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Archivnachrichten 63 / September 2021 Thema: Ängste – Umgang mit Furcht und Schrecken Landesarchiv Angst und Demokratie Entsetzte Bevölkerung Quellenbeilage Baden-Württemberg Die Angstgeschichte Erdbeben, Kometen Count von Zeppelin, der Bundesrepublik und Wunderzeichen King of the Earth
2 Archivnachrichten 63 / 2021 Archivnachrichten 63 / 2021 3 Editorial Editorial Editorial Auch wenn wir es oft nicht wahr haben wollen Ängste beeinflusst und geprägt. In diesen oder verdrängen, Furcht und Schrecken brachen Archivnachrichten möchten wir diesen kollek und brechen immer wieder in unseren Alltag tiven Ängsten nachgehen: Welche Ängste ein. Ursachen sind zum Beispiel Naturkatastro beschäftigten Menschen in früheren Zeiten, phen, Kriege, individuelle Lebensschicksale und wodurch wurden diese ausgelöst, wie ging man gefühlte oder erzeugte Bedrohungen. mit ihnen um und welche Lösungsstrategien Ein eindrucksvolles Beispiel für ein Geschäft gab es? Im Einführungsbeitrag Angst und Demo- mit der Angst ist das nebenstehende Plakat kratie werden Ängste als wichtiger Motor für aus dem Ersten Weltkrieg. Die anfänglich in die Entwicklung der bundesrepublikanischen Teilen der Gesellschaft verbreitete Euphorie Geschichte vorgestellt. In den weiteren Beiträ für den Waffengang war angesichts des Kriegs gen gehen die Autorinnen und Autoren eben geschehens einer großen Ernüchterung falls dem Umgang mit Furcht und Schrecken gewichen. Diejenigen, die von Anfang an dem in Politik und Gesellschaft nach. Und in der Krieg gegenüber kritisch eingestellt waren und Quellenbeilage wird am Beispiel der Zeppeline dies beispielsweise bei Antikriegsdemonstra die Angst vor technischen Entwicklungen und tionen zum Ausdruck gebracht hatten, sahen Fortschritt thematisiert. Ängste, so wird es in sich in ihren schlimmsten Befürchtungen diesen Archivnachrichten deutlich, gehören bestätigt. Mit einer klaren Erzählung versuchte zu unserem Leben dazu, aber Menschen und man durch Maueranschläge und andere Medien, Gesellschaften haben auch immer wieder Wege die Bevölkerung kriegswillig zu halten: Das gefunden, mit diesen Ängsten umzugehen oder friedliche Deutschland, auf dem nebenstehenden diese in positive Handlungen umzuwandeln. Plakat als weiße Taube symbolisch dargestellt, Neben dem Themenschwerpunkt Ängste – wird von einem bedrohlich dargestellten Umgang mit Furcht und Schrecken finden Sie in Raubvogel angegriffen. Für die offenkundig den Archivnachrichten wie gewohnt Artikel zu notwendige Verteidigung gegen einen solchen aktuellen Projekten und Ereignissen im Landes Feind sollten die Menschen motiviert werden, archiv, sowie zu neu erschlossenen oder digita Kriegsanleihen zur Finanzierung des Krieges zu lisierten Beständen und gesichertem Kulturgut. zeichnen (kaufen). Noch immer müssen wir Veranstaltungen Die Angst nicht nur vor Kriegen beeinflusst und Ausstellungen unter Vorbehalt planen, unser Handeln im Positiven wie im Negativen. aktuelle Hinweise und Änderungen finden Sie Ebenso verhält es sich mit vielen individuellen auf unserer Website. und gesellschaftlichen Ängsten. Dabei ist die Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lek Angst ein wichtiges Gefühl und zunächst ein türe der Archivnachrichten, bleiben Sie gesund natürlicher Schutzmechanismus. Angst kann und kommen Sie gut durch den Herbst. uns für gefährliche Situationen sensibilisieren und sie kann zu einem vorsichtigen und um Ihre Plakat »Zeichnet Kriegs sichtigen Handeln führen, sie kann uns aber anleihe«, Grafik: Karl Sigrist, auch zu unverhältnismäßigen und unangemes Stuttgart-Kaltental, zwischen 1914 und 1918. senen Reaktionen verleiten. Vorlage: LABW, HStAS J 151 Nicht zuletzt politisches Handeln und ge µDr. Verena Schweizer Nr. 2196 sellschaftliche Entwicklungen werden durch Redaktion Archivnachrichten
4 Archivnachrichten 63 / 2021 Archivnachrichten 63 / 2021 5 Inhalt Inhalt Inhalt Thema: Ängste – 20 »Der Erbfeind christlichen Namens« 32 »Dass die Grippe sich neuerdings im Reiche weit ausgebreitet hat…« Archiv aktuell Quellen griffbereit Archive geöffnet Umgang mit Furcht »Türkengefahr« und »Türken ekämpfung von epidemischen B und Schrecken furcht« in der Frühneuzeit Krankheiten im späten 19. 40 Wechsel an der Spitze des Hauptstaatsarchivs Stuttgart 46 Das Fotoarchiv der Staatlichen Majolika Manufaktur Karlsruhe 53 Wilhelm II. — König von Württemberg — Wolfgang Zimmermann und frühen 20. Jahrhundert Gemeinsame Ausstellung von Peter Rückert hat die Nachfolge Überblick über die Produktion 8 Angst und Demokratie — Corinna Knobloch StadtPalais und Hauptstaats von Nicole Bickhoff angetreten der Majolika von ihren Anfängen Die Angstgeschichte der bis in die 1970er Jahre archiv Stuttgart 22 Die Angst vor Scheintod und — Inka Friesen Bundesrepublik – Albrecht Ernst Lebendbestattung 34 Politik mit Angst, Angst – Simone Dahringer-Boy, Ulrike Vogl — Frank Biess Ein Scheinphänomen durch Politik 41 Was lange währt … 14 Angst vor dem Teufel? der Medizingeschichte Eine kleine Geschichte der Angst anhand ausgewählter Plakate Archivalienumzüge in 47 Gesellschaftsspiegel und Junges Archiv — Carl-Jochen Müller Asservatenkammer Coronazeiten Die Versuchung Christi aus — Felix Teuchert Unterlagen der Staatsanwalt 54 Was machte mein Urgroßvater – Sabine Schnell dem Ummendorfer Kopialbuch schaft Konstanz erschlossen in der Nazizeit? 24 »Lasset eure Mitbürger durch Jacob Murers – Annika Ludwig, Annette Riek den Trang der Zeitumständt 36 Vorsicht Schusswaffen! Eine Spurensuche in — Peter Rückert 42 Brudermord in Leonberg? nicht zu Grunde gehen« Der südbadische Grenzschutz den Spruchkammerakten Überraschende Einblicke in ein ie Hungerjahre 1816/17 in D im Zeichen des RAF-Terrors 48 Zeugnisse fürstlicher – Raphael Fröhlich strafrechtliches Ermittlungs 16 Gnadenerweise gegen Sigmaringen — Celina Reinke Sammelleidenschaft verfahren aus dem Jahre 1727 Gewissensnot — Sibylle Brühl Musikalienkataloge der Früh – Gabriele Löffler 55 Gruseln geht auch online Päpstliche Dispense aus klassik aus dem Staatsarchiv 38 »Gucken Sie, dass Sie Ihre Eine wahre Geistergeschichte dem Fürstlich Hohenzollernschen Sigmaringen sind digital verfügbar 25 »Die Widersetzlichkeit gegen Biografie anders schreiben.« für Schulklassen im Haus- und Domänenarchiv 43 Versteckte Promis – Birgit Meyenberg die Vaccination in Das »Stigma Heimkind« Staatsarchiv Ludwigsburg — Clemens Regenbogen Personenakten als mehreren Gemeinden betr.« — Corinna Keunecke – Jonathan Machoczek Fundgrube zur Optimierung 49 Lückenschluss Die Salpeterer als Impfgegner archivischer Normdaten 17 Der Teufel, das Dorf und im 19. Jahrhundert Zweitschriften der evangelischen das Mädchen — Annette Riek 39 »Wir haben Angst. Angst vor – Johannes Renz Kirchenbücher aus Württemberg Geschichte Die Angst vor Hexerei und Zauberei dem Atomkrieg…« und Hohenzollern digitalisiert Original in der Frühen Neuzeit am Beispiel Protestaktion gegen die 44 Neue Wege in der Pandemie – Franz-Josef Ziwes 26 Der »schwarze Strich« vor Stationierung von Atomspreng zweier überlieferter Fälle aus dem Das Bildungs- und Veranstal 56 Count von Zeppelin, der eigenen Haustür köpfen im Sommer 1982 Kulturgut gesichert Staatsarchiv Wertheim tungsangebot des Landesarchivs King of the Earth Seckenheims Protest gegen — Sabine Hennig — Anne Christina May nach dem Coronaausbruch die Streckenplanung der Die Entwicklung der Zeppelin- badischen Eisenbahn 1838 – Ulrich Schludi Luftschiffe am Bodensee 50 Heimkehr einer 18 Entsetzte Bevölkerung – und internationale »airship scare« — Martin Stingl Deutschordensrechnung ratlose Obrigkeit – Johannes Gießler 45 »Alma mater« – Quellen Ein Beitrag zum Kulturgutschutz Erdbeben, Kometen und aus den Universitätsarchiven – Maria Magdalena Rückert, Clemens Rehm 28 Verfolgungswahn und Paranoia Wunderzeichen im Herzogtum in Baden-Württemberg Württemberg während Krankhafte Angstzustände in LEO-BW präsentiert Archivalien Akten der Psychiatrie 51 Wenn Eitelfriedrich von des 17. Jahrhunderts aus acht baden-württembergi — Peter Müller Hohenzollern absplittert… — Albrecht Ernst schen Universitäten Konsolidierung eines – Johanna Hähner, Regina Keyler ungewöhnlichen Anniversars aus 30 »Auf Messers Schneide« dem Kloster Stetten im Gnadental Ein vermiedener Krieg zwischen – Birgit Meyenberg, Andrea Rendler Frankreich und Deutschland im Frühjahr 1887 — Thomas Fritz 52 Beethoven forever Einmalige Sammlung aus Bonn auf langlebigem Farbmikrofilm gesichert – Udo Herkert, Laslo Capo
Ängste Umgang mit Furcht und Schrecken Cover: »L’Entente cordiale 1915«, Ängste haben die unterschiedlichsten Auslöser Plakat 1915. Vorlage: LABW, HStAS J 151 Nr. 2225 und Ursachen. Nicht nur Maskierte ängstigen Sasbach: Kundgebung gegen Bleiwerk Marckolsheim uns, sondern auch vermeintlich unerklärliche Phänomene sowie unkalkulierbare und über und Atomkraftwerk Wyhl, 10. November 1974. Vorlage: LABW, StAF W 134 Nr. 099572a Aufnahme: Willy Pragher raschende Ereignisse wie Naturkatastrophen, Kriegsschäden in Freiburg im Breisgau, ca. 1946–1949. Krankheiten und Tod, aber auch nicht beein Vorlage: LABW, StAF T1 (Zugang 2005/0058) Nr. 9 Bild 37 flussbare Situationen und Entwicklungen wie Aufnahme: Sepp Allgeier Kriege, politische Umbrüche oder Fortschritt Edvard Munch (1863–1944), »Angst«, Öl auf Leinwand, 1894. Vorlage: wikimedia und Technisierung. Ängste können individuell Diese Seite: sein oder bei Gruppen und Gesellschaften kollektiv auftreten. Von Ängsten sowie dem Freiburg, Schauinsland, drei maskierte Kinder, 1936. Die Masken in der Fasnet sollen Umgang mit Furcht und Schrecken vom erschrecken, teilweise dienen sie auch zur Austreibung des Winters. Vorlage: LABW, StAF W 134 Nr. 008414 Mittelalter bis zur Gegenwart berichten die Autorinnen und Autoren anhand ausgewählter Aufnahme: Willy Pragher Beispiele aus dem deutschen Südwesten.
Archivnachrichten 63 / 2021 9 Ängste Angst und Demokratie Die Angstgeschichte der Bundesrepublik In den frühen 1950er Jahre löste das vermehrte µLiteraturhinweis Verschwinden von jungen Männern in der Bun- Frank Biess: Republik der Angst. desrepublik eine regelrechte Panik aus. Junge Eine andere Geschichte der Bun desrepublik. Reinbek 2019. Deutsche, so die in unzähligen Zeitungsberichte kolportierte These, würden von unlauteren Werbern für die französische Fremdenlegion gegen ihren Willen entführt und dann dazu gezwungen, für die französischen Kolonial- interessen in Indochina zu kämpfen. Mehrere Landesparlamente und der Bundestag debat- tierten das Problem; das Thema gefährdete die deutsch-französische Aussöhnung; die Bundes- regierung reaktivierte ein älteres Gesetz, dass die Werbung für die Fremdenlegion unter Strafe stellte. Allein, die Werber gab es nicht. Wie sich bis Mitte der 1950er Jahren herausstellte, hatten sich die meisten jungen Männer aus unterschiedlichen Gründen freiwillig gemel det. Viele wollten der Not oder der familiären Enge der Nachkriegszeit entkommen, andere gingen schlicht aus Abenteuerlust. Doch die in der vorherrschenden Geschichtsschreibung zur 3 Bundesrepublik kaum erwähnte Episode ver- weist auf verborgene Ängste, die die Zukunfts vorstellung der Deutschen nach 1945 ent- scheidend prägten. Diese Ängste wurden selten tümlichen Verschränkung der Erinnerung an direkt artikuliert, sie lassen sich jedoch auch eine katastrophale Vergangenheit mit der Anti- über die Metaphern und Vergleich erschließen, zipation einer gefahrenbesetzten Zukunft. Dies in der vermeintliche Bedrohungen wie die charakterisierte auch die Urangst der Deut- der Fremdenlegion beschrieben wurden. Da schen nach 1945: die Angst vor der Vergeltung. 1 Protestmarsch gegen war dann die Rede von einer Versklavung der In der unmittelbaren Nachkriegszeit führte das Häuserbeschlag Deutschen durch die Siegermächte, von einem oft uneingestandene Wissen um die Beteiligung nahmungen, Bad Nauheim, 9. September 1951. Ausgeliefertsein an die Besatzungsmächte. Die an den (oder mindestens die passive Hinnahme Vorlage: picture alliance / vermeintliche Werbung erschien oft in Analogie der) Nazi-Verbrechen zu panischen Ängsten, dpa, Nr. 28397476 zu homosexueller Verführung junger Männer, dass es die ehemaligen Nazi-Opfer den Deut- die doch im Zentrum des Wiederaufbaus stehen schen nun mit gleicher Münze heimzahlen wür- 2 Demonstration gegen die Notstandsgesetze vor sollten. Die Vorstellung der Werber als blutrüns- den. Gerüchte kursierten über Plünderungen dem Rathaus in Freiburg, tige Parasiten und feminisierte Verführer trugen seitens jüdischer Holocaust-Überlebender am 15. Mai 1968. Charakterzüge des klassischen aber nach 1945 Jahrestag der »Reichskristallnacht« im Novem- Vorlage: LABW, StAF W 134 Nr. 085255 Bild 1 / Willy tabuisierten Feinbildes: der Juden. Die Werber ber 1945; die Bevölkerung sah sich den gewalt- Pragher waren eine neue Bedrohung im alten Gewand. samen Racheakten ehemaliger »Fremdarbeiter« Die Geschichte der Bundesrepublik ist auch aus Osteuropa nahezu schutzlos ausgeliefert. 3 Plakat der Jusos, Französi die Geschichte ihrer Ängste. Und ähnlich wie Auch die Besatzungsmächte erschienen keines- sche Besatzungszone, 1952. Vorlage: LABW, StAF W 113 in dem obig zitierten Beispiel resultierten diese falls als Retter, sondern zunächst eher als eine Nr. 0201 deutschen Ängste vor allem aus einer eigen- weitere Quelle existentieller Bedrohung, die
10 Archivnachrichten 63 / 2021 Archivnachrichten 63 / 2021 11 Ängste Schwerpunkt sowohl die private (über Wohnungsbeschlag- die eigentliche Bedeutung von John F. Kennedys nahmung) wie auch die politische Existenz berühmten Satz vom Balkon des Schöneberger (über die Entnazifizierung) gefährdete. Viele Rathauses im Juni 1963: Ich bin ein Berliner. dieser Ängste verblieben im Bereich des Ima- Doch die Angstgeschichte der Bundesrepu- ginären, so gab es kaum tatsächliche jüdische blik endete nicht mit dem Beginn der Entspan- Vergeltungsakte. Doch sie prägten die subjek- nung während des Kalten Krieges. Vielmehr tive Wahrnehmung und Erfahrungswirklichkeit verschoben sich die Ängste zunehmend von der Deutschen nach 1945. äußeren auf innere Bedrohungen. Dies ging Dies war auch der Fall im Kalten Krieg. Hier einher mit einem Wandel in der Erinnerungs- verschränkte sich die Erinnerung an die eigene kultur, die nun auch die Rolle der Deutschen als zunehmend popularisierte Leidens- und Opfer- Täter in den Blick nahm, beispielsweise in den erfahrung im Bombenkrieg mit der Angst vor großen NS-Prozessen der 1960er Jahre wie dem einem noch zerstörerischen Konflikts an der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965). vordersten Front des Kalten Krieges. Interes- Die zunehmende Erinnerung an die Zerstörung santerweise gelang es der ganz auf Sicherheit der Weimarer Demokratie und den Aufstieg abzielenden Politik der Regierung Adenauer des Nationalsozialismus bewirkte auch eine kaum, diese Ängste wirksam einzudämmen. größere Sensibilität gegenüber den vermeint- Zu groß war das aus der NS-Zeit resultierende lichen Gefahren für die Gegenwart der bundes- 4 Wahlplakat CDU, 1949 Misstrauen gegenüber dem Schutzverspre- republikanischen Demokratie. In der Debatte Vorlage: LABW, StAF W chen des Staates. Die Politik der 1950er Jahren um die Notstandsgesetze der 1960er Jahre wich 110/2 Nr. 0144 zielte daher eher auf eine Art Angstbalance, beispielsweise die vorangegangene Sorge um 5 Menschenkette zwischen bei der die Angst vor dem Kommunismus und einen schwachen Staat, der nicht ausreichend Stuttgart und Neu-Ulm, den Russen die Angst vor einem neuen Krieg Schutz gegenüber äußeren Bedrohungen bieten 22. Oktober 1983. neutralisieren sollte. Wirklich sicherer fühlte konnte, der Angst vor einem zu starken, poten- Vorlage: picture-alliance/ dpa / Karin Hill, Nr. 13694531 sich die Westdeutschen jedoch erst infolge des tiell übergriffigen und autoritären Staat. Im Schutzversprechens der Amerikaner – dies war Gegensatz dazu weckte die Studentenbewegung auf konservativer Seite Ängste vor einem neuen Totalitarismus von links. Überhaupt war die politische Debatte in der Bundesrepublik stark geprägt von einer Dialektik der Angst, in der die eine Seite der jeweils anderen unterstellte, eine 4 andere Republik anzustreben. Ein grundsätzli- ches Vertrauen in die Stabilität der Demokratie der Bundesrepublik stellte sich erst spät ein – für Jürgen Habermas beispielsweise erst in den 1980er Jahren, als er konstatierte, dass auch die Mitte-Rechts Regierung unter Helmut Kohl den demokratischen Grundkonsens nicht in Frage stellen würde. Neben den Angstobjekten veränderten sich in der Geschichte der Bundesrepublik die ge- sellschaftlichen Bedingungen für den Ausdruck und damit auch die Erfahrung von Ängsten. Die frühe Bundesrepublik stand im Zeichen eines repressiven Gefühlsregimes. Man gab sich dezidiert sachlich und nüchtern und bemühte sich dadurch um einen Kontrast zum Dritten Reich, das im Rückblick nun als eine Zeit von außer Kontrolle geratenen Emotionen erschien. Doch die Studentenbewegung der 1960er Jahre wendete sich gegen die Gefühlsarmut (Peter Schneider) der Nachkriegsgesellschaft und propagierte mit einer freieren Sexuali- tät auch ein expressiveres Gefühlsleben. Das Emotionsregime der 1970er Jahre war dann das genaue Gegenteil der Gefühlsnormen der 1950er Jahre. Der möglichst offene Ausdruck von Gefühlen erschien nun als das Indiz einer gesunden Subjektivität, während die Unter- drückung von Gefühlen nicht nur politisch
12 Archivnachrichten 63 / 2021 Ängste Terrorismus, Einwanderung, Klimawandel und neuerdings vor einem tödlichen Virus kaum mehr bestimmen. Gerade diese Unbestimmt- heit der Ängste ermöglicht eine neue Politik der Angst, die Bedrohungsvorstellungen lokalisiert und personalisiert. Da werden vermeintliche Kollektive wie Muslime oder Flüchtlinge in klassischer Manier schnell zu Sündenbocken für die zunehmend undurchschaubaren Bedrohun- gen der Globalisierung. Nicht alle Ängste sind daher produktiv. Denn diese auf Minderheiten gerichteten, personalisierten Ängste bereiten den mentalen Boden für die Verschiebung von Angst zu Hass und rassistischer Gewalt. Die hier skizzierte Geschichte der Bundesre- publik unterscheidet sich deutlich von domi- nierenden Erfolgsgeschichten der Demokrati- sierung, Liberalisierung oder Westernisierung. Ihr Ausgangspunkt ist die zeitgenössische Unsicherheit, die weitverbreiteten Zweifel 6 vieler Deutscher an der eigenen Befähigung zu Demokratie und Wohlstand, die vor dem Hin- tergrund der deutschen Vergangenheit ja auch durchaus plausibel waren. Im Rückblick der mit dem Wissen um den (vorläufigen) Ausgang der Geschichte ausgestatten Historikerinnen und Historiker werden diese Unsicherheiten und 6 Wahlplakat der AfD, Berlin verdächtig, sondern auch existentiell bedrohlich Ängste jedoch oft geglättet und verschwinden Kreuzberg, September 2017. war. Die zu der Zeit weitverbreitete Theorie der in einer retrospektiv als unvermeidlich er- Vorlage: picture alliance / C3788 Wolfram Steinberg, Krebspersönlichkeit stipulierte beispielsweise, scheinenden Erfolgsgeschichte. Angesichts Nr. 94994278 dass die Unterdrückung von Gefühlen Krebs der gegenwärtigen Krise der Demokratie sind verursachen würde. Politisch relevant wurde uns diese zeitgenössischen Ängste der alten 7 »Fridays for Future« Demonstration am diese expressive Gefühlskultur in den sozialen Bundesrepublik aber auch wieder etwas näher Brandenburger Tor, Berlin, Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre, ins- gerückt. Ähnlich wie in der Nachkriegszeit 20. September 2019. besondere der Umwelt- und Friedensbewegung. scheint ein Scheitern der Demokratie nicht Vorlage: picture alliance / Geisler-Fotopress / Ben Die offene Artikulation und zunehmend auch mehr als völlig ausgeschlossen. Die Ängste der Kriemann, Nr. 124584505 öffentliche Performanz von Ängsten verband Deutschen sollten daher nicht einfach als Indiz sich nun mit einer entstehenden Holocaust- einer neurotischen German Angst pathologi- Erinnerung. So prägte die Vorstellung eines siert werden. Dieser Begriff ist selbst historisch nuklearen Holocausts die größte Protestbewe- erklärbar. Er tauchte erstmals in den 1980er gung der Nachkriegszeit, die Friedensbewegung und 1990er Jahren auf und diente vor allem der 1980er Jahre. Angst erschien nun als eine als Mittel konservativer Kritik an der Frie- höhere Form der Vernunft, die eine privilegierte dens- und Umweltbewegung. An ihm erweist Wirklichkeitswahrnehmung erlaubte. Greta sich allerdings auch die historische Spezifik Thunbergs Aufforderung zur Panik angesichts zeitgenössischer Vorstellungen von Rationali- des Klimawandels bei der Jahrestagung des tät. Denn die damals oft zitierte vermeintlich Weltwirtschaftsforums in Davos im Januar 2019 irrationale Angst der Atomkraftgegner und stand in der Tradition dieses positiven Angst- Friedensaktvisiten erscheint nach den Katast- verständnisses. rophen von Tschernobyl und Fukushima, nach Doch die Ängste der Gegenwart unter- zwei desaströsen Irakkriegen im Rückblick als scheiden sich von den Nachkriegsängsten durchaus rational. Überhaupt kam den Ängsten deutlich. Nicht nur rückt die Bedeutung der der Nachkriegszeit auch eine positive, produk- NS-Vergangenheit für die Imagination von tive Funktion zu. Obwohl viele der imaginierten Ängsten zunehmend in den Hintergrund. Dies Schreckensszenarien nicht eingetreten sind, ist ein wesentlicher Grund für den Aufstieg sensibilisierten die politischen Ängste der von in Teilen rechtsextremen Parteien wie der Nachkriegszeit für potentielle Gefahren für AfD. Auch haben die Gegenwartsängste ihren die Demokratie. Der vermeintliche Erfolg der konkreten Ort verloren. So lässt sich in Zeiten Bundesrepublik war damit gerade auch in ihren fortschreitender Globalisierung der Ursprung Ängsten begründet. µFrank Biess, Professor der Ängste vor wirtschaftlichem Kollaps, an der University of California-San Diego
Archivnachrichten 63 / 2021 15 Ängste Angst vor dem Teufel? Die Versuchung Christi aus dem Ummendorfer Kopialbuch Jacob Murers Der Teufel ist in der christlichen Glaubenswelt Familie – Vater und Bruder waren Maler – über µLiteraturhinweise das personifizierte Böse. Sein Hauptmotiv be- solche qualitätsvollen Zeichnungen aus den Iris Brahms: Die Versuchung Christi. steht in der Verführung, mit der er die Gläubi- ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. Er ließ In: Freiheit – Wahrheit – Evangelium. Reformation in Württemberg. gen von ihrem Glauben an Gott abbringen will. auch die bekannte Weißenauer Chronik zum Katalogband, bearb. von Peter Damit ist er der zentrale Gegenspieler Gottes; Bauernkrieg von 1525 mit großartigen Bildern Rückert. Ostfildern 2017. S. 48–50. seine Macht verbreitet Angst und Schrecken. schmücken und zeigt vielfach seine persönliche Paul Metzger: Zum Teufel – Die Frage Die kollektive Angst vor dem Teufel gilt Nähe zu den Bildkünsten. nach dem Bösen. Tübingen 2020. als ein zentrales Kennzeichen der christlichen Im Vordergrund der Darstellung im Ummen- Gesellschaft zumal in der Vormoderne. Sie dorfer Kopialbuch finden sich der Teufel und findet in Texten und Bildern breiten Aus- Christus im Disput. Dieser Teufel erscheint als druck; die konkrete Vorstellung des Teufels als fabelhaftes Mischwesen: Er tritt als drachen- Personifizierung des Bösen hat bereits in der artiges, beschwänztes Ungeheuer mit mensch- mittelalterlichen Kunst zu einer breiten Palette lichem Körperbau und einem obskuren zweiten abscheulicher Teufelsdarstellungen geführt. (Genital-)Gesicht im Unterleib auf. Mit den Ein weit bekanntes Auftreten des Teufels Krallen seiner Linken deutet er auf die Steine, vermittelt die biblische Erzählung von der die Christus zu Brot machen soll. Dieser, mit Versuchung Christi (Matthäus 4,1–11; Lukas hellem Antlitz, Heiligenschein und Gewand, 4,1–13). Hier erscheint der Teufel als drei- zeigt belehrend auf den Teufel und wehrt ab. Im facher Versucher: Er fordert den hungernden Hintergrund sind die beiden Gestalten bei den Jesus in der Wüste auf, Steine zu Brot zu nächsten Versuchungen auf dem Tempel (oben machen; er führt ihn auf den Tempel von links) und auf einem Berg (oben rechts) über Jerusalem und drängt ihn hinunterzuspringen; einer Seelandschaft zu erkennen. er zeigt und verspricht ihm die Herrlichkeit der Die dreifache Versuchung Christi wird hier Welt für seine Anbetung. Christus widersteht perspektivisch in die bis zum Hintergrund allen Versuchungen und kann damit die Angst geführte Landschaft gestaffelt. Der komplexe vor dem Teufel nehmen. Bildaufbau, die differenzierte Licht-Schatten- Eine einzigartige bildliche Darstellung dieser Modellierung mit der plastischen Wiedergabe dreifachen Versuchung Christi findet sich als unterschiedlicher Materialitäten machen das Farbgrundzeichnung in einem Kopialbuch des Blatt zu einem Meisterwerk seiner Zeit. Dass Abts von Weißenau, Jacob Murer (1468–1533). es erhalten blieb, ist Abt Jacob Murer zu ver- 1 Die Versuchung Christi. Dieser Codex umfasst Urkundenabschriften des danken, der es in seinem Weißenauer Codex Zeichnung im Ummendorfer Klosters von 1360 bis 1531, den Klosterort Um- sicherte. Das Bild vermittelt eindrücklich die Kopialbuch von Jacob Murer, vor 1531. mendorf betreffend, und dazu fünf bemerkens- Angst vor dem Teufel, vor dieser Schreckge- Vorlage: LABW, HStAS H 14 werte Zeichnungen, die Abt Murer hier einfügte. stalt der Versuchung, der mit Jesus Christus zu Bd. 287, Bl. 12 v Murer verfügte wohl aus dem Fundus seiner widerstehen ist. µPeter Rückert
16 Archivnachrichten 63 / 2021 Archivnachrichten 63 / 2021 17 Ängste Ängste Der Teufel, das Dorf und das Mädchen Die Angst vor Hexerei und Zauberei in der Frühen Neuzeit am Beispiel zweier überlieferter Fälle aus dem Staatsarchiv Wertheim 1616 standen die 12-jährige Margaretha Hed- Amtmann vor Ort, das Mädchen vor Übergriffen wig aus Erlenbach und eine Witwe aus einem durch die Gemeinde zu beschützen, und sah benachbarten Ort namens Margaret Schmidt den Fall damit als erledigt. unter dem Verdacht der Hexerei. Das zustän- Dieser im Staatsarchiv Wertheim unter der dige Zentgericht des Bistums Würzburg in Signatur LABW, StAWt G-Rep. 58 Nr. 116 über- 1 Remlingen allerdings ließ den Verdacht gegen lieferte Vorgang ist insofern von besonderem sie fallen und schickte das Mädchen, das sich Interesse, da er den Fokus nicht auf ein Inquisi vorbeugend nach Rom wandten, frappiert, selbst angezeigt hatte, zurück nach Hause. tionsverfahren lenkt, das in Folter und Tod dass von 1591 bis 1749 nicht weniger als vier Auch im Fall der Witwe wurden die Indizien als endete, sondern vielmehr Auskunft gibt über Hohenzollerngrafen die Erlaubnis erlangten, nicht ausreichend angesehen. Diese Entschei- die handlungsleitenden Motive der Akteure. ihre Partnerinnen trotz des zweiten Verwandt- dung stieß auf Widerstand. Die eigenen Eltern Die Verhörprotokolle des Mädchens zeichnen schaftsgrades zu ehelichen. Zugleich spiegelt wollten das Mädchen nicht mehr zurückneh- ein berührendes Bild eines tief verängstigten sich hierin auch die Angst der Kirche vor den men. Die Angst vor ihr, die Angst vor den Nach- und traumatisierten Kindes, das immer wieder Häretikern wider: Die Ehe zwischen Graf Jo- barn und der allgemeinen Situation im Dorf war vor dem Teufel flieht und aus Furcht und Panik hann von Hohenzollern-Sigmaringen und sei- zu groß. Schultheiß und Gemeinde des Dorfes sogar ohnmächtig wird. Dabei erinnert ihre ner Cousine Gräfin Johanna von Hohenzollern- lehnten die Rückkehr des Mädchens ab, auch Schilderung an die Motivik und den Aufbau Hechingen beispielsweise wurde 1602 gestattet, aus Angst vor Missernten. Dem Mädchen und eines Märchens. Dreimal ist dem Mädchen der weil es – sinngemäß – die verwirrten religiösen der Witwe wurde unter anderem die Schuld an Teufel begegnet, dreimal haben sie miteinander Verhältnisse in Deutschland schwierig machten, einem heftigen Gewitter gegeben, das im Dorf getrunken und jedes Mal spricht der Teufel den- einen katholischen Ehepartner zu finden. großen Schaden angerichtet hatte. Doch Würz- selben Satz: Sie solle ihm folgen und tun was er Gnadenerweise gegen Gewissensnot Doch nicht nur Heiraten konnten Gegen- burg bestand auf der Rückkehr des Mädchens ihr heiße, so solle sie ihr Leben lang genug haben. Päpstliche Dispense aus stand von Dispensen sein. Auch die Fasten- gebote mit ihren strengen Essensvorschriften ins Dorf. Bitten der Eltern, das Kind im Spital in Würzburg aufzunehmen, wurden abgelehnt. Die Reaktionen der Gemeinde machen die Ängste einer Dorfgesellschaft deutlich, die Er- dem Fürstlich Hohenzollernschen bereiteten den Menschen mitunter Kopfzerbre- Stattdessen befahl Bischof Julius Echter dem klärungen und Entlastung sucht für erfahrene Haus- und Domänenarchiv chen, wie sie diese im Einklang mit der Kirche abschwächen konnten. Die Bittsteller suchten existenzielle Nöte und Krisen, denen sie hilflos gegenübersteht. Die Menschen wünschten dabei in erster Linie um eine Befreiung vom 1 sich eine weitere Befragung der älteren Frau, Bei der Verzeichnung eines Teilbestands Verbot, Butter und andere Milchspeisen zu ver- auff das der grundt ans taglicht kommen und des Fürstlich Hohenzollernschen Haus- und speisen nach, so etwa Graf Georg von Werden- die liebe feldfrücht desto weniger schadens […] Domänenarchivs (LABW, StAS FAS HS 1-80 T berg, der 1472 bei Sixtus IV. um eine Ausnah- leiden. Auch das Mädchen dürfe nicht mehr 1-6) sind mehrere päpstliche Dispense aus dem megenehmigung für seine Familie und seine zurückkommen, weil sie schon begonnen 15. bis 18. Jahrhundert zum Vorschein gekom- Untertanen bat. Die erlangte Erlaubnis wurde habe, andere Kinder des Dorfes zu verführen. men. Unter einer Dispens ist die im konkreten damit begründet, dass in kühlen Regionen Tatsächlich hatte das Mädchen die Namen von Einzelfall gegebene Erlaubnis der römischen ein Mangel an dem zur Fastenzeit genehmen drei Freundinnen angegeben, denen sie von Kirche zur Abweichung von kanonischen Vor- Olivenöl herrsche und sich dessen Beschaffung den Ereignissen erzählt hatte. schriften zu verstehen. Vergeben zumeist von als sehr aufwendig erweise. Derartige Butter- Das Verhalten der Eltern wiederum verdeut- der Pönitentiarie, dem päpstlichen Buß- und briefe sind gerade für die Diözese Konstanz, licht die Verzweiflung und Ausweglosigkeit der Gnadengerichtshof in Gewissenssachen, wird ein Gebiet mit mehreren (Mittel-)Gebirgen Betroffenen, die im Angesicht von Stigmati- sie als Gnadenerweis erachtet. Prominent sind und ausgeprägter Milchviehwirtschaft, für das sierung und Ausgrenzung die Tochter lieber besonders päpstliche Heiratsdispense. Wer sich 15. Jahrhundert zahlreich überliefert. Anders weggeben wollen, als sie wieder bei sich aufzu- in Anbetracht eines Ehehindernisses, etwa zu gelagert war über 100 Jahre später offenbar die nehmen. Angeblich wollten sie ihre Tochter aus naher Verwandtschaft, verheiratete, riskierte Situation am Hof in Sigmaringen: Graf Karl II. Angst vor den Beschimpfungen der Nachbarn 1 Kardinallegat Ludovico bei Bekanntwerden die Ungültigkeit seiner von Hohenzollern und der gräflichen Familie weder wissen noch sehen. Madruzzo gestattet dem 1 Schreiben der Gemeinde Grafen Karl II. von Hohen Ehe. So lag es nahe vorzusorgen oder – wie wurde 1594 nämlich vom Kardinallegaten Cle- Erlenbach an Bischof Julius Schließlich erkennt man eine Obrigkeit, zollern-Sigmaringen und häufig geschehen – mindestens nachträglich mens’ VIII., Ludovico Madruzzo, Dispens erteilt, Echter von Würzburg mit deren Handlungen sich in der korrekten Durch- seiner Familie Fleisch, der Bitte, das Mädchen Butter, Käse und andere um den Segen der Kurie zu bitten. Im Teilbe- in der Fastenzeit anstelle der vorgeschriebenen nicht mehr zurückkehren führung des Verfahrens und seiner Beilegung Milchspeisen konsumieren stand finden sich fünf solcher Heiratsdispense. Fisch- und anderen Speisen Fleisch, Butter und zu lassen und den Fall der erschöpfen. Dabei wird sogar erkannt, dass zu dürfen. Regensburg, Margaret Schmidt weiter zu Während sich Graf Christoph von Werdenberg Käse zu konsumieren – wie es heißt wegen untersuchen, August 1616. Opfer und Angehörige in dieser Situation 1. Juli 1594. und Johanna von Beersel 1526 angesichts des körperlicher Krankheiten und seelischer Indispo- Vorlage: LABW, StAWt G- Schutz benötigen, nachfolgende Taten zeigen Vorlage: LABW, StAS FAS HS 1-80 T 1-6 U 192 Unwissens über ihren Verwandtschaftsgrad sitionen. µClemens Regenbogen Rep. 58 Nr. 116 sich aber nicht. µAnne Christina May
18 Archivnachrichten 63 / 2021 Archivnachrichten 63 / 2021 19 Ängste Ängste Entsetzte Bevölkerung – Neugierig liefen die Leute herbei, um zu beob- achten, wie sich große Bluethfleckhen bildeten, ratlose Obrigkeit die an rote, aus Zinnober und Lack zubereitete Tinte erinnerten. Selbst der Münsinger Pfarrer Erdbeben, Kometen und und der dortige Amtskeller maßen dem Gesche- hen eine unheilvolle Vorbedeutung bei, die sie Wunderzeichen im Herzog auf natürliche Weise nicht zu erklären wussten. Unverzüglich erstatteten sie dem Geheimen Rat tum Württemberg während in Stuttgart Bericht. Im Hauptstaatsarchiv Stuttgart sind drei des 17. Jahrhunderts bemerkenswerte, mit zahlreichen Zeichnungen illustrierte Akten aus der Zeit von 1639 bis 1695 überliefert (Signatur: LABW, HStAS A 202 Bü 2820-2822), die uns Kenntnis von derartigen Vorfällen geben. In Dutzenden von Schrift- stücken brachten die lokalen Amtleute und Seelsorger dem Landesherrn die Ängste und 1 Der in den Morgenstunden Mit einer solch dramatischen Wendung hatte Sorgen der Untertanen nahe. Sie berichteten des 8. Dezember 1664 vom Margaretha Müntzing, die Witwe eines Mün- von Erdbeben, von rätselhaften Himmels Hohenasperg aus beobach tete Komet. Federzeichnung singer Hufschmieds, nicht gerechnet. Wie jeden zeichen und Wetterphänomenen, aber auch von des Festungssergeanten Tag hatte sie auch am Pfingstabend 1645 die individuellen Schicksalsschlägen, die als Omen 20 x 34 cm. Milch ihrer einzigen Ziege in zwei Tongefäße für die Gemeinschaft gedeutet wurden. Vorlage: LABW, HStAS A 202 Bü 2820 gefüllt, mit einem Deckel versehen und in der Zwischen dem 19. und dem 30. März 1655 Stube gelagert. Als die Frau tags darauf die Zie- kam es im Raum Tübingen zu einer Reihe 2 Doppelköpfiges Lamm in genmilch wieder hervorholte, erblickte sie auf heftiger Erdstöße, die Häuser erzittern und Ka- Tübingen, 1646. Federzeich nung 33 x 40 cm. dem Rahm etliche rote Striche, die wie Zwirn- mine einstürzen ließen. In höchster Forcht und Vorlage: LABW, HStAS A 202 fäden aussahen. Ganz entsetzt zeigte sie das Schreckhen erkannten die Tübinger Vögte in den Bü 2821 Qu. 46 Geschehnis ihrer alten Mutter, die es ebenmäßig Beben eine Warnung Gottes, der man mit bueß- mit Schröckhen und Verwunderung angesehen. ferttigen Herzen begegnen sollte, um drohende Rasch wurde die Sache in der Stadt ruchbar. Strafen abzuwenden. Auch das Erscheinen 1 2 eines Kometen wurde zumeist als Vorbote für direkt zu den eingehenden Berichten. Zumeist Gottes Zorn interpretiert. Ein Schweifstern, der begnügte man sich mit dem Vermerk: Beruht im August 1664 beobachtet werden konnte, zog auf sich. Oder man wies die Pfarrer im gesam- Meldungen aus allen Teilen des Landes nach ten Herzogtum an, Buße und Gottesfurcht zu sich. Zehn Jahre zuvor hatte eine halbstündi- predigen. Selbst wenn man Gutachten der Me- ge Lichterscheinung bei Bietigheim, in deren dizinischen Fakultät der Universität Tübingen Zentrum eine Totenbahre zu erkennen war, die einholte, so etwa zur Analyse von vermeint- Menschen im mittleren Neckarraum geängstigt. lichem Blutwasser, bleibt die Ratlosigkeit der In den letzten Jahren des Dreißigjährigen politischen Entscheidungsträger unverkennbar. Krieges wurde der herzoglichen Regierung Doch welche Alternativen hätten die gelehrten häufig von mysteriösem Blutregen und Räte überhaupt gehabt? Missgeburten berichtet. Letztere erklärte man Wissenschaftlich sind die einstigen Rätsel sich in einem gewissen Maße mit der Kriegs- längst gelöst. Dass Saharastaub rot gefärbte not. So brachte eine schwangere Frau, die im Niederschläge verursachen kann, ist ebenso Januar 1645 mit ihren Habseligkeiten von Weil unstrittig wie die von Mikroorganismen hervor- im Schönbuch nach Tübingen geflohen war, gerufene Stoffumwandlung in der Ziegenmilch ein missgebildetes Mädchen tot zur Welt, das der eingangs erwähnten Witwe. Und dennoch von den dortigen Medizinern untersucht und bleiben die skizzierten Berichte bis heute eine bildlich festgehalten wurde. mentalitäts-, sozial- und kulturgeschichtlich Nur selten äußerte sich der Geheime Rat ungemein spannende Quelle. µAlbrecht Ernst
20 Archivnachrichten 63 / 2021 Archivnachrichten 63 / 2021 21 Ängste Ängste »Der Erbfeind christlichen 1 Kaiser und Sultan im Die Nachricht von der Eroberung Konstanti- Rechten hält. Als Personifikation der Kirche Kampf um den Donauraum. Titelkartusche einer Land nopels durch osmanische Truppen am 29. Mai sucht sie hinter dem Rücken des Kaisers als des Namens« karte von Willem Janszoon 1453 verbreitete sich schnell in Westeuropa. Verteidigers des Glaubens Zuflucht (Abb. 1). Blaeu, nach 1635. In drastischen Bildern wurde die Grausamkeit In einer Karte von Sigmund von Birken Vorlage: LABW, GLAK Hfk der Eroberer beschrieben. Das Szenario einer (1626–1681) und Jacob von Sandrart (1630– Pläne Be 5 rot »Türkengefahr« und »Türkenfurcht« existenziellen Bedrohung der lateinischen 1708), die 1683, also im Jahr der zweiten Be- 2 Der Flussgott Danubius Christenheit durch die Türken wurde in den lagerung Wiens durch die Osmanen, erschien, wendet sich bittend an die nächsten Jahrzehnten durch Predigten und wird das Gegensatzpaar von Kaiser und Sultan in der Frühneuzeit Personifikation des habs burgischen König- und in Druckschriften schnell verbreitet. Mit der in lateinischen Versen ausgeführt. Der Flussgott Kaisertums. Kartusche einer Türkensteuer hatten die Untertanen einen Danubius fleht die bekrönte Personifikation Landkarte von Sigmund von Birken und Jacob von finanziellen Beitrag zu den Kriegskosten zu der habsburgischen Herrschaft an, sich endlich Sandrart, Nürnberg 1683. leisten. Das Läuten der Türkenglocke rief die seiner zu erbarmen und den gesamten Fluss- Vorlage: Badische Landes Gläubigen täglich zur Mittagszeit bis in die ent- lauf von Unglauben und Barbarei zu befreien. bibliothek, Karlsruhe R 2 legensten Dörfer dazu auf, für die Rettung vor Die penibel in der Karte notierten Schlachten 3 Geschlagener türkischer dem Erbfeind christlichen Namens zu beten. zwischen Christen und Türken verleihen der 1 Soldat zu Füßen des sieg Die Türken waren mehr als nur ein militäri- Bitte des Flussgottes räumliche und zeitliche reichen Feldherrn. Grabmal für Markgraf Ludwig scher Gegner. Der Begriff »Türke« wurde zum Tiefenschärfe (Abb. 2). Wilhelm von Baden-Baden Synonym für Islam und Muslime und zugleich Mit der wachsenden militärischen Dominanz im Chor der Stiftskirche zum Inbegriff des Fremden schlechthin. Die der Habsburger über die Osmanen nach der von Baden-Baden, nach Plänen von Johann Schütz Konstruktion des Anderen in Abgrenzung Befreiung von Wien 1683 wandelt sich das Bild (1704–1752). zum eigenen Selbst – die Kulturwissenschaf- des Türken. Die »Türkenfurcht« tritt hinter der Vorlage: Sophie Rüth, ten sprechen dabei von Alteritätsdiskursen Inszenierung des Triumphes über den Gegner Tübingen – bestimmte das Reden und Schreiben über zurück. Der »Türkenspott« löste die »Türken- »den« Türken bis in das frühe 18. Jahrhundert. gefahr« ab. Am Grabmal von Markgraf Ludwig Der Diskurs über die »Türkengefahr« löste eine Wilhelm von Baden-Baden (1655–1707), der »Türkenfurcht« aus – und dies war durchaus so als Türkenlouis auf dem Balkan glänzende Siege gewollt. Denn Angst lässt sich instrumentali- über die Osmanen errungen hatte, stürzen die sieren: etwa zur Durchsetzung eines militäri- Gegner bezwungen in die Tiefe oder flehen um schen Engagements oder zur Absicherung Gnade (Abb. 3). Auf anderen Monumenten steht des eigenen konfessionellen Bekenntnisses. der siegreiche christliche Feldherr triumphie- Prägnante Gegensatzpaare beschrieben rend auf dem Körper des unterlegenen Gegners. den Türken als den Anderen und unterstrichen Doch auch als bezwungener Gegner blieb er der dabei zugleich die eigene Überlegenheit: Andere, der Fremde. µWolfgang Zimmermann Unglauben versus Glauben, Barbarei versus Zivilisation, Despotie versus Gerechtigkeit, µInternationale Grausamkeit versus Barmherzigkeit und Güte. Wanderausstellung: Dieser Alteritätsdiskurs vollzog sich nicht Die Ausstellung »Fließende nur in Bildern und Texten, sondern wurde 2 Räume. Karten des Donau auch mit den Möglichkeiten der Kartografie 3 raums 1650–1800. Floating Spaces. Maps of the Danube förmlich in die Landschaft eingeschrieben. Region 1650–1800«, erarbeitet Der Donauraum – von den Quellen bis zu den durch das Institut für donau schwäbische Geschichte Mündungen (der Plural entspricht den geo- und Landeskunde, Tübingen, grafischen Gegebenheiten) – wurde so zu dem und das Landesarchiv Baden- Projektionsraum, in dem die Kontrahenten, Württemberg, Generallan desarchiv Karlsruhe, wurde personifiziert in dem Gegensatzpaar Kaiser und 2017 in Karlsruhe eröffnet. Sultan, aufeinanderstießen. Eine gemeinsame 2018 wurde sie in mehreren Städten in Ungarn gezeigt internationale Wanderausstellung des General- (Eger, Budapest, Pécs, Györ). landesarchivs Karlsruhe mit dem Institut für Seit 2019 ist sie in Rumänien donauschwäbische Geschichte und Landeskun- auf Tour (Klausenburg / Cluj Napoca, Hermannstadt / de widmet sich diesem Thema. Sibiu, Bukarest, Iaşi, Brăila, In der Kartusche einer gedruckten Donau- Galați, Turnu Severin, Reșița und Temeswar / Timișoara). Es karte, vermutlich aus der Offizin des Willem folgen weitere Stationen in der Janszoon Blaeu (1571–1638) stehen sich Kaiser Slowakei und Österreich. Ferdinand III. und Sultan Murad IV. mit gezück- Begleitpublikation: tem Schwert bzw. Säbel gegenüber. Die Beglei- Fließende Räume. Karten des terin des Sultans, wohl die Personifikation des Donauraums 1650–1800. Hg. von Josef Wolf und Wolfgang Islams, tritt verachtungsvoll auf das Kreuz. Der Zimmermann. Regensburg 2017. üppige Ausschnitt ihres Kleides steht in deut- 423 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen. ISBN 978-3-7954- lichem Gegensatz zu der züchtig gekleideten 3218-8. EUR 39,95 Begleiterin des Kaisers, die das Kreuz in ihrer
22 Archivnachrichten 63 / 2021 Archivnachrichten 63 / 2021 23 Ängste Ängste Die Angst vor Scheintod 1 und Lebendbestattung Ein Scheinphänomen der Medizingeschichte 1 Scheintod-Verhütungs- Wer möchte schon sein eigenes Leichenbegäng- In einem auf Taphophobie-Spuren untersuch- Apparat eines 1907 vom württembergischen Medizi nis erleben? Das Grauen davor (und die Lust ten Korpus von 1.024 Mannheimer Testa- 2 nalkollegium als »naiv« daran) bedienen die Medien auch heute noch menten aus der Zeit zwischen 1750 und 1843 disqualifizierten Arztes. gern. Den Zenit seiner öffentlichen Präsenz hat wird die Angst nur in vier Fällen manifest, in Vorlage: LABW, StAL E 162 I Bü 357 das Thema aber längst hinter sich – der lag in sieben weiteren deuten Verfügungen auf sie der Sattelzeit des Übergangs in die Moderne, hin. Von einer Obsession kann mithin selbst 2 Schrecklich schön: »Das als grobes Bangemachen mit den Gefahren von für die besseren Kreise, denen die Testatoren vorzeitige Begräbnis« (»L’inhumation précipitée«) Scheintod und vorschneller Beisetzung Innova- zuzurechnen sind, keine Rede sein, von von Antoine Wiertz. tionen in Notfallmedizin und Bestattungswesen bildungsfernen Schichten ganz zu schweigen. Vorlage: Wikimedia Vorschub leistete. 1780 spielte das kurpfälzi- Die bekennenden Taphophoben – je zwei sche Collegium Medicum auf dieser Klaviatur: Frauen und Männer, allesamt aus dem Um- Die traurige Erfahrung gibt uns mehrere Beispiele, kreis staatsdienstlicher Berufe, zwei davon dass leblos Scheinende beerdigt worden, im Grabe von Adel – zeigen sich im Hinblick auf die aufgewacht und auf eine grausame Art verzwei- Scheintodprophylaxe recht divers, vom Be- felnd nach abgenagtem Fleisch an Armen und gräbnis nach einsetzender Verwesung bis Händen verschmachtet sind (LABW, GLAK 77 Nr. zur Hardcore-Version Carl Friedrich Philipp 4601). Konkrete Beispiele nannte man nicht – von Gemmingen-Fürfelds: Meine letzte Bitte es gab wohl keine. ist, daß nach meinem Tode vor der Beerdigung Der Diskurs über die Lebenssicherung be- man mir die Adern eröffnen und das Herz flügelte findige Köpfe, die das sargindustrielle durchstechen soll, damit ich nicht etwa das Un- Marktsegment mit Glöckchen, Totenhörnern, glück habe, im Grabe wieder zu erwachen, wie Signalfahnen und allerlei sonstiger Rettungs- man dergleichen schreckliche Beispiele mehrere apparatur bereicherten. Mancher potenzielle hat (LABW, GLAK 276 Nr. 4168). Wiederum Kunde setzte jedoch lieber auf probate Mittel der also die Schein-Empirie obskurer Beispiele, Todessicherung wie den Stich ins Herz. Die Vor- die eingangs schon die pfälzischen Medizi- sorge dafür hat ihren Ort in Testamenten. Und nalräte umtrieb. Denen schien übrigens eine in nachlassgerichtlichen Beständen von Staats- flinke Grablegung je nach Sachlage durchaus und Kommunalarchiven sind auch am ehesten opportun: Wäre es aber ein altes böses Weib, Selbstauskünfte über Taphophobie (so der welches in der Haushaltung der Schwieger- Fachbegriff für die Angst vorm Lebendig-Begra- söhne täglichen Hauskrieg und unter den ben-Werden) zu erwarten. Tatsächlich entlarvt Nachbarsweibern Zänkereien angestiftet hätte, eine Sichtung der Quellen den Popanz von der so könnte man schon ein wenig eilfertiger mit massenwirksamen Urangst, der in der Medizin- ihrem Begräbnis sein (LABW, GLAK 77 Nr. historie bis heute herumspukt, als Phantom. 4601). µCarl-Jochen Müller
24 Archivnachrichten 63 / 2021 Archivnachrichten 63 / 2021 25 Ängste Ängste »Lasset eure Mitbürger Vulkans Tambora auf Sumbawa im April 1815. Hauenstein leisteten freie Bauern im 18. Jahr- durch den Trang der Zeitumständt Dessen Eruption zählt zu den stärksten in his- hundert Widerstand gegen Ansprüche des torischer Zeit. Schwefelhaltige Gase gelangten Klosters St. Blasien und verteidigten ihre alt- nicht zu Grunde gehen« in die Stratosphäre und verbreiteten sich über die Erdkugel. Die in den hohen Luftschichten hergebrachten Freiheitsrechte. Diese Aufrührer wurden nach dem Beruf ihres Anführers Die Hungerjahre 1816/17 in entstandenen Schwefelsäureaerosole absor- Salpeterer genannt. Mit dieser Tätigkeit hatte Sigmaringen bierten das Sonnenlicht und führten so zu einer weltweiten Abkühlung des Klimas. die Gruppierung im 19. Jahrhundert jedoch nichts mehr zu tun. Nachdem das Gebiet Keiner der damaligen Zeitgenossen brachte 1805 zum Großherzogtum Baden kam, war dieses geologische Ereignis in Zusammenhang die Widersetzlichkeit der Bewohner vor allem mit den Wetterkapriolen, den unreifen und religiös motiviert. Die neuen Salpeterer wurden 1 Gebetstext für die Bitt Am Pfingstmontag des Jahres 1817 wandte sich verdorbenen Feldfrüchten, den Preissteigerun- von obrigkeitlicher Stelle entsprechend meist prozession nach Sigma ringendorf, eine Litanei zur Schultheiß Anton Steidel mit einer empathi- gen aller Lebensmittel und den Epidemien, die als Sekte bezeichnet; sie beriefen sich auf den göttlichen Vorhersehung. schen Ansprache an die im Rathaus versammel- Menschen und Tiere bedrohten. österreichischen Kaiser als Schutzherren und Vorlage: LABW, StAS Dep. 1 ten Bürger der Stadt Sigmaringen. Angesichts Wie viele andere bot Schultheiß Steidel verteidigten ihren katholischen Glauben gegen T 3–4 Nr. 1134 der erschröcklich und unerhörte Theuerung, stattdessen eine religiöse Erklärung: Sitten- jede Modernisierung oder gar protestantische dergleichen die Zeitgeschichte von mehreren losigkeit und mangelnde Nächstenliebe hatten Einflüsse. Insbesondere ließen sie ihre Kinder Jahr100ten kein Beyspiel hat, war der Zeitpunkt diese Strafen Gottes herausgefordert. Hilfe nicht mehr in Schulen gehen, in denen moderne gekommen, die gröstentheils mittellose und versprach er sich von Gottvertrauen und vom Lehrer unterrichteten und von Protestanten ge- armen Mitbürger mit ihren Famillien vor dem Gebet bei Andachten oder der für Juli verordne- schriebene Schulbücher verwendet wurden. Der Hungertode zu retten. ten Ernte-Bittprozession zur Kirche in Sigma- Widerstand richtete sich gegen praktisch alle Das Jahr 1816 ist wegen seiner extremen ringendorf. Gebetstexte für diesen religiösen staatlichen Maßnahmen und Verpflichtungen: Witterungsverhältnisse als Das Jahr ohne Umzug wie die Litaney von der göttlichen gegen den Militärdienst, gegen die Huldigung 1 2 Sommer in die Geschichte eingegangen. Mas- Vorsichtigkeit haben sich bis heute erhalten. des Landesherrn, gegen Steuern und Abgaben sive Ernteausfälle führten bis 1817 zu einer Seit dem Sommer 1816 hatte allgemeiner und eben auch gegen die Impfpflicht. der schlimmsten Hungersnöte der Neuzeit. Die Mangel um sich gegriffen. Obrigkeitliche Diese wurde im Großherzogtum Baden 1809 Ursachen dieser Krise folgten einem Muster, Maßnahmen erwiesen sich als unzulänglich: eingeführt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts hatte das bis heute in der Dritten Welt zu beobachten Aufkauf und Verteilung von Getreide und Reis, es verschiedene Entwicklungen im Bereich der ist. Voraus gingen Verarmung und Verknappung Ausfuhrsperren, Einrichtung eines öffentlichen Pockenschutzimpfung gegeben bis schließlich der Vorräte, eine Folge der seit über 20 Jahren Fruchtmarkts in Sigmaringen zur Begrenzung Ende des Jahrhunderts eine effektive Methode andauernden napoleonischen Kriege. Dann trat des Wuchers, Anlage von Vorratsmagazinen, För- »Die Widersetzlichkeit gegen der Vaccination entwickelt wurde. Die Pocken eine Naturkatastrophe ein, der Ausbruch des derung von Fruchtanleihen und Beschäftigungs- maßnahmen. Die offiziellen Getreidepreise die Vaccination in waren bis dahin über Jahrhunderte eine der gefährlichsten und verbreitetsten Krankheiten 1 stiegen um fast das Vierfache. Verzweiflung und mehreren Gemeinden betr.« gewesen, der vor allem viele Kinder erlegen Existenzängste nahmen zu. Im Amtsblatt lasen die Sigmaringer nun Durchhalteappelle und Die Salpeterer als waren, was die rasche Einführung der Impf- pflicht in vielen Ländern erklärt. Ihre Durch- Rezepte für Treber-, Stroh- oder Graswurzelbrot. Impfgegner im 19. Jahrhundert setzung erwies sich jedoch insbesondere im Um nun aber das Überleben der Ärmsten Hotzenwald als schwierig, wie der Stabswund- bis zur neuen Ernte zu sichern, rief Steidel an arzt Dr. Tscheppe an das Bezirksamt Säckingen Pfingsten 1817 die Sigmaringer Bürger zum 1 Schreiben Anton Siebolds Meine Kinder habe ich müssen impfen lassen, berichtet: Die Widersetzlichkeit gegen die Zusammenhalt und zu tätiger Nächstenliebe an das Bezirksamt insbesondere auch ein Mädele – das einzige was Vaccination währte inzwischen fort u. mehrere Waldshut. auf, zur Gründung einer Wohltätigkeitsan- ich hatte, welches wahrscheinlich noch leben jener Kinder, deren Eltern von mir eingeklagt Vorlage: LABW, StAF B stalt. Hierfür initiierte er von Juni bis August 750/14 Nr. 351 würde, wenn es nicht geimpft worden wäre, das wurden, sind einstweilen von den natürlichen wöchentliche Geldsammlungen in der Bürger- gibt 1832 Johann Rüde aus Hochsal dem Walds- Blattern befallen worden. schaft. Er selbst verzichtete auf seine Besol- 2 Bericht des Arztes huter Oberamtmann Schilling zu Protokoll. Als Der Widerstand gegen die Impfung bei den Dr. Tscheppe über die dung. Am Fest des Stadtpatrons, des heiligen Widerstände beim Impfen. einer der im Hotzenwald lebenden Salpeterer Salpeterern scheint sowohl auf allgemeinem Fidelis, hatte die Stadt das sonst übliche Böller- Vorlage: LABW, StAF B war Rüde der Pockenschutzimpfung gegenüber Widerstand gegen staatliche Maßnahmen als schießen zugunsten der Armen eingespart. 733/1 Nr. 570 kritisch eingestellt. Ob allerdings seine Tochter auch auf grundlegenden Ängsten beruht zu Weitere Geld- und Sachspenden des Fürsten- tatsächlich an Nebenwirkungen der Impfung haben. Auch religiöse Erwägungen – man woll- hauses Hohenzollern, aber auch aus allen verstarb (oder die Impfung überhaupt erhalten te nicht in Gottes Handeln eingreifen – mögen Gesellschaftsschichten, kamen hinzu. Schnell hatte) lässt sich nicht mehr feststellen. Die eine Rolle gespielt haben. Oftmals wurde die waren Armenlisten erstellt. Von den 1.220 meisten Salpeterer verweigerten die Impfung Impfung unter Zwang durchgesetzt, jedoch Einwohnern der Stadt erhielten ca. 30 Prozent ihrer Kinder von vornherein. Anton Siebold aus schwand der Widerstand der Salpeterer – auch Mehl- und Geldzuwendungen. Rotzeln schreibt 1827 an das Bezirksamt Walds- gegen andere Maßnahmen – mit der Zeit von Das Engagement von Magistrat und Bürgern hut, wenn seine Kinder ohne seine Einwilligung alleine. Vielleicht auch durch die Einsicht, dass fand weithin Beachtung. In Sigmaringen legte geimpft würden und eines aus einer salpeteri- eine Erkrankung an den Pocken in ihren Aus- man das Manuskript der Pfingstansprache schen Familie stürbe, so müssten alle Helfer vor wirkungen gravierender war, als die Impfung. Steidels zusammen mit weiteren Zeugnissen des dem Gericht Gottes Rechenschaft ablegen. Der Kampf gegen die Pocken wurde jedenfalls Hungerjahres in eine Akte zum ewigen Andenken Wer aber waren die Salpeterer? In der noch weit bis ins 20. Jahrhundert hineingeführt, an dieses merkwürdige Jahr 1817. µSibylle Brühl zu Vorderösterreich gehörenden Grafschaft bis die Krankheit 1980 für ausgerottet erklärt werden konnte. µAnnette Riek
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