Amt und Gemeinde - Evangelische Kirche in Österreich
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Amt und Gemeinde 65. Jahrgang, Heft 3, 2015 € 6, – PfarrerInnenbild & Diaspora Identität und Führungsposition im Pfarrberuf – eine multikomplexe Herausforderung Frank Weyen 134 Ein Pastor soll Vorbild sein Bernd Jaeger 155 Geschichte, Identität und Diaspora Alexander Hanisch-Wolfram 164 Diasporabewusstsein nach 1945. Thesen zu einer gegenwärtigen Diasporatheologie Markus Hütter 170 Diaspora aus literarischer Sicht Simon Konttas 178 Diaspora und Selbstwahrnehmung protestantischer Minderheitskirchen in Europa Mónika Solymár 186 sowie andere Beiträge und Rezensionen Evangelischer Presseverband Herausgeber: Bischof Michael Bünker
INHALT Editorial .................................................................................................. 125 Charlotte Matthias Evangelisch in Vorarlberg – Geistlicher Impuls zur Eröffnung der österreichischen PfarrerInnentagung 2015 ...................................... 127 Thomas Hennefeld „Gott wolle geben, dass er in dem sauren Salat … doch auch einige Süßigkeiten verspüren möge.“ Grußwort für die PfarrerInnentagung 2015 aus der Ökumene..................................... 131 Edwin Matt Identität und Führungsposition im Pfarrberuf – eine multi-komplexe Herausforderung ................................................... 134 Frank Weyen Compassion fatigue ............................................................................... 148 Andacht von Esther Handschin „Do vurne muaß a Hosata stehen.“ Andacht von Birgit Meindl-Dröthandl ......................................................... 151 Ein Pastor soll Vorbild sein...................................................................... 155 Bernd Jaeger Von der Dankbarkeit ............................................................................... 159 Predigt von Hannelore Reiner *** Geschichte, Identität und Diaspora ........................................................ 164 Alexander Hanisch-Wolfram Diasporabewusstsein nach 1945. Thesen zu einer gegenwärtigen Diasporatheologie................................ 170 Markus Hütter
Diaspora aus literarischer Sicht ............................................................... 178 Simon Konttas Diaspora und Selbstwahrnehmung protestantischer Minderheitskirchen in Europa .................................................................. 186 Mónika Solymár *** Die Reflexion der neuen Paulusperspektive in der Slowakei ................. 193 Ondrej Prostredník Die Reflexion der neuen Paulusperspektive in der Slowakei.................. 201 Ein Kommentar zu Ondrej Prostredník von Max Josef Suda *** Rezensionen Ulrich Andreas Wien: Resonanz und Widerspruch. Von der siebenbürgischen Diaspora-Volkskirche zur Diaspora in Rumänien Volker Petri (Hg.): Not und Neuanfang. Die Evangelische Kirche Österreichs und ihre Siebenbürger Sachsen. ............................................................ 205 Karl W. Schwarz Susanne Heine / Ömer Özsoy / Christoph Schwöbel / Abdullah Takim (Hg.): Christen und Muslime im Gespräch. Eine Verständigung über Kernthemen der Theologie. ............................ 210 Alfred Garcia Sobreira-Majer *** Anhang AutorInnen .............................................................................................. 214 Impressum .............................................................................................. 216
P FA R R E R i N N E N B I L D Editorial E ntweder leisten Pfarrerinnen und Pfarrer der „Deprofessionalisierung des Pfarramtes im ständigen Blick auf Die jährlich abgehaltene Konferenz wurde mit zwei Grußworten von Landessuper- intendent Thomas Hennefeld und dem sinkende Mitgliederzahlen, F inanzmittel Ökumentebeauftragen des katholischen und öffentliche Darstellung in den Medien Seelsorgeraums Bregenz Edwin Matt er- durch Enttheologisierung des Berufsstan- öffnet. Beide warfen einen Blick auf das des Vorschub (als Entertainer und Gesel- historische und das heutige Evangelisch- ligkeit fördernde, deprofessionalisierte sein in Vorarlberg. Animateure) oder sie nehmen bewusst das Proprium ihres Schlüsselberufes als Über das Bild der Pfarrerin / des Pfarrers akademisch gebildete Theologinnen und machten sich in ihren Andachten auch die Theologen im Pfarrberuf ernst“, for- beiden Pfarrerinnen Esther Handschin muliert Frank Weyen in seinem Vortrag und Birgit Meindl-Dröthandl ihre Gedan- „Identität und Führungsposition im Pfarr- ken. Und Bernd Jaeger, Referent für Kir- beruf – eine multikomplexe Herausfor- chenbeziehungen der Gemeinschaft Evan- derung“ einigermaßen streng. Der wis- gelischer Kirchen in Europa GEKE und senschaftliche Mitarbeiter im Zentrum langjähriger Pastor der einstigen Nord für Kirchenentwicklung (ZKE) an der elbischen Kirche nimmt in seiner Andacht Universität Zürich und Gemeindepfarrer „Ein Pastor soll Vorbild sein“ eine Dienst- im Ruhrgebiet war Hauptreferent der dies- anweisung der deutschen Nordkirche, in jährigen PfarrerInnentagung, zu der die der vom Vorbildcharakter des Pastoren- drei Evangelischen Kirchen in Österreich amtes ausdrücklich die Rede ist, zum An- – lutherisch, reformiert und methodis- lass, bei Paulus über dessen Verständnis tisch – vom 31.8.–3.9.2015 zum Thema des Hirtenamtes nachzulesen. Die ehe- „PfarrerInnenbild“ an den Bodensee nach malige Oberkirchenrätin Hannelore Rei- Bregenz eingeladen hatten. Diese Aus- ner predigte im Abschlussgottesdienst der gabe von Amt und Gemeinde fasst Gruß- Tagung über die Dankbarkeit und bezog worte, Vorträge, Andachten, und die Ab- sich dabei auf den dritten Teil des Heidel- schlusspredigt der gesamtösterreichischen berger Katechismus, der da lautet: Von der Tagung zusammen. Dankbarkeit. Sie kam zum Schluss, dass der Beruf eines Pfarrers / einer Pfarrerin Amt und Gemeinde 125
trotz aller Herausforderungen auch heut- In diesem Heft finden Sie die österreichi- zutage aus einem dankbaren Grundgefühl schen Ergebnisse in den Beiträgen des gelebt und geliebt werden könnte. Historikers Alexander Wolfram-Hanisch und der TheologInnen Markus Hütter, Si- Der Diaspora widmet sich der zweite mon Konttas und Mónika Solymár. Schwerpunkt dieser Ausgabe von Amt und Gemeinde. Seitdem die Vollversamm- Der Beitrag von Ondrej Prostredník lässt lung der Gemeinschaft Evangelischer Kir- uns schließlich über die Grenze hin- chen in Europa GEKE, die 2012 in Flo- weg in die Slowakei blicken. Prostred- renz stattfand, beschlossen hatte, dass ein ník zeigt, dass die Thesen einer neuen „Studienprozess Theologie der Diaspora“ Paulusperspektive in der Slowakei eine initiiert werden solle, gab es zwei wichtige fruchtbare theoretische und auch prakti- Arbeitsschritte: sche Reflexion in Theologie und Gesell- schaft bewirkt haben und die Neigung der Im März 2015 fand in Neudietendorf in Gesellschaft zu Fremdenhass und Anti- Deutschland eine interdisziplinäre wis- semitismus als eine ernste Herausforde- senschaftliche Tagung zum Thema Dias- rung für die Theologie wahrgenommen pora statt. Ziel der Tagung war es, einen werden muss. Anschluss der Theologie an die jüngere religions-, kultur- und sozialwissenschaft- Abschließend rezensiert Karl W. Schwarz liche Diasporaforschung zu gewinnen. neu erschienene Siebenbürgenlitera- Auffällig war die große Aufgeschlossen- tur unter anderem auch über die Dias- heit unter den jungen außertheologischen porasituation in Rumänien und Alfred DiasporaforscherInnen gegenüber den Garcia Sobreira-Majers Besprechung von Darstellungen der Theologie zum Thema. Susanne Heine / Ömer Özsoy / Christoph Schwöbel / Abdullah Takim (Hg.): „Chris- Im September 2015 tagte dann in Rom ten und Muslime im Gespräch. Eine Ver- eine von der Geschäftsstelle der GEKE ständigung über Kernthemen der Theolo- in der Facoltà Valdese organisierte Stu- gie“ ist eine Empfehlung für alle, „denen dierendenkonferenz, die dem Thema der der christlich-muslimische Dialog – ge- Selbstwahrnehmung und der Selbstdeu- rade auch auf der Ebene der Gemeinden, tung von Minderheits- und Diasporakir- der Schulen und Hochschulen – ein An- chen gewidmet war. Studierende an neun liegen ist.“ Hochschulen aus sieben europäischen Ländern hatten an dem Thema geforscht Charlotte Matthias und in Rom ihre Ergebnisse präsentiert. 126 Amt und Gemeinde
P FA R R E R i N N E N B I L D Evangelisch in Vorarlberg Geistlicher Impuls zur Eröffnung der österreichischen PfarrerInnen tagung 2015 am 31. August 2015 in Bregenz. Von Thomas Hennefeld 1. Fluchtgeschichten als Abhängigkeit von lokalen HelferInnen in- interaktives Theater mitten kleinräumiger Dorfstrukturen und sozialer Kontrolle aber auch die Mensch- An diesem Wochenende fand ein interak- lichkeit der Grenzwächter thematisiert. tives Theater im Montafon statt und zwar Gespielt wurde in einem Hotel und im in Form einer geführten Wanderung von freien Gelände. Darsteller und Publikum Gargellen über das Sarotla-Joch hinü- wanderten gemeinsam auf den damaligen ber in die Schweiz. Die Theatergruppe Fluchtrouten. zeichnete Fluchtgeschichten auf alten Die Schicksale der Flüchtlinge hö- Schmugglerpfaden von Vorarlberg in die ren sich ähnlich an wie jene aus der Ge- Schweiz während der NS-Zeit nach. Diese genwart. Manche Flüchtlinge waren an gespielten Szenen basieren auf Zeitzeu- Erschöpfung gestorben, andere hatten genberichten, historischen Dokumenten Selbstmord begangen, wieder andere und literarischen Texten von Franz Werfel, wurden verraten und wenige hatten es Jura Soyfer u. a. geschafft, in die rettende vermeintliche Dabei wurden die Entwurzelung der Freiheit zu gelangen. Denn immer wie- Menschen, ihre Strapazen in einer hoch- der wurden Menschen von der Schweiz alpinen Region, ihrer oftmals tödlichen nach Nazi-Deutschland zurückgeschickt. Amt und Gemeinde 127
2. Echte Vorarlberger sche“ belebten und darum kämpften, eine und fremde Bettler Kirche bauen zu dürfen, eine Gemeinde zu gründen. Sie kamen nicht nur aus dem Über die Vorarlberger gab es lange das deutschsprachigen Raum, sondern aus der Klischee, sie würden abgekapselt leben. nicht deutschsprachigen Schweiz und aus Aus der Sicht Wiens hinter dem Arlberg. Schottland. Ein unverdächtiger Zeitgenosse, der Und es ist den Gründervätern zu ver- Politikwissenschaftler und ORF-Journa- danken, dass hier die reformierte Tradition list Markus Barnay, in Bregenz geboren, Einzug hielt. Die Unternehmer brachten schrieb eine Studie über die Ethnizität des eine calvinistische Gesinnung mit, inves- Vorarlbergers. Er demontierte den Mythos tierten ihr Kapital, zogen damit auch die von der Einheit. Die Vorarlberger seien Arbeiterschaft an und hatten auch ein so- Alemannen, das Land bilde eine Einheit ziales Bewusstsein, fühlten sich verant- seit Jahrhunderten. Barnay entdeckte, dass wortlich für das Wohl der Arbeiterschaft. der „Vorarlberger“ aus vielschichtigen po- In Vorarlberg wurde die evangelische litisch-kulturellen Entwicklungen der letz- Gemeinde gegen den Widerstand zahl- ten zwei Jahrhunderte entstand; er wurde reicher katholischer Bürger gegründet. nicht vorgefunden, sondern erfunden. Die Reaktion auf den Erlass des Protes- In einem anderen Buch über die Ge- tantenpatents im April 1861 war harsch. schichte des 20. Jahrhunderts ging er den Eine Plakataktion wurde initiiert mit Slo- Fragen nach, die auch andere beschäfti- gans, die uns aus der heutigen Politik nicht gen: Ist das „Ländle“ wirklich anders als ganz unbekannt sind: die anderen? Sind die Vorarlberger ei- gentlich verkappte Schweizer oder etwa „Die Protestanten dürfen also Kirchen Österreicher mit europäischen Wurzeln? bauen … es dürfen so viel als wollen in Warum leben hier mehr Zuwanderer als unser Land hereinkommen, dürfen sich in anderen Bundesländern? die höchsten Stellen in der Gemeinde aneignen, um uns dann dafür zu knech- ten und zu benachteiligten und unsere 3. Evangelische als Religion zu verspotten, dass sie das fremde Elemente tun werden, lehrt die Erfahrung … … 300 Jahre haben wir die Glaubensein- Wir wissen es eh schon. Denn auch wenn heit bewahrt und nun soll sie zu Grabe es Protestanten schon zur Zeit der Refor- getragen werden. Wir geben Blut und mation gab, die heutige Kirche ist ein Er- Leben für die Einheit des Glaubens.“ gebnis der Entwicklung der beiden letzten Jahrhunderte. Es waren MigrantInnen, Die fanatischen Abgeordneten konnten Ein-und Zuwanderer, Unternehmer und die Gründung der ersten evangelischen wohlhabende Familien, die das „Evangeli- Gemeinde in Vorarlberg nicht verhindern. 128 Amt und Gemeinde
Ein Pfarrer wurde geholt, auch ein Mig- Er wolle seine ganze Kraft dem rant: Eduard Kohler, ein Schwabe. Dienste in der Gemeinde weihen und ein liebevoll ernster Lehrer für die Jugend und ein treuer Seelsorger und 4. Ein Pfarrer auf Prediger für die Gemeinde sein. schwerem Posten Pfarrersein unter ganz anderen Umstän- Pfarrer Kohler übersiedelte zuerst von den als heute. Abhängig von Honora- Gmünd nach Biberach. Grund der Verset- tioren. Gottesdienste in der Villa eines zung war wahrscheinlich ein Zerwürfnis Unternehmers – bei Carl Ferdinand von mit seinem Lehrpfarrer. Schwerzenbach, angefeindet und abge- Er schien prädestiniert für die neu ge- lehnt von der Römisch-katholischen Be- gründete Gemeinde in Bregenz. Es wurde völkerung. Ich stelle mir diese Rahmen- ein Pfarrer für die Protestanten gesucht, bedingungen irgendwie ungemütlich vor. der gleichzeitig als Privatlehrer die Kin- An jedem ersten Sonntag fuhr der Pfar- der der evangelischen Honoratioren un- rer um fünf Uhr morgens im Wagen ins terrichten sollte. Kohler hob in seinem Oberland. Dort hielt er im Haus der Fa- Bewerbungsschreiben seine pädagogi- milie Douglass in Thüringen (Villa Fal- sche Fähigkeit und seine Abstammung kenhorst) den Gottesdienst für die Ober- aus einer Schulmeisterfamilie hervor. Er länder. Er spielte selbst die Orgel zum sei auch geübt im Gesang, spiele Violine, Gemeindegesang. Klavier und Orgel. Er ging auch auf seine Vom Anfang an gab es ein gespanntes ökumenische Einstellung ein: Verhältnis zwischen Kurator und Pfar- rer. Der Kurator war 24 Jahr älter als der „Er habe durch jahrelangen Verkehr Pfarrer. Er residierte in seinem Schloss mit Andersdenkenden die so nötige Babenwohl, mit Blick auf die Bregenzer Vorsicht und Zurückhaltung gelernt, Kirche. Der Kurator machte ihm das Le- und der stete Umgang mit Sekten und ben schwer. Nach nur dreijähriger Tätig- Parteien brachte es ihm zur bleiben- keit verließ er Bregenz. Die Zeit hinterließ den Überzeugung, dass Alles darauf beim Pfarrer traumatische Spuren. ankommt, im Geiste christlicher Liebe und Verträglichkeit zu wirken und sich ängstlich allem falschen Eifer zu enthal- 5. Herausforderungen und ten, welcher den Frieden und die Har- Pfarrerbild heute monie zu zerstören im Stande wäre.“ Zuwanderung, Migration, die nicht enden Dem designierten Pfarrer von Bregenz wollenden Flüchtlingsströme. das sind war von Anfang an klar, dass die Pfarr- auch Herausforderungen für uns heute, stelle ein schwerer Missionsposten sei. für Pfarrerinnen und Pfarrer. Soll nicht Amt und Gemeinde 129
das Pfarrhaus eine Anlaufstelle für Not- Dieses Wort des Auferstandenen an seine leidende sein, für Flüchtlinge? Wie gehen Jünger war die Initialzündung zur Entste- wir mit ihnen um? hung der Kirche. Die Jünger erhielten den Kirche als Institution, die für andere Auftrag, Jesu Werk fortzusetzen, in der Menschen da ist. Der Pfarrer dabei als Welt zu wirken, im Geist Jesu zu handeln. Vorbild? Der Pfarrer zwischen Anspruch Wir als Pfarrerinnen und Pfarrer sind und Wirklichkeit, zwischen Berufung und nicht nur Gebende, sondern auch Emp- Beruf, zwischen Prophet und Bürokrat. fangende, nicht nur Seelsorger, sondern selbst Menschen mit Seele, die selbst auf Da sagte Jesus noch einmal zu ihnen: Seelsorge angewiesen sind, nicht nur Seg- Friede sei mit euch! Wie mich der Va- nende, sondern auch Gesegnete, also ganz ter gesandt hat, so sende ich euch. normale und sterbliche Menschen, Kinder Und nachdem er dies gesagt hatte, Gottes mit einem besonderen, wunderba- hauchte er sie an, und er sagt zu ih- ren Auftrag ausgestattet. ■ nen: Heiligen Geist sollt ihr empfan- gen! Joh. 20,21 f. Die Zitate stammen aus: Wolfgang Olschbaur und Karl Schwarz (Hg.), Evangelisch in Vorarlberg, Verlag der Evangeli- schen Pfarrgemeinde A. u. H. B. in Bregenz, 1987. 130 Amt und Gemeinde
P FA R R E R i N N E N B I L D „Gott wolle geben, dass er in dem sauren Salat … doch auch einige Süßigkeiten verspüren möge.“ Grußwort aus der Ökumene zur österreichischen PfarrerInnentagung in Bregenz. Von Edwin Matt Liebe Mitchristinnen und liebe Mitchristen! Sehr geehrte Pfarrerinnen und Pfarrer! Ohne Sie vereinnahmen zu wollen: sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Jene, die zum ersten Mal hier sind, ha- Ich freue mich sehr, dass ich Ihnen einen ben vielleicht schon die sprachlichen Willkommensgruß überbringen darf.1 Unterschiede in der Bezeichnung un- Einmal aus dem Seelsorgeraum der seres Bundeslandes gehört, dass Sie in Katholischen Kirche in Bregenz: Vor-adel-berg, in VOR-adelberg oder in Vor-ARL-berg angekommen sind. Keine 1 Grußwort von Mag. Edwin Matt, römisch-katholi- scher Pfarrer in Bregenz; Ökumenebeauftragter im Sorge – Sie sind am richtigen Ort – Bre- Seelsorgeraum Bregenz, gehalten am 31. August 2015 auf der Terrasse des See-Resaurants in Bregenz genz – Landeshauptstadt – aber nicht Sitz am Eröffnungsabend der gesamtösterreichischen unseres Bischofs. PfarrerInnentagung 2015. Amt und Gemeinde 131
Von Seiten unserer Diözese darf ich Ih- sondern auch die Gesellschaft kräftig er- nen einen herzlichen Gruß von unserem schütterte. Herrn Bischof Dr. Benno Elbs ausrichten und nicht zuletzt auch von mir. Die Namen der 4 Vorarlberger: Es freut mich, dass ich Sie willkom- • Johannes Döltsch aus Feldkirch – men heißen kann. sein Name erscheint 1520 gemeinsam mit Martin Luther auf der Bannandro- Denn, die Zeiten waren nicht immer so: hungsbulle von Papst Leo X. (Exsurge Gerade in Vorarlberg wurden die Domine – erhebe dich Herr). A-katholiken, wie die Evangelischen in • Bartholomäus Bernhardi aus Schlins der Amtssprache der Monarchie bezeich- – Luther und Bernhardi sind Schul- net wurden, zunächst einmal wirklich freunde. Sie kennen sich schon lange; nicht gerne gesehen. beide gehören dem Augustinerorden Die Neugläubigen standen unter Kont- an; Bernhardi verteidigt und unterstützt rolle, die Lutherischen wurden beaufsich- seinen Freund Luther im Zusammen- tigt undviel lieber sahen es die Verant- hang mit den Thesen und dann auch wortlichen der altgläubigen Kirche und im Ablassstreit als Rektor der Witten- der Politik, wenn sie gingen, als wenn berger Hochschule. sie kamen – am liebsten, wenn sie frei- • Johannes Bernhardi, Bruder des Bar- willig gingen, sonst wurde auch etwas tholomäus, war Professor für Physik nachgeholfen. und Metaphysik an der Universität Wittenberg und hat Luther ebenfalls Aber die Zeiten ändern sich – Gott sei unterstützt. es gedankt. • Jodok Mörlin, lateinisiert: Jodokus Sie wissen es wahrscheinlich viel ge- Maurus – war Professor der Meta- nauer und viel besser als ich: Vier Vorarl- physik und der Philosophie ebenfalls berger Theologen gehörten zum engsten in Wittenberg, er unterstützte die An- Kreis um Martin Luther dazu. Um die liegen Luthers. Zeit des Thesenanschlags waren allein aus Feldkirch und Umgebung innerhalb Bartholomäus Bernhardi ist noch in weniger Jahre annähernd 50 Studenten weiterer Hinsicht sehr interessant. Er ist nach Wittenberg gekommen. Feldkirch der erste Priester, der bereits 4 Jahre vor bildete Anfang des 16. Jahrhunderts ein Martin Luther, in den Ehestand eintrat Zentrum des Humanismus. und die Kembergerin Gertraude Pannier Die neue Lehre, die Freiheit, die sich heiratete. Aus dieser Ehe gehen sieben darin zeigte, die Offenheit im Denken und Kinder hervor. im Glauben – vieles wird mitgespielt ha- Luther gratuliert mit gewohnt kräftigen ben, dass die Gedanken der Reformation Worten – Gott wolle Bernardi leiten und so stark wirkten und nicht nur die Kirche, geben, dass er in dem sauren Salat, den 132 Amt und Gemeinde
er sich damit angerichtet habe, doch auch und die Herausforderungen, die Familie, einige Süßigkeiten verspüren möge. Aus die Beziehung, die Anforderungen der einem Vortrag des Historikers Dr. Alois Pfarrarbeit nicht nur irgendwie zu mana- Niederstätter, dem Leiter des Vorarlberger gen, sondern zu gestalten, durchaus groß Landesarchivs, habe ich entnommen, dass sind und es Zeit, gemeinsamen Austausch die Familie Bernhardi-Pannier damit zu und viel an gegenseitigem Verständnis den Begründern des evangelischen Pfarr- braucht. hauses geworden ist. Noch einmal will ich Martin Luther mit Sie werden sich jetzt in diesen Tagen – seinem Wunsch an das Brautpaar zitieren: unter anderem – auch mit dem Thema Im manchmal sauren Salat des Pfarr Pfarrhaus und dem Miteinander von Pfar- alltags mögen immer wieder Süßigkeiten rarbeit, Familie und gewünschter Freizeit zu verspüren sein – das wünsche ich I hnen und wie damit hilfreich und zufrieden- in Ihrer Arbeit und in Ihren Familien. stellend umgegangen wird, beschäftigen. Gleichzeitig ist es auch ein sehr öku- Von zwei Pfarrersfrauen: von Frau menischer Wunsch, der uns in unserem Sabine Neumann habe ich es in mei- Miteinander und in den vielfältigen An- ner Kaplanszeit in Dornbirn ein biss- liegen, die uns gemeinsam betreffen, stär- chen mitbekommen und von Frau ken kann. Sabine Gritzner-Stoffers bekomme ich es jetzt ein bisschen mit, dass die Aufgaben Herzlich willkommen in Bregenz. ■ Amt und Gemeinde 133
P FA R R E R i N N E N B I L D Identität und Führungsposition im Pfarrberuf – eine multikomplexe Herausforderung Pfarrerinnen und Pfarrer als Theologinnen und Theologen ver treten heute eine „Profession in der Identitätsfindungs-Krise“. Die erlernten Professionalitäten werden scheinbar im Berufsalltag nicht mehr eingefordert. Wie kommt es zur Deprofessionalisierung des Pfarrberufes und welche Folgen ergeben sich daraus? Von Frank Weyen 1. Vorbemerkungen schen und administrativen Aufgaben als auch im Konzert aller übrigen hauptamt- Ich werde mich in meinem Vortrag mit lich und ehrenamtlich Mitarbeitenden, den Identitätsmerkmalen des Pfarrberu- seine Stellung zu bemessen. Dies jedoch fes unter dem Gesichtspunkt des theo- auch unter dem Gesichtspunkt der indi- logischen Schlüsselberufes der Kirche viduellen Ausgestaltung des Berufsfeldes befassen. Ich sehe hierin die eigentliche Pfarramt. Denn die Ausgestaltung des Herausforderung für die Kirche, diesem Pfarramtes ist von vielfältigen individuel- Schlüsselberuf, im Konzert der theologi- len Faktoren abhängig, die objektiv nicht 134 Amt und Gemeinde
steuerbar sind oder auch in der Person des der Kirchengemeinden wahr, sondern ha- Amtsträgers bzw. der Amtsträgerin grün- ben Siegel- und Beurkundungsrecht sowie den können. Ich werde daher zunächst Sitz und Stimme im Presbyterium bzw. im Erhebungen zur Arbeitszufriedenheit von Kirchenvorstand, auf der Synode und sind Pfarrpersonen in Deutschland Ihnen heute in allen Gremien der Kirchengemeinde hier anbieten und dies in Relation zur Stel- geborene Mitglieder qua Amt. lung von Pfarrpersonen in der Schweiz Stärker als in den deutschen Landeskir- am Beispiel des Kantons Zürich setzen, in chen entspricht beispielsweise die durch dem ich selbst auch als Gemeindepfarrer die Zürcher Kirchenordnung exempla- gearbeitet habe. risch bestimmte Rolle des Pfarrberufes dem, was seit Anbeginn für diesen cha- rakteristisch gewesen ist: Pfarrpersonen 2. Zum Verständnis sind hier mit der geistlichen Leitung der vom Pfarramt als Kirchgemeinde befasst, nicht aber primär theologischer Schlüssel- mit der organisatorisch-administrativen. beruf der Kirchen – Sie haben beispielsweise im Kanton Zü- theologisch reflektierte rich nur eine beratende Funktion für die Beobachtungen Kirchenpflege ohne Stimmrecht. Die Mit- glieder der behördlichen Kirchenpflege Das Bild vom Pfarramt in den evange- sind Angestellte der Kirchgemeinde und lischen Landeskirchen in Deutschland keine Ehrenamtler, wie beispielsweise ist an manchen Stellen von dem in der in Deutschland. Diese erhalten ein mo- Schweiz unterschieden. Dazu gehört, dass natliches Salär, das je nach Position im Pfarrpersonen in Deutschland nicht zum Kirchenvorstand zwischen 500,– und angestellten Personal gehören, sondern 1.000,– CHF / Monat liegt. Beamte mit allen damit verbundenen Einmal abgesehen von diesen organisa- Rechten und Pflichten sind. Sie sind auf- torischen Fakten betont Christian Grethlein grund der Verbeamtung Teil der konsisto- aus Münster aus pastoraltheologischer Per- rialen Leitung der Kirche und meist auch spektive die biblisch-historischen Dimensi- Vorsitzende der Kirchenvorstände bzw. onen des Pfarrberufs vor dem Hintergrund der Presbyterien. Dies gilt unabhängig der reformatorischen Tradition als Bezug von der konfessionellen Ausprägung der auf das christliche Leben und die Bewah- jeweiligen Kirchengemeinden oder dem rung der biblischen Lehren. So eignen dem Bekenntnis der Landeskirche, in der eine Pfarrberuf, ganz im Sinne Luthers, vor al- Pfarrperson den Dienst versieht. Pfarr lem die „oratio“, die „meditatio“ und die personen unterstehen direkt dem Konsis- „tentatio“. Er bestimmt das Pfarramt also torium im Rahmen eines Dienstherrenver- von seinen theologischen Gehalten her und hältnisses und nehmen beispielsweise für damit als rein geistliches Amt, für welches das Konsistorium nicht nur die Leitung das Theologiestudium sowie die kirchliche Amt und Gemeinde 135
Ausbildungsphase vorbereiten. Daher ist Pfarrberufes in den Vordergrund gerückt, der Pfarrberuf bei Grethlein der primäre unter Zurückdrängung seiner genuin bib- Ort für die Tradierung einer „Kommuni- lisch-theologischen Rollencharakteristika. kation des Evangeliums“. Dies habe sich „Theologie ist dabei nicht als eine metho- in der Kirchengeschichte in den geistlichen disch kontrollierte und kritisch distanzierte Aufgaben des Parochus als Vorsteher der Reflexion verbindlicher Traditionen ge- Parochie, in den Hausandachten im Pfarr- fragt. Vielmehr geht es um die kommuni- haus sowie in den gottesdienstlichen und kative Vermittlung einer auf die konkrete seelsorglichen Funktionen niedergeschla- Lebensgestaltung bezogenen christlichen gen. Erst in der Moderne wandelte sich die Perspektive, die sich im Alltag unter den Berufung zum Pfarrberuf hin zu einem Bedingungen des Pluralismus bewähren mit vielfältigen weltlichen Aufgaben ver- lässt.“2, so Grethlein. sehenen Beruf und einer daraus folgenden Historisch betrachtet ist der evangeli- steigenden beruflichen Komplexität. Kir- sche Pfarrberuf, ausgehend von CA VII, che musste seit dem Ende 19. Jahrhundert auf öffentliche Wortverkündigung und unter dem Eindruck einer zunehmenden Sakramentsverwaltung bezogen. Darin Urbanisierung verwaltet und auf die An- sind weitere Aufgaben nicht vorgesehen. fordernisse der jeweiligen Gegenwart an- Dies definiert zugleich das Proprium eines gepasst werden. geistlichen und theologisch kompeten- Im späten 19. Jahrhundert also wurde zu ten Berufsstandes. Pfarrer erfüllen damit den herkömmlichen Aufgaben des Predi- die Position eines „leitenden Geistlichen“ gers, Seelsorgers und Gemeindepädagogen (Kirche der Freiheit 2006), was seit 1939 nun, im Zuge der Ideen eines Vereinskir- in Bayern erstmals auch in ein Pfarrerge- chenwesens durch Emil Sulze, auch die setz gefasst worden war. Der theologische Funktion des verwaltenden Vereinsvorsit- Beruf des „leitenden Geistlichen“ wird zenden an die Rolle des Pfarrers herange- beispielsweise von Grethlein als „Schlüs- tragen. Grethlein nennt diesen „Rollenspa- selberuf“ für die Kirche bezeichnet, der gat“ das Dilemma des Pfarrberufes.1 Vor aber primär nicht Verwaltungsaufgaben, allem seit den kirchlichen Rückbaumaß- sondern geistliche Aufgaben umfasse. Erst nahmen, die in den 1990er Jahren ihren die Grundsätze für die Ausbildung von Anfang genommen haben, und unter dem Theologinnen und Theologinnen, die die Eindruck sinkender Bevölkerungs- und EKD erstmals 1988, und 2014 in neuer Finanzentwicklungen in Zentraleuropa ste- Form, aufgelegt hat, definieren Anforde- hen, wurde immer stärker der verwaltende rungen an das Pfarramt, die sich nicht nur Vereinsvorsitzende als neuer Aspekt des vom biblischen Befund, aus den Bekennt- nissen der Alten Kirche und nicht nur aus 1 Vgl. Grethlein, Christian (2009): Pfarrer – ein theo- logischer Beruf! Frankfurt, M.: Hansisches Dr.- und 2 Grethlein, a. a. O., S. 71; vgl. zum Ganzen: Ders., Verl.-Haus (Edition Chrismon), S. 65. a. a. O., S. 1–71. 136 Amt und Gemeinde
den Auffassungen der Reformation herlei- 1. Die Klage über die Mehrbelastung ten lassen, sondern zusätzlich zu diesen durch Verwaltungstätigkeiten kann Grundlagen auch eine gabenorientierte als Symptom für eine tiefergehende Motivations- und Qualifikationskompe- Problematik identifiziert werden.4 tenz sowie eine qualifizierte Führungs- 2. Die Mehrbelastung durch Verwaltungs- kompetenz von Pfarrpersonen benennen. aufgaben im Pfarramt wird von der Dies war bis dahin neu und spitzt den bis- Mehrzahl der Pfarrpersonen zu Un- her ausschließlich theologischen Beruf gunsten von seelsorglichen Aufgaben ganz allgemein zu einem modernen Ver- problematisiert. waltungsberuf zu, was zugleich die Gefahr 3. Pfarrpersonen beklagen hinzutretende in sich birgt, dass der bei Isolde Karle auf Anforderungen an ihren Beruf, da Ver- der Prämisse des Vertrauens herausgear- waltungstätigkeiten i. d. R. nicht zum beitete Professionenbegriff, ausgehöhlt Lehrportfolio der Ausbildung in der wird und der Pfarrberuf zu einem ganz zweiten (kirchlichen) Ausbildungs- normalen Verwaltungsberuf wie jeder an- phase gehören.5 dere in der öffentlichen Verwaltung gerät.3 Aufgrund dieses Befundes konzentriere ich mich nun auf tiefergehende Problem- 3 Zum Pfarramt anzeigen, die sich in der Beklagung ei- im Zeichen seiner ner Mehrbelastung durch Verwaltungs- Multikomplexität aufgaben Ausdruck verschaffen, aber eigentlich nur einen Hinweis auf eine Ich will im Folgenden unseren gemein- Symptomatik im Pfarrberuf geben, die samen Blick detaillierter auf die Klagen mit dem Schlagwort der „Komplexitäts- von Pfarrpersonen hinsichtlich ihrer Ar- fülle“ im pfarramtlichen Alltagshandeln beitsmehrbelastung durch Verwaltungstä- und der Anforderung einer erhöhten Fle- tigkeiten lenken. Diese Aufgaben gehören xibilität an die Persönlichkeit von Pfarr- eigentlich nicht zum genuin theologischen personen gekennzeichnet werden kann. Proprium des Rollenverständnisses von Pfarrpersonen müssen für ihren Beruf Pfarrpersonen, wenn man unseren Beruf ausgesprochen flexibel und anpassungs- von CA VII her verstehen möchte. Es er- fähig sein. Dies besonders auch unter geben sich nun mehrere Herleitungen: dem Gesichtspunkt, dass der Pfarrbe- ruf aufgrund seiner grundlegenden Ge- 3 Vgl. dazu Karle, Isolde (2001): Pfarrberuf als staltungsfreiheit elementare Freiräume Profession. Eine Berufstheorie im Kontext der mo- dernen Gesellschaft. Gütersloh: Kaiser, Gütersloher bietet, den Arbeitsalltag weitestgehend Verl.-Haus (Praktische Theologie und Kultur, 3); Beintker, Michael (2014): Theologische Ausbildung in der EKD. Dokumente und Texte aus der Arbeit der 4 Analog der Klagen über die Mühen und die Zukunft Gemischten Kommission/Fachkommission I zur Re- des Pfarrhauses in den 1990er Jahren. form des Theologiestudiums (Pfarramt und Diplom) 5 Zum Vergleich in Deutschland ist das Vikariat auf bis 2005–2013. Leipzig: Evang. Verl.-Anst. zu 30 Monate ausgelegt. Amt und Gemeinde 137
ohne Fremdsteuerung von außen gestal- sich in ihrem Arbeitsalltag vorwiegend ten und routiniert bearbeiten zu können. mit theologisch-kirchlichen Kerntätig- Dies erfordert ein hohes Maß an eigener keiten zu befassen. 42,7 % kennen zudem Organisationskunst und Struktur für das den Unterschied von Kern- und Zusatz- eigene Leben. Die Gemeindearbeit selbst tätigkeiten. gibt dabei nur wenige Strukturvorgaben. Gottesdienst (75,5 %) und Seelsorge Sie ist, wenn man so will, vorwiegend (50,9 %) führen die Liste der herausra- spontan strukturiert. genden Aufgaben im Pfarramt an. Doch Die Untersuchungen von Karl-Wil- auf dem dritten Platz folgt bereits die Ver- helm Dahm und Dieter Becker aus dem waltungstätigkeit für 44,9 % der befrag- Jahre 2009 sowie die Befragungen von ten Pfarrpersonen. Auf dem vierten Platz Pfarrerinnen und Pfarrern in der Evange- folgt der Kirchliche Unterricht, die Kasu- lischen Kirche von Kurhessen und Wal- alien liegen bei 40 %. Daraus ergeben sich deck sowie im Kirchenkreis Barmen, die nach Becker / Dahm / Erichsen-Wendt als Michael Klessmann und Jan Hermelink herausragendes Ranking für das Pfarramt: für ihre Begründungen zur Arbeitszufrie- 1. Pfarramtliche Tätigkeiten mit 56,6 %, denheit im Pfarrberuf herangezogen ha- 2. Leitungsaufgaben (Verwaltung) mit ben, zeigen ein eindeutiges Bild, das auf 14,9 %, viele Pfarramtsinhaberinnen und Pfarr- 3. theologisch geprägte Zielgruppenarbeit amtsinhaber im deutschsprachigen Raum mit 8,6 % und übertragen werden könnte. Dies will im 4. das sozial-diakonische Engagement Folgenden nun kurz darstellen. mit 6,8 %. 3.1 Zahlen und Fakten „Pfarrerinnen und Pfarrer sind gemessen an den zeitintensivsten Tätigkeiten ihrer Dieter Becker / K-W. Dahm u. a. belegen beruflichen Tätigkeit in überwiegendem in ihrer Studie, dass Pfarrpersonen durch- Maße als Theologinnen und Theologen schnittlich zwischen fünf und zehn Stun- gefordert. Das bedingt eine relativ hohe den pro Arbeitswoche Mehrarbeit leis- Zufriedenheit mit dem eigenen Beruf.“7, ten. Die Mehrzahl der Befragten (55,1 %) so die Autoren. wünschen klare festgelegte Arbeitszeitre- In der Hannoverschen Landeskir- gelungen sowie rund 25 % einen Mehrar- che werden die Arbeitszeiten von Pfarr- beitsausgleich6. 31,1 % gaben dabei an, personen mit durchschnittlich 55,7 Wochenarbeitsstunden angegeben. Im 6 Hier gibt es aber im Pfarrdienstrecht der meis- ten Landeskirchen in Deutschland die Regelung 7 Becker, Dieter; Dahm, Karl-Wilhelm; Wendt, Frie- mehrmals jährlich sich für zusätzliche 48 Stunden derike (2009): Arbeitszeiten im heutigen Pfarrberuf. vom Dienstort entfernen zu dürfen und über die im Emiprische Ergebnisse und Analysen zur Gestaltung Durchschnitt 38–42 Tage Erholungsurlaub jährlich pastoraler Arbeit. Frankfurt: AIM-Verl.-Haus weitere 14-Tage Sonderurlaub beantragen zu können, (Empirie und kirchliche Praxis, Bd. 5), S. 109; zum der meist auch gewährt wird. Ganzen vgl.: Dies., a. a. O., S. 103–109. 138 Amt und Gemeinde
Kirchenkreis Barmen (EKiR) arbeiten sonen, also dem Kirchgebäude und Got- Pfarrpersonen durchschnittlich 66,03 tesdienstraum. Häufig jedoch überlassen Stunden pro Woche bei 3.000 Seelen. Die sie die Ausstattung des Pfarrbüros mit Bayerische Landeskirche geht generell von MS-Office-Standards der Selbstversor- 54 Wochenstunden aus, bei 42 Stunden gung der Pfarrpersonen, so dass diese die Wochenarbeitszeit für Beamte in Deutsch- heute elementaren Arbeitsmaterialien wie land. In der Schweiz werden regulär Schreibtisch, Büroschränke und PC der 52 Stunden gearbeitet bei 1.000 Seelen pro Organisationsvollmacht der Geistlichen Pfarrperson. Das Salär ist entsprechend überlassen und diese Angelegenheiten im auf diese Mehrarbeit angepasst bei max. Sinne von „Adiaphora“ als marginal an- sechs Wochen kirchlichen Jahresurlaub sehen. Auch wird die mangelhafte Aus- (vier gesetzliche Wochen zzgl. zwei Wo- stattung der Kirchengemeinde mit einem chen als kirchliche Zulage). „Erstaunli- ausreichenden Sekretariatsdienst oftmals cherweise wird kaum diskutiert, ob es als Beitrag zur Arbeitsunzufriedenheit von ethisch überhaupt zu verantworten und Pfarrpersonen beschrieben. Mithilfe der mit der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers Verbesserung der administrativen Arbeits- zu vereinbaren ist, dass Kirchenleitun- situation erwartet die Mehrheit der befrag- gen von vorherein und selbstverständlich ten Personen eine Entastung in Fragen der von einem Stundensoll von beispielweise Verwaltungsarbeit. 54 Stunden ausgehen“8, fragt Michael Als ein sich für das Pfarramt ergeben- Klessmann. der Mangel werden bei 88,4 % der Befrag- Becker / Dahm / Erichsen-Wendt konn- ten Reflexionszeiten genannt, gefolgt von ten herausarbeiten, dass sich die Problem- der Verringerung von Arbeitszeiten für lage des Pfarrberufes noch an anderen be- Verwaltungstätigkeiten (77,8 %), gleich- rufsbedingten Symptomen erkennen lässt. auf mit dem Wunsch nach einem berufs- Die Unzufriedenheit mit der Mehrbelas- bezogenen Coaching durch Dritte, was tung durch Multikomplexität im Pfarr- sich zusammen mit der ersten Position beruf lässt sich empirisch auch an der als deutlicher Wunsch nach Supervision, Forderung nach einer ausreichenden Aus- Coaching und reflektierenden Studienzei- stattung der pfarramtlichen Arbeitsplätze ten im Pfarramt belegen lässt. mit Arbeitsmitteln ablesen. Dies scheint Als Haupttätigkeiten werden jedoch von den Presbyterien und Kirchenvorstän- immer noch den nicht immer optimal gelöst zu werden. 1. mit 88,2 % der Gottesdienst, Zwar kümmern sich nicht-theologische 2. mit 57,9 % die Kasualien, Kirchenleitende um die gute Ausstattung 3. mit 55,2 % Verwaltungstätigkeiten, des primären Arbeitsplatzes von Pfarrper- 4. mit 51,2 % die Seelsorge und 5. mit 48,3 % der Kirchliche Unterricht 8 Klessmann, Pfarramt, S. 97; – Vgl. zum Ganzen: bezeichnet. Ders., a. a. O., S. 95–97. Amt und Gemeinde 139
Als Kerntätigkeiten werden von den Vorschrift kann vom Arbeitgeber Kirche befragten Pfarrpersonen alle diejenigen dabei hinsichtlich der Arbeitsauffassung Tätigkeiten bezeichnet, die Menschen ihres Schlüsselpersonals als Drohung und zugewandt geschehen, und den Geistli- Warnsignal gedeutet werden. Zugleich chen für den Pfarrberuf erfordern. „Was wirke sich der Faktor eines hohen Ver- dagegen dazu dient, den institutionellen waltungsaufwandes als Hemmnis für die und organisatorischen Rahmen der Tä- weitere Durchführung von Reformen in- tigkeiten zu sichern, wird nicht zu den nerhalb der Kirche aus. Daher halten es pfarramtlichen Aufgaben gerechnet. […] Dreiviertel der befragten Pfarrpersonen Pfarrerinnen und Pfarrer verstehen sich für unabdingbar, die Verwaltungsarbeit in erster Linie als theologische und pasto- im Pfarramt auf ein Minimum zu redu- rale Profis und weniger als Fachleute für zieren. Geschieht dies nicht, so Becker / Gemeinde-Management.“9 Daraus ergibt Dahm / Erichsen-Wendt, sinkt der Faktor sich für Becker / Dahm / Erichsen-Wendt Zufriedenheit im Pfarramt auf 22 % ab. die Folge, dass die Arbeitszufriedenheit „Maßnahmen zur Verminderung von Ver- bei Pfarrpersonen, die sich vorwiegend waltung können also die Zufriedenheit mit mit ausbildungsgemäßen Arbeitsanfor- dem Pfarrberuf steigern. […] derungen konfrontiert sehen, höher ist, Daher sollte bei allen Reformen und als bei denjenigen, die sich mit Verwal- Strukturveränderungen geprüft werden, tungsaufgaben abgeben müssen. Daraus wie sie sich auf den Verwaltungsanteil folge, dass Pfarrpersonen, die sich stärker in der pfarramtlichen Tätigkeit auswir- als andere mit verwaltungstechnischen ken. Will man Verzögerungen und Wider- Organisationsaufgaben befassen, sich ih- stände durch Pfarrinnen und Pfarrer ver- rem Arbeitsgeber evangelische Kirche, meiden, wird man darauf achten müssen, vertreten durch Landeskirche oder durch dass die Neuerungen nicht mit vermehr- die kreiskirchliche Verwaltung, innerlich tem Verwaltungsaufwand einhergehen.“10 weniger verbunden fühlen als diejenigen, Nach Becker / Dahm / Erichsen-Wendt die diese Aufgaben nicht erfüllen müssen. wird unter Pfarrpersonen die Verwal- Das bedeutet, dass Pfarrpersonen weniger tungstätigkeit nicht als pastorales Kern- stark aus ihrem Beruf innerlich wie äu- geschäft sondern als additiv zum her- ßerlich aus- oder gar abwandern, je mehr kömmlichen Arbeitsaufwand und damit diese das Gefühl haben, dass ihr Aus- als professionsfremd verstanden, woraus bildungsziel erreicht worden ist und der sich auch die genannten z. T. überhöhten Pfarrberuf vom inneren Gehalt der Pro- Arbeitszeitangaben erklären lassen wür- fession her ausgefüllt werden kann sowie den, wenn zu den genuin theologisch- umgekehrt. Die Folge eines Dienstes nach pfarramtlichen Aufgaben der Interaktion die zusätzliche Verwaltungsarbeit zu einer 9 Becker / Dahm / Erichsen-Wendt, Arbeitszeiten, S. 119; zum Ganzen vgl.: Dies., a. a. O., S. 110–119. 10 Becker / Dahm / Erichsen-Wendt, a. a. O., S. 126–127. 140 Amt und Gemeinde
Komplexitätssteigerung in einem ohne- Managements (Manfred Perels), oder gar hin schon multikomplexen Interaktions- der Intendanz (Thies Gundlach / EKD) geschehen führt.11 stellt, entziehe diesem als Profession sei- nen traditionell theologischen Boden, so dass damit auch die Bedeutung des Pfarr- 4. Pfarrbilder als berufes für die Kirche selbst in Frage ge- Identitäten stellt werden dürfte. Zugleich verliere der Beruf so seine tentativ-hermeneutische Die EKD hat in Ihrer EKD-Impulsschrift Deutungskraft für die Gesellschaft, da mit „Kirche der Freiheit“ (2006) den Pfarrbe- einer De-Professionalisierung dieser in ruf mit dem eines „leitenden Geistlichen“ die Reihe anderer Berufe gerate und somit charakterisiert. Diese Bezeichnung biete seine besondere Schlüsselstellung für die nun nach Grethlein die Gefahr, die bishe- gesellschaftliche Legitimation der Kirche rige Stellung von Pfarrpersonen in Kirche einbüße. Das bedeute in der Konsequenz, und Gesellschaft zu schwächen und damit dass vielmehr das theologische Proprium nach Isolde Karle zu de-professionalisie- des Pfarrberufes wieder stärker in der ren bzw. wiederum nach Grethlein diesen Vordergrund treten müsse, unter Zurück- als einen rein erwachsenenbildnerischen drängung aller am Zeitgeist der Postmo- Beruf zu verstehen. Vor allem aber die derne orientierten Rollenzuschreibungen sich aus CA VII herleitende Öffentlichkeit und Pfarrbilder. Letztere Zuschreibungen der Wortverkündigung rechtfertige die führten dazu, dass letztlich die Theologie Öffentlichkeit des theologischen Pfarr- und die mit CA VII benannten pfarramtli- berufes und damit das besondere nicht chen Hauptaufgabenbereiche nur noch in durch Verwaltungsaufgaben zu prägende homöopathischen Dosen durch die Kirche Proprium des Berufes. Da, nach Greth- in die Gesellschaft eingebracht wurden, lein, der Pfarrberuf ein theologischer ist, was so nicht bleiben könne. Dieses habe bedürfe dieser auch der weiteren theolo- bisher einer Aushöhlung des Pfarrberufes gischen Bildung, um, ebenso wie Ärzte Vorschub geleistet und setze die gesell- und Juristen, auf dem neuesten Stand der schaftliche Bedeutung der Kirche selbst wissenschaftlichen Forschung zu sein und aufs Spiel. Denn der Pfarrberuf ist und eine fundierte Auskunft über die wesent- bleibt nach Grethlein das Proprium der lichen theologisch reflektierten Gegen- Kirche und damit ihr wesentlicher Schlüs- wartsfragen geben zu können. Ein Bild selberuf.12 Auch wenn dieser damit als vom Pfarrberuf, der das Pfarramt aus- inhaltliche Kompetenz in Widerstreit zur schließlich unter dem Gesichtspunkt des formalen Kompetenz der ehrenamtliche Kirchenvorstände als Leitungsgremium der Kirchengemeinde gerate. 11 Vgl. Becker / Dahm / Erichsen-Wendt, a. a. O., S. 120–148; zum Ganzen vgl. auch: Klessmann, Pfarramt, S. 92. 12 Zum Ganzen vgl.: Grethlein, Pfarrer. Amt und Gemeinde 141
Ich will nun dem hier schon durch- die Herausbildung eines Konzeptes indi- scheinenden Begriff der „Identität“ nach- vidueller Lebensführung darin elementar gehen, um daraus Erhellendes für das geworden. Erik H. Erikson geht in seiner Selbstverständnis des theologischen Be- Beschreibung des Ethischen in der Psy- rufsstandes abzuleiten. choanalyse davon aus, dass Identität et- was mit der Fähigkeit des Einzelnen zu 4.1 Exkurs: Identität als tun hat, auf die Wechselfäll gesellschaft- Übereinstimmung mit dem lichen Umweltverhaltens zu reagieren und Selbstverständlichen seine Position darin zu definieren. Es han- delt sich also um die „Fähigkeit des Ichs, Die Identität („tauton“, „identas“ = Sel- angesichts des wechselndes Schicksals, bigkeit bzw. Selbst) eines Individuums Gleichheit und Kontinuität aufrechtzuer- kann als Übereinstimmung mit sich selbst halten.“ Dies führt zu dem, was Erikson oder mit anderen gedeutet werden. In der „Selbstidentität“ nennt. Ausbildung oder Gewinnung einer Per- Identität ist ferner nach Heinz Abels son-Identität setzt sich das Individuum sowohl als individuelle Identität ein le- mit gesellschaftlichen (Identitäts- bzw. benslang anzupassender Strukturbegriff Seins-)Möglichkeiten auseinander und als auch als ein Funktionsbegriff zu ver- findet in der Abgrenzung zu alternati- stehen, in dem sich die Identität als Ori- ven Identitäten seine eigene Rolleniden- entierungsmuster für das Leben darstellt. tität. Diese wird nach G. H. Mead in in- Für Abels ergibt sich für den Einzelnen teraktiver Auseinandersetzung mit der die Aufgabe einer kontinuierlichen Pas- Sozialität durch Abgrenzung im Sinne sungsarbeit im Identitätsfindungsprozess, gesellschaftlicher Interaktionsmuster ge- was er wiederum mit Heiner Keupp als wonnen. Mead bestimmt das „self“ aus „bewegliches Denken“ charakterisiert. der Erwartungshaltung der Umwelt mit Daraus ergeben sich Bilder, die Indivi- dem „me“ als Ausdruck dessen, wie der duen aus sich selbst heraussetzen können, Einzelne darauf reagieren oder nicht re- um diesen nachzustreben und so eine ei- agieren will, um so seine eigene Identität gene Identität benennen oder beschreiben auszubilden (Individualität und Sponta- zu können. neität). Daraus ergibt sich für den Pfarrberuf, Die Frage nach der Identität ist eine dass die Suche nach der Berufsidentität populäre Ausgangsfrage der Postmoderne auch als eine Fluchtreaktion innerhalb und streng an die Auflösung von traditi- einer unklaren Existenz und Identität ge- onellen Institutionen der Moderne ge- deutet werden kann. Es ergeben sich dabei koppelt (Parteien, Gewerkschaften, Volk, adaptive Selbstbilder von auf Identitätssu- Kirche, staatliche Behörden- und Amts- hierarchie, Institutionen). Die Diskrepanz von Umwelt- und Selbsterfahrung ist für 142 Amt und Gemeinde
che befindlichen Pfarrpersonen13, die sich chen Behörden sowie die eigene land- selbst heute weniger noch traditionell als wirtschaftliche Selbstversorgung ihrer Hirte, Lehrer, Diener oder Prophet sehen. Familie zu übernehmen hatten und seel- Vielmehr werden an moderne Berufsbil- sorgliche Aufgaben eher an Kasualien der orientierte Funktionszuschreibungen ausgetragen wurden, scheint der Pfarr- implementiert: So der Gemeindereformer beruf heute, aufgrund seiner grundle- und vereinsvorsitzende Hüter eines Pfarr- genden Gesellschaftsbezogenheit, durch bezirkes (E. Sulze), die Persönlichkeit (M. vielfältige komplexe Anforderungen ge- Schian), der Zeuge (K. Barth), der Kom- kennzeichnet zu sein, vor allem unter dem munikator (E. Lange), der Helfer (K-W. Gesichtspunkt einer öffentlichen Theolo- Dahm), der Geistliche (M. Josuttis), der gie und öffentlichen Kirche. Diese Kom- Religionshermeneut (W. Gräb), der Theo- plexitätssteigerung geht mit einer Irri- loge (Grethlein / Grözinger), der Professi- tation im Selbstverständnis der eigenen onelle (I. Karle), der Schwellenkundige pastoralen Identität einher. „Die Pfarr- (U. Wagner-Rau), der Kompetenzenträ- person agiert als Generalist mit struktu- ger (EKiR, EKKW, EKBO), der Manager rell- und fachlich-leitender Funktion. Sie (M. Perels), der Intendant (T. Gundlach), sind Manager/in und persönliches Vorbild der Künstler, Spiritual oder Schamane etc. in religiösen und moralischen Fragen. Es da die eigentliche Professionskompetenz besteht die Gefahr, dass aus solchen Dis- binnenkirchlich nicht mehr erwünscht zu krepanzen eine „gestörte Rollenidentität“ sein scheint. erwächst.“14 und genau diese gestörte Rol- lenidentität scheint das Grundproblem des 4.2 Multikomplexe Anforde- Pfarramtes in der Dauerspannung zwi- rungen an das Pfarramt schen inhaltlicher und formaler Kompe- in der Generalistenrolle tenz zu sein, im Miteinander mit ehren- amtlich Leitenden zu sein. Es muss hier jedoch auch bedacht werden, Michael Klessmann beschreibt die zu- dass die immer noch geforderte Generalis- nehmende Arbeitsverdichtung, die 60 % tenrolle im Pfarramt zu einer multikom- der Pfarrpersonen beklagen, als einen plexen Steigerung der Aufgabenvielfalt weiteren Faktor, der sich zu den teils führt. Während vor 200 Jahren Pfarrer unübersichtlich vielfältigen pastoralen neben ihren pastoralen Kernaufgaben Aufgaben additiv hinzugesellt (50,8 %). noch standesamtliche Verwaltungsauf- Dies sei verbunden mit dem finanziel- gaben „semi-subsidiär“ für die staatli- len Schrumpfungsprozess, den 48,3 % als problematisch empfinden sowie der 13 Als historische Metaphern für den Pfarrberuf galten: mangelhaften Planbarkeit des Pfarrallta- Hirte (Pastor), Spiritual, Prophet, Hebamme, Diener, Helfer, Freund, Weiser, vgl. Klessmann, Michael ges beispielsweise durch unplanmäßige (2012): Das Pfarramt. Einführung in Grundfragen der Pastoraltheologie. Neukirchen-Vluyn: Neukir- chener Theologie, S. 212–214. 14 Becker bei Klessmann, Pfarramt, S. 95, 126–136. Amt und Gemeinde 143
Bestattungen (36,3 %). Ferner werden und dieses Amt auch gestärkt haben, nun von den befragten Pfarrpersonen Verwal- im Diskurs des Lebens täglich neu aus- tungstätigkeiten mit 34,4 % als störend handeln und stehen damit unter ständi- empfunden sowie der Verlust an gesell- ger Beobachtung von außerhalb wie von schaftlicher Bedeutung der Kirche und der innerhalb der Kirche. Die Ordinations- damit verbundenen Kränkung der Profes- vorhalte bestärken diese Tendenz heute sion (26,8 %) innerhalb einer postmoder- noch zusätzlich, wenngleich diese in ei- nen Optionsgesellschaft.15 Das Pfarramt ner anderen gesellschaftlichen Stellung zeichne sich daher nach Klessmann durch von Pfarrpersonen seinerzeit festgeschrie- Überkomplexität aus, so dass hohe Anfor- ben worden waren und so auch gemeint derungen an die Amtsinhabenden sowohl sind.17 „Aber es bedeutet auch eine oft aus der Gemeinde, von der Mittelebene zu schwere Last. Sie müssen sich ständig her als auch aus den Landeskirchenämtern ausweisen und ständig beweisen, mehr gestellt werden.16 noch: sie sollen ihre Botschaft ausweisen. Richard Reuter bedeutet ebenso wie Das Evangelium wird für so gut gehalten, schon Martin Schian in den 1920er Jah- wie die Pfarrerinnen oder der Pfarrer ist, ren in diesem Zusammenhang, dass dem die es predigen. Das aber ist zu viel für Pfarrberuf zwar ein hohes Sozialprestige die Schulter eines Menschen.“18, so Ful- zukomme, der Beruf jedoch in einem Di- bert Steffenski. lemma der Postmoderne stecke, das auch Dabei werde, wie bei Grethlein bereits andere Ämter treffe: In der Postmoderne gesehen, die theologische Schlüsselkom- trage gegenwärtig nicht mehr das Amt petenz von Pfarrpersonen meist durch die Person, so dass diese meist unum- die Mehrheit der Nichttheologinnen und stritten dieses ausfüllen könne, sondern -theologen als theologisch unkundige Eh- es müsse immer stärker die Person das renamtliche in den Kirchengemeinden Amt tragen und sich dessen als würdig und Landeskirchenämtern ausgeblendet erweisen, was zugleich den öffentlichen und Arbeitsanforderungen an das Pfarr- Druck auf die Person des Amtsinhabers amt herangetragen, die dem inneren Kern erhöhe. Die Pfarrpersonen müssen die der Profession nicht mehr entsprechen. Symbolisierungsleistungen, die mit dem Die Überkomplexität nach Klessmann Amt bis dato verbunden gewesen waren, entsteht dann, wenn eine Pfarrperson dem theologischen Alleinstellungsmerk- mal des Pfarrberufes entsprechen möchte, 15 Vgl. hierzu Krech/Höhmann 2005 bei Klessmann, a.a.O, S. 96. dies aber als nicht opportune Gepflogen- 16 Zur Multikomplexität der pfarramtlichen Identität siehe die Grafik bei Neuberger, Oswald (2002): Führen und führen lassen. Ansätze, Ergebnisse und Kritik der Führungsforschung ; mit zahlreichen 17 Vgl. Reuter, 2014, S. 14, zitiert in: Klessmann, Tabellen und Übersichten. 6., völlig neu bearb. und Pfarramt, S 116–117. erw. Aufl. Stuttgart: Lucius und Lucius (UTB für 18 Steffensky, 2004, S. 14 zitiert in: Klessmann, Pfarr- Wissenschaft, 2234), S. 320. amt, S. 117. 144 Amt und Gemeinde
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