nun auch die Frage nach
eine wachsende Anzahl von Menschen nicht auf                der individuellen Verantwortung im wirtschaftlichen
­einem ausreichenden Lohnniveau in den Arbeits-             Handeln beantworten. Man mag es für bedauerlich
 markt integriert wird, das heißt mit einer Entlohnung,     halten, aber die – gerade in wirtschaftlichen Krisen-
 die es ihnen erlaubt, ein Leben auf dem Niveau der         zeiten – immer wieder an die Akteure auf dem Markt
 Gesellschaft zu führen, ist prinzipiell darauf zurückzu-   gerichtete Aufforderung, ethisch und sozial verant-
 führen, dass auch der Arbeitsmarkt nach der Logik          wortungsbewusst zu handeln, muss angesichts
 der Effizienz und Gewinnmaximierung funktioniert. In       der aufgezeigten systemischen Prozessualität des
 der Logik des Marktes ist eben nicht das Interesse         Marktes und der Anforderungen, die sich daraus für
 des Arbeitnehmers ausschlaggebend, sich mittels            das Handeln der Akteure auf dem Markt ergeben,
 seiner Arbeit einen ordentlichen Lebensstandard            unter ein ethisches Vorsichtsprinzip gestellt werden.
 zu verdienen, sondern das Erzielen eines möglichst         Sozialen Problemlagen und Ungerechtigkeiten, die
 ­hohen Gewinns durch den Einsatz von möglichst             am Markt und in der Gesellschaft entstehen, wird
  billiger Arbeit. Folglich bedarf es wie bei den Risiken   man kaum dadurch systematisch und dauerhaft
  durch Krankheit und Alter auch auf dem Arbeits-           begegnen können, dass man auf die tugendethische
  markt der fortlaufenden politischen Gestaltung.           Besserung einzelner Akteure hofft.
  Die jüngst so heftig ausgetragene Debatte um die
  Hartz-IV-Regelsätze ist ein eindrückliches Beispiel.      Angesichts der systemischen Anforderungen und
                                                            Zwänge, die der Markt an das tagtägliche Handeln
Die Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbe-               der Einzelnen stellt, kann individuelles tugendhaftes
dingungen folgt dabei der Logik des politischen             Verhalten nicht als Grundlage einer wohlgeordne-
Systems und ist das Ergebnis demokratischer Ent-            ten Gesellschaft dienen. Der Einzelne wäre schlicht
scheidungsfindungsprozesse. Maßgeblich in dieser            überfordert und sein Handeln wäre zudem gegen-
Diskussion ist die Perspektive der Gemeinwohlorien-         über dem System Markt aussichtslos, wenn man
tierung, die dem Markt Schranken setzt und denen,           ihm abverlangen würde, immer wieder gegen die
die nicht am Marktprozess beteiligt sind, Unterstüt-        Logik des Marktes sein „Gut-Sein“ in Stellung zu
zung gewährt. So formuliert Papst Benedikt XVI. in          bringen. Auch hier gilt durchaus der alte Grundsatz
seiner ersten Sozialenzyklika „Caritas in veritate“/„Die    „Ultra posse nemo obligatur“ – niemand ist ver-
Liebe in der Wahrheit“ (2009, 36) in klaren Worten:         pflichtet, mehr zu leisten, als er kann. Das ethische
„Das Wirtschaftsleben kann nicht alle gesellschaft-         Vorsichtsprinzip besagt also: Erwarte nicht, dass ein
lichen Probleme durch die schlichte Ausbreitung             Mitglied der Gesellschaft sich dauerhaft gegen seine
des Geschäftsdenkens überwinden. Es soll auf das            eigenen (ökonomischen) Interessen für das Wohl der
Erlangen des Gemeinwohls ausgerichtet werden,               Gesellschaft einsetzt.

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Zum besseren Verständnis dieses ethischen                   begründet und muss immer wieder neu als Aufgabe
Vorsichtsprinzips kann es hilfreich sein, zwischen          angenommen werden. Dies gilt besonders in der
individueller Moral (Individual- oder Tugendethik) und      jetzigen Situation. Papst Benedikt XVI. schreibt in
sozialer Gerechtigkeit (Sozialethik) zu unterscheiden.      „Caritas in veritate“ (2009, 21): „Die Krise verpflichtet
Das jeweilige moralische Handeln des Einzelnen, sei         uns, unseren Weg neu zu planen, uns neue Regeln
es Ergebnis seiner Sozialisation und/oder bestimmter        zu geben und neue Einsatzformen zu finden, auf
tugendethischer respektive religiöser Überzeugun-           posi­tive Erfahrungen zuzusteuern und die negativen
gen, kann nicht die Grundlage der gesellschaftlichen        zu verwerfen. So wird die Krise Anlass zu Unter-
Gestaltung sein. Vielmehr sind die Strukturen der           scheidung und neuer Planung.“
Gesellschaft an der sozialethischen – und eben nicht
individualethischen – Maßgabe der Gerechtigkeit
auszurichten. Diese Forderungen der Gerechtigkeit,          Die gesellschaftliche Verantwortung
die sich an eine zivilisierte Gesellschaft richten, müs-    des Einzelnen
sen politisch gewollt sein und Eingang in rechtliche        Gleichzeitig bleibt es auch im Rahmen der Sozialen
Regelungen finden. In einer modernen Gesellschaft           Marktwirtschaft die Aufgabe jedes Einzelnen, sich
wäre es fatal, wenn man im Krankheitsfall auf das           immer wieder der eigenen gesellschaftlichen Verant-
möglicherweise schwankende Wohlwollen seines be-            wortung zu stellen. Das gilt – wenn auch nur nach-
nachbarten Arztes und seines Arbeitgebers angewie-          rangig – auch aus gesellschaftlicher Sicht, aber eben
sen wäre und nicht auf seinen rechtlichen Anspruch          auch nur aus gesellschaftlicher und nicht etwa aus
auf medizinische Versorgung und eine finanzielle            gemeinschaftlicher oder familialer Sicht. In den ver-
Absicherung im Krankheitsfall setzen könnte.                gangenen Jahren ist in der wissenschaftlichen Dis-
                                                            kussion wie auch in der wirtschaftlichen Praxis eine
So fatal wäre es letztlich auch, wenn die Gesell-           Vielzahl neuer Initiativen und Ideen zu diesem Thema
schaft bei drohenden Finanzkrisen auf die Tugend            entstanden, zum Beispiel Corporate Social Respon-
der Manager hofft statt auf die Effizienz und Ge-           sibility, Social Entrepreneurship, moralischer Konsum
staltungsmöglichkeiten politischer Maßgaben. Dies           und bürgerschaftliches Engagement. Gerade die Ver-
heißt natürlich nicht, dass Ärzte und Manager und
natürlich auch Politiker keine guten Menschen sein
sollten. Es bedeutet erst recht nicht, dass eine Ge-
sellschaft nicht darauf hinwirken sollte, ihre Mitglieder
zu verantwortungsvollen Mitbürgern zu erziehen. Das
ethische Vorsichtsprinzip besagt nur, dass wir als
Gesellschaft nicht von der falschen Seite aus starten
sollten, wenn wir uns über eine gerechte Gesellschaft
Gedanken machen. Es geht um eine Hierarchie der
Zurechenbarkeit ethischer Verantwortung.

Den Ordnungsrahmen einer Marktwirtschaft so zu
gestalten, dass Aussicht auf gerechte Verhältnisse
besteht, ist und bleibt die erste Aufgabe der Gesell-
schaft und der fundamentale Anspruch an ein auf
individuelle Zustimmung begründetes politisches
System. Die Gerechtigkeitsanforderung, die damit an
den Staat ergeht, liegt im demokratischen Selbst-
verständnis moderner westlicher Gesellschaften              Pausengespräch

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