ZWISCHEN GEWINN UND GEWISSEN - WIE VIEL NÄCHSTENLIEBE KANN SICH DIE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT LEISTEN?
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Nr. 14 DISKUSSION Wie viel Nächstenliebe kann sich die Soziale Marktwirtschaft leisten? Zwischen gewinn und gewissen Randolf Rodenstock / Wolfgang Huber / Bernd Uhl / Nils Goldschmidt ISBN 978-3-941036-15-4 www.romanherzoginstitut.de www.romanherzoginstitut.de
© 2010 ROMAN HERZOG INSTITUT e. V. ISSN 1863-8090 / ISBN 978-3-941036-15-4 Herausgeber: ROMAN HERZOG INSTITUT e. V. Kontakt: Dr. Neşe Sevsay-Tegethoff ROMAN HERZOG INSTITUT e. V. Max-Joseph-Straße 5 80333 München Telefon 089 551 78-555 Telefax 089 551 78-755 sevsay-tegethoff@romanherzoginstitut.de www.romanherzoginstitut.de Gestaltung: KNOBLINGDESIGN GmbH Produktion: Institut der deutschen Wirtschaft Köln Medien GmbH, Köln · Berlin Fotos: Rainer Hofmann Photo Design, Stefan Obermeier Fotografie Die Studie ist beim Herausgeber kostenlos erhältlich.
Wie viel Nächstenliebe kann sich die Soziale Marktwirtschaft leisten? ZWISCHEN GEWINN UND GEWISSEN Randolf Rodenstock / Wolfgang Huber / Bernd Uhl / Nils Goldschmidt 1 Randolf Rodenstock Vorwort2 2 Wolfgang Huber Ethik, Unternehmensverantwortung und Wettbewerb 6 3 Bernd Uhl Die Verantwortung christlicher Unternehmer: Von der Katholischen Soziallehre zur Unternehmensverantwortung 9 4 Nils Goldschmidt Wirtschaftliches Handeln, Marktsystem und das ethische Vorsichtsprinzip 14 5 Einspruch Die Diskussion im Salonstreitgespräch 19 Literatur 27 Die Autoren 28
1 RANDOLF RODENSTOCK Vorwort Kommen Unternehmer in den Himmel? Wird ein gewinne der Gesellschaft nichts nützen. Jeder Dritte Manager je an die Pforten klopfen, die Petrus so gut hält Unternehmensgewinne gar für „moralisch be- bewacht? Der Weg dahin könnte sich als beschwer- denklich“ (Bundesverband deutscher Banken, 2008). lich erweisen, glaubt man dem Markus-Evangelium, wo es bekanntlich heißt, dass eher ein Kamel durch Wie schätzen Experten das Verhältnis von Gewinn ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich und Gewissen ein? Das Roman Herzog Institut (RHI) Gottes gelangt. Gewinn und Gewissen – in der Bibel hat im April 2010 Wirtschaftsethiker und Theologen ist das ein schwieriges Kapitel: Die Heilige Schrift hält zu einem Salonstreitgespräch – dem mittlerweile vier- viele moralische Vorbildfiguren für uns parat – die ten in Folge – eingeladen, um darüber zu diskutieren, des erfolgreichen Unternehmers sucht man darunter wie viel Nächstenliebe sich die Soziale Marktwirt- allerdings vergebens. Stattdessen sind es Persön- schaft leisten kann. lichkeiten wie die des Sankt Martin, die als Ideale gelten. Sankt Martin teilte seinen Mantel mit einem Das RHI sieht es als eine seiner primären Aufgaben hungrigen und nackten Armen – und wurde nicht an, unter seinem Leitthema „Die Zukunft der Arbeit“ zuletzt für seine Barmherzigkeit heiliggesprochen. die Zusammenarbeit von Experten unterschiedlichs- ter Disziplinen zu fördern und den Diskurs zu zentra- Auch Unternehmer sorgen dafür, dass Hundert- len wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Themen tausende von Menschen etwas zu essen und voranzubringen. Es liegt auf der Hand, dass es in anzuziehen haben. Dafür heiliggesprochen wurde einer immer komplexer werdenden Welt nicht mehr noch keiner von ihnen. Scheinbar, so empfinden es genügt, Probleme nur aus einer Perspektive zu be- zumindest große Teile der Gesellschaft, klebt am trachten. Der Blick muss heute über den Tellerrand unternehmerischen Gewinn seit Urzeiten ein Makel, hinausgehen. Ein weiteres erklärtes Ziel des RHI ist den man auch in Zeiten der Postmoderne nicht es, auf die Auseinandersetzung rund um die „Ethik ganz loswird, wie eine repräsentative Umfrage des des Wirtschaftens“ moderierend und gestaltend Bankenverbandes zeigt. 80 Prozent der Befragten einzuwirken. Auf diese Weise setzt sich das RHI für sind demnach der Meinung, dass Unternehmens- ein Mehr an Mut und Erneuerung in der Gesellschaft 2
ein, wie es der damalige Bundespräsident Roman innovativen Produkten und Dienstleistungen. Damit Herzog in seiner berühmten Ruckrede im Jahr 1997 werden die marktwirtschaftliche Allokation und deren gefordert hatte. Ergebnisse als grundsätzlich wünschenswert ange- sehen. Gleichwohl wird explizit darauf hingewiesen, Wie viel Nächstenliebe also kann sich die Soziale dass Partizipationsgerechtigkeit als Voraussetzung Marktwirtschaft leisten? Ausführliche Antworten auf absolut notwendig ist, damit die Gesellschaft die diese Frage gaben die beiden großen Kirchen erst Marktwirtschaft überhaupt akzeptieren kann. An vor kurzem: Die Evangelische Kirche in Deutschland diesem Punkt nähert sich die EKD-Denkschrift der (EKD) veröffentlichte im Jahr 2008 die Denkschrift ordoliberalen Schule. Diese setzt in ähnlicher Weise „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Per- vor allem darauf, die Rahmenbedingungen so zu spektive“. Ein Jahr später legte Papst Benedikt XVI. gestalten, dass am Ende Chancengerechtigkeit als seine Enzyklika „Caritas in veritate“/„Die Liebe in der Ziel erreicht wird: Wenn der Staat die Chancen aller Wahrheit“ vor. Diese beiden aktuellen Kirchenschrif- zur Erwerbsbeteiligung verbessert, dann lässt sich ten waren Dreh- und Angelpunkt des Salonstreit auch Armut nachhaltig bekämpfen. gesprächs. Zusammenfassend betrachtet, erkennen beide In seiner Enzyklika macht Papst Benedikt XVI. Kirchenpapiere unmissverständlich Markt und Wett deutlich, dass nicht das marktwirtschaftliche System bewerb als der Gesellschaft dienliche Institutionen an. per se schlecht ist: Die Kirche vertrete seit jeher Der Wettbewerb aber braucht ein Ordnungsprinzip: die den Standpunkt, dass die Wirtschaftstätigkeit nicht Soziale Marktwirtschaft. Weil das unternehmerische als antisozial angesehen werden darf. Der Markt Handeln eine funktionierende soziale Marktwirtschaft sei an sich kein Ort der Unterdrückung der Armen überhaupt erst möglich macht, resultiert für jeden Wirt- durch die Reichen. Marktwirtschaft und Gewinn- schaftsakteur eine individuelle Verantwortung. streben seien aber nur so lange legitim, wie sie als Mittel zur Entwicklung des ganzen Menschen und Dieser individuellen Verantwortung werden Unterneh- aller Menschen eingesetzt werden und nicht zum mer aus meiner Sicht gerecht, indem sie ihre primäre Selbstzweck degenerieren. „Caritas in veritate“ liest Aufgabe gewissenhaft erfüllen: Sie befriedigen die sich an vielen Stellen wie eine moderne Version Bedürfnisse der Bevölkerung, indem sie Produkte von Ordnungspolitik à la Ludwig Erhard und Walter und Dienstleistungen in einem angemessenen Preis- Eucken. Sich stützend auf die Prinzipien der Katho- Leistungs-Verhältnis zur Verfügung stellen. Das ist lischen Soziallehre fordert der Papst Subsidiarität, die Kernaufgabe, ja die Existenzberechtigung der Verantwortung und Wettbewerb innerhalb eines Unternehmer schlechthin. Wird diese Kernaufgabe globalen Regelwerks sowie einen internationalen, erfolgreich erfüllt, so hat sie nebenbei eine weitere unabhängigen Schiedsrichter. Transparenz, Ehr- positive Wirkung für die Gesellschaft: Arbeitsplätze lichkeit und Verantwortung sind weitere Prinzipien, entstehen, Gewinne werden eingefahren, der Wohl- die es zu befolgen gilt. Letztlich bedürfe es eines stand aller steigt. Dreiklangs von Markt, Staat und Zivilgesellschaft, um Wohlstand und Gerechtigkeit weltweit zu sichern Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass es und zu fördern. darauf ankommt, wie Unternehmer ihre primäre Auf- gabe erfüllen. Das Leitbild des ehrbaren Kaufmanns Auch die EKD-Denkschrift würdigt unternehme kann hierbei als Kompass dienen: Der ehrbare Kauf- risches Handeln als wesentliche Quelle für gesell- mann, redlich und tugendhaft, vertritt die Interessen schaftlichen Wohlstand. Der kluge, also effiziente der Shareholder, ohne die der Stakeholder aus den Umgang mit den zur Verfügung stehenden Ressour- Augen zu verlieren. Seine Ziele verfolgt er so, dass er cen wird ebenso gelobt wie die Entwicklung von der Gesellschaft keinen Schaden zufügt. 3
1 RANDOLF RODENSTOCK Vorwort Modell müsse sich außerdem in Richtung globaler Verantwortung und Nachhaltigkeit weiterentwickeln, den Menschen als ein ganzheitliches Wesen berück- sichtigen und ein Gleichgewicht zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe anstreben. Wolfgang Huber betont schließlich den besonderen Charakter der Verantwortung, die ein christlicher Unternehmer hat, aber auch die herausragende Leistung, die er durch diese Verantwortungsübernahme erbringt. Dass sich das Modell der Sozialen Marktwirtschaft mit den Prinzipien der Katholischen Soziallehre gut vereinbaren lässt, macht Weihbischof Uhl in Kapi- Die Teilnehmer des 4. Salonstreitgesprächs (von links nach rechts): Weihbischof Dr. Bernd Uhl, Prof. Dr. Nils Goldschmidt, tel 3 deutlich. Der Wettbewerb sei berechtigt und Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber und Randolf Rodenstock von zweifellosem Nutzen. Die Zwänge, die er den Akteuren auferlegt, aber auch die Möglichkeiten, die er eröffnet, entbinden den Unternehmer nicht Die Reflexion über die individuelle Verantwortung von seiner individuellen Verantwortung. Von einem des Unternehmers ist eine Notwendigkeit, die auch christlichen Unternehmer werde erwartet, dass er die von den am Salonstreitgespräch teilnehmenden theoretischen Impulse der christlichen Sozialethik, Referenten gesehen wurde. Der Theologe Prof. Dr. vor allem die Nächstenliebe, in die Praxis umsetzt. Dr. h.c. Wolfgang Huber, Weihbischof Dr. Bernd Weihbischof Uhl betont die Mitverantwortung der Uhl und der Ordnungsökonom Prof. Dr. Nils Gold- Konsumenten im Wirtschaftssystem: Auch sie schmidt vertieften, diskutierten und interpretierten vor könnten sich vom Prinzip der Nächstenliebe bei diesem Hintergrund die zentralen Punkte der beiden Kaufentscheidungen leiten lassen. Der Kauf von Kirchenpapiere – jeder auf seine Weise. Während die Produkten, die man mit Kinderarbeit oder Umwelt- zentralen Denkanstöße der beiden Kirchenschriften sünden in Verbindung bringen kann, sei ethisch nicht im Fokus standen, nahm auch die Auseinanderset- vertretbar. Der Staat müsse für die entsprechende zung mit wirtschaftsethischen Fragestellungen im Produkttransparenz sorgen. Um Gewissen und interreligiösen Dialog breiten Raum beim Salonstreit- Gewinn möglichst gut zusammenzubringen, fordert gespräch ein. Auf den folgenden Seiten erfahren Sie, Weihbischof Uhl eine Neubesinnung auf die Indivi- mit welchen Thesen das Thema der Veranstaltung dual- und Institutionenethik und formuliert Hand- diskutiert wurde. lungsempfehlungen an die Politik, an Unternehmen und die katholische Kirche. Wolfgang Huber liefert dazu in Kapitel 2 die evange- lische Sicht. Im Spannungsverhältnis zwischen der Bei der Antwort auf die Frage nach dem richtigen Eigenlogik des Wirtschaftssystems und der christ Maß der Nächstenliebe im Wirtschaftssystem geht lichen Ethik ist für ihn die Soziale Marktwirtschaft die der Ordnungsökonom Nils Goldschmidt in Kapitel 4 richtige Wirtschaftsordnung schlechthin. Allerdings von der Eigenlogik des Marktes aus, die einzig und sieht er auch, dass Globalisierung, Finanzkrise allein im Erzielen von Gewinnen liegt. Im ökonomi- und fragwürdiges Handeln einzelner Akteure die schen System haben Akteure folglich auch in Zeiten Leistungsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft auf von Finanz- und Wirtschaftskrisen nur eine Wahl: eine harte Probe stellen. In Zukunft sei es deshalb Entweder folgen sie der Eigenlogik des Marktes, notwendig, das Modell der Sozialen Marktwirtschaft also der Gewinnorientierung, oder sie scheiden aus stärker auf die gerechte Teilhabe auszurichten. Das dem System aus. Der Markt verursache mit dieser 4
Ausrichtung allerdings gesellschaftliche Probleme. bei Unternehmen in sogenannter Corporate Social Weil eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nur Responsibility oder bei Konsumenten in moralisch mit dem entsprechenden Einkommen möglich ist, motivierten Kaufentscheidungen zum Ausdruck müssen Markt und Wettbewerb einen Ordnungsrah- kommen kann. Das zivilgesellschaftliche Verhalten men erhalten, der die vom Markt Ausgeschlossenen ist für Nils Goldschmidt die eigentliche Bühne einer (Arbeitslose, Kranke, alte Menschen) sozialstaatlich Tugendethik, die ein vorrangig sozialethisch fundier- unterstützt. tes und ordnungspolitisch ausgestaltetes Konzept der Sozialen Marktwirtschaft flankiert. Die Frage nach der individuellen Verantwortung im wirtschaftlichen Handeln stellt Nils Goldschmidt Kapitel 5 gibt Ihnen Anregungen zum weiteren Nach- daher unter ein ethisches Vorsichtsprinzip: Indi- denken über das richtige Ausmaß an Nächstenliebe viduelles tugendhaftes Verhalten könne nicht als in der Sozialen Marktwirtschaft. Thematisch angeris- Grundlage einer wohlgeordneten Gesellschaft sen werden zum Beispiel die Unterschiede zwischen dienen. Denn es würde die Akteure überfordern, Moral und Gerechtigkeit, die besondere Rolle der wenn sie immer wieder ihr „Gut-Sein“ der Logik des Gerechtigkeit sowie von karitativen Unternehmen. Marktes entgegensetzen müssten. Nils Goldschmidt Die Grundlage für dieses Kapitel waren Fragen und will stattdessen die Strukturen der Gesellschaft an Anmerkungen des Publikums während des Salon der Sozialethik ausgerichtet wissen. Den Ordnungs- streitgesprächs. rahmen einer Marktwirtschaft gerecht zu gestal- ten, das ist seiner Ansicht nach die erste Aufgabe Schließlich machte die Veranstaltung deutlich: Was der Gesellschaft und der fundamentale Anspruch Unternehmen tun, ist gut! Je mehr Nächstenliebe an ein auf individuelle Zustimmung begründetes im wirtschaftlichen Handeln zum Ausdruck kommt, politisches System. Die Aufgabe eines jeden ist es desto besser. Beide Aussagen gelten aber nur dann, dabei, sich immer wieder der eigenen gesellschaft- wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Diesem lichen Verantwortung zu stellen, was zum Beispiel Fazit bleibt nichts mehr hinzuzufügen. Randolf Rodenstock Vorstandsvorsitzender des Roman Herzog Instituts e. V. 5
2 WOLFGANG HUBER Ethik, Unternehmens (Laborem exercens/Über die menschliche Arbeit, 1981) und beschäftigte sich vornehmlich mit dem verantwortung und Wettbewerb Anspruch des arbeitenden Menschen auf einen gerechten Lohn sowie mit dem Recht auf gewerk- schaftlichen Zusammenschluss. Die Spannung zwischen der Eigenlogik wirtschaft licher Abläufe und den Anforderungen einer christ lichen – wenn nicht jeder – Ethik wurde auch von der Wirtschaftstheorie bekräftigt. Ökonomen sprachen von einer Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft, die an einem möglichst effizienten und profitablen Um- gang mit knappen Gütern orientiert sei. Zum Wesen der Wirtschaft gehöre die Konkurrenz, weshalb ihr Selbstlosigkeit und Nächstenliebe gleichermaßen wesensfremd seien. Es reiche zu, wenn die Wirt- schaft insgesamt zur Wohlstandsmehrung beitrage; auf die ethische Gesinnung der einzelnen Wirt- schaftssubjekte komme es dagegen nicht an. Markt und Ethik in der Sozialen Marktwirtschaft Das Spannungsverhältnis Diese Vorstellung von einem Nebeneinander von zwischen Markt und Ethik Wirtschaft und Ethik ist immer wieder in Zweifel Als die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) vor gezogen worden. Fundamentale Anfragen an die zwei Jahrzehnten ihre erste Wirtschaftsdenkschrift kapitalistische Wirtschaftsweise wurden im Namen unter dem Titel „Gemeinwohl und Eigennutz“ (EKD, ethischer Überzeugungen vorgebracht, unter denen 1991) veröffentlichte, erregte das kaum öffentliche das Kriterium der Gerechtigkeit immer wieder Aufmerksamkeit. Dass mit den beiden Stichworten vorrangige Bedeutung hatte. Insoweit das Privat im Titel ein Spannungsverhältnis bezeichnet war, eigentum an den Produktionsmitteln als unvereinbar wunderte niemanden. Dass zwischen der christlichen mit der Gerechtigkeit galt, forderte man immer Ethik und den Anforderungen der Marktkonkurrenz wieder die Vergesellschaftung oder doch die nicht einfach Harmonie herrscht, wurde allgemein Vergemeinschaftung dieses Eigentums. vorausgesetzt. Einen eigenen Weg zu einer ethisch verantworteten Auch die Katholische Soziallehre hat das stets zum Wirtschaftsordnung suchte Deutschland nach 1945 Ausdruck gebracht. Als Papst Leo XIII. mit seiner mit dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft. Die ersten Sozialenzyklika 1891 an die Öffentlichkeit entscheidenden Merkmale dieser Ordnung sind der trat, unterstrich er ausdrücklich, dass es sich um Verfassungsgrundsatz, dass Eigentum verpflichtet, eine neue Thematik – „Rerum novarum“/„Von neuen die Verbindung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern Dingen“ – handelte. Als Papst Johannes Paul II. zu Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung sowie 90 Jahre später den Solidaritätsansatz dieser die besondere Verantwortung des Staates für eine Denkschrift aktualisieren wollte, orientierte er sich Rahmenordnung, die wirtschaftliches Handeln und ausdrücklich am Vorrang der Arbeit vor dem Kapital sozialen Ausgleich vereinbar machen soll. 6
Das Wirtschaftsmodell anpassen Die Beiträge der Kirchen und neu ausrichten zur Neuorientierung Die Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte hat die Die Kirchen haben in den letzten Jahren wichtige Dichotomie zwischen Ethik und Wirtschaft grund- Beiträge zu der notwendigen Neuorientierung legend infrage gestellt. Die Entfesselung der Markt- geleistet. Die EKD hat auf die Gerechtigkeits kräfte in einer globalisierten Wirtschaft ruft geradezu probleme modernen Wirtschaftens mit dem Konzept nach einer neuen ethischen Orientierung. Die Leis- der gerechten Teilhabe geantwortet und deutlich tungsfähigkeit des Modells der Sozialen Marktwirt- gemacht, dass „Bildung für alle“ der Schlüssel schaft ist neu herausgefordert. zu Befähigungsgerechtigkeit und damit auch zu Beteiligungsgerechtigkeit ist. Die EKD hat unter- Vier Faktoren lösen aktuell ein Nachfragen aus: nehmerisches Handeln ethisch neu gewürdigt, weil in der Bereitschaft, am konkreten Ort für sich und Mit der Globalisierung verbindet sich die Frage, andere Verantwortung zu übernehmen, eine Antwort welche Akteure eine Rahmenordnung der auf Gottes Berufung liegt. Dabei hat sie die Wett globalen Wirtschaft verantworten sollen und bewerbsordnung als die erfolgreichste Wirtschafts- welche Kriterien für eine solche Rahmenordnung ordnung ausdrücklich bejaht – unter der Voraus unerlässlich sind. setzung, dass diese in einen Rahmen eingefügt ist, der die gleiche Freiheit aller achtet und soziale Die Finanzmarktkrise hat die Fragen aufgeworfen, Gerechtigkeit fördert. Sie hat insbesondere mit Blick wie unverantwortliches Handeln zulasten der auf den Klimawandel Aufgaben und Chancen einer Allgemeinheit verhindert werden und wie dem nachhaltigen Entwicklung in weltweiter Perspek- Prinzip einer Sozialisierung der Risiken bei gleich- tive konkret beschrieben. Auf die Finanzmarktkrise zeitiger Privatisierung der Gewinne ein Riegel antwortete die EKD mit einem Appell zur Umkehr vorgeschoben werden kann. auf den vier Ebenen persönliches Verhalten, unter nehmerische Verantwortung, politische Regulierung Neben der Finanzmarktkrise tragen moralisch und soziokulturelle Orientierungen. fragwürdige Handlungsweisen einzelner Mana- ger oder ganzer Unternehmen sowie die wach- Papst Benedikt XVI. hat die wirtschafts- und sende Disparität innerhalb einzelner Gesellschaf- sozialethische Fragestellung in seiner Enzyklika ten und der Weltgesellschaft zu einem drama „Caritas in veritate“/„Die Liebe in der Wahrheit“ tischen Vertrauensverlust der Marktwirtschaft (2009) aufgenommen, deren Zielsetzung er in einer in Teilen der (Welt-)Gesellschaft bei. Dieser Ansprache am 8. Juli 2009 zusammengefasst hat, Vertrauensverlust lässt sich nur überwinden, die der deutschen Ausgabe der Enzyklika b eigefügt wenn die Orientierung an ethischen Maßstäben wurde. In der Enzyklika gehe es ihm, so sagte der und das Einhalten rechtlicher Regeln wieder als Papst, „nicht darum, technische Lösungen für oberste Prinzipien wirtschaftlichen Handelns die großen wirtschaftlichen Probleme unserer Zeit anerkannt werden. anzubieten. Die wichtigen Fragen unserer Gesell- schaft reichen weit über die rein operative Ebene Der demografische Wandel sowie die Gefähr- hinaus und müssen im größeren Zusammenhang dung sozialer, kultureller und ökologischer gesehen werden. Daher wollte ich in Erinnerung Lebensbedingungen erfordern einen soziokultu- rufen, dass die umfassende Entwicklung eines rellen und politischen Paradigmenwechsel hin zu jeden Menschen und der ganzen Menschheit nur einer nachhaltigen Entwicklung. Der Wirtschaft in Christus und nur auf Christus hin erfolgen kann. kommt bei diesem Paradigmenwechsel eine Der hauptsächliche Antrieb dazu ist die Liebe in der Schlüsselbedeutung zu. Wahrheit, nämlich die Bereitschaft, sich auf die 7
2 WOLFGANG HUBER Ethik, Unternehmensv erantwortung und Wettbewerb Logik des unentgeltlichen Schenkens einzulassen dass es um Wohlstand für alle und nicht nur um und das wirtschaftliche und soziale Leben nach Gewinnmaximierung für wenige geht, muss nicht nur den bleibenden großen Prinzipien auszurichten: die Rahmenordnung sorgen. An diesem Maßstab die Achtung vor dem menschlichen Leben, die müssen sich vielmehr auch die Einzelnen in ihrem wahren Menschenrechte und -pflichten, die not Handeln ausrichten. wendige Tugendhaftigkeit der Wirtschaftstreibenden und der Verantwortlichen in der Politik, das Streben Die päpstliche Sozialenzyklika orientiert sich stark nach dem Gemeinwohl auch auf weltweiter Ebene, am Gegensatz zwischen dem christlichen Men- der ethische Umgang mit der Technologie und schenbild und den besorgniserregenden Zeichen den Medien.“ unserer Zeit, in denen sich die Krise eines falsch verstandenen Eigennutzes und eines gottvergesse- Die Evangelische Sozialethik legt in ihren wirtschafts nen Materialismus zeige. Die Krisenentwicklungen ethischen Vorschlägen besonderes Gewicht auf den unserer Zeit offenbarten, dass die Vorherrschaft verantwortlichen Gebrauch menschlicher Freiheit materieller Werte einen weitgehenden Verlust an und die Weiterentwicklung der Wirtschaftsordnung geistig-moralischen Werten mit sich bringe. Die zu einer global verantworteten, nachhaltigen und so- Erosion kultureller Werte in den entwickelten Ge- zialen Marktwirtschaft. Sie vertritt die Überzeugung, sellschaften, aber ebenso auch die Armut in den dass im wirtschaftlichen Handeln ein Gleichgewicht Entwicklungs- und Schwellenländern fordern dazu zwischen Eigennutz und Gemeinwohl, zwischen heraus, wieder ein ganzheitliches Bild vom Men- Gewinn und Gewissen, zwischen der Sorge um schen zu entwickeln und die Ordnung der Wirtschaft sich selbst und der Fürsorge für den Nächsten, also an ihm zu orientieren. zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe möglich ist. Sie widerspricht damit der Auffassung, dass es Auf die eine wie auf die andere Weise eröffnet die für den einzelnen wirtschaftlich Handelnden reicht, Soziallehre der Kirchen für Menschen in wirtschaft- sich am Eigeninteresse zu orientieren, weil für die licher Verantwortung einen Horizont, in dem sie ihr Verträglichkeit des Handelns mit dem Gemeinwohl Handeln mit einem guten, gemeinschaftsorientierten allein die Rahmenordnung zuständig sei. Dafür, Sinn verbinden, sich vor Größenwahn und Verblen- dung bewahren und wirtschaftliche Effizienz mit Nachhaltigkeit verbinden können. Auf die häufig gestellte Frage, was ein christlicher Unternehmer in einer sozialen Marktwirtschaft mehr tun könne als ein anderer Unternehmer, lässt sich deshalb antworten: Ein christlicher Unternehmer wird auch im Erfolg nie vergessen, dass der Mensch ein geschöpfliches, ein zeitliches und ein gemeinschaftliches Wesen ist; das wird diesen Unternehmer vor Hochmut bewah- ren. Er wird in guten wie in schweren Tagen nie die biblische Option für die Armen vergessen und die Auswirkungen seines Handelns für andere daran prüfen. Aus der Motivation des Glaubens heraus wird er seine Kraft für die Weiterentwicklung einer nachhaltigen sozialen Marktwirtschaft einsetzen. Wenn er dabei auch außerhalb der christlichen Unternehmerschaft Mitstreiter findet, wird er sich darüber von Herzen freuen. 8
3 BERND UHL Die Verantwortung christ- Aus der unbedingten Achtung der menschlichen Würde folgt, dass der Mensch „Urheber, Mittelpunkt licher Unternehmer: Von der und Ziel aller Wirtschaft“ sein muss (Gaudium et Katholischen Soziallehre zur spes/Freude und Hoffnung, 1965, 63). Demnach ist Unternehmensverantwortung das Sachziel der Wirtschaft nicht die bloße Rentabili- tät oder eine ausreichende Güterversorgung – so be- deutsam beide Kriterien für eine effiziente Wirtschaft auch sind. Vielmehr besteht es „in der dauernden und gesicherten Schaffung jener materiellen Voraus- setzungen, die dem Einzelnen und den Sozialgebil- den die menschenwürdige Entfaltung ermöglichen“ (Höffner, 1985, 24). Spätestens seit der Enzyklika „Centesimus a nnus“/ „Der hundertste Jahrestag“ (1991) von Papst Johannes Paul II. kommt in der katholischen Sozial verkündigung der Sozialen Marktwirtschaft ein Vorrang gegenüber anderen (planwirtschaftlichen oder wirtschaftsliberalen) Wirtschaftssystemen zu. Johannes Paul II. bezeichnete den freien Markt „sowohl auf nationaler Ebene der einzelnen Natio- nen wie auch auf jener der internationalen Bezie- hungen … [als] das wirksamste Instrument für den Einsatz der Ressourcen und für die Befriedigung der Bedürfnisse“ (Centesimus annus, 1991, 34). Diese Annäherung, die auch in der ersten Sozialenzyklika Das Verhältnis von Katholischer Sozial „Caritas in v eritate“/„Die Liebe in der Wahrheit“ lehre und Sozialer Marktwirtschaft (2009) von Papst Benedikt XVI. deutlich wird, war Die katholische Kirche befasst sich auf der Grund- möglich, weil die Soziale Marktwirtschaft mit ihren lage der Katholischen Soziallehre mit der Gesell- Zielen „Freiheit“ und „sozialer Ausgleich“ sowie mit schafts- und Wirtschaftsordnung der Sozialen Markt- ihren Mitteln weithin kompatibel ist mit den Prinzipien wirtschaft. Die Katholische Soziallehre basiert auf der Katholischen Soziallehre, also Würde und Freiheit dem christlichen Menschenbild, das den Menschen des Einzelnen, Gemeinwohl, Solidarität und soziale als Person mit einer Individual- und Sozialnatur Gerechtigkeit. Die Soziale Marktwirtschaft kann bei versteht. Seine Gottebenbildlichkeit begründet seine entsprechender Ausgestaltung dem Menschen und unveräußerliche Würde, die in allen gesellschaftlichen seinem Wohl nachhaltiger dienen als andere Wirt- und institutionellen Zusammenhängen unbedingt zu schaftssysteme. Der Markt ist an sich eben „nicht ein achten ist. Ökonomische und soziale Gegebenheiten Ort der Unterdrückung der Armen durch die Reichen sowie Institutionen werden daher durch die katho und darf daher auch nicht dazu werden“ (Caritas in lische Kirche unter Bezugnahme auf die Sozialprinzi- veritate, 2009, 36). pien Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl in den Blick genommen. Sie prüft, inwiefern die Gesell- schafts- und Wirtschaftsordnung mithilfe dieser Prin- zipien soziale Gerechtigkeit als Teilhabegerechtigkeit ermöglicht. 9
3 BERND UHL Die Verantwortung christlicher Unternehmer Der Unternehmer in der Haftungsprinzip ist um des Gemeinwohls und der Sozialen Marktwirtschaft Gerechtigkeit willen eine notwendige Forderung der Wettbewerb heißt vor allem: Marktbeschränkung. Sozialen Marktwirtschaft. (Unternehmerische) Freiheit Durch Markt und Wettbewerb schaut der Unter- darf eben nicht „zu einem Götzendienst werden, nehmer auf die Bedürfnisse der Konsumenten. Der ohne Verantwortung, ohne Bindung, ohne Wur- Wettbewerb ist ein marktwirtschaftliches Instrument, zel“ (Erhard, 1961). Für Fehlentscheidungen muss das die Kreativität und schöpferische Kraft des gehaftet werden, ohne dabei Risiken zulasten Dritter Unternehmers fördert und die Freiheit der Wirt- abzugeben. schaftssubjekte realisiert. Insofern ist er „berechtigt und von zweifellosem Nutzen“ (Quadragesimo anno/ Im vierzigsten Jahr, 1931, 81). Der globale Wettbe- Der christliche Unternehmer – verpflichtet werb setzt eine beachtliche ökonomische Dynamik zu besonderer Verantwortung? frei und begünstigt ökonomisches Wachstum. Er Jeder Unternehmer ist auf ein Höchstmaß an öko- öffnet unternehmerischem Handeln und individueller nomischem Sachverstand und ein Höchstmaß an Entwicklung neue Möglichkeiten, birgt allerdings ethischer Kompetenz angewiesen. Jeder Unterneh- gleichzeitig unterschiedliche Risiken für Arbeitgeber mer steht in der Verantwortung für sein Unternehmen und Arbeitnehmer. und diejenigen Personen, die in Verbindung mit dem Unternehmen stehen (Stakeholder) – zum Beispiel Dennoch kann Wettbewerb nicht das ausschließliche seine Mitarbeiter, seine Kunden und seine Zulieferer. regulative Prinzip der Wirtschaft sein. Vielmehr be- Er muss sich die Frage stellen, welche Werte sein dürfen Wettbewerb und Marktwirtschaft eines Ord- Handeln leiten. Wenn ein Unternehmen in einer Kul- nungsrahmens und entsprechender Institutionen, die tur der Wertschätzung und Achtung vor der Würde Wettbewerbsverzerrungen (zum Beispiel Monopole der Beteiligten geführt wird, dann ist auch das Gebot und Preisabsprachen) und Wettbewerbsverletzungen der Nächstenliebe erfüllt. Zwischen ökonomischen (zum Beispiel Steuerhinterziehung) verhindern. Gesetzmäßigkeiten und den Anforderungen der Ethik besteht ein stetes Spannungsverhältnis, das durch- Der Unternehmer steht im permanenten Wettbewerb aus bereichernd wirken kann. mit anderen Marktakteuren. Hoher Wettbewerbs- druck kann kurzfristige und risikoreiche Unterneh- Der christliche Unternehmer steht in der besonderen mensstrategien begünstigen, deren Erfolg oft nicht Verantwortung, die theoretischen Impulse der christ über den Tag hinausreicht. Die Zwänge des Wett- lichen Sozialethik in der unternehmerischen Praxis bewerbs entheben den Unternehmer jedoch nicht zu verwirklichen. Dazu gehört, die Menschen im von der Verantwortung für sein unternehmerisches und um das Unternehmen als „das erste zu schüt- Handeln. Eine private Nutzen- und Gewinnmaximie- zende und zu nutzende Kapital“ zu achten (Caritas rung sowie Wettbewerbsfähigkeit um jeden Preis, in veritate, 2009, 25). Ein christlicher Unternehmer verbunden mit einer Übertragung der Risiken auf die kann sein Christsein nicht am Unternehmenseingang Solidargemeinschaft, legitimieren – wenn die Kate- ablegen. Glaubwürdigkeit kommt erst dann zum gorien Gemeinwohl und Gerechtigkeit berücksichtigt Tragen, „wenn unser ganzes Leben im privaten, im bleiben sollen – unternehmerisches Handeln nicht. beruflichen, im wirtschaftlichen und im öffentlichen Ebenso wenig entheben institutionelle Möglichkeiten Bereich christlich ist“ (Höffner, 1949). den Unternehmer von der Pflicht zu prüfen, ob das Ausschöpfen dieser Möglichkeiten ethisch vertretbar Der christliche Unternehmer ist in einer besonde- ist. Der Unternehmer kann sich der Verantwortung ren Weise der Nächstenliebe verpflichtet, die als für seine Unternehmensstrategie nicht entziehen. außerordentliche Kraft die Menschen bewegt, sich Die Orientierung am Verantwortungsprinzip und am für Gerechtigkeit und Gemeinwohl einzusetzen. Sie 10
ist ein Prinzip der Mikro- und Makrobeziehungen, Insbesondere die beiden letzten Sozialenzykliken das Christen und Nichtchristen als Leitkriterium des „Centesimus annus“ (1991) und „Caritas in veritate“ eigenen Handelns wahrnehmen sollten beziehungs- (2009) bieten mit ihren Ausführungen Impulse für weise können. eine Debatte über die Ausgestaltung einer gerech- ten, die Freiheit fördernden und menschenwürdigen Wirtschaftsordnung. Die Soziale Marktwirtschaft Enzykliken – ethische Impulsgeber wird dabei besonders in den Blick genommen. Diese für die Herausforderungen der Zeit Diskussion ist notwendig, weil die Wirtschaft immer Die evangelische und die katholische Kirche haben wieder vor neue Herausforderungen gestellt wird sich vielfach in die Diskussion über die Grundlagen (zum Beispiel Globalisierung, Digitalisierung, Volatili- einer gerechten Wirtschaft eingebracht. Beide tät). Die Diskussion ist aber auch erforderlich, weil die haben sich zur jüngsten Finanz- und Wirtschafts- Soziale Marktwirtschaft kein starres System darstellt. krise in eigenen Publikationen geäußert: der Rat der Auch ihre Gründungsväter hatten unterschiedliche Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD, 2009) in Auffassungen über die praktische Umsetzung der der Publikation „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“ einzelnen Elemente. Die Soziale Marktwirtschaft fußt und die deutschen Bischöfe (2009) in dem Text der zwar auf grundlegenden Werten, bedarf jedoch der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen konkreten Ausgestaltung unter den jeweiligen Bedin- der Deutschen Bischofskonferenz „Auf dem Weg gungen der Zeit. aus der Krise“. Enzykliken sind Lehrschreiben der Päpste, die sich Konsumentenverantwortung an die gesamte katholische Kirche wenden. Sozial und Finanzmärkte enzykliken, die sich mit gesellschaftlichen und Verantwortlich für die aktuelle Finanz- und Wirt- ökonomischen Fragestellungen befassen, richten schaftskrise ist ein „komplexes Ursachenbündel, sich zudem an alle Menschen guten Willens. Sie zu dem sowohl ein Versagen von Märkten als auch zeigen ethische Prinzipien auf (Solidarität, Subsidia von Staaten gehören“ (Die deutschen Bischöfe, rität, Gemeinwohl, Gerechtigkeit) und wenden sie 2009, 17). Die Krise der Finanzmärkte ist folglich auf aktuelle soziale, ökologische und ökonomische nicht nur durch die Unbesonnenheit von Managern Herausforderungen an. Sie deuten die Gegenwart verursacht worden. Gleichzeitig waren auch der als Anruf Gottes an die Menschen von heute. Wunsch von Anlegern nach hohen und schnellen Renditen und die damit einhergehende Inkaufnahme Enzykliken haben in der Vergangenheit unterschied- von Risiken nicht unmaßgeblich für die Krise. liche Auswirkungen gehabt. „Quadragesimo anno“ (1931) von Papst Pius XI. formulierte das Subsidia- Der Kauf von Aktien eines börsennotierten Unter ritätsprinzip als Grundpfeiler jeder gesellschaftlichen nehmens beinhaltet immer ein Bejahen seiner Ge- Ordnung. „Laborem exercens“/„Über die mensch- schäftspolitik. Hier kann es ethisch nicht vertretbare liche Arbeit“ (1981) von Papst Johannes Paul II. Geschäftsfelder und -praktiken geben: Kinderarbeit, stärkte die Arbeiterbewegung in Polen und präzi- Umweltsünden, Verweigerung von Mitbestimmung, sierte den objektiven und subjektiven Wert mensch- Bestechung als normales Geschäftsgebaren. Inso- licher Arbeit. „Populorum progressio“/„Die Entwick- fern ist der Anleger zur Prüfung verpflichtet, wem lung der Völker“ (1967) von Papst Paul VI. unterstrich er sein Geld überlässt und was mit seinem Geld die Bedeutung der Entwicklungshilfe für Politik und geschieht. Kirche. Katholische Hilfswerke wie Misereor und Ad- veniat haben aus dieser Enzyklika wichtige Anregun- Grundsätzlich werden solche Finanzprodukte ange- gen für ihre Arbeit erhalten. boten, die auch auf eine Nachfrage stoßen. Insofern 11
3 BERND UHL Die Verantwortung christlicher Unternehmer Alle an der Wirtschaft beteiligten Akteure stehen in der Verantwortung, eine „wirtschaftliche Ordnung zu schaffen, die immer besser im Dienst des Menschen steht und die dem Einzelnen wie den Gruppen dazu hilft, die ihnen eigene Würde zu behaupten und zu entfalten“ (Gaudium et spes, 1965, 9). Diese ethische Forderung des II. Vatikanischen Konzils geht einher mit Jean Monnets (1988, 387) Erkenntnis: „Nichts ist möglich ohne die Menschen, nichts dauerhaft ohne Institutionen.“ Die Humanisierung der sozialen Beziehungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat hängt von Tugenden und Verhaltensweisen der Menschen sowie von gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen ab. Gerade die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt, dass es einer Neubesinnung können die Konsumenten durch ihre Kaufentschei- auf beides bedarf – auf die Individual- und Institutio- dung dazu beitragen, dass ethisch vertretbare Pro- nenethik. Nicht nur die Demokratie, auch die Soziale dukte mehr angeboten werden als bisher. Die Kon- Marktwirtschaft braucht Tugenden. sumenten tragen eine Mitverantwortung; gleichzeitig verfügen sie aber auch über Kaufmacht. Dennoch ist der Konsument nicht allein verantwortlich für das An- Die Verantwortung der Politik gebot an Finanzprodukten. Die Finanzunternehmen Die Politik ist nicht für das Gewissen der Men- stehen ebenso in der Verantwortung, aber auch der schen zuständig. Dennoch ist sie verantwortlich Staat, der von den Finanzunternehmen eine entspre- für Gemeinwohl und Gerechtigkeit und damit für chende Produkttransparenz einfordern muss, um die ihre Bürger. Die Auswirkungen der Finanz- und Konsumenten vor Fehlentscheidungen zu schützen. Wirtschaftskrise haben gezeigt, dass die Finanz- markt- und Wirtschaftsordnung einer globalen Ordnungspolitik bedarf. Dabei gibt es einen Ziel Was tun, um Gewissen und Gewinn konflikt „zwischen dem globalen Steuerungsbedarf zusammenzubringen? und der Bewahrung der Vielfalt von Institutionen Die katholische Sozialverkündigung geht davon aus, und Systemen auf nationaler Ebene“ (Die deut- dass der Bereich der Wirtschaft „weder moralisch schen Bischöfe, 2009, 27). Gerade beim Krisen neutral noch von seinem Wesen her unmenschlich management gilt es genau zu prüfen, welche und antisozial [ist]. Er gehört zum Tun des Menschen Kompetenzen dem Staat als wirtschaftlichem und muss, gerade weil er menschlich ist, nach mo- Akteur zukommen. ralischen Gesichtspunkten strukturiert und institutio- nalisiert werden“ (Caritas in veritate, 2009, 36). Papst Benedikt XVI. erweist sich insofern als Befürworter Die Verantwortung der Unternehmer der Individual- und Institutionenethik, als er darauf Zweck eines Unternehmens ist nicht nur Gewinn hinweist, dass der Markt sich „nicht nur auf sich maximierung, sondern auch „die Verwirklichung einer selbst verlassen [darf], denn er ist nicht in der Lage, Gemeinschaft von Menschen, die auf verschiedene von sich aus das zu erreichen, was seine Möglichkei- Weise die Erfüllung ihrer grundlegenden Bedürfnisse ten übersteigt. Er muss vielmehr auf die moralischen anstreben und zugleich eine besondere Gruppe im Kräfte anderer Subjekte zurückgreifen, die diese Dienst der Gesamtgesellschaft darstellen“ (Centesi- hervorbringen können“ (Caritas in veritate, 2009, 35). mus annus, 1991, 35). 12
Wertorientiertes unternehmerisches Handeln ist Aus- men zu finden … [Sie ist] Anlass zu Unterscheidung druck der Achtung vor der Menschenwürde. Z udem und neuer Planung“ (Caritas in veritate, 2009, 21). steigert es die Attraktivität eines Unternehmens für die Die katholische Kirche versteht sich als Dialogpart- Stakeholder. Viele Unternehmen verfügen über Ethik- ner der Unternehmen und damit der Wirtschaft. Mit kodizes, an denen sie ihr unternehmerisches Handeln ihrer Soziallehre will sie Orientierung bieten und zu ausrichten. Die soziale Verantwortung von Unterneh- einer Erneuerung der Grundwerte beitragen, welche mern erfährt heute zahlreiche Ausprägungen. die Fundamente unserer Gesellschafts- und Wirt- schaftsordnung darstellen. Ihre Sozialprinzipien und das christliche Menschenbild fördern eine Kultur der Die Verantwortung der Kirche Freiheit, Achtung und Verantwortung. Sie sind leitend „Die Krise verpflichtet uns, unseren Weg neu zu pla- für ein christliches Leben und können dies auch für nen, uns neue Regeln zu geben und neue Einsatzfor- alle anderen Menschen guten Willens sein. 13
4 NILS GOLDSCHMIDT Wirtschaftliches Handeln, dem Parkett ausgesetzt sind, ist abstrakt. Demge- genüber hat die weitaus griffigere Behauptung, dass Marktsystem und das es die Gier der Börsianer, Manager und Unternehmer ethische Vorsichtsprinzip ist, welche die Finanz- und Wirtschaftswelt und mit ihr das tägliche Handeln auf dem Markt und in der Politik ins Schwanken bringt, vor allem medial eine weitaus höhere Durchschlagskraft. Aus dieser Sicht ist es vor allem das Fehlverhalten Einzelner, das die Krise verursacht hat. Gefordert werden dann Moral und Tugend als feste Anker wirtschaftlichen und auch politischen Handelns. Vor diesem Hintergrund erscheint es angebracht, die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen in wirtschaftlichen Zusammenhängen nochmals und grundlegend neu zu stellen. In Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise betrifft das vor allem die soziale Ver- antwortung des einzelnen Unternehmers und seiner wirtschaftlichen Entscheidungen. In gesellschaftlicher Perspektive ist interessant, welcher Stellenwert dem moralischen Handeln des Einzelnen in der Gesell- schaft zukommt (unabhängig von der Frage, welche Rolle Moral in der Familie und kleinen Gemeinschaf- ten spielt). Inwiefern sollten also der Unternehmer und der Manager dazu genötigt sein, sich gerade auch als Unternehmer und Manager am Wohlerge- hen aller – und nicht nur an dem ihrer Aktionäre und Markt und Moral Kunden – zu orientieren? Wann ist ihr Handeln als Die öffentliche Wahrnehmung der aktuellen Finanz- Unternehmer und als Manager ethisch korrekt und und Wirtschaftskrise zeigt ein ambivalentes Ge- wann bloß gewinnorientiert? sicht. Einerseits hat sich die Vorstellung, dass die Geschehnisse am Markt systemisch sind, in weitem Maße durchgesetzt und stößt auch landläufig nicht Die Logik des Marktes mehr auf Ablehnung. Nicht wenige sehen in „den Der Markt hat tatsächlich seine eigene Logik – Märkten“, in deren Eigenlogik und Eigendynamik, die und diese Logik lässt sich bestimmen. Sie liegt Ursachen für die Krise. Die computergestützten, ent- im Erzielen von Gewinnen. Ein Unternehmer, der personalisierten Finanztransaktionen sind geradezu keine Gewinne macht, hat sein Ziel nicht erreicht. sinnbildlich für einen nicht vom Einzelnen zu durch- Der Markt ist folglich als ein in sich geschlossener brechenden, in sich geschlossenen Mechanismus Funktionszusammenhang entlang des Prinzips der der Wirtschaft. Andererseits und zur gleichen Zeit Gewinnerzielung zu verstehen. Folge ich diesem wird dieses systemische Verständnis mit Blick auf die Prinzip, bleibe ich Teil des Marktes. Verweigere ich Krise infrage gestellt und stattdessen die Verantwor- mich dieser Logik oder kann ich dieser Logik nicht tung des Einzelnen eingeklagt. Die Vorstellung von Genüge leisten, werde ich über kurz oder lang aus den systemischen Anforderungen, denen ein Unter- diesem System ausscheiden. Ein Unternehmen, nehmer auf dem Markt und der Aktienhändler auf das am Markt keine Gewinne erwirtschaftet, geht in 14
Konkurs. Milton Friedman hat dazu in unübertroffe Der Markt als Problemlöser ner Klarheit formuliert: “The social responsibility of und Problemerzeuger business is to increase its profits.” Kurz gefasst: Aus der Akzeptanz der systemischen Eigenlogik des “The business of business is business.” Marktes folgt jedoch keineswegs, dass damit alle gesellschaftlichen Probleme gelöst sind. Der Markt Gewinne zu erwirtschaften ist der Kern jedes ist nicht nur Problemlöser, sondern häufig auch unternehmerischen Handelns. Einem Unternehmer Problemerzeuger. Dies hat seinen Grund gerade irgendeine andere Form von sozialer Verantwortung in der systemischen Verfasstheit des Marktes. Am abzuverlangen – dies ist die feste Überzeugung von Markt können sich nur solche Interessen verwirk Friedman –, wird katastrophale Folgen für das Fun- lichen lassen, die mit dem Prinzip der Gewinnorien dament unserer freien Gesellschaft haben. Und es ist tierung in Einklang zu bringen sind. Dabei ist das wohl nicht zu bestreiten, dass die Marktgesellschaft Interesse, Geld zu verdienen, grundlegend für jedes mit ihrem Prinzip der Gewinnorientierung einen Gesellschaftsmitglied. Der am Markt erworbene Lohn Wohlstand herbeigeführt hat, der einmalig in der ist in unserer modernen Gesellschaft die unabding- Geschichte der Menschheit ist. Die Marktwirtschaft bare Voraussetzung für das Führen eines sinnvollen und ihr Prinzip der Gewinnorientierung sind ein Er- Lebens. Wo dieser Lohn fehlt, ist die Teilhabe am folgskonzept. Auch aus ethischer Sicht spricht nichts gesellschaftlichen Leben kaum zu gewährleisten und dagegen, auf diesen Mechanismus zu vertrauen. muss durch gesellschaftliche Unterstützungsleistun- gen ermöglicht werden. In dieser Weise hat auch Papst Johannes Paul II. in seiner Sozialenzyklika „Centesimus annus“/„Der Dabei finden jedoch die vielen unterschiedlichen Inte- hundertste Jahrestag“ (1991) das Gewinnprinzip als ressen der einzelnen Subjekte nur insoweit Eingang eine Leitlinie guter Unternehmensführung (neben in den Markt, als sie sich in die Logik des Marktes weiteren menschlichen und moralischen Faktoren) einfügen. Interessen wie etwa das Interesse an Ge- herausgestellt: „Die Kirche anerkennt die berechtigte sundheit oder Bildung müssen jenseits des Marktes Funktion des Gewinnes als Indikator für den guten befriedigt werden (wobei freilich auch in diese Berei- Zustand und Betrieb des Unternehmens. Wenn ein che das Ökonomische hineinwirkt) oder dem Markt Unternehmen mit Gewinn produziert, bedeutet das, müssen für die Befriedigung dieser Ziele Ressourcen dass die Produktionsfaktoren sachgemäß eingesetzt abgewonnen werden. Strukturelle Risiken für das und die menschlichen Bedürfnisse gebührend erfüllt Geldverdienen – zum Beispiel durch Krankheit und wurden“ (Centesimus annus, 1991, 35). Alter – sollten entsprechend über wohlfahrtsstaat liche Arrangements abgefedert werden. Diese Logik gilt auch in der Finanz- und Wirt schaftskrise: Es wäre absurd, einer Bank und ihren Freilich bleibt zu diskutieren, wie diese jeweiligen Mitarbeitern die Finanzkrise anzulasten, nur weil sie wohlfahrtsstaatlichen Arrangements sinnvoller- risikobehaftete Papiere mit dem Ziel der Gewinn weise auszugestalten sind. Nicht zuletzt verweisen erzielung verkaufen oder eine hohe Eigenkapitalren- die anhaltenden Finanzierungsschwierigkeiten auf dite anstreben – ausgenommen hiervon sind natür- einen bleibenden Reformbedarf. Dennoch ergibt lich rechtlich fragwürdige Praktiken. Vielmehr sind sich für eine moderne, vom System Markt geprägte Unternehmer, Manager und Mitarbeiter auch selbst Gesellschaft folgende unumstößliche Einsicht: Aus Teil des Systemzwangs. Sie haben zumeist nur die der Funktionslogik des Marktes folgt, dass die vom Wahl, entsprechend der marktlichen Logik und der Markt Ausgeschlossenen der blinde Fleck des Mark- systembedingten Vorgabe der Gewinnerzielung ihren tes selbst sind. Wenn wir aber in einer modernen Geschäften nachzukommen oder eben im Extremfall aufgeklärten Gesellschaft nicht den Markt, sondern aus dem System auszuscheiden. die individuelle Teilhabe an der Gesellschaft und 15
4 NILS GOLDSCHMIDT Wirtschaftliches Handeln, Marktsystem und das ethische Vorsichtsprinzip die Möglichkeit, ein sinnvolles Leben zu führen, als für das auch und vor allem die politische Gemein- regulative Prinzipien unserer Gesellschaft bestim- schaft sorgen muss. … Der Bereich der Wirtschaft men, folgt daraus, dass wir – ganz im Sinne der ist weder moralisch neutral noch von seinem Wesen Ordnungspolitik der Sozialen Marktwirtschaft – Markt her unmenschlich antisozial. Er gehört zum Tun des und Wettbewerb einen Ordnungsrahmen setzen und Menschen und muss, gerade weil er menschlich ist, die vom Markt Ausgeschlossenen sozialstaatlich nach moralischen Gesichtspunkten strukturiert und unterstützen sollten. institutionalisiert werden.“ So wie der Sozialstaat für seine Finanzierung auf ein gut funktionierendes wirtschaftliches System ange- Ethisches Vorsichtsprinzip wiesen ist, bleibt die gesellschaftliche Akzeptanz des und ethische Verantwortung Marktes an ein grundlegendes System der sozialen Mit dem Verweis auf die politischen Strukturen und Sicherung und Integration gebunden. Dass aktuell Institutionen lässt sich nun auch die Frage nach eine wachsende Anzahl von Menschen nicht auf der individuellen Verantwortung im wirtschaftlichen einem ausreichenden Lohnniveau in den Arbeits- Handeln beantworten. Man mag es für bedauerlich markt integriert wird, das heißt mit einer Entlohnung, halten, aber die – gerade in wirtschaftlichen Krisen- die es ihnen erlaubt, ein Leben auf dem Niveau der zeiten – immer wieder an die Akteure auf dem Markt Gesellschaft zu führen, ist prinzipiell darauf zurückzu- gerichtete Aufforderung, ethisch und sozial verant- führen, dass auch der Arbeitsmarkt nach der Logik wortungsbewusst zu handeln, muss angesichts der Effizienz und Gewinnmaximierung funktioniert. In der aufgezeigten systemischen Prozessualität des der Logik des Marktes ist eben nicht das Interesse Marktes und der Anforderungen, die sich daraus für des Arbeitnehmers ausschlaggebend, sich mittels das Handeln der Akteure auf dem Markt ergeben, seiner Arbeit einen ordentlichen Lebensstandard unter ein ethisches Vorsichtsprinzip gestellt werden. zu verdienen, sondern das Erzielen eines möglichst Sozialen Problemlagen und Ungerechtigkeiten, die hohen Gewinns durch den Einsatz von möglichst am Markt und in der Gesellschaft entstehen, wird billiger Arbeit. Folglich bedarf es wie bei den Risiken man kaum dadurch systematisch und dauerhaft durch Krankheit und Alter auch auf dem Arbeits- begegnen können, dass man auf die tugendethische markt der fortlaufenden politischen Gestaltung. Besserung einzelner Akteure hofft. Die jüngst so heftig ausgetragene Debatte um die Hartz-IV-Regelsätze ist ein eindrückliches Beispiel. Angesichts der systemischen Anforderungen und Zwänge, die der Markt an das tagtägliche Handeln Die Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbe- der Einzelnen stellt, kann individuelles tugendhaftes dingungen folgt dabei der Logik des politischen Verhalten nicht als Grundlage einer wohlgeordne- Systems und ist das Ergebnis demokratischer Ent- ten Gesellschaft dienen. Der Einzelne wäre schlicht scheidungsfindungsprozesse. Maßgeblich in dieser überfordert und sein Handeln wäre zudem gegen- Diskussion ist die Perspektive der Gemeinwohlorien- über dem System Markt aussichtslos, wenn man tierung, die dem Markt Schranken setzt und denen, ihm abverlangen würde, immer wieder gegen die die nicht am Marktprozess beteiligt sind, Unterstüt- Logik des Marktes sein „Gut-Sein“ in Stellung zu zung gewährt. So formuliert Papst Benedikt XVI. in bringen. Auch hier gilt durchaus der alte Grundsatz seiner ersten Sozialenzyklika „Caritas in veritate“/„Die „Ultra posse nemo obligatur“ – niemand ist ver- Liebe in der Wahrheit“ (2009, 36) in klaren Worten: pflichtet, mehr zu leisten, als er kann. Das ethische „Das Wirtschaftsleben kann nicht alle gesellschaft- Vorsichtsprinzip besagt also: Erwarte nicht, dass ein lichen Probleme durch die schlichte Ausbreitung Mitglied der Gesellschaft sich dauerhaft gegen seine des Geschäftsdenkens überwinden. Es soll auf das eigenen (ökonomischen) Interessen für das Wohl der Erlangen des Gemeinwohls ausgerichtet werden, Gesellschaft einsetzt. 16
Zum besseren Verständnis dieses ethischen begründet und muss immer wieder neu als Aufgabe Vorsichtsprinzips kann es hilfreich sein, zwischen angenommen werden. Dies gilt besonders in der individueller Moral (Individual- oder Tugendethik) und jetzigen Situation. Papst Benedikt XVI. schreibt in sozialer Gerechtigkeit (Sozialethik) zu unterscheiden. „Caritas in veritate“ (2009, 21): „Die Krise verpflichtet Das jeweilige moralische Handeln des Einzelnen, sei uns, unseren Weg neu zu planen, uns neue Regeln es Ergebnis seiner Sozialisation und/oder bestimmter zu geben und neue Einsatzformen zu finden, auf tugendethischer respektive religiöser Überzeugun- positive Erfahrungen zuzusteuern und die negativen gen, kann nicht die Grundlage der gesellschaftlichen zu verwerfen. So wird die Krise Anlass zu Unter- Gestaltung sein. Vielmehr sind die Strukturen der scheidung und neuer Planung.“ Gesellschaft an der sozialethischen – und eben nicht individualethischen – Maßgabe der Gerechtigkeit auszurichten. Diese Forderungen der Gerechtigkeit, Die gesellschaftliche Verantwortung die sich an eine zivilisierte Gesellschaft richten, müs- des Einzelnen sen politisch gewollt sein und Eingang in rechtliche Gleichzeitig bleibt es auch im Rahmen der Sozialen Regelungen finden. In einer modernen Gesellschaft Marktwirtschaft die Aufgabe jedes Einzelnen, sich wäre es fatal, wenn man im Krankheitsfall auf das immer wieder der eigenen gesellschaftlichen Verant- möglicherweise schwankende Wohlwollen seines be- wortung zu stellen. Das gilt – wenn auch nur nach- nachbarten Arztes und seines Arbeitgebers angewie- rangig – auch aus gesellschaftlicher Sicht, aber eben sen wäre und nicht auf seinen rechtlichen Anspruch auch nur aus gesellschaftlicher und nicht etwa aus auf medizinische Versorgung und eine finanzielle gemeinschaftlicher oder familialer Sicht. In den ver- Absicherung im Krankheitsfall setzen könnte. gangenen Jahren ist in der wissenschaftlichen Dis- kussion wie auch in der wirtschaftlichen Praxis eine So fatal wäre es letztlich auch, wenn die Gesell- Vielzahl neuer Initiativen und Ideen zu diesem Thema schaft bei drohenden Finanzkrisen auf die Tugend entstanden, zum Beispiel Corporate Social Respon- der Manager hofft statt auf die Effizienz und Ge- sibility, Social Entrepreneurship, moralischer Konsum staltungsmöglichkeiten politischer Maßgaben. Dies und bürgerschaftliches Engagement. Gerade die Ver- heißt natürlich nicht, dass Ärzte und Manager und natürlich auch Politiker keine guten Menschen sein sollten. Es bedeutet erst recht nicht, dass eine Ge- sellschaft nicht darauf hinwirken sollte, ihre Mitglieder zu verantwortungsvollen Mitbürgern zu erziehen. Das ethische Vorsichtsprinzip besagt nur, dass wir als Gesellschaft nicht von der falschen Seite aus starten sollten, wenn wir uns über eine gerechte Gesellschaft Gedanken machen. Es geht um eine Hierarchie der Zurechenbarkeit ethischer Verantwortung. Den Ordnungsrahmen einer Marktwirtschaft so zu gestalten, dass Aussicht auf gerechte Verhältnisse besteht, ist und bleibt die erste Aufgabe der Gesell- schaft und der fundamentale Anspruch an ein auf individuelle Zustimmung begründetes politisches System. Die Gerechtigkeitsanforderung, die damit an den Staat ergeht, liegt im demokratischen Selbst- verständnis moderner westlicher Gesellschaften Pausengespräch 17
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