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ÄRZTEBLATT 12/2020 MECKLENBURG-VORPOMMERN Über den Dächern Rostocks im Frühjahr 2018 Foto: Dr. Gernot Rücker Kinderneurochirurgie – im Dienste unserer Kleinsten Steckbrief: Covid-19 in der Schwangerschaft Otto Busse und Paul Busse-Grawitz
Inhalt Editorial Veranstaltungen und Kongresse Jubiläumsveranstaltung einmal anders 441 Impfkurse in Mecklenburg-Vorpommern 455 Veranstaltungen der Ärztekammer M-V 455 Wissenschaft und Forschung Veranstaltungen in unserem Kammerbereich 455 Kinderneurochirurgie – im Dienst unserer Kleinsten 442 Aus der Schlichtungsstelle Leserbrief Eine gute Dokumentation schützt bei Aufklärungsrügen 458 zu „Zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie in Mecklenburg-Vorpommern“ von Ruhberg und Hunz 450 Geschichte der Medizin Junge Ärzte in M-V Otto Busse und Paul Busse-Grawitz 466 Von Rumänien nach Deutschland als Arzt 451 Immer auf Trab 467 Aktuelles Personalien Steckbrief: COVID-19 in der Schwangerschaft 452 Zum Gedenken an Prof. Dr. med. Bernd Drewelow 469 Neuer Test ermöglicht die frühzeitige Rezensionen Differenzialdiagnose der Parkinson-Erkrankungen 453 Für Sie gelesen 470 Therapie der Spinalen Muskelatrophie mit Nusinersen bei Erwachsenen 454 Geburtstage Aktuelle Aspekte der allgemeinpädiatrischen Ver- Wir beglückwünschen 473 sorgung im Flächenland Mecklenburg-Vorpommern 460 Impressum 473 Aufruf zur Unterstützung bei der Coronaimpfung 465 Wissenschaftspreis des Deutschen Ärztinnenbundes 465 Aufruf! Liebe Kolleginnen und Kollegen, Fachgebiet an. Bitte bestätigen Sie auch formlos, dass Sie mit sehr geehrte Damen und Herren, der Weiterleitung Ihrer Kontaktdaten an die mit der Impfung beauftragten Behörden einverstanden sind. im Rahmen der Vorbereitung der COVID-19 Impfzentren in Mecklenburg-Vorpommern sollen ab Mitte Dezember 2020 Vielen Dank für Ihre Hilfe, mit besten Grüßen durch die Landkreise und kreisfreien Städte Impfteams be- Dr. Sibylle Scriba stellt werden. Wir bitten alle ärztlichen Kolleginnen und Kol- Staatssekretärin legen, die an dieser Impfaktion mitarbeiten möchten (Ärzte Ministerium für Wirtschaft Arbeit und und Gesundheit MV im Ruhestand, Ärzte im Berufsleben) – soweit sie nicht be- Dr. Martina Littmann reits die direkte Meldung an ihren Landkreis/ihre kreisfreie Leiterin Abt. Gesundheit Stadt vorgenommen haben, sich unter der E-Mail-Adresse Landesamt für Gesundheit und Soziales MV s.pagung@wm.mv-regierung.de zu melden. Bitte geben Prof. Dr. Emil Reisinger Sie Ihren Namen, Vornamen, (Dienst-) Adresse, E-Mail-Adres- Dekan und Wissenschaftlicher Vorstand se, Telefonnummern (bitte auch die Handynummer) und das Universitätsmedizin Rostock AUSGABE 12/2020 30. JAHRGANG Seite 439
W er könnte unempfindsam sein gegen das Strömen guter, warmer Gefühle, gegen ehrlichen Austausch von Zuneigung und Zärtlichkeit, wovon diese Zeit des Jahres in so reichem Maß verschenkt. Eine Familien- weihnachtsfeier! Wir kennen auf dieser Welt nichts Herr- licheres! Allein schon in dem Wort Weihnachten scheint ein besonderer Zauber zu liegen. Kleinliche Eifersüchte- leien und Misshelligkeiten sind vergessen; versöhnliche Gedanken bemächtigen sich derer, denen sie lange Zeit fremd waren; Vater und Sohn oder Bruder und Schwes- ter, die mit abgewandten Blick aneinander vorübergin- gen oder sich Monate vordem mit steifer Kälte begegnet waren, schließen einander herzlich in die Arme und be- graben alte Animositäten in ihrer gegenwärtigen Glück- seligkeit. Offene Herzen, die sich nacheinander gesehnt hatten, wenngleich sie von falschen Gedanken und Ei- gensinn verleitet gewesen waren, haben sich wiederge- funden und alles strahlt in Wohlgefallen und Güte! Charles Dickens (1812-1870) Der Vorstand, die Mitarbeiter der Geschäftsstelle und die Redaktion wünschen allen Leserinnen und Lesern eine gesegnete, friedvolle Weihnacht und ein gesundes und erfolgreiches Neues Jahr! Foto: AdobeStock
EDITORIAL Jubiläumsveranstaltung einmal anders Eigentlich sollte die Herbst-Kammerversammlung 2020 we- Kurz zusammengefasst kann festgestellt werden, dass der nigstens ein wenig im Zeichen des 30. Jubiläums der Kam- Jahresabschluss 2019 der Ärzteversorgung und die Entlas- mergründung am 6. Oktober 1990 stehen. Eigentlich – aber tung von Aufsichts- und Verwaltungsausschuss ohne Ge- was ist in diesem Jahr schon so wie es sein sollte? genstimmen gebilligt wurden; bei der Erhöhung des Ren- tenbemessungsbetrages und der laufenden Renten um Der nicht unerwartete Anstieg der Infektionen mit Co- 0,5 % gab es zwei Gegenstimmen. Der Finanzbericht 2019 ViD-19 und die politischen Reaktionen darauf haben zur und der Haushaltsvoranschlag 2021 der Ärztekammer wur- Absage der für den 7. November geplanten Kammerver- den ohne Gegenstimme gebilligt; dem Vorstand wurde für sammlung geführt. Niemand wollte sich vorstellen, dass das zurückliegende Geschäftsjahr Entlastung erteilt. ausgerechnet eine Versammlung von 77 Ärzten aus allen Teilen unseres Landes zum Spreader der Infektion werden Mit dem Umlaufverfahren konnte die Funktionalität der könnte. Die damit verbundene Gefährdung der medizini- Kammer unter den gegenwärtigen Bedingungen zwar ge- schen Versorgung im Lande kann und will niemand verant- sichert werden. Viele Probleme mussten aber liegen gelas- worten. sen werden und der ganz wesentliche persönliche Aus- Auf der Tagesordnung der Kammerversammlung standen tausch zu vielen Fragen ist auf der Strecke geblieben. Es auch einige essentielle Themen, die noch in diesem Jahr zu bleibt die Hoffnung, dass im Frühjahr wieder eine reguläre beschließen waren; dies sind insbesondere Beschlüsse, die Kammerversammlung stattfinden wird. den Haushalt der Kammer und der Ärzteversorgung betref- fen. Die Satzung der Ärztekammer sieht in § 18 (2) vor, dass Dr. Wilfried Schimanke in Ausnahmefällen Beschlüsse (der Kammerversammlung, des Vorstandes und der Ausschüsse) auch im Umlaufverfah- ren oder durch Telefon- beziehungsweise Videokonferenz getroffen werden können. Zum ersten Mal musste von dieser Verfahrensweise Ge- brauch gemacht werden und es ist überraschend, wie gut dies funktioniert hat. Die Beschlussvorlagen waren zuvor versandt worden; in einer Videositzung wurden die Be- schlussvorlagen erläutert, anschließend konnten Fragen ge- stellt werden. Danach hatten die Mitglieder der Kammer- versammlung eine Woche Zeit, Ihre Stimme digital oder analog abzugeben. 61 Mitglieder der Kammerversammlung hatten sich beteiligt; ganz überwiegend wurde die digitale Abstimmung genutzt. AUSGABE 12/2020 30. JAHRGANG Seite 441
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Kinderneurochirurgie – im Dienst unserer Kleinsten Thomas M. Freiman, Florian Geßler* Einführung Hydrozephalus Dieser Artikel soll einen Überblick über die gar nicht so sel- Eine der häufigsten Erkrankungen der Kinderneurochirurgie tenen Krankheitsbilder von Kindern geben, die einer neu- ist der Hydrozephalus, mit einer Inzidenz von 32/10.000 Ge- rochirurgischen Behandlung bedürfen. Ein besonderes Au- burten (Munch et al. 2012). Dieser kann entweder kongenital genmerk soll auf die Praxisrelevanz und die anschauliche oder erworben vorliegen. Die häufigste Form bei Kindern ist Darstellung der zum Teil komplexen anatomischen und phy- der kongenitale Hydrocephalus occlusus, bedingt durch eine siologischen Zusammenhänge gelegt werden. Es sollen hier- Aquäduktstenose (Kahle et al. 2015). Der Aquädukt ist die zu die erheblichen Therapie- und Prognose-Fortschritte Verbindung zwischen dem III. und IV-Ventrikel und verläuft dargestellt werden, die in den letzten Jahren erreicht wer- als dünner, teils unter einem Millimeter breiter Gang vom den konnten. Mittelhirn zur Pons, an deren Dorsalseite er in die Rauten- grube unter dem Kleinhirn mündet. Der Aquädukt ist die Die Neurochirurgie ist ein Fach, welches von Zuweisungen schmalste und längste Engstelle des Ventrikelsystems, die ärztlicher Kolleginnen und Kollegen abhängig ist. Die Zu- anderen Verbindungsstellen, die beiden Foramina monroi weisungen sind meist von Kolleginnen und Kollegen der (zwischen den beiden Seitenventrikeln I, II und dem III. Ven- Neurologie, Orthopädie und Allgemeinmedizin, aber auch trikel) und Foraminae luschkae und magendi (zwischen IV. Inneren Medizin und Kinderheilkunde. Die Behandlung der Ventrikel und Subarachnoidalraum unterhalb des Kleinhirns) Patienten erfolgt daher konsequenterweise auch in enger sind deutlich breiter. Die Aquäduktstenose liegt meist in Absprache mit den zuweisenden Kollegen. Gerade in der Form einer dünnen Verwachsung oder eines inkomplett per- Kinderneurochirurgie kommt dieser interdisziplinäre As- meablem Strömungshindernisses vor (Abb. 1 a). Die meisten pekt besonders zum Tragen, da die jungen Patienten primär Kinder werden intrauterin im Rahmen der schwangerschafts- von Kinderärzten behandelt werden. Die Kinderärzte sind begleitenden Sonographie oder nach der Geburt bei Durch- hier besonders gefordert, da ihr ohnehin schon breites me- führung einer transkraniellen Sonographie durch die offene dizinisches Fach- und Allgemeinwissen durch die zum Teil Fontanelle durch eine Ventrikelerweiterung auffällig. Im spä- komplizierten neurochirurgischen Krankheitsbilder beson- teren Verlauf ist ein überproportionales Schädelwachstum ders herausgefordert wird. Nicht zuletzt setzt die Behand- anhand der Schädel-Perzentilen-Tabellen sichtbar. Unbehan- lung von Kindern eine langjährige Erfahrung des Neurochi- delt führt der Hydrocephalus occlusus in seiner Maximalform rurgen voraus, um abzuschätzen, ob ein kinderneurochirur- zu überproportionalem Schädelwachstum, Kompression von gischer Eingriff tatsächlich notwendig ist oder ob eine kon- Cortex, Marklager und Basalganglien mit Folgen von Blind- servative Therapie oder ein beobachtendes Verhalten von heit und Schwerbehinderung. Vorteil wäre. Das Durchführen der zum Teil hochkomplexen Eingriffe setzt eine besondere hohe Expertise und operati- Beim Hydrocephalus occlusus gibt es grundsätzlich zwei The- ve Fähigkeit voraus, da die Operationen eine erhebliche rapieoptionen, zum einen das klassische ventrikulo-peritone- Auswirkung auf die Lebensqualität der Kinder haben. Bei alen Shuntsystem mit zwischengeschaltetem Ventil oder die den meisten Operationen muss das Mikroskop und intra- Ventrikulozisternostomie (Wright et al. 2016). Beim Shunt operatives neurophysiologisches Monitoring (IOM) einge- (Abb. 1 c, d) wird ein Katheter über ein Bohrloch in den Sei- setzt werden. Beim IOM werden motorisch- und somatosen- tenventrikel implantiert und dieser subkutan vom Kopf zum sibel evozierte Potentiale (MEPS, SEPs) abgeleitet und Elek- Abdomen untertunnelt und in die Peritonealhöhle implan- tromyogramme (EMG) sowie Direktstimulationen der ein- tiert. In der Regel wird ein Ventil mit einer Druckstufe zwi- zelnen betroffenen Nervenwurzeln durchgeführt. schen 2 und 10 cm Wassersäule implantiert damit nur der zu viel gebildete Liquor drainiert wird. Die neuesten Ventile * Univ.-Prof. Dr. med. habil. Thomas M. Freiman, Leiter der Abteilung für haben verstellbare Druckstufen und verstellen sich von selbst Neurochirurgie; Priv.-Doz. Dr. med. habil. Florian Geßler, Leitender Ober- wenn der Patient steht oder liegt, um der Überdrainage arzt der Abteilung für Neurochirurgie; Universitätsmedizin Rostock, Schillin- gallee 35, 18037 Rostock durch Sogwirkung der senkrechten Wassersäule im Stehen Seite 442 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG vorzubeugen. Die Shunt-Operation ist wenig gefährlich, es kommt nur in sehr seltensten Fällen zu Gehirnverletzungen oder der Perforation von Bauchorganen. Jedoch ist ein Shunt ein Implantat mit einer zeitlich begrenzten Lebensdauer und Infektanfälligkeit, sodass bei Shunt-pflichtigen Kindern mit mehreren Revisionsoperationen im Verlauf des Lebens ge- rechnet werden muss. Demgegenüber bietet die Ventrikulo- zisternostomie eine künstlich geschaffene Verbindung zwi- schen dem III. Ventrikel und dem Subarachnoidalraum (Abb. 2 b). Diese Stomie wird nicht an der Stelle der Aquäduktste- nose durchgeführt, weil das neurologische Defizit bei einer manipulationsbedingten Schädigung der umliegenden Hirn- strukturen - Vier-Hügel-Platte (Augenbewegung) und Mittel- hirn (zentrale Bahnen und Extrapyramidalmotorikkerne) - bei einer manipulationsbedingten Einblutung zu schwerwiegend wäre. Ferner würde der nur millimeterbreite Aquädukt durch die geringe Größe des Stomas schnell wieder restenosieren können. Das Ventrikulostoma wird an der Lamina terminalis durchgeführt, einer dünnen, nicht Nervengewebe beinhal- tenden Membran, die den Boden des dritten Ventrikels zwi- schen dem Hypothalamus und der Sehbahn auskleidet. Das Abb. 1. Behandlung des Hydrozephalus. (a) Hydrocepualus oc- Stoma wird mittels Bohrlochtrepanation und einem Endos- clusus durch Aquäduktstenose (AS). Die Stenose ist erkennbar, da kop, welches zunächst transkortikal und dann durch das of- der II. und III. Ventrikel (V2, V3) erweitert, der dem Aquädukt vor- geschaltete 4. Ventrikel (V4) jedoch nicht erweitert ist. (b) Post- fene Foramen monroi vorgeschoben wird, mit kleinen Zan- operatives MRT nach Ventrikulozisternostomie, erkennbar an den gen und Ballonkathetern geschaffen. Wenn die Ventrikulo- dunklen Liquor-Fluss-Schlieren (Pfeil/flow void) durch das Ventri- kulostoma (VS) zwischen dem V3 und der präpontinen Zisterne. zisternostomie komplikationslos gelingt, kann der kleine (c) Röntgen-Schädel-Seitaufnahme bei implantiertem Ventrikulo- Patient nach wenigen Tagen, ähnlich wie beim Shunt, entlas- peritonealem (VP) Shunt. Der Liquor wird aus dem Seitenventrikel sen werden. Die Komplikationsrate ist gering, aber wenn mittels Ventrikelkatheter (VK) über einen Umlenker (UL) in die Pumpkammer geleitet, von dort zunächst in ein verstellbares Ven- Komplikationen auftreten, sind diese dramatisch. Insbeson- til (VV, Druckstufen 0-20 cm H2O) und dann in ein Gravitätsventil dere besteht das Risiko, dass das Stoma wieder verwächst, (GV 0/20 cm H2O), welches sich nur im Stehen dazu schaltet, um dieses ist jedoch als geringer anzusetzen, als das einer Shunt- den Sog einer senkrechten Wassersäule abzumildern. (d) Die Ab- leitung erfolgt über den Peritonealkatheter (PK) in die Peritoneal- dysfunktion. Somit ergibt sich die Indikation zur Ventrikulo- höhle, in der der Liquor abgebaut wird. stomie schlussendlich aus den anatomischen Gegebenheiten AUSGABE 12/2020 30. JAHRGANG Seite 443
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG und dem Wunsch der Eltern. Im Allgemeinen würde man El- tern eines Neugeborenen zum ventrikulo-peritonealen Shunt raten, älteren Kindern mit Hydrocephalus occlusus eher zur Ventrikulozisternostomie. Bei Hydrocephalus communicans liegt meist eine Resorpti- onsstörung des Liquors zugrunde, die Ursachen hierfür sind, ähnlich wie beim Erwachsenen, Intrazerebralblutungen mit Ventrikeleinbruch, schweres Schädel-Hirn-Trauma und post- entzündliche Zustände nach Meningitis (Beuriat et al. 2017). Die Ventrikelblutung bei frühgeborenen Kindern durch eine unreife Matrix der Ventrikeloberfläche ist häufig eine Deter- minante für den weiteren Verlauf der Frühgeburtlichkeit. Hier ist häufig eine zeitnahe Betreuung durch den Neurochi- rurgen notwendig. Abhängig vom akut auftretenden Blu- tungs-Hydrocephalus ist in der Frühversorgung eine externe Ventrikeldrainage und im weiteren Verlauf ein ventrikulope- ritoneales Shuntsystem notwendig. Nach unseren Erfahrun- Abb. 2. Kraniosynostose einer Sagittalnaht. (a) Fotoseitauf- gen sind regelmäßige Kontrollen mittels Kopfumfangmes- nahme des Schädels im Alter von drei Monaten. Das Schädelwachs- tum verläuft nicht mehr von der verschlossenen Sagittalnaht aus, sung und Magnetresonanztomographie notwendig, um die sondern entlang dieser. Man erkennt die Ausziehung des Schädels optimale Shuntventildruckstufe festzustellen und um eine nach frontal und okzipital, dem sogenannten Scaphocephalus optimale Therapie des Hydrozephalus zu erzielen. Je nach (Kahn-Schädel). (b) Postoperative Aufnahme nach operativer Exzi- sion der Sagittalnaht und Osteotomie. (c) Computertomographie Primärschädigung des Gehirnes sind völlig normale Verläufe mit offener Lambda- und Koronar-Naht (LN, KN). Man erkennt die des Kindes mit Schulbesuch und höherem Bildungsabschluss Ausdünnungen des Schädelknochens durch Impression der Gehirn- möglich. Dies gilt im Übrigen für alle Kinder mit Hydrozepha- windungen (GW) in den Knochen. (d) Sagittalnaht (SN) fehlt und ist verknöchert. lus. Ist der Hydrozephalus ohne weitere Schädigungen des Gehirns die einzige Erkrankung des Kindes, so ist mit einer suffizienten Behandlung des Hydrozephalus eine normale physiologisch verschlossen und sind für das nur noch langsa- Kindesentwicklung nicht nur möglich, sondern das erklärte me Knochenwachstum nicht mehr notwendig. Erfolgt die Ziel einer interdisziplinären Therapie. Schädelnahtexzision nicht frühzeitig und tritt eine Deformie- rung der umliegenden Knochen ein, so können diese mittels Kraniosynostosen Osteotomien wieder in eine physiologische Kopfform ge- bracht werden (Abb. 2 b). Die Knochenadaption kann dann Der Schädel erreicht eine Form, indem die verschiedenen mittels resorbierbaren Nähten oder Plättchen erfolgen. Schädelknochen an den Schädelnähten voneinander entge- gengesetzt wachsen, durch das sogenannte appositionelle Bei komplexen Kraniosynostosen, bei welchen mehrere Schä- Wachstum. Verschließt die Naht im Rahmen einer Kraniosyn- delnähte betroffen sind, kommt es meist zu einer sehr kom- ostose zu früh, verläuft das Knochenwachstum nicht mehr plexen Verformung des Schädels und des Gesichtes, hier ist entgegengesetzt, sondern parallel zur Naht, das sogenannte in der Regel die Nahtexzision alleine nicht ausreichend, son- pathologische parallele Wachstum und es tritt eine Fehlbil- dern der Schwerpunkt der Operation ist die Herstellung ei- dung des Hirnschädels ein (Proctor et al. 2019). Das Risiko der ner physiologischen Kopfform. Die potentiellen Risiken der Erkrankung besteht darin, dass der Schädel verformt. Bei der Operation sind Blutaustritt aus dem Hautschnitt oder den häufigsten Kraniosynostose, der Sagittalnahtsynostose, be- Sinus, oder aber Nachblutungen im Sinne von Epiduralhäma- trägt die Inzidenz 1:1000 Geburten. Hier ist die Sagittalnaht tomen. Insgesamt gesehen sind Komplikationen jedoch sehr am Scheitel des Schädels verschlossen und es kommt zur selten. Da es sich um planbare Eingriffe handelt, können die- Längsausziehung des Schädels in fronte-okzipitaler Richtung, se sehr gründlich vorbereitet werden und so Komplikationen der sogenannten Form eines Schiffkahns (Scaphocephalus, vermieden werden. Bei einer solchen Operation ist der Blut- Abb. 2 a, c, d). Die Therapie einer Kraniosynostose besteht verlust bei Kindern unter zwei Jahren eine besondere Her- darin, die synostosierte Naht durch Exzision früh genug zu ausforderung, da beispielsweise ein Neugeborenes bei ei- entfernen und somit die angrenzenden Knochenplatten vor nem Gewicht von 3-4,5 kg ein Gesamtblutvolumen zwischen der Wiederverknöcherung für etwa sechs Monate auf Ab- 300-400 ml und ein sechs Monate alter Säugling weniger als stand zu halten. Danach sind die Schädelnähte meist auch 1000 ml hat. Eine Kraniotomie zur Kraniosynostosenbehand- Seite 444 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG lung verursacht meist einen Blutverlust von 100 ml, sodass Anhaftung, eines Filum terminale oder eines Lipoms (Abb. 3 die meisten Säugling transfundiert werden müssen. Bei die- c, d). Eine seltene Form ist die Diastematomyelie, eine Spalt- sen Patienten ist daher die sorgfältige Blutstillung bei jedem bildung des Rückenmarks, durch die sich Dura mater oder ein Operationsschritt entscheidend zur Vermeidung einer sol- Knochenstrang ziehen kann (Abb. 3 e, f). Die Spina bifida chen Transfusion. occulta ist meist mit einer Hautveränderung in der Mittelinie vergesellschaftet, die durch eine verstärkte Behaarung, eine Spina bifida Pigmentstörung oder ein Hämangiom erkennbar ist (Abb. 3 a, b). Entscheidend bezüglich der Operationsbedürftigkeit ist Bei der Spina bifida handelt es sich um ein Krankheitsbild bei die Myelonpathologie. Diese Kinder sind initial asymptoma- dem sich in der 3.-4. Embryonalwoche die Einstülpung der tisch, kommt es jedoch zum physiologischen Längenwachs- Neuralplatte mit einer Lücke vollzieht. Betrifft dieser Lücken- tum des Körpers, so wächst das Myelon nicht mit. Der Conus schluss alle Schichten der Neuralplatte, entsteht eine Spina medullaris steht im Spinalkanal beim physiologischen Wachs- bifida aperta mit Meningomyelozele, bei dem es zu einem tum eines Erwachsenen zwischen dem 12. Brustwirbel- und Haut- Muskel, Knochen- und Dura mater-Defekt kommt, bei dem 1.-2. Lendenwirbelkörper. Ist das Rückenmark im Rah- dem das Rückenmark, in Form einer Plakode, blind endend men der Spina bifida im Spinalkanal durch ein Filum termina- auf dem Hautniveau an der Oberfläche liegt. Hierunter le, ein Lipom oder im Rahmen einer Duraverwachsung ange- kommt es meist zur Sezernierung von Liquor aus dem offe- heftet, wird es durch das Längenwachstum des Körpers unter nen Spinalkanal. Entsteht diese Neuralplattenlücke im Be- Zug gesetzt. Dies wird in der Bildgebung (MRT der Wirbel- reich des Kopfes, kann es zum Fehlen des Schädels und des säule) durch eine Höhlenbildung, der sog. Syringomyelie, Großhirns kommen, dem sogenannten Anenzephalus, der oder einem Conus medullaris-Tiefstand sichtbar (Abb. 3 d). meist zu einer Totgeburt führt. Bei einer weniger ausgebil- Hieraus erschließt sich die operative Therapie: die Anheftung deten Spina bifida kommt es „nur“ zur Ausstülpung von des Rückenmarks, das sogenannte Tethered Cord, muss durch Hautüberzogener Dura mater, hier spricht man von einer eine mikrochirugische Operation gelöst werden. Dies wird Meningozele. Ist das Rückenmark intakt, bestehen meist kei- durch Lösen der Verwachsungen, der Durchtrennung des Fi- ne neurologischen Defizite. Die Meningomyelozele ist zeit- lum terminales oder der Resektion des Lipoms unter IOM er- nah versorgungspflichtig, da durch das ungeschützte Vorlie- reicht (Abb. 3 g-i). gen von Nervengewebe eine Meningitis droht. Bei der Ope- ration wird der Rest des Rückenmarks in den geöffneten Gehirntumoren des Kindesalters Spinalkanal zurückverlegt, danach erfolgt ein schrittweiser Verschluss der Dura mater, der Musekelschicht und der Haut. Nach den Leukämien ist das zweithäufigste Malignom des Kindesalters der Gehirntumor mit einer Inzidenz von Von einer Spina bifida occulta spricht man, wenn eine Lü- 5-6/100.000 (Pollack et al. 2019). Aus unklaren Gründen ist ckenbildung des Wirbelkörperbogens oder der Dura besteht, die Inzidenz in den letzten Jahrzenten um 1,4 % / Jahr gestie- die meist mit einer Pathologie des Myelons, im Sinne einer gen (Patel et al. 2014). Im Gegensatz zum Erwachsenen tre- ANZEIGEN AUSGABE 12/2020 30. JAHRGANG Seite 445
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG ten die drei häufigsten Tumoren des Kindesalters, Astrozy- tom, Medulloblastom und Ependymom im Kleinhirn auf, obwohl vom Volumen her das Großhirn um ein Vielfaches größer ist (Abb. 4). Gehirntumore sind nach dem Schädel- Hirn-Trauma die häufigste Todesursache bei Kindern. Den- noch ist die Überlebensrate der Kinder besser als bei den malignen Gliomen des Erwachsenenalters. Gerade im letz- ten Jahrzehnt hat sich die Prognose der kindlichen Hirntu- more erneut gebessert: die 5-Jahres-Überlebensrate betrug in den 1970er-Jahren etwa 80%, und Ende der 2010er-Jahre bereits 95%. Das Astrozytom entspring meist der weißen Substanz des Kleinhirns und ist meist gutartig. Je nach Lokalisation kann es komplett reseziert werden und verbleibt, bei vollständiger Resektion, meist rezidivfrei (Abb. 4 a, b). Eine Strahlen- und Chemotherapie ist in der Regel nicht notwendig. Demgegen- über ist das Medulloblastom ein hochmaligner Tumor, der dem Dach des vierten Ventrikels entspringt und infiltrierend das Kleinhirn und später auch den Hirnstamm durchsetzt (Abb. 4 c). Seine Therapie umfasst die operative Resektion sowie eine Strahlen- und Chemotherapie. Die Resektion soll- te hierbei nicht destruierend radikal durchgeführt werden, da die Ansprechrate von geringem Resttumorgewebe auf die Strahlen- und Chemotherapie meist sehr gut ist, sodass hier eine geringe perioperative Morbidität angestrebt wird. Das Ependymom ist ebenfalls ein hochmaligner Tumor, der dem Ependym des vierten Ventrikels entspringt. Dieser Tumor in- filtriert zu einem frühen Zeitpunkt den Hirnstamm sowie die kaudalen Hirnnerven und ist weniger Strahlen- und Chemo- therapie-sensibel. Hier wird eine radikale Tumorresektion angestrebt, oft auch unter Inkaufnahme eines neurologi- schen Defizites, da die Komplettresektion der wichtigste pro- gnostische Marker ist. Eine Besonderheit sind die epileptoge- nen Tumoren des Großhirns, die meist im Temporallappen lokalisiert sind. Sie sind meistens niedrig-maligne und wer- Abb. 3. Spina bifida occulta. (a) Hautveränderungen der den durch epileptische Anfälle symptomatisch. Mit einer voll- Mittellinie, wie z.B. ein Hämangiom, verstärke Behaarung, ständigen Resektion kommt es häufig zu einer lebenslangen ein Dermalsinus oder (b) eine Matrix, die Horn-Nägel ausbildet Tumorfreiheit und einem Sistieren der Anfälle. Die Resektion sind stets verdächtig, dass sich darunter eine Pathologie des Spinalkanals wie ein (c) Filum terminale (FT) oder eine Diaste- der wenig malignen Kleinhirnastrozytome und epileptoge- matomyelie befindet, die durch das Körperwachstum das Rü- nen Tumoren kann unter der Kontrolle der Neuronavigation ckenmark anhaftet und durch Zug neurologische Defizite verur- und des IOM meist mit geringem Risiko eines neurologischen sacht. Beim FT zeigt sich in den MRT Aufnahmen ein gegenüber den Nervenwurzeln (NW) verdickter Strang, der am (d) Conus Defizites und geringem Blutverlust durchgeführt werden. medullaris (CM) angehaftet ist und zu dessen Tiefstand auf Die Tumoren des IV. Ventrikles hingegen, Medulloblastom LWK3 geführt hat. Normal wäre ein Stand bei BW12-LW2. (e) Bei der Diastemato- und Ependymom, stellen den Neurochirurgen meist vor eine myelie ist das Myelon gespalten, durch diesen Spalt zieht ein komplexe Aufgabe (Abb. 4 d). Der Eingang des IV Ventrikel Knochensporn (KS). (g) Intraoperative Darstellung eins FT und kann meist nur über eine komplexe Lagerung in halbsitzen- einer NW. (h) Intraoperatives Neuromonitoring (IOM) bei einem Neugeborenen mit einem FT, am Kopf sind die Elektroden für der- oder Concorde-Position unter Resektion des hinteren die kontinuierlichen motorisch evozierten Potentiale (MEPs) und Bogens des 1. Halswirbelkörpers erreicht werden. Nach Er- somatosensibel evozierten Potentiale (SEPs) angebracht, (i) an weiterung des Foramen magnums durch eine Trepanation den Beinen und am Sphinkter ani sind Elektroden für die Elekt- romyogramme (EMGs) angebracht. Das IOM ermöglicht eine muss nach Eröffnung der Dura mater die Gefäßversorgung Prävention von neurologischen Schäden während der Operation. des Hirnstamms und des Kleinhirns durch die Aa. vertebrales Seite 446 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG ANZEIGE Abb. 4. Kinderhirntumore. (a) Potentiell benignes Astrozytom (AS) des Kleinhirns. Charakteristisch für die Gehirntumoren des Kindesalters ist, dass sie fast ausschließlich um den IV. Ventrikel (V4) herum entstehen und häufig mittels MRT nicht zu unterschei- den sind. (b) bei vollständiger Entfernung verbleibt das Astrozy- tom meist auch ohne Strahlen- und Chemotherapie rezidivfrei. (c) Das Medulloblastom (ME) ist ein bösartiger Tumor des V4 der zum Teil in die Medulla oblongata (MO) des Gehirnstamms eingewach- sen ist. (d) Intraoperative Darstellung des ME, kaudal befindet sich die MO und lateral die Kleinhirntonsillen (TO) und die die Klein- hirnhemisphären (KH). (e) Sagittale präop. Darstellung des MEs. (f) Postoperatives MRT nach Entfernung des Tumors. und Aa. posterior inferiores cerebelli dargestellt werden, um die feinen tumorversorgenden Arterien von den Arterien zu trennen, die den Hirnstamm und Kleinhirn versorgen. Die tumorversorgenden Arterien müssen ligiert werden, um den Blutfluss der gefäßreichen Tumoren zu reduzieren, ohne da- bei eine Ischämie des Hirnstamms oder Kleinhirns herbeizu- führen. Erst dann kann der stark durchblutete Tumor grö- ßenreduziert werden, damit dieser überhaupt von den um- liegenden Gehirnstrukturen gelöst werden kann. Die umlie- genden Strukturen sind als äußerst empfindlich anzusehen, so befinden sich im Boden des vierten Ventrikels die Kernge- AUSGABE 12/2020 30. JAHRGANG Seite 447
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG biete der Augenmuskelkerne, der Gesichtsnerven sowie der kaudalen Hirnnerven, die den Atemantrieb und Schluckreflex steuern (Abb. 4 e, f). Lokale Ischämien im Hirnstamm können zu Lähmungen durch Unterbrechung der langen Bahnen füh- ren, schlussendlich, sind dies alles Strukturen, die bei einer Schädigung zu einer Schwerbehinderung oder zum Tod füh- ren können. Ein Charakteristikum der kindlichen Kleinhirn- operationen ist der sogenannte Mutismus, ein neurologi- sches Symptom, welches sich durch eine ein- bis vierwöchige depressive Episode mit Apathie, Weinerlichkeit und psycho- genem Schweigen äußert. Das vergangene Jahrzehnt stand unter der molekularbiolo- gischen Analyse der Hirntumore. Die wesentliche Verände- rung ist die genetische Analyse zur Feststellung von Mutati- onen, die Rückschlüsse auf die Entität des Tumors, dessen Prognoseabschätzung sowie den Nutzen einer Strahlen- und Abb. 5. Epilepsie und Schädel-Hirn-Trauma. (a) Die häufigste Chemotherapie erlauben. Diese genetische Analyse erlaubt pharmakoresistente Epilepsieform ist die Temporallappen (TL)-Epi- lepsie durch eine Sklerose des Hippocampus (HS), der sich im Tem- vor allem bei den Medulloblastomen und Ependymomen poralhorn des Ventrikelsystems befindet. (b) HS in axialer Darstel- eine gezielte postoperative Planung der Strahlen- und Che- lung. (c) Zustand nach Epilepsiechirurgie mittels selektiver Amyg- motherapie. dalo-Hippokampektomie über einen subtemporalen Zugang. (d) Schütteltrauma bei einem Säugling mit ausgedehnten beidseitigen chronischen Subduralhämatomen (SD), die zu einer Kopfumfangs- Epilepsie vergrößerung und Gehirnkompression geführt haben. (e) Sagitta- le Darstellung der SD. (e) Impressionsfraktur durch Sturz auf eine Tischecke. Die Epilepsie ist eines der häufigsten neurologischen Symp- tome. Ca. 1% der Weltbevölkerung leiden an einer Epilepsie, die meistens im Kindesalter manifest wird (Perucca et al. 2018). Die Inzidenz beträgt 25-50 / 100.000 / Jahr. Da jedoch Elektroenzephalogramm (EEG) durchgeführt, bei dem das die Epilepsie eine chronische Erkrankung ist, beträgt die Prä- EEG unter laufender Kamera kontinuierlich durchgeführt valenz 4-8 / 1.000 (Engel 2018). Die meisten Epilepsien kön- wird, um die Semiologie (Anfallssymptomatik) mit einem nen medikamentös eingestellt werden, aber 15-30% sind mutmaßlichen EEG- Anfallsursprung zu korrelieren. Zeigt sich pharmako-resistent, den meisten hiervon liegt eine angebo- hier ein klar definiertes Gehirnareal, welches für die Anfälle rene Hirnfehlbildung, wie fokal kortikale Dysplasie, Am- verantwortlich ist, kann dieses in einer mikrochirurgischen monshornsklerose oder epileptogene Hirntumoren zugrunde Operation entfernt werden (Abb. 5 b, c). Ein besonderes Au- (Abb. 5 a). Die häufig im frühen Kindesalter beginnende Epi- genmerk gilt hierbei in der Abgrenzung der sogenannten lepsie beeinflusst das gesamte Leben des Patienten. Chro- eloquenten Hirnarealen, dem Broca-/Wernicke-Sprachzent- nisch wiederkehrende pharmakoresistente Anfälle sistieren rum, dem Motorcortex und der Sehrinde, da von diesen Are- in der Regel nicht spontan, sondern verschlimmern sich im alen ausgehende neurologische Defizite besonders schlecht Verlauf. Wenn die Anfälle nicht unterbunden werden, kompensiert werden können. Dennoch ist es so, dass gerade kommt es, je nach Anfallsschwere und -frequenz, zur weite- jüngere Kinder eine Restitutio ad integrum erleben oder ren Schädigung des Gehirns meist mit der Folge des geistigen neurologische Defizite im Laufe des Lebens viel besser kom- Abbaus bis hin zur Schwerbehinderung. Epilepsiepatienten pensieren als Erwachsene. Schlussendlich ist es meist so, dass bedürfen häufig ihr Leben lang Betreuung durch Wohnge- Kinder von einer Anfallsfreiheit oder -linderung weitaus meinschaften und geschützte Arbeitsplätze. Ferner konnte mehr profitieren, als dass sie von potentiellen Defiziten be- gezeigt werden, dass ihre Lebenserwartung durch unbeob- einträchtigt werden. achtete Anfälle, einen Sturz oder Verkehrsunfall erheblich reduziert ist (Sperling et al. 2016). Daher sollte eine Epilepsie Schädel-Hirn-Trauma stets sorgfältig abgeklärt werden, am besten über ein zerti- fiziertes Epilepsiezentrum. Im Rahmen der Epilepsieabklä- Die Besonderheiten der Schädel-Hirn-Traumata von Kindern rung wird nach ambulanter Untersuchung ein hochauflösen- liegt in den kindlichen Körperproportionen und der altersab- des MRT durchgeführt. Bei kleinen Kindern muss dieses oft hängigen Prädisposition zu unterschiedlichen Unfällen (Ara- in Narkose durchgeführt werden. Zusätzlich wird ein Video- ki et al. 2017). Kinder unter sechs Monaten können sich von Seite 448 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG der Bewegung her meist nur drehen und robben, sie sind nen, oder Verletzungen durch herabfallende Gegenstände. daher gefährdet durch Stürze von Tischen, Theken und aus Nach dem zweiten Jahr ähneln die Verletzungsursachen im- Kinderwägen. Beim Sturz auf den Kopf kommt es durch den mer mehr den Ursachen Erwachsener, insbesondere kommt dünnen, biegsamen Knochen häufig zur Impressionsfraktu- es zu Stürzen von Klettergerüsten, von Fahrrädern oder zur ren, die große Ähnlichkeit mit der Form eines eingedrückten Verwicklung in Autounfälle. Beim Schädel-Hirn-Trauma des Ping-Pong-Balls haben (Abb. 5 f). Kindes ist die Konsultation eines hierfür spezialisierten Kran- kenhauses entscheidend, in dem eine qualifizierte Überwa- Ferner kommt es im Alter von unter sechs Monaten zu Miss- chung, Diagnostik mittels CT und MRT und operative Eingrif- handlungstraumata wie Schütteln und Schädelprellungen, fe durchgeführt werden können. Entscheidend ist die Be- meist vergesellschaftet mit mehrzeitigen anderen Traumata handlung von einem qualifizierten Team aus Kinderärzten, durch Griffspuren, bis hin zu Knochenbrüchen am Thorax Unfall- und Neurochirurgen und einem leistungsfähigen ra- und Extremitäten, die Inzidenz beträgt 10-40 / 100.000 (Chris- diologischen Institut, in dem sämtliche bildgebenden Unter- tian et al. 2009). Kennzeichnend ist das unterschiedliche Al- suchungsmöglichkeiten zu jeder Zeit und notfalls auch in ter der Verletzungen. Durch das Schütteltrauma wird dem Vollnarkose durchgeführt werden können. Kind massiver Schaden zugefügt, durch die Abscherbewe- gungen des Gehirnes entstehen typischerweise bilaterale chronische Subduralhämatome, häufig durch ihre Mehrzei- Literatur bei den Autoren: tigkeit gekammert (Abb. 5 d, e). Im Bereich des Marklagers Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. habil. Thomas M. Freiman und des Hirnstamms entstehen diffuse Axonschäden. Im Be- Leiter der Abteilung für Neurochirurgie reich der Halswirbelsäule entstehen, bedingt durch den Priv.-Doz. Dr. med. Dr. med. habil. Florian Geßler überproportional großen Kopf, Schäden des Myelons, des Leitender Oberarzt der Abteilung für Neurochirurgie Bandapparates, bis hin zu Dislokalisation der Halswirbelkör- Universitätsmedizin Rostock per. Die Schütteltraumata sind meist Verzweiflungstaten Schillingallee 35 überforderter Eltern, bedingt durch die Änderung des Allta- 18037 Rostock ges mit neugeborenem Kind, Konflikte mit dem anderen El- Tel.: 0381 494-6439 ternteil oder der Familie und seltener durch übermäßiges Fax.: 0381 494-686-6439 Schreien des Kindes. Klinisch tritt der misshandelte Säugling E-Mail: neurochirurgie@med.uni-rostock.de durch eine schwere Beeinträchtigung des Allgemeinzustands, Gewichtsverlust und Zyanose auf. Meist wird erst zu diesem Zeitpunkt der Arzt aufgesucht. Anamnestisch wird häufig kein adäquates Trauma genannt, oder es wird ein einzeitiges Sturzereignis aufgeführt. Die Prognose für eine weitere nor- male körperliche und geistige Entwicklung ist häufig ungüns- tig, da das Kind den Misshandlungen meist über einen län- gerem Zeitraum hinweg ausgesetzt war und entsprechend viel Gehirnsubstanz bereits geschädigt ist. Selbst die chroni- ANZEIGE schen Subduralhämatome, die bei Erwachsenen im Regelfall mit einer Bohrlochtrepanation und einer Drainage innerhalb von drei Tagen ausbehandelt sind, sind im Rahmen von Schütteltraumata bei Kindern durch ihre mehrfache Kamme- rung, ihre meist ausgedehnte Größe und beidseitige Lokali- sation schwer behandelbar. Häufig ist es notwendig, die Hä- matomkammern über mehrere einzelne Bohrlochtrepanati- onen, oder über eine ausgedehnte Membranresektions-Ope- rationen zu therapieren, ferner ist eine meist lange Liege- dauer der Drainage, häufig auch in Form eines permanent subkutan implantierten Subarachnoido-peritonealen Shunts notwendig. Im Alter von sechs Monaten bis zwei Jahren können sich Kin- der drehen, robben und an Gegenständen hochzeihen, es dominieren daher Stürze von Stühlen, Treppen oder Balko- AUSGABE 12/2020 30. JAHRGANG Seite 449
LESERBRIEF Leserbrief / Replik zu „Zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie in Mecklenburg-Vorpommern“ von Ruhberg und Hunz, Ärzteblatt Ausgabe 9/2020, S. 317 In der September Ausgabe des Ärzteblattes MV erörtern die Begriff „ambulant“ ein einziges Mal vorkommt und dann nur Autoren, die Mitarbeiter im Ministerium für Wirtschaft, Arbeit im Zusammenhang mit der gerade in den Monaten März und und Gesundheit des Landes Mecklenburg-Vorpommern sind, April extrem mangelhaften Versorgung mit Schutzausrüstung wie erfolgreich uns gemeinsam hier in MV bisher die Bewälti- (das Wort „adäquate Schutzausrüstung“ kann ich bis heute für gung der Corona-Pandemie aus rein medizinischer Sicht gelun- den ambulanten und pflegerischen Bereich nicht nutzen). Laut gen ist. Es steht nun zwar noch nicht endgültig fest, welche der den offiziellen Daten des LAGuS vom 28.10.2020 sind mittler- getroffenen Maßnahmen nun den größten Effekt erzielt (hat), weile 2086 Menschen mit COVID-19 Infektionen detektiert der beschrittene Weg gibt uns bisher aber Recht. worden, von denen 230 stationär behandelt wurden (d.h. 91% Trotzdem sollten nicht alle Ausführungen hier unwiderspro- (!) wurden ambulant versorgt) und „nur“ 22 starben. Wäh- chen bleiben: rend also Ruhberg und Hunz auf einem Großteil ihrer fünf Sei- Auch Ende Juli 2020, als der Artikel geschrieben wurde, war ten darlegen, was die Landesregierung alles getan hat, damit längst bekannt, dass es neben den hier angeführten Tröpf- die in gut neun Monaten 230 stationär behandelten COVID-19 cheninfektionen auch andere Übertragungswege geben muss Patienten nicht zu einer Überlastung des stationären Sektors (Kontakt und insb. Aerosole). Trotzdem erklären Ruhberg und führten, werden die 2796 ambulant tätigen Kollegen (und die Hunz lediglich den Tröpfchenübertragungsweg als entschei- 148 Kollegen des öffentlichen Dienstes) nicht erwähnt. Gerade dend, was unweigerlich zu falschen Schlussfolgerungen bei der diese sorgten aber dafür, dass es eben zu keiner Überlastung Pandemiebekämpfung führen wird. Ruhberg und Hunz be- des stationären Sektors kam und kommt und wohl auch in ab- haupten, dass die Reisezeit zu einer Erhöhung der Fallzahlen sehbarer Zeit nicht droht. Kurioserweise beweist dies umso durch ein weniger Beachten der Abstands- und Hygienevor- deutlicher, was wir in den letzten Monaten an Hilfe von der schriften geführt hätte. Dies ist unplausibel, da kumulativ Landesregierung erleben mussten. Keine Hilfe bei Schutzmas- (Stand 28.10.2020) seit dem 01.06.2020 (also fast vier Monaten) ken und -anzügen, nicht erreichbare Hotlines der Regierung, lediglich 20 COVID-19 Infektionen bei Gästen aus anderen Bun- keine Hilfestellung (weder finanziell noch ideell) bei der Bewäl- desländern (insg. 16) und Ausländern (insg. vier) festgestellt tigung der Pandemie, keine Informationen oder gar politische wurden. Sollte die Ferienzeit also wirklich mitursächlich für den Handlungsempfehlungen, keine Integration unserer ambulan- Anstieg sein, lag es wohl hauptsächlich an den Bürgern unseres ten „Experten“ in der Beratung der Regierung. Wie die Zahlen Landes selber. aber belegen funktionierten wir: Wir hielten die Praxen offen, Ob es sinnvoll ist, dass Lockerungen der Kontaktbeschränkun- führten teils unter Gefahr unserer eigenen Gesundheit und der gen erfolgen, bedarf immer einer genauen Abwägung, aller- unserer Mitarbeiter Abstriche durch und betreuten Infekte dings beschreiben Ruhberg und Hunz eine, aus meiner Sicht, (aber auch viele andere Krankheiten) ambulant weiter. Trotz Verdrehung der Einschränkungen der allgemeinen Bürgerrech- extrem langer Arbeitsstunden hatten wir viel weniger Patien- te. Dies ist sicherlich durch das Infektionsschutzgesetz und die tenkontakte und damit auch Umsatz. Unterstützung bekamen durch den Bundestag auch festgestellte Epidemie von nationa- wir von unserer KV und wir Hausärzte durch Hausärzteverband ler Bedeutung gedeckt, trotzdem bedürfen alle Einschränkun- und DEGAM. Von der Landesregierung kam … NICHTS! gen der Bürgerrechte explizierter Begründungen. Bisher ist unser Bundesland (wie auch Deutschland als Ganzes) Ethische Grundfragen werden von Ruhberg und Hunz zu vergleichsweise glimpflich durch die Corona-Pandemie gekom- schnell und eindimensional abgehandelt und können hier nur men. Insbesondere was die Anzahl schwerer medizinischer Ver- angerissen werden. So zitieren sie den ersten Satz des §2, Ab- läufe oder gar Todesfälle angeht, beneiden uns viele Regionen satz 2 unseres Grundgesetzes. Daraus leiten sie heraus, dass der Welt. Neben der weiterhin dominierenden virologisch- Leben und Unversehrtheit grundsätzlich allen anderen Grund- epidemiologischen Perspektive, ist es aber spätestens jetzt rechten den Vorrang zu geben ist. Diese Denkweise ist ein Kern dringend geboten auch die vielen anderen – und hier nicht unserer ärztlichen Ethik und des ärztlichen Handelns. Diese ansatzweise in ihrer Breite aufzählbaren – Perspektiven mit in ärztliche Sichtweise deckt aber nicht alle Elemente des von den die Diskussion zu integrieren. Sonst droht die im Fazit von Ruh- Autoren zitierten Grundgesetzes. Im §1 sind neben der Würde berg und Hunz beschrieben hohe Akzeptanz der Bevölkerung auch noch die Allgemeinen Menschenrechte aufgeführt. unseres Bundeslandes zu den getroffenen Maßnahmen mittel- Was mich an dem Artikel von Ruhberg und Hunz aber am meis- fristig verloren zu gehen. ten irritiert, nein kränkt, dass auf den ganzen fünf Seiten der Dr. Thomas Maibaum, Rostock Seite 450 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
JUNGE ÄRZTE IN M-V Von Rumänien nach Deutschland als Arzt Ich darf sagen, dass die Medizin immer schon Hier traf ich die Chefin der Abteilung für All- meine große Liebe war. Als Kind wollte ich gemeinchirurgie. Ich darf sagen, dass sie es Frauenarzt werden, aber während meines von Anfang an geschafft hat, meine vorge- Studiums habe ich mich unwiderruflich in die fasste Vorstellung: Chefarzt = Gott in Weiß Chirurgie verliebt. und unantastbar komplett zu ändern. Ich entdeckte eine Chefin, die immer bereit Ich hatte nie geplant, mein Heimatland Ru- war ihren Mitarbeitern zuzuhören, zu helfen mänien zu verlassen. Medizin wollte ich um und sie zu schützen. der Sache willen studieren, nicht um die Außerdem haben sich meine Vorstellungen, Möglichkeit im Ausland zu arbeiten und Geld zu verdienen. über das, was ich über Deutschland meinte zu wissen völlig Ich gehöre zu der Generation, die voller Idealismus davon geändert. Ich wusste, dass Deutschland das Land der struk- träumt, mit „weißem Kittel“ Leben zu retten. turierten Perfektion ist, aber ich meinte auch, dass die Men- schen hier doch eher unnahbar und distanziert sind. Rumä- Aber nach Abschluss des Studiums entschied ich mich zur nien ist ein lateinisches Land mit freundlich-fröhlichen Men- Auswanderung, da ich mich mit dem „Entgeldsystem“ in der schen, die auch gerne Freundschaften schließen. Als ich hier Medizin meiner Heimat nicht identifizieren konnte. Dort ist ankam, stellte ich verwundert fest, dass ich total falsch lag. es leider immer noch üblich, für jede kleine medizinische Meine Kollegen und Mitarbeiter unterscheiden sich kaum Leistung zusätzlich privat entlohnt zu werden. Arzt sein be- von meiner „südlichen“ Lebensart. inhaltet für mich jedoch auch menschliche Leistung. Wenn man in der Medizin nur „Dollarzeichen“ in den Augen hat, Ich erhielt in allen Lebensbereichen Rat, Hilfe und Unterstüt- egal wie gut man beruflich ist, kann man als Arzt nicht kom- zung, wenn ich sie brauchte und ich fühlte mich nie als Aus- plett sein. Empathie und Respekt für die Fragilität und die länder. Bedürfnisse des Nächsten sind für mich wichtige Themen in Ich war immer Teil eines Teams, wurde ständig unterstützt der Medizin. und ermutigt mich beruflich weiterzuentwickeln. Ich fühlte mich verstanden, zugehört und respektiert. Ich gebe zu, dass Deutschland nicht die erste Wahl war. Ich wollte nach England auswandern, weil Englisch für mich kei- Ich habe beruflich viel gelernt und glaube, dass ich großes ne Fremdsprache war. Die deutsche Sprache war für mich Glück hatte in diesem Krankenhaus meine Weiterbildung zu eine völlig neue Sprache, von der ich nicht dachte, dass ich sie absolvieren. Ich habe mit Blutentnahme und Flexülen legen jemals verstehen, geschweige denn sprechen könnte. Aber begonnen – in Rumänien ist das Aufgabe der Kranken- das Leben hatte einen anderen Plan für mich. schwester – und jetzt kann ich komplexe Operationen durch- führen. 2011 fand ich auf einer Jobmesse eine Firma, die Ärzte für Deutschland warb. Da ich nach dem Studium alle erforderli- Mit der Zeit habe mich in die deutsche Kultur integriert und chen Bedingungen erfüllt hatte, entschloss ich ganz spontan, nach acht Jahren kann ich schon sagen, dass Deutschland für es einfach zu versuchen. Eine schwierige und stressige Zeit, mich und meine Familie zur zweiten Heimat geworden ist. die ungefähr 18 Monate dauerte – von dem Moment der Ent- scheidung in Deutschland Arzt zu werden, bis zur Anstellung Doctor-Medic Catalin-Auras Andrei für die Jungen Ärzte, im Krankenhaus – und äußerst schwierig war. Aber ich be- Assistenzarzt am Krankenhaus Hagenow reue die getroffene Entscheidung nicht und wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich genau das Gleiche tun. Anfang März 2012 stand ich mit einem Flugticket in der Hand am Flughafen in Bukarest: Zielort Dortmund. Im Gepäck hat- te ich neben dem Nötigsten viele Träume und Hoffnungen. Nach etwa sechs Monaten war meine deutsche Sprache leid- lich verbessert, ich hatte hospitiert und bewarb ich mich um mein erstes Vorstellungsgespräch als Arzt in Deutschland. Mein Traum sollte bald wahr werden. AUSGABE 12/2020 30. JAHRGANG Seite 451
AKTUELLES Steckbrief: COVID-19 in der Schwangerschaft Matthias Kästner, Micha Löbermann, Bernd Gerber, Emil C. Reisinger Zum Einfluß einer Infektion mit SARS-CoV-2 auf werdende 19-Verlauf begünstigen können. Das Vorliegen einer jeglichen Mütter und Neugeborene sind zunehmend Fall- und Kohor- Vorerkrankung im Vergleich zu gesunden Schwangeren konn- tenstudien und Metaanalysen verfügbar. Herabgesetzte Im- te zudem als Risikofaktor für Intensivbehandlung und invasive munabwehr und erhöhte Gerinnungsneigung in der Schwan- Beatmung identifiziert werden. gerschaft bedingen kumulativ erhöhte Morbiditäten (1). Schwere Verläufe von COVID-19 sind u.a. auf thrombotische Ergebnisse bei Neugeborenen Ereignisse wie Lungenarterienembolien zurückzuführen (2). Die Sterblichkeit bei Schwangeren scheint allerdings nicht er- Die Frühgeburtlichkeit war im Vergleich zu nicht-infizierten höht zu sein (3). Für Embryos waren die Häufigkeiten der ver- Frauen dreifach erhöht und wurde in 17 % der Fälle beschrie- tikalen Übertragung, der Aborte sowie der Fehlbildungen bis ben. In 25 % und damit ebenfalls rund dreifach häufiger wur- dato nicht bekannt. Insbesondere Allotey et al. (3) haben Da- den die Neugeborenen auf der Neonatalstation behandelt. Ein ten mehrerer Studien zusammengefasst, die nachfolgend erhöhtes Risiko für Fehlgeburten oder neonatale Sterblichkeit auch dargestellt werden. konnte nicht nachgewiesen werden. Vertikale Übertragungen auf Neugeborene finden, auch wenn gestillt wird, selten statt Symptome der Schwangeren (4). Die PCR aus Nasopharyngealabstrichen der Neugeborenen infizierter Mütter war in 1,4 % (5) bis 3,2 % (6) positiv. Fieber und Husten waren mit rund 40 % die häufigsten Sym- ptome der infizierten Schwangeren, gefolgt von Atemnot (19 Fehlbildungen und Folgeschäden bei Neugeborenen %) und Geschmacksverlust (15 %). Insgesamt traten Sympto- me wie Fieber und Myalgien seltener auf als bei nicht schwan- Bisher zeigten sich keine Hinweise auf Fehlbildungen oder Fol- geren Frauen im reproduktiven Alter. Bei Screening-Untersu- geschäden bei Neugeborenen. Auch wenn eine erhöhte Früh- chungen gaben 74 % der infizierten Schwangeren an, keine abortrate nicht nachgewiesen werden konnte (7), ist die Da- Symptome bemerkt zu haben. Die häufigsten laborchemi- tenlage derzeit nicht ausreichend, insbesondere zu Infektio- schen Auffälligkeiten bei Schwangeren waren: erhöhtes C- nen während des ersten Trimesters. Ob COVID-19 in der reaktives Protein (49 %), Lymphopenie (35 %), Leukozytose Schwangerschaft zu intrauterinen Wachstumsverzögerungen (27 %) und erhöhtes Procalcitonin (21 %). Seltener zeigten führt, konnte noch nicht abschließend geklärt werden. sich Thrombozytopenien und abnorme Leberwerte. Zusammenfassung Ergebnisse bei Schwangeren Schwangere mit COVID-19 bleiben häufig symptomarm. Risiko- Schwangere mit COVID-19 wurden in 4 % und damit vierfach faktoren für schwere Verläufe einer COVID-19 Erkrankung ent- häufiger als Nicht-Schwangere im reproduktiven Alter auf In- sprechen der nicht-schwangeren Population. Auch die Mortali- tensivstationen behandelt. 3 % mussten invasiv beatmet wer- tät Schwangerer entspricht der von anderen Frauen im repro- den und 0,4 % benötigten eine extrakorporale Membranoxy- duktiven Alter. Behandlungen auf Intensivstationen und invasi- genierung. Die Gesamtsterblichkeit der infizierten Schwange- ve Beatmung werden häufiger beobachtet. Auch Frühgeburten ren betrug 0,1 % und war damit im Vergleich zu Frauen im treten häufiger auf. Vertikale Transmissionen sind möglich, je- reproduktiven Alter nicht erhöht. Kaiserschnitte waren unter doch selten. Bisher sind keine Fehlbildungen nachgewiesen Infizierten etwas häufiger. Ein statistisch signifikanter Unter- worden, Daten zu Infektionen in der Frühschwangerschaft sind schied im Vergleich zu Schwangeren ohne COVID-19 konnte allerdings noch unzureichend. Stillen wird auch bei COVID-19 allerdings nicht nachgewiesen werden. Risikofaktoren für ei- unter Vorkehrung der Schutzmaßnahmen (Händehygiene und nen schweren Verlauf von COVID-19 mit Atemnot und Hypox- Mund-Nasen-Schutz der Mutter) empfohlen (8). ämie entsprechen der nicht-schwangeren Bevölkerung: erhöh- tes Alter (in diesem Fall > 35 Jahre) und Vorerkrankungen, Literatur bei den Autoren: insbesondere vorbestehender Diabetes mellitus und vorbeste- Prof. Dr. Emil C. Reisinger, Abt. für Tropenmedizin und hende arterielle Hypertension. Kleinere Studien zeigen, dass Infektionkrankheiten, Universitätsmedizin Rostock schwangerschaftsspezifische Erkrankungen wie Präeklampsie Ernst-Hydemann-Str. 6, 18057 Rostock und Gestationsdiabetes ebenfalls einen schweren COVID- tropen@med.uni-rostock.de Seite 452 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
AKTUELLES Neuer Test ermöglicht die frühzeitige Differen- zialdiagose der Parkinson-Erkrankung Die Parkinson-Erkrankung ist eine neurodegenerative Er- störungen, einer Schwerpunktgesellschaft der DGN. Für den krankung, die zu den sogenannten Synucleinopathien zählt. Nachweis von Protein-Fehlfaltungen im Liquor wird eine bio- Besonders in frühen Stadien war es bislang nicht möglich, molekulare Labortechnik, die sogenannte PMCA („Protein zwischen M. Parkinson und der Multisystematrophie (MSA) misfolding cyclic amplification“) zu unterscheiden, da beide mit der krankhaften Ablagerung eingesetzt. Bislang konnte in der gängigen Liquordiagnostik von unlöslichem, fehlgefaltetem α-Synuclein einhergehen nicht zwischen Parkinson und MSA unterschieden werden und ganz ähnliche Symptome auftreten. Jetzt ist es erstmals In der aktuellen Studie wurde die Technik der PMCA weiter- gelungen [1], unterschiedliche Formen des krankhaften entwickelt bzw. ergänzt. Mit speziellen Methoden wurden α-Synucleins im Liquor nachzuweisen, wodurch die beiden an die α-Synuclein-PMCA weitere biologisch-chemisch-physi- Erkrankungen mit großer Sicherheit voneinander abgegrenzt kalische Untersuchungsschritte angeschlossen. Auf diese werden können. Perspektivisch ermöglicht diese Erkenntnis Weise gelang es, zwischen Liquorproben von Patienten mit die Möglichkeit, sehr früh im Krankheitsverlauf eine Thera- Parkinson und MSA zu unterscheiden. Bei beiden Erkrankun- pie einzuleiten. gen kommt es zu einer jeweils anderen Art der α-Synuclein- Synucleinopathien sind neurodegenerative Erkrankungen. Fehlfaltung, die molekulardiagnostisch erkannt werden Hierzu zählen neben der Parkinson-Erkrankung auch seltene- kann. Die Sensitivität der angewandten Test-Methode war in re Erkrankungen wie die Multisystematrophie (MSA). Es han- der Studie ausgesprochen gut, sie lag bei 95,4%. Die Sensiti- delt sich um chronisch-fortschreitende Leiden. Gemeinsam ist vität eines Tests sagt aus, wie viele Patienten mit der Erkran- ihnen die zunehmende Degeneration, Fehlfunktion und kung korrekt identifiziert werden können. schließlich der Untergang von Nervenzellen in Gehirn. Folgen Die Studie wurde im hochrenommierten Journal „Nature“ sind Störungen der Bewegungskoordination und/oder men- publiziert und hat aus Sicht des Parkinson-Experten Höglin- taler Funktionen. Die Symptome der Erkrankungen ähneln ger einen hohen wissenschaftlichen Stellenwert. „Wir wissen sich teilweise sehr, daher wird bei der MSA auch von einem jetzt, dass nicht nur das Vorliegen von α-Synuclein-Fehlfal atypischen Parkinson-Syndrom gesprochen. Gerade zu Be- tungen per se krankheitsauslösend ist, sondern es auch ent- ginn ist die Unterscheidung zwischen den beiden Erkrankun- scheidend ist, wie diese Faltungen aussehen. Kurz gesagt: gen auf der Basis klinischer Untersuchungen oft schwierig. Nicht nur das ‚Ob‘, auch das ‚Wie‘ spielt eine Rolle.“ Aufgabe Die Bezeichnung „Synucleinopathien“ leitet sich von den der Forschung sei nun, das Ergebnis unabhängig zu reprodu- krankhaften Veränderungen in den Nervenzellen bestimmter zieren, die unterschiedlichen Fehlfaltungen und ihre klini- Hirnregionen ab. In den Zellen finden sich Verklumpungen schen Korrelate, d.h. resultierende Erkrankungen, besser zu (Aggregationen) des Proteins α-Synuclein. Diese Ablagerun- verstehen und Test-Assays für die klinische Laborroutine zu gen sind zelltoxisch und sie spielen wahrscheinlich pathoge- entwickeln. netisch eine wesentliche Rolle, auch wenn ihre genaue Be- „Solche Test-Assays könnten künftig die Differenzialdiagnos- deutung noch nicht vollständig aufgeklärt ist. Zur Aggrega- tik von Synucleinopathien revolutionieren“, erklärt Professor tion kommt es aufgrund einer fehlerhaften Molekülstruktur Peter Berlit, Generalsekretär der DGN. „Zum einen besteht des α-Synucleins, genauer einer Fehlfaltung, bei der zunächst dann die Möglichkeit, die Patienten frühzeitig im Krankheits- kleinste Eiweiß-Fasern (Fibrillen) entstehen, die dann weiter verlauf zu diagnostizieren, zum anderen können die Test- zu mikroskopisch sichtbaren Lewy-Körperchen (bei der Par- Assays weitere Forschungsarbeiten erleichtern: Bei zukünfti- kinson-Krankheit) oder glialen zytoplasmatischen Einschlüs- ge Studien könnte damit eine exakte Patientenstratifizierung sen (bei der MSA) verklumpen. Es sind verschiedene Genmu- erfolgen, die insbesondere für die Entwicklung und Erpro- tationen bekannt, die zu dieser molekularen Fehlfaltung bung zielgerichteter, kausaler Therapien von Bedeutung ist.“ führen können, bei der überwiegenden Mehrzahl der Pati- enten treten die Synucleinopathien jedoch sporadisch auf. Pressemitteilung der „Das pathologische α-Synuclein ist typischerweise auch im Deutschen Gesellschaft für Neurologie Nervenwasser (Liquor) der Patienten nachweisbar, was zur diagnostischen Unterscheidung von Synucleinopathien und anderen neurodegenerativen Erkrankungen genutzt werden kann“, erklärt Prof. Dr. Günter Höglinger, Erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Parkinson und Bewegungs- AUSGABE 12/2020 30. JAHRGANG Seite 453
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