AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Verschwörungs theorien

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Verschwörungs theorien
71. Jahrgang, 35–36/2021, 30. August 2021

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
  Verschwörungs­
      theorien
           Michael Butter                             Georg Seeßlen
 VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN:                        ZWISCHEN THRILL
     EINE EINFÜHRUNG                            UND PARANOIA.
                                         VERSCHWÖRUNGS­FANTASMEN
 Carolin Amlinger · Oliver Nachtwey
                                          IM KINO (UND ANDERSWO)
    SOZIALER WANDEL,
  SOZIALCHARAKTER UND                                  Jan Rathje
 VERSCHWÖRUNGSDENKEN                           „REICHSBÜRGER“ UND
   IN DER SPÄTMODERNE                            SOUVERÄNISMUS
 Katharina Kleinen-von Königslöw ·                  Samuel Salzborn
       Gerret von Nordheim                 VERSCHWÖRUNGSMYTHEN
 VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN                       UND ANTISEMITISMUS
  IN SOZIALEN NETZWERKEN
   AM BEISPIEL VON QANON                           Saba-Nur Cheema
                                                VERSCHWÖ­R UNGS­
                                               ERZÄHLUNGEN UND
                                               POLITISCHE BILDUNG

                     ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                          FÜR POLITISCHE BILDUNG
                 Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Verschwörungs theorien
Verschwörungstheorien
                               APuZ 35–36/2021
MICHAEL BUTTER                                      GEORG SEEẞ LEN
VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN:                              ZWISCHEN THRILL UND PARANOIA.
EINE EINFÜHRUNG                                     VERSCHWÖRUNGSFANTASMEN IM KINO
Verschwörungstheorien im modernen Sinn gibt         (UND ANDERSWO)
es seit der Frühen Neuzeit. Waren sie bis in die    Man kann das Verschwörungskino mit politi­
1950er hinein weit verbreitet und akzeptiert, ist   schen Krisen in Verbindung bringen. Wo einst
der Verschwörungsglaube heute ein Randphä­          Geheimbünde nach Geld oder Macht strebten,
nomen. Daran hat auch die Pandemie nichts           sehen wir heute einen globalisierten Verschwö­
geändert – sie hat ihn nur sichtbarer gemacht.      rungsbrei, der nach dem letzten trachtet, was uns
Seite 04–11                                         geblieben ist: unserer Identität.
                                                    Seite 26–33
CAROLIN AMLINGER · OLIVER NACHTWEY
                                                    JAN RATHJE
SOZIALER WANDEL, SOZIALCHARAKTER
                                                    „REICHSBÜRGER“ UND SOUVERÄNISMUS
UND VERSCHWÖRUNGSDENKEN
                                                    Die „Reichsbürger“ sind erst seit wenigen Jahren
IN DER SPÄTMODERNE
                                                    einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Dabei baut
Die gegenwärtige Konjunktur des Verschwö­
                                                    ihre Ideologie auf einer langen Tradition aus anti­
rungsdenkens ist Resultat eines längerfristigen
                                                    semitischen und verschwörungsideologischen
sozialen Wandels zur Spätmoderne. Das spät­
                                                    Denkmustern auf – und auf ihrer Verbindung
moderne Individuum kann sein Leben autonom
                                                    mit dem organisierten Rechtsextremismus.
gestalten, sieht sich aber seiner sozialen Umwelt
häufig ohnmächtig gegenüber.                        Seite 34–40
Seite 13–19
                                                    SAMUEL SALZBORN
                                                    VERSCHWÖRUNGSMYTHEN
KATHARINA KLEINEN-VON KÖNIGSLÖW ·                   UND ANTISEMITISMUS
GERRET VON NORDHEIM                                 Dass Verschwörungsmythen im Kontext der
VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN IN SOZIALEN                   Corona-Pandemie offen antisemitisch formuliert
NETZWERKEN AM BEISPIEL VON QANON                    werden, ist kein Zufall. Seit jeher ist Antisemitis­
Soziale Netzwerke bieten die ideale Infrastruk­     mus genauso strukturell verschwörungsmythisch
tur zur Verbreitung von Verschwörungstheorien.      aufgeladen, wie jeder Verschwörungsmythos
Diese diffundieren aus anonymen Imageboards         strukturell antisemitisch ist.
algorithmisch verstärkt in den medialen Main­       Seite 41–47
stream und profitieren dort von der Logik der
Aufmerksamkeitsökonomie.
                                                    SABA-NUR CHEEMA
Seite 20–25                                         VERSCHWÖRUNGSERZÄHLUNGEN
                                                    UND POLITISCHE BILDUNG
                                                    Ihre digital vermittelten Lebenswelten
                                                    konfrontieren Jugendliche früh und intensiv mit
                                                    Verschwörungserzählungen. Um sie zur politi­
                                                    schen Mündigkeit zu befähigen, muss politische
                                                    Bildung heute auch im Digitalen ansetzen – und
                                                    dabei klare Kante gegen Antipluralismus zeigen.
                                                    Seite 48–53
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Verschwörungs theorien
EDITORIAL
In der jüngeren Geschichte wurde wohl noch nie so deutlich die Existenz
und die Wirkmacht von Verschwörungstheorien vor Augen geführt wie in
der Corona-Pandemie. Was lange als Randphänomen in dunklen Nischen des
Internets galt, scheint auf einmal allgegenwärtig. Von der Nachbarin bis zum
Abgeordneten im US-Kongress reicht das Spektrum derer, die hinter der Pan­
demie ein Komplott vermuten: das Coronavirus existiere entweder gar nicht
oder sei absichtlich in die Welt gesetzt worden. In beiden Varianten steckt die
Vorstellung, dass die Pandemie bloß ein Vorwand einer Gruppe Verschworener
sei, deren eigentliches Ziel die Errichtung einer weltumspannenden Diktatur ist.
   Derartige „Theorien“ werden nicht geglaubt, weil sie inhaltlich überzeugend
wären. Sie werden von Menschen geglaubt, die an sie glauben wollen. Denn sie
bieten eine Erklärung der Welt an, die komplexe Ereignisse und Prozesse auf
eine einfache Ursache zurückführt – in der Regel die Machenschaften dunk­
ler Mächte. Derartige Behauptungen verbreiten sich in einem Netzwerk aus
Medien, vermeintlichen Expertinnen und Aktivisten, die Fakten umdeuten, aber
auch „alternative“ Fakten und Statistiken – oder: alternatives Wissen – verbrei­
ten. Anlass zur Sorge bietet nicht nur die Verbindung von Verschwörungsthe­
orien mit Rechtsextremismus und Antisemitismus, sondern auch die Entkopp­
lung eines Teils der Bevölkerung von der Realität.
   Die Folgen lassen sich seit März 2020 alltäglich beobachten. Wer die Pande­
mie für eine Erfindung hält, wird eher keinen Abstand zu seinen Mitmenschen
halten und keinen Mundnasenschutz tragen. Wer befürchtet, mit der Impfung
einen Mikrochip eingepflanzt zu bekommen, wird sich eher nicht impfen lassen
und damit die Allgemeinheit gefährden. Dabei kann der grassierende Glaube an
Verschwörungstheorien auch als ein Symptom für die Entfremdung großer Teile
der Bevölkerung von der institutionalisierten Politik gedeutet werden – genau
hier sollten Lösungsversuche ansetzen.

                                                      Robin Siebert

                                                                              03
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Verschwörungs theorien
APuZ 35–36/2021

               VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN:
                   EINE EINFÜHRUNG
                                            Michael Butter

Das Coronavirus existiert gar nicht, aber die Re­       dazu berufen fühlen, zur Waffe zu greifen. Me­
gierung schürt Panik, um unsere Grundrech­              dizinische Verschwörungstheorien sind darüber
te einzuschränken. Bill Gates steckt hinter der         hinaus gefährlich, weil sie dazu führen können,
„Plandemie“, um einen globalen Impfzwang                dass man sich und andere unabsichtlich gefähr­
durchzusetzen und so die Weltbevölkerung zu             det. Wer denkt, dass das Coronavirus nicht exis­
dezimieren. Vielleicht ist aber auch die 5G-Tech­       tiert oder harmlos ist, hält Abstands- und Hygi­
nologie für die Entstehung des Virus verantwort­        eneregeln weniger streng ein oder verletzt sie gar
lich. Verschwörungstheorien sind derzeit in aller       bewusst als Akt zivilen Ungehorsams. Schließlich
Munde. Ein signifikanter Teil der Bevölkerung           können Verschwörungstheorien das Vertrauen in
glaubt an sie, und diejenigen, die nicht an sie glau­   die Demokratie beschädigen. Wer meint, dass alle
ben, betrachten sie mit wachsender Sorge.               Po­li­ti­ker*­innen unter einer Decke stecken, betei­
    Beides, der Glaube wie die Sorge, ist verständ­     ligt sich vielleicht nicht mehr an Wahlen oder gibt
lich. Verschwörungstheorien erfüllen wichtige           seine Stimme den Po­       pu­
                                                                                     list*­
                                                                                          innen. Wer glaubt,
Funktionen für die Identität derjenigen, die an sie     dass eine demokratische Wahl gefälscht wurde,
glauben.01 Sie schließen Zufall und Kontingenz          geht dagegen womöglich mit Gewalt vor, wie es
aus und betonen stattdessen menschliche Hand­           am 6. Januar 2021 beim Sturm auf das Kapitol in
lungsmacht. Sie bedienen Vorstellungen von au­          Washington geschah.
tonom handelnden Individuen, die besser ins 18.             Doch was genau sind eigentlich Verschwö­
oder 19. Jahrhundert als in die Gegenwart passen.       rungstheorien, und stimmt der Eindruck, dass
Zudem ermöglichen sie es, vermeintlich Schuldi­         sie immer populärer und einflussreicher wer­
ge zu identifizieren. Während in den klassischen        den? Diesen und verwandten Fragen widme ich
Sündenbocktheorien meist Einzelpersonen aus             mich in diesem Beitrag. Im ersten Teil definiere
der Gemeinschaft ausgestoßen werden, nehmen             ich das Phänomen und grenze es konzeptuell von
Verschwörungstheorien immer Kollektive ins              realen Verschwörungen und Fake News ab. An­
Visier. Und gerade in Zeiten, in denen es (noch)        schließend erörtere ich, warum der in der deut­
nicht (wieder) normal ist, an solche Theorien zu        schen Öffentlichkeit umstrittene Begriff „Ver­
glauben, ermöglichen es Verschwörungstheori­            schwörungstheorie“ angemessen ist. Im dritten
en ihren An­hän­ger*­innen, sich aus der Masse der      Teil skizziere ich kurz die Geschichte des ver­
Menschen hervorzuheben. Wer an Verschwö­                schwörungstheoretischen Denkens seit der Frü­
rungstheorien glaubt, kann von sich behaup­             hen Neuzeit. Dabei gilt mein besonderes Au­
ten, „aufgewacht“ zu sein und erkannt zu haben,         genmerk dem Prozess der Stigmatisierung, den
wie die Welt wirklich funktioniert, während die         Verschwörungstheorien in der westlichen Welt in
Mehrheit dies noch immer verkennt.                      der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch­
    Auch die Sorge über Verschwörungstheori­            laufen haben, sowie der Rolle des Internets für
en ist berechtigt. Zwar sind nicht alle Verschwö­       ihre Verbreitung. Abschließend gehe ich kurz auf
rungstheorien gefährlich und beileibe nicht alle        aktuelle Entwicklungen im Zuge der Corona-
Menschen, die an sie glauben. Doch Verschwö­            Pandemie ein.
rungstheorien können problematische Konse­
quenzen haben. Sie können Gewalt legitimieren,                             DEFINITION
wie nicht zuletzt die Attentate von Halle und
Christchurch gezeigt haben. Wer sich als Op­            Verschwörungstheorien behaupten, dass mäch­
fer eines globalen Komplotts sieht, kann sich           tige Akteure02 hinter den Kulissen einen perfi­

04
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Verschwörungs theorien
Verschwörungstheorien APuZ

den Plan verfolgen und deshalb die Geschehnisse                    Entwicklung vermeintlich profitieren, auch exakt
manipulieren. Michael Barkun zufolge zeichnen                      diejenigen sein, die dafür verantwortlich sind.
sich Verschwörungstheorien durch drei Grund­                       Ver­schwö­rungs­theo­re­tiker*­innen beginnen somit
annahmen aus: Sie gehen erstens davon aus, dass                    in der Regel mit der Identifikation der Schuldi­
nichts durch Zufall geschieht, dass also alles ge­                 gen und suchen danach nach Beweisen für deren
plant wurde. Zweitens behaupten sie, dass nichts                   Schuld. Dabei vernachlässigen sie alles, was gegen
so ist, wie es scheint, dass man also immer hinter                 ihre Annahmen spricht, und konzentrieren sich
die Fassade blicken muss, um zu erkennen, was                      höchst selektiv auf das, was ihre Behauptungen in
wirklich geschieht. Und drittens nehmen sie an,                    irgendeiner Weise stützen kann. Ihr Vorgehen ist
dass alles miteinander verbunden ist, dass es Be­                  somit im höchsten Maße unwissenschaftlich. Fra­
ziehungen zwischen Ereignissen, Personen und                       gen wie „Wer profitiert denn davon?“ oder Aus­
Institutionen gibt, die man nur erkennt und die                    sagen wie „Es kann kaum Zufall sein, dass…“
nur Sinn ergeben, wenn man von einer großen                        sind natürlich nicht immer unberechtigt. Oft je­
Verschwörung12 ausgeht.03 „Alles“ und „nichts“                     doch markieren sie den Moment, an dem berech­
darf man allerdings nicht streng wörtlich neh­                     tigte Zweifel und legitime Kritik in Verschwö­
men. Natürlich behaupten auch Ver­schwö­rungs­                     rungstheorien umschlagen.
theo­re­tiker*­innen nicht, dass der Kaffee, den sie                   Der nahezu völlige Ausschluss des Zufalls
am Morgen trinken, Teil des Komplotts ist und                      markiert auch einen wichtigen Unterschied zwi­
seine Zubereitung daher von den Verschwörern                       schen den imaginierten Komplotten der Ver­
orchestriert wurde. Vielmehr ist Barkuns De­                       schwö­rungs­theo­re­tiker*­innen und realen Ver­
finition so zu verstehen, dass Verschwörungs­                      schwörungen. Letztere hat es immer gegeben und
theorien Planung, Heimlichkeit und Verkettung                      wird es vermutlich auch immer geben. Man den­
überbetonen. Der entscheidende Faktor, der Ver­                    ke an die Ermordung Julius Cäsars im Jahr 44 vor
schwörungstheorien von wissenschaftlichen The­                     Christus und die versuchte Ermordung des rus­
orien unterscheidet oder von solchen, mit denen                    sischen Oppositionellen Alexej Nawalny im Au­
sich Menschen alltägliche Geschehnisse erklären,                   gust 2020. Beide Verschwörungen waren letzt­
ist die Überbetonung des Intentionalismus. In­                     endlich erfolglos. Den römischen Verschwörern
dem sie davon ausgehen, dass Menschen ihre Ab­                     gelang es zwar, Cäsar zu töten, doch ihr eigentli­
sichten in kleinen Gruppen über Jahre, Jahrzehn­                   ches Ziel – die Staatsform der Republik zu bewah­
te oder gar Jahrhunderte hinweg – man denke an                     ren – verfehlten sie. Es kam zum Bürgerkrieg, an
Verschwörungstheorien zu den Illuminaten – in                      dessen Ende Octavian zum Alleinherrscher wur­
die Tat umsetzen können, transportieren sie ein                    de und so die Epoche des Kaisertums einläutete.
antiquiertes Welt- und Menschenbild.                               „Die Verschwörer“, so schrieb schon Karl Pop­
    Die Überbetonung des absichtsvollen Han­                       per, „genießen nur selten die Früchte ihrer Ver­
delns, das sich zudem reibungslos in die Tat um­                   schwörung“.05 Zufall und nichtintendierte Kon­
setzen lässt, führt dazu, dass Ver­   schwö­ rungs­                sequenzen lassen sich nur selten ausschließen.
theo­re­tiker*­
              innen explizit oder implizit immer                       Schließlich sind Verschwörungstheorien von
die Frage „Cui bono?“ – wem nützt das? – stel­                     „Fake News“ zu unterscheiden. Obwohl der All­
len.04 Denn in einer Welt ohne Zufall, ungewoll­                   tagsdiskurs beide Begriffe mitunter synonym ge­
te Nebenfolgen oder systemische Effekte müs­                       braucht, handelt es sich um zwei unterschiedliche
sen diejenigen, die von einem Ereignis oder einer                  Phänomene. Fake News sind bewusst verbreite­
                                                                   te Falschinformationen, die darauf abzielen, be­
                                                                   stimmte Personen oder Institutionen zu diskredi­
01 Für eine ausführlichere Darstellung siehe Michael Butter,
                                                                   tieren, Verwirrung zu stiften oder andere Ziele zu
„Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien, Berlin
2018, S. 105–114.
                                                                   erreichen.06 Anders als Verschwörungstheorien
02 Da Verschwörungstheorien fast immer nur Männer als Strip-
penzieher identifizieren, wird im Folgenden nur die männliche      05 Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2:
Form verwendet, wenn es um die angeblichen Drahtzieher geht.       Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen 2003,
03 Vgl. Michael Barkun, A Culture of Conspiracy. Apocalyptic       S. 111.
Visions in Contemporary America, Berkeley–Los Angeles 2003,        06 Siehe Kiril Avramov/Vasily Gatov/Ilya Yablokov, Conspiracy
S. 3 f.                                                            Theories and Fake News, in: Michael Butter/Peter Knight (Hrsg.),
04 Für eine detailliertere Diskussion der verschwörungstheore-     Routledge Handbook of Conspiracy Theories, London 2020,
tischen Argumentation siehe Butter (Anm. 1), S. 57–101.            S. 512–524.

                                                                                                                                05
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Verschwörungs theorien
APuZ 35–36/2021

behaupten Fake News zum einen nicht zwangs­                           che Theorien viel gemeinsam. Beide versuchen,
läufig die Existenz einer Verschwörung; oft geht                      auf der Grundlage miteinander verknüpfter An­
es ihnen „nur“ um Diffamierung und Verleum­                           nahmen – im Fall der Verschwörungstheorie:
dung. Vor allem aber sind Ver­schwö­rungs­theo­                       nichts geschieht durch Zufall; nichts ist, wie es
re­
  tiker*­
        innen normalerweise absolut überzeugt                         scheint; und alles ist miteinander verbunden –
davon, dass gerade sie dazu beitragen, der Wahr­                      Wissen über die Welt zu gewinnen. Wie wissen­
heit ans Licht zu verhelfen. Sie verbreiten also in                   schaftliche Theorien auch liefern Verschwörungs­
der Regel nicht absichtlich falsche Informationen.                    theorien somit Antworten auf Erkenntnisfragen
Nur wenn man zynisch eine Verschwörungsthe­                           und ermöglichen ein „Verständnis der Welt“. 09
orie verbreitet, an die man selbst nicht glaubt,                      Sie erklären einerseits bereits Geschehenes und
werden Verschwörungstheorien zu Fake News.                            erlauben andererseits Vorhersagen über die Zu­
Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Version                      kunft. Ob diese Grundannahmen sinnvoll sind
der Verschwörungstheorie vom „Großen Aus­                             und somit zutreffendes Wissen über die Welt ge­
tausch“, die behauptet, dass George Soros dieses                      neriert wird, ist für die Vergabe des Etiketts „The­
Komplott orchestriert. Diese Verschwörungsthe­                        orie“ nicht von Belang, denn dieses bezieht sich
orie wurde von Beratern des ungarischen Premi­                        nur auf den formalen Prozess der Welterklärung.
erministers Viktor Orbán erfunden, um mit Soros                           Ein weiteres Argument gegen den Begriff
ein für weite Teile der ungarischen Bevölkerung                       „Verschwörungstheorie“ ist, dass Verschwö­
anschlussfähiges Feindbild zu schaffen.07                             rungstheorien, anders als wissenschaftliche The­
                                                                      orien, „nicht durch gegenteilige Beweise korrek­
                    BEGRIFFLICHKEIT                                   turfähig“,10 also nicht falsifizierbar seien. Auch
                                                                      dies stimmt nicht. Natürlich können Verschwö­
In einem zu Beginn der Corona-Pandemie er­                            rungstheorien widerlegt werden, und das ge­
schienenen populärwissenschaftlichen Buch heißt                       schieht auch regelmäßig. Wegen der offensichtlich
es: „Der gängige Begriff der Verschwörungstheo­                       problematischen Grundannahmen des konspira­
rie ist in letzter Zeit immer mehr kritisiert wor­                    tionistischen Denkens ist dies in der Regel auch
den, da man hierbei nicht von Theorien im wissen­                     gar nicht schwer. Das Problem ist allerdings, dass
schaftlichen Sinn sprechen kann.“08 Das stimmt                        überzeugte Ver­schwö­rungs­theo­re­tiker*­innen in
nicht. Im wissenschaftlichen Diskurs ist der Be­                      den allermeisten Fällen selbst schlüssige Gegen­
griff völlig unumstritten. In der internationalen                     beweise nicht akzeptieren, sondern ignorieren,
Forschung wird ausnahmslos von „conspiracy                            vermeintlich entkräften oder gar in Belege für
theories“ gesprochen, und in jeder mir bekannten                      ihre Verdächtigungen umzuwandeln versuchen.
europäischen Sprache gibt es eine direkte Entspre­                    Das Problem ist in diesem Fall also nicht die The­
chung. Eine Debatte über den Begriff wird nur im                      orie, sondern das Verhalten derjenigen, die an sie
deutschsprachigen Raum geführt – und dort vor                         glauben. Doch selbst dieses Verhalten unterschei­
allem in den Medien und unter zivilgesellschaft­                      det sich keineswegs so radikal von dem derjeni­
lichen Ak­teur*­innen. Zwar gibt es einzelne Wis­                     gen, die von bestimmten wissenschaftlichen The­
sen­schaft­ler*­innen, die den Begriff ablehnen, doch                 orien überzeugt sind. Es mag nicht dem Idealbild
die große Mehrheit der Forschenden, die sich in­                      von Wissenschaft entsprechen, aber in der Praxis
tensiv mit dem Thema beschäftigen, benutzt ihn                        haben auch seriöse Wis­sen­schaft­ler*­innen mitun­
weiterhin. Dafür gibt es gute Gründe, wohinge­                        ter große Schwierigkeiten, zu akzeptieren, dass
gen die Ablehnung aus einem Missverständnis des                       ihre Ideen widerlegt worden sind. Auch sie hal­
Begriffs „Theorie“ entwächst.                                         ten bisweilen an ihren Ansichten fest, obwohl die
    Wie der Philosoph Karl Hepfer erläutert, ha­                      Fakten gegen sie sprechen.11
ben Verschwörungstheorien und wissenschaftli­
                                                                      09 Karl Hepfer, Verschwörungstheorien. Eine philosophische
                                                                      Kritik der Unvernunft, Bielefeld 2015, S. 26.
07 Vgl. Hannes Grassegger, The Unbelievable Story of the Plot         10 Armin Pfahl-Traughber, Bausteine zu einer Theorie über
Against George Soros, 20. 1. 2019, www.buzzfeednews.com/              „Verschwörungstheorien“. Definition, Erscheinungsformen, Funkti-
article/hnsgrassegger/george-​soros-​conspiracy-​finkelstein-​birn-   onen und Ursachen, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Verschwörungs-
baum-​orban-​netanyahu.                                               theorien. Theorie – Geschichte – Wirkung, Innsbruck 2002,
08 Katharina Nocun/Pia Lamberty, Fake Facts. Wie Verschwö-            S. 30–44, hier S. 32.
rungstheorien unser Denken bestimmen, Köln 2020, S. 21.               11 Siehe hierzu ausführlicher Butter (Anm. 1), S. 54 ff.

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Verschwörungs theorien
Verschwörungstheorien APuZ

     Schließlich wenden diejenigen, die den Begriff                        meinsamkeit sichtbar. In Zeiten, in denen sich
„Verschwörungstheorie“ ersetzen möchten, ein,                              beide Lager immer misstrauischer beäugen, kann
dass er die An­hän­ger*­innen oft absurder Ideen                           dieses Bewusstsein ein erster Schritt dahin sein,
in problematischer Manier aufwerte.12 Das trifft                           die Gräben zu schließen oder zumindest nicht zu
jedoch nicht zu, da der Begriff hochgradig stig­                           groß werden zu lassen.
matisiert ist: „The term ‚conspiracy theory‘ often
acts as an insult itself. (…) Calling something a                                                GESCHICHTE
conspiracy theory is not infrequently enough to
end discussion“, wie Peter Knight bemerkt.13 Es                            Verschwörungstheorien haben eine lange Ge­
verwundert daher nicht, dass es sogar eine Ver­                            schichte, aber sie sind, anders als die frühe For­
schwörungstheorie zum Ursprung des Wortes                                  schung dachte, keine anthropologische Konstan­
„Verschwörungstheorie“ gibt. Viele Ver­    schwö­                          te.17 Erste Vorformen, die modernen Varianten
rungs­theo­re­tiker*­innen behaupten, der Begriff                          sehr ähnlich sind, finden sich zwar bereits im an­
sei vom US-Auslandsgeheimdienst CIA erfun­                                 tiken Athen und Rom. Von dort führt allerdings
den worden, um Kritik an der offiziellen Versi­                            keine kontinuierliche Entwicklungslinie in die
on des Attentats auf John F. Kennedy zu dele­                              Gegenwart. Im Mittelalter gibt es lediglich Ver­
gitimieren.14 Tatsächlich aber stammt er aus der                           satzstücke von Verschwörungstheorien. Wie
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; seine heuti­                          Cornel Zwierlein gezeigt hat, entstehen erst mit
ge Bedeutung wurde von Karl Popper kurz nach                               dem Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen
dem Zweiten Weltkrieg geprägt.15                                           Neuzeit, also im 15. und 16. Jahrhundert, Ver­
     Betont werden muss, dass diese Begriffsdis­                           schwörungstheorien, die unserem modernen Ver­
kussion keine rein akademische Fingerübung                                 ständnis entsprechen. Denn erst dann sind die
ist, sondern praktische Konsequenzen hat. Wer                              Bedingungen gegeben, die diese benötigen: be­
statt von „Ver­schwö­rungs­theo­rien“ von „Ver­                            stimmte Vorstellungen von menschlicher Hand­
schwö­rungs­my­then“,        „Ver­schwö­rungs­ideo­                        lungsfähigkeit (Menschen können der Welt ihren
lo­gien“ oder „Ver­schwö­rungs­er­zäh­lungen“                              Willen aufdrücken, nicht Gott bestimmt alles)
spricht, verwendet Begriffe, die das allgemeine                            und Zeitlichkeit (die Verschwörung hat angeb­
Wesen des Phänomens nur unzureichend erfas­                                lich in der Vergangenheit begonnen und will ihre
sen und sich lediglich für bestimmte Ver­schwö­                            Ziele in der Zukunft erreichen), die medialen Be­
rungs­theo­rien eignen.16 Wer dagegen von „Ver­                            dingungen zur Verbreitung der Theorien (Buch­
schwö­rungs­theorien“ spricht, erkennt an, dass es                         druck) und nicht zuletzt eine (zunächst vor allem
Ver­schwö­rungs­theo­re­tiker*­innen wie Nicht­ver­                        lesende) Öffentlichkeit, in der Verschwörungs­
schwö­rungs­theo­re­tiker*­innen darum geht, die                           theorien zirkulieren können.18
Welt zu verstehen. Während immer nur „die An­                                  Anders als heute wurden Verschwörungs­
deren“ Ideologien haben und Erzählungen glau­                              theorien damals nicht als Problem betrachtet.
ben, wird so bei allen Unterschieden eine Ge­                              Von der Frühen Neuzeit bis in die 1950er Jah­
                                                                           re waren Verschwörungstheorien in der gesam­
                                                                           ten westlichen Welt orthodoxes Wissen im Sinne
12 So zum Beispiel Ingrid Brodnig, Einspruch! Verschwörungs-
                                                                           der Wissenssoziologie, also von wissenschaftli­
mythen und Fake News kontern – in der Familie, im Freundes-
kreis und online, Wien 2021.
                                                                           chen und anderen gesellschaftlichen Autoritä­
13 Peter Knight, Conspiracy Culture. From Kennedy to The X                 ten als valide und gültig erachtetes Wissen.19 Wie
Files, London 2000, S. 11.                                                 eine Reihe von Studien gezeigt hat, machten die
14 Siehe Michael Butter, There’s a Conspiracy Theory That
the CIA Invented the Term ‚Conspiracy Theory‘ – Here’s Why,
16. 3. 2020, www.theconversation.com/theres-​a-​conspiracy-​               17 Siehe zum Beispiel Ute Caumanns/Mathias Niendorf
theory-​that-​the-​cia-​invented-​the-​term-​conspiracy-​theory-​heres-​   (Hrsg.), Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten –
why-​132117.                                                               Historische Varianten, Osnabrück 2001.
15 Vgl. Andrew McKenzie-McHarg, Conspiracy Theory. The                     18 Vgl. Cornel Zwierlein, Security Politics and Conspiracy The-
Nineteenth-Century Prehistory of a Twentieth-Century Concept,              ories in the Emerging European State System (15th/16th c.), in:
in: Joseph Uscinski (Hrsg.), Conspiracy Theories and the People            Historical Social Research/Historische Sozialforschung 1/2013,
Who Believe Them, Oxford 2019, S. 62–81.                                   S. 69–95.
16 Siehe Michael Butter, Nennt sie beim Namen!, 28. 12. 2020,              19 Zum wissenssoziologischen Ansatz siehe Andreas Anton,
www.zeit.de/gesellschaft/​2020-​12/verschwoerungstheorien-​co-             Unwirkliche Wirklichkeiten. Zur Wissenssoziologie von Ver-
rona-​krise-​wort-​des-​jahres-​2020.                                      schwörungstheorien, Berlin 2011.

                                                                                                                                        07
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Verschwörungs theorien
APuZ 35–36/2021

Abbildung 1: Verschwörungsmentalität in Deutschland 2018/2019
        Es gibt geheime Organisationen, die großen
        Einfluss auf politische Entscheidungen haben.           20,7            13,9           19,7           22,1              23,6

        Politiker und andere Führungspersönlichkeiten
     sind nur Marionetten dahinterstehender Mächte.              24                  17               26,3            16,6          16,1

Die Medien und die Politik stecken unter einer Decke.             30,1                     20,8              24,9            12,6    11,6

              Ich vertraue meinen Gefühlen mehr als
                              sogenannten Experten.       9,5     10,8                  29,3              19,5                30,9

            Studien, die einen Klimawandel belegen,
                                                                                 56,2                         18,9       13,4        7,9

                                                                                                                                           3,7
                                 sind meist gefälscht.
                                                     0%     10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
                             überhaupt nicht      eher nicht           teils/teils      eher ja       voll und ganz
Quelle: Jonas H. Rees/Pia Lamberty, Mitreißende Wahrheiten: Verschwörungsmythen als Gefahr für den gesellschaftlichen
Zusammenhalt, in: Andreas Zick et al. (Hrsg.), Verlorene Mitte, feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland
2018/19, Bonn 2019, S. 203-222, hier S. 214f.

Ideen der Zeit dies unausweichlich. So förder­                            liche Umstürzler „von unten“, wie Freimaurer,
te das mechanistische Weltbild des 18. Jahrhun­                           Juden oder Kommunisten, auf „Verschwörer ge­
derts den Verschwörungsglauben. Gleiches gilt                             gen die Sozialordnung“.21 Solange Verschwö­
für die Überzeugung, dass die moralische Qua­                             rungstheorien fester Bestandteil von Elitendis­
lität einer Handlung immer derjenigen Intention                           kursen waren, richteten sie sich vor allem gegen
entspreche, die diese Handlung motiviert habe.20                          marginalisierte Gruppen. Erst, als sie im Laufe
Daher glaubten Politiker wie Abraham Lincoln                              des 20. Jahrhunderts an die Ränder der Gesell­
oder Winston Churchill und Intellektuelle wie                             schaft wanderten, wurden sie zu einem Mittel
Samuel Morse, der Erfinder des Telegraphen,                               der Elitenkritik.
oder Thomas Mann an Verschwörungstheori­                                       Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ver­
en, und diese hatten einen entsprechend großen                            schwörungstheoretisches Wissen in der westli­
Einfluss auf politische und andere Entscheidun­                           chen Welt zunehmend problematisiert. Dieser
gen. Hätte es 1921 oder 1821 quantitative Erhe­                           Prozess der Stigmatisierung ist bisher nur für
bungen gegeben wie heute, hätte man mit großer                            die USA detailliert nachgezeichnet worden. Es
Wahrscheinlichkeit in Europa und Nordamerika                              ist jedoch anzunehmen, dass er in Europa sehr
weit über 80 Prozent Zustimmung zu den gän­                               ähnlich verlief, da die Effekte auch hier zu be­
gigen Verschwörungstheorien der Zeit festge­                              obachten sind. Wie Katharina Thalmann gezeigt
stellt. Weil Verschwörungstheorien so fest in der                         hat, war es vor allem das Einsickern sozialwis­
Mitte der Gesellschaft verankert waren, unter­                            senschaftlicher Erkenntnisse in Alltagsdiskurse,
schied sich auch ihre Stoßrichtung von den heu­                           das zur Delegitimierung konspirationistischen
tigen Varianten. Während Verschwörungstheo­                               Wissens führte. Theodor Adorno und Leo Lö­
rien zumindest in der westlichen Welt heute vor                           wenthal, die vor den Nazis ins amerikanische
allem ein Mittel der populistischen Elitenkritik                          Exil geflohen waren, beschäftigten sich unter
sind, sich also primär gegen vermeintliche Ver­                           dem Eindruck des Holocaust mit den potenzi­
schwörer „von oben“ richten, konzentrierten sie                           ell fürchterlichen Auswirkungen von Verschwö­
sich in der Vergangenheit vor allem auf angeb­                            rungstheorien. Sie konzentrierten sich dabei auf
                                                                          die Psychopathologie der Ver­schwö­rungs­theo­re­
                                                                          tiker*­innen und postulierten eine enge Verbin­
20 Siehe z. B. Gordon Wood, Conspiracy and the Paranoid
Style. Causality and Deceit in the Eighteenth Century, in: The
William and Mary Quarterly 3/1982, S. 402–441; Ralf Klaus-                21 Vgl. Johannes Rogalla von Bieberstein, Der Mythos von
nitzer, Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichenöko-           der Verschwörung. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale
nomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und            und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung, Bern
Wissenschaft 1750–1850, Berlin 2007.                                      1976.

08
Verschwörungstheorien APuZ

Abbildung 2: Verschwörungsmentalität in Deutschland 2020/21
        Es gibt geheime Organisationen, die großen
                                                                26,9                 25,4               24,8              14      8,9
        Einfluss auf politische Entscheidungen haben.
       Politiker und andere Führungspersönlichkeiten
                                                                 29,6                  25,2               24,7            12,7     7,8
    sind nur Marionetten dahinterstehender Mächte.

Die Medien und die Politik stecken unter einer Decke.           27,7                 25,4               22,7            11,4     12,8

             Ich vertraue meinen Gefühlen mehr als
                                                          15,2           18,8                 33,8               13,4          18,9
                             sogenannten Experten.
            Studien, die einen Klimawandel belegen,
                                                                        44,8                          33,9                13,4

                                                                                                                                  3,9
                                                                                                                                        4,1
                                 sind meist gefälscht.
                                                     0%    10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
                            überhaupt nicht       eher nicht       teils/teils     eher ja      voll und ganz
Quelle: Pia Lamberty/Jonas H. Rees, Gefährliche Mythen: Verschwörungserzählungen als Bedrohung für die Gesellschaft, in: Andreas
Zick/Beate Küpper (Hrsg.), Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21,
Bonn 2021, S. 283–300, hier S. 290 f.

dung zwischen der Neigung zum Totalitarismus                           beiden Stränge der Kritik endgültig verschmolz
und der zu Verschwörungstheorien. Gleichzeitig                         und Verschwörungstheorien mit Geisteskrank­
begannen Wis­sen­schafts­theo­re­ti­ker*­innen wie                     heit ­assoziierte.23
Karl Popper, die Epistemologie von Verschwö­                               Verschwörungstheorien wanderten somit aus
rungstheorien zu kritisieren. Verschwörungsthe­                        der Mitte der Gesellschaft an die Ränder, sie blie­
orien, so argumentierten sie, könnten die Welt                         ben jedoch auch in der westlichen Welt einiger­
nicht adäquat beschreiben, da sie viel zu einsei­                      maßen populär. Sie verschwanden zwar aus der
tig menschliche Handlungsmacht betonten und                            Öffentlichkeit, wo sie nicht mehr akzeptiert wur­
nichtintendierte Effekte sowie die Eigenlogik so­                      den, zirkulierten aber weiterhin in Subkulturen.
zialer Systeme und deren strukturelle Zwänge                           Ver­schwö­rungs­theo­re­tiker*­innen hatten es dem­
vernachlässigten.22                                                    entsprechend schwer, ein breiteres Publikum zu
    Dieser zunächst innerakademische Diskurs                           erreichen. Oft mussten sie ihre Bücher im Selbst­
wurde einige Jahre später von einer neuen Ge­                          verlag herausbringen. Ihre alternativen Erklärun­
neration von Wis­sen­schaft­ler*­innen wie dem                         gen entfalteten daher keine große Wirkung. Wer
Soziologen Edward Shils oder dem Politikwis­                           daran zweifelte, dass die Amerikaner tatsächlich
senschaftler Seymour Martin Lipset aufgegrif­                          auf dem Mond gelandet waren, musste viel Zeit
fen. Ihnen ging es nicht mehr um den Totalita­                         und Mühe investieren, um alternative Erklärun­
rismus in Europa, sondern um Argumente gegen                           gen für diese Ereignisse zu finden. Oft blieb es
die konspirationistische Anti-Kommunisten­                             deshalb bei Zweifeln, die sich nicht zu Verschwö­
hetze in den USA. Ihre Schriften wurden von                            rungstheorien verfestigten.24
Jour­na­list*­innen rezipiert, die sich ebenfalls mit                      Mit dem Internet hat sich die Situation wieder
diesem Thema befassten, und so in die breite                           geändert. Für Ver­schwö­rungs­theo­re­tiker*­innen
Öffentlichkeit getragen, wo sie schnell Wirkung                        ist es nun sehr leicht, ihre Ideen zu publizieren.
entfalteten, sodass Verschwörungstheorien zu­                          Und wer einmal „9/11“ oder „Impfen“ googelt,
nehmend als eine Gefahr für die amerikanische                          findet je nach individuellem Suchalgorithmus
Demokratie begriffen wurden. Die Delegitimie­                          spätestens auf der zweiten Seite der Ergebnisliste
rung dieser Denkform gipfelte 1964 in Richard                          Links zu konspirationistischen Seiten. Das Inter­
Hofstadters berühmtem Aufsatz über den „Pa­
ranoid Style in American Politics“, in dem er die
                                                                       23 Siehe Richard Hofstadter, The Paranoid Style in American
                                                                       Politics, in: ders., The Paranoid Style in American Politics and
22 Siehe hierzu ausführlich Katharina Thalmann, „A Plot to             Other Essays, Cambridge 1996, S. 3–40.
Make Us Look Foolish.“ The Stigmatization of Conspiracy Theo-          24 Vgl. hierzu sowie zur im Folgenden diskutierten Rolle des
ry, London 2019.                                                       Internets ausführlich Butter (Anm. 1), S. 182–190.

                                                                                                                                              09
APuZ 35–36/2021

net erhöht somit zunächst einmal die Sichtbarkeit                      Das ist insofern nicht überraschend, da die in
und Verfügbarkeit von Verschwörungstheorien.                       Deutschland populären Verschwörungstheorien
Hinzu kommt, dass Ver­schwö­rungs­theo­re­tiker*­                  zu Corona alle nicht neu sind. In den meisten Fäl­
innen über das Internet viel besser vernetzt sind                  len wurde die Pandemie lediglich zum neuesten
als früher und sich so leichter gegenseitig in ihren               Kapitel bereits vorher existierender Verschwö­
Überzeugungen bestärken können. Auch sind                          rungstheorien zum Impfen, zur angeblichen Ab­
Gegenöffentlichkeiten mit eigenen Experten- und                    schaffung der Grundrechte, zur 5G-Technologie
Mediensystemen entstanden. Das hat zur Folge,                      oder zum „Großen Austausch“. Dass viele Be­ob­
dass vermutlich wieder etwas mehr Menschen                         ach­ter*­innen zunächst von einem Anstieg aus­
an Verschwörungstheorien glauben als vor dem                       gingen, ist dennoch verständlich. Zum einen wis­
Aufkommen des Internets. Es sind aber sicher­                      sen wir aus der psychologischen Forschung, dass
lich deutlich weniger als vor hundert oder zwei­                   Menschen, die Ambivalenzen oder Unsicher­
hundert Jahren. Es gilt noch immer, was Joseph                     heit schlecht akzeptieren können oder sich ohn­
Parent und Joseph Uscinski in ihrer quantitativen                  mächtig fühlen, besonders empfänglich für Ver­
Studie zu amerikanischen Verschwörungstheori­                      schwörungstheorien sind.28 Und die Coronakrise
en konstatieren, für die sie unter anderem Leser­                  war und ist natürlich eine Zeit der fundamenta­
briefe an die Redaktionen großer Zeitungen von                     len Unsicherheit für uns alle, insbesondere in den
1890 bis in die Gegenwart ausgewertet haben:                       Wochen des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020,
„[W]e do not live in an age of conspiracy theories                 als die Verschwörungstheorien zum Thema ent­
and have not for some time.“25 Daran hat auch die                  standen. Zum anderen mussten viele Menschen
Corona-Pandemie nichts geändert.                                   im Verlauf des letzten Jahres erkennen, dass Ver­
                                                                   schwörungstheorien auch in ihrem Familien- und
                         CORONA                                    Freundeskreis Anklang ­finden.
                                                                       Man darf jedoch stärkere Sichtbarkeit nicht
Psychologie und Politikwissenschaft versuchen                      mit zunehmender Popularität verwechseln. Der
seit einigen Jahren, die Verbreitung einer allge­                  sicherste Indikator dafür, dass jemand an eine
meinen Verschwörungsmentalität zu bestimmen.                       Verschwörungstheorie glaubt, ist, dass er be­
Solche Studien sind einerseits aufschlussreich, an­                reits an andere solche Theorien glaubt. Nur fällt
dererseits aber mit Skepsis zu betrachten, da sie                  dies oft nicht auf. Die meisten Menschen, die an
nicht bestimmen können, wie fest die geäußerten                    Verschwörungstheorien glauben, sind nicht psy­
Überzeugungen und wie wichtig sie für die Iden­                    chisch krank, wie man früher vermutete, son­
tität der Befragten sind.26 Rechnet man verschie­                  dern ganz normal. Sie wissen, dass ihre Über­
dene Umfragen gegeneinander auf, kommt man                         zeugungen von vielen, mit denen sie täglich zu
auf etwa ein Viertel bis maximal ein Drittel der                   tun haben, abgelehnt werden. Entsprechend be­
Deutschen, das empfänglich für Verschwörungs­                      halten sie ihre Ansichten für sich und äußern
theorien ist. Überzeugte Ver­schwö­rungs­theo­re­                  sie nur unter Gleichgesinnten. Selbst ein The­
tiker*­innen machen etwa 10 Prozent der Bevöl­                     ma wie das Impfen, das handfeste Auswirkungen
kerung aus. Dies hat sich in der Pandemie nicht                    auf das eigene Leben hat, kann im Gespräch mit
verändert, wie mehrere Studien zeigen, die ihre                    Freund*­innen und Familie normalerweise ausge­
Daten im Sommer 2020 oder Frühjahr 2021 erho­                      spart werden. Die Coronakrise dagegen macht
ben haben. Wenn überhaupt, hat der Glaube an                       aufgrund der vielfältigen Einschränkungen des
Verschwörungstheorien seit Beginn der Pande­                       sozialen Lebens eine ständige Positionierung
mie in Deutschland abgenommen.27                                   notwendig – gerade im Umgang mit Freund*­
                                                                   innen und Familienangehörigen. Noch immer
25 Joseph Parent/Joseph Uscinski, American Conspiracy Theo-
                                                                   – Stand: Juni 2021 – gibt es für viele Menschen
ries, New York 2014, S. 110 f.
26 Für eine ausführliche Kritik an der quantitativen Methodik
siehe Michael Butter/Peter Knight, Bridging the Great Divide.      land 2018/19, Bonn 2019; Andreas Zick/Beate Küpper (Hrsg.),
Conspiracy Theory Research for the 21st Century, in: Diogenes      Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährden-
3–4/2015, S. 17–29.                                                de Einstellungen in Deutschland 2020/21, Bonn 2021.
27 Siehe u. a. die beiden letzten „Mitte-Studien“ der Friedrich-   28 Siehe Karen Douglas et al., Understanding Conspiracy
Ebert-Stiftung: Andreas Zick et al. (Hrsg.), Verlorene Mitte,      Theories, in: Advances in Political Psychology S1/2019, DOI:
feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutsch-      10.1111/pops.12568.

10
Verschwörungstheorien APuZ

Abbildung 3: Verschwörungsmentalität in Deutschland 2020/21
     Geheime Mächte sind für die
                                                              61,6                                    20,2          8,5     6 3,8
 Corona-Pandemie verantwortlich.

Die Corona-Pandemie wird genutzt,
                                                           56,5                               18,2           8,2    10,1        7,1
um Zwangsimpfungen einzuführen.
                                  0%       10%      20%      30%        40%       50%       60%       70%     80%         90%    100%

                                       überhaupt nicht     eher nicht         teils/teils   eher ja      voll und ganz
Quelle: Pia Lamberty/Jonas H. Rees, Gefährliche Mythen: Verschwörungserzählungen als Bedrohung für die Gesellschaft, in: Andreas
Zick/Beate Küpper (Hrsg.), Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21,
Bonn 2021, S. 283–300, hier S. 292.

kaum ein anderes Thema. Gerade im Privaten                        Impf-Verschwörungstheorien, die 2021 zuneh­
ging es bis vor kurzem (und eventuell bald wie­                   mend dominant wurden, befeuerten die Sorgen
der) meist um die Frage, ob und unter welchen                     der Öffentlichkeit.
Bedingungen man sich überhaupt treffen konn­                          Diese Sorgen sind – wie gesagt – nicht unbe­
te. Das führte zwangsläufig dazu, dass diejeni­                   rechtigt. Der Glaube an Verschwörungstheori­
gen, die die Kontaktbeschränkungen als Teil ei­                   en kann gefährliche Folgen haben, aber es gibt
nes Komplotts sehen, dies auch sagten. Das mag                    keinen Grund, in Panik zu verfallen, wie dies im
bei vielen Menschen den Eindruck erweckt ha­                      öffentlichen Diskurs bisweilen geschieht. Ver­
ben, dass es plötzlich auch in ihrem Umfeld Ver­                  schwörungstheorien sind Teil aller modernen
schwö­rungs­theo­re­tiker*­innen gibt. Das ist nicht              Gesellschaften seit der Frühen Neuzeit, und bis
unbedingt falsch, denn bestimmt haben einige                      vor wenigen Jahrzehnten waren sie noch viel
Menschen Verschwörungstheorien erst durch                         populärer und akzeptierter als heute. Ihre gro­
Corona entdeckt. In den allermeisten Fällen                       ße Sichtbarkeit in der Gegenwart ist vor allem
aber, das belegen die Zahlen, glaubten Kol­le­g*­                 eine Folge der Skepsis, mit der sie in Deutsch­
innen, Freund*­innen und Verwandte schon vor­                     land – die USA sind ein anderes Thema – noch
her an Verschwörungstheorien; man wusste es                       immer von der breiten Mehrheit und fast allen
nur nicht.                                                        politischen Ent­schei­dungs­trä­ger*­innen betrach­
    Zu der Wahrnehmung, dass der Glaube an                        tet werden. Die Coronakrise hat dies nicht ge­
Verschwörungstheorien in der Krise sprunghaft                     ändert; sie hat vielmehr zu einer noch größeren
zugenommen habe, hat auch die große Aufge­                        Sensibilisierung der Öffentlichkeit geführt. Auf
regtheit beigetragen, mit der das Thema mitunter                  vielen Ebenen werden derzeit Maßnahmen zur
diskutiert wird. Anders als während der Krim-                     Eindämmung von Verschwörungstheorien dis­
Krise von 2014 oder der „Flüchtlingskrise“ ein                    kutiert. Daher kann man verhalten optimistisch
Jahr später, wo erst nach einigen Monaten inten­                  sein, dass der Glaube an sie in den nächsten Jah­
siver über die zirkulierenden Verschwörungs­                      ren eher ab- als zunehmen wird. Verschwinden
theorien berichtet wurde, taten Jour­na­list*­innen               wird er allerdings nie.
dies beim Thema Corona viel früher. Das lag ei­
nerseits an einer begrüßenswerten Sensibilisie­
rung für das Thema aufgrund der Erfahrungen
der letzten Jahre. Es hatte aber sicher auch da­
mit zu tun, dass das öffentliche Leben im März
2020 vollständig zum Erliegen kam und Jour­na­
list*­innen nach ein paar Tagen nach neuen Per­
spektiven auf das einzige Thema suchten, das es
für viele Wochen gab. Die sogenannten „Hygi­                      MICHAEL BUTTER
enedemos“ gegen die Kontaktbeschränkungen,                        ist Professor für amerikanische Literatur- und
die bereits Ende März begannen, die bundes­                       Kulturgeschichte an der Eberhard Karls Universität
weite „Querdenken“-Bewegung mit ihrer pro­                        Tübingen.
blematischen Nähe zur Neuen Rechten und die                       michael.butter@uni-​tuebingen.de

                                                                                                                                      11
2021
   Bestell-Nr. 10652

                       2020
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2020
Bestell-Nr. 10495
Verschwörungstheorien APuZ

  SOZIALER WANDEL, SOZIALCHARAKTER
    UND VERSCHWÖRUNGSDENKEN
         IN DER SPÄTMODERNE
                             Carolin Amlinger · Oliver Nachtwey

Formen des Verschwörungsdenkens gab es im­             die Unterklassen, für die der Staat schon zuvor
mer, aber sie blieben zumeist randständig. In den      in ihre Freiheitsgrade interveniert hat (etwa über
letzten Jahren sind sie jedoch immer weiter in das     Hartz IV), trafen die staatlichen Disziplinierungen
Zentrum der Gesellschaft vorgerückt. Die Irrita­       nun auch jene Segmente der Mittel- und Oberklas­
tionen über die Hygienedemonstrationen und die         sen (insbesondere im kulturellen Bereich), für die
Bewegung der Querdenker sind deshalb so groß,          der Staat zuvor Garant ihrer Freiheitsgrade war,
weil sie die Wissensgrundlage, auf deren Basis po­     und den sie in der alltäglichen Lebensführung al­
litische Konflikte ausgehandelt werden, weitge­        lenfalls regulativ zu spüren bekamen.03 Zweitens
hend aufkündigen. Dass heutige Konflikte um die        kann das Subjekt sein Bedürfnis nach eigenem
Frage nach der Deutung der Realität geführt wer­       Sinnverstehen nicht länger erfüllen. Es war ge­
den, kommt allerdings nicht von ungefähr. Denn         wohnt, sich Wissen in einer bestreitbaren, diskur­
moderne Politik ist genau wie ihre Konflikte           siven Auseinandersetzung selbst anzueignen. Mit
epis­temisiert worden. Diese kreisen um die Fra­       dem Coronavirus wird es seines eigenen Nicht-
ge, wer die richtigen Fakten auf seiner Seite hat.01   Wissen-Könnens gewahr und zusätzlich mit sei­
     Im Folgenden verschieben wir den häufig ge­       ner Fremdwissensabhängigkeit konfrontiert. Es
brauchten Zugriff auf die gegenwärtigen Bewe­          muss nun auf das Wissen Anderer, das ihm unbe­
gungen gegen die Corona-Maßnahmen, die zu­             kannter Ex­pert:­innen, vertrauen. Auf diese beiden
meist als irrationale Rebellionen gegen gesichertes    Beschränkungen reagiert das spätmoderne Sub­
und legitimes Wissen dargestellt werden. Wir be­       jekt mit einer epistemischen Kritik, welche die Fra­
trachten diese Konflikte zunächst als immanen­         ge, „wie es um das, was ist, bestellt ist“,04 radikal
te Folge des gesellschaftlichen Wandels, genauer       stellt.05 Es protestiert auf der Ebene der Wirklich­
gesagt als paradoxale Nebenfolge spätmoderner          keitsdeutung (und ihrer Verleugnung) gegen jene
Gesellschaften.02                                      politischen Entscheidungen, die es in seiner Deu­
     Die gegenwärtige Konjunktur des Verschwö­         tungs- und Handlungsmacht einschränken.06
rungsdenkens ist aus unserer Sicht das Resultat            Wie kam es dazu, dass sich das Subjekt, wel­
eines längerfristigen sozialen Wandels zur Spät­       ches das emanzipatorische Potenzial spätmoder­
moderne, der ein hochindividualisiertes Subjekt        ner Gesellschaften verkörpern sollte, gekränkt von
hervorgebracht hat, das, freigesetzt aus traditiona­   ihnen abwendet, um sich vorwissenschaftlichen
len Institutionen, sein Leben vermeintlich selbst­     Wissensbeständen zuzuwenden, die stärker dem
bestimmt gestaltet, sich aber seiner sozialen und      Gesetz „formelhafte[r] Wahrheit“07 traditionaler
politischen Umwelt häufig ohnmächtig gegen­            Gesellschaften folgen? Das wollen wir im Folgen­
übersieht. Dieses Subjekt stößt in der Corona-         den skizzieren. Nachdem wir zunächst den sozia­
Pandemie nun auf zwei Grenzen, die sein Handeln        len Wandel insbesondere bezüglich der Rolle von
limitieren und sein individuelles Selbstverständnis    Wissen und Nichtwissen diskutieren, widmen wir
bedrohen: Erstens werden die Freiheitsgrade, die       uns der sozialen Grundarchitektur und dem Sozi­
eine auf Wettbewerb und Konkurrenz beruhen­            alcharakter spätmoderner Individuen, um versteh­
de Gesellschaft für es hervorgebracht hat, mit der     bar zu machen, warum Menschen, die sich selbst
Rückkehr des sichtbaren Staates in die alltägliche     als emanzipiert und unabhängig verstehen, neue
Lebensführung durch die Maßnahmen zur Ein­             Gemeinschaften ausbilden, die über eine Herme­
schränkung der Pandemie limitiert. Anders als          neutik des Verdachts soziale Identität stiften.

                                                                                                         13
APuZ 35–36/2021

         NICHTWISSEN UND AUFSTIEG                                    Wissen um die Risiken generieren; denn im glei­
             DER EXPERT:­INNEN                                       chen Atemzug nimmt die Bedeutung von Nicht-
                                                                     Wissen zu. Gerade die für die Risikogesellschaft
Der erste Aspekt betrifft den veränderten Stellen­                   charakteristischen Nebenfolgen produzieren sys­
wert von Wissen in der modernen Gesellschaft. In                     tematisch ein „Konfliktfeld pluralistischer Ratio­
der Risikogesellschaft, wie sie Ulrich Beck bereits                  nalitätsansprüche“,10 in der die Zuordnung von
1986 hellsichtig nannte, geht „die gesellschaftliche                 Wissen und Nichtwissen beständig umstritten
Produktion von Reichtum systematisch einher                          ist. Da Risiken wegen ihres umstrittenen Reali­
(…) mit der gesellschaftlichen1234567 Produktion von Ri-             tätsgehalts erst im interpretativen Wissen über sie
siken“.08 Anders als materielle Verteilungsfragen                    konstruiert werden, sind sie besonders offen für
bedrohen die durch die Produktivitätszuwächse                        politische Definitionskämpfe und Aushandlungs­
der kapitalistischen Industrienationen hervorge­                     prozesse.
brachten Gefährdungen nicht nur einen Teil der                            Die Akkumulation von immer mehr und im­
Bevölkerung, sondern die globale Umwelt (also                        mer neuem Wissen führt also zu einer gleichzei­
das Leben auf der Erde in seiner Gesamtheit).                        tigen Komplexitätssteigerung der Welt und zu
Kennzeichnend für diese Risiken (Beck hatte vor                      einer Steigerung des individuellen Nicht-Wis­
allem die Radioaktivität oder Schad- und Giftstof­                   sen-Könnens. Als Kehrseite der fortwährenden
fe vor Augen) ist nun, dass sie meist unbekannt                      Produktion von komplexem Wissen kann das
und unsichtbar sind, sich dem Erfahrungswissen                       Nichtwissen ganz unterschiedliche Formen an­
der Einzelnen entziehen und dadurch auf die In­                      nehmen: Es kann durch eine verfälschende oder
terpretation von wissenschaftlichen Ex­pert:­innen                   selektive Rezeption (beispielsweise durch die
angewiesen sind. Auf eine paradoxe Formel ge­                        Medien) verbreitet oder durch wissenschaftli­
bracht: Wir wissen zwar immer mehr, aber als ein­                    che Irrtümer produziert werden, ein verdrän­
zelnes Individuum immer weniger davon.                               gendes Nicht-Wissen-Wollen oder ein episte­
    Mit der Vergrößerung von Zivilisationsri­                        misches Nicht-Wissen-Können sein.11 Mit dem
siken kommt es weder zu einer enormen „Wis­                          Nichtwissen wird das Deutungsprivileg wissen­
senschaftsexpansion“09 noch zu einem Bedeu­                          schaftlicher Rationalität infrage gestellt; es lässt
tungszuwachs von Expertenrationalität, die das                       sich nicht alles wissen, alles erklären oder be­
                                                                     herrschen. Damit kommt es zu einer tiefgreifen­
01 Vgl. Alexander Bogner, Die Epistemisierung des Politischen.
                                                                     den Form der „Unsicherheit auf allen Seiten“.12
Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet, Ditzingen        Denn nicht nur die Risiken, die mit dem Wirt­
2021; William Davies, Nervöse Zeiten. Wie Emotionen Argu-            schaftswachstum von Industrienationen steigen,
mente ablösen, München 2019.                                         transzendieren das Feld des Sichtbaren. Mit den
02 Zur paradoxen Entwicklung der Moderne vgl. Oliver
                                                                     wissenschaftlichen Versuchen, diese Risiken zu
Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in
der regressiven Moderne, Berlin 2016, Kap. 3.
                                                                     erkennen, um sie anschließend kontrollieren zu
03 Vgl. Harry Nutt, Corona-Impfdebatte und Neid in der               können, bemisst sich auch der Wahrheitsgehalt
Pandemie: „Ist das gerecht so?“, Interview mit Sighard Neckel,       von Wissen neu. Die Frage nach der „Realität der
10. 5. 2021, www.fr.de/-​90528319.html.                              Realität“13 wird damit zu einer politischen Kern­
04 Luc Boltanski, Soziologie und Sozialkritik, Berlin 2010, S. 13.
                                                                     frage spätmoderner Gesellschaften.
05 Vgl. Carolin Amlinger/Oliver Nachtwey, Die Risikogesell-
schaft und die Gegenwelt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung
                                                                          In einer Pandemie findet zudem eine be­
(FAZ), 17. Februar 2021, S. N3.                                      schleunigte und ausgeweitete Politisierung statt.
06 Alexander Bogner interpretiert den gegenwärtigen science          Vieles, was zuvor als relativ unpolitisch galt –
denial ebenfalls als eine „enttäuschte Hoffnung des hochindivi-      etwa die allgemeine Versorgung mit Alltagsgü­
dualisierten, aktivierten Subjekts auf volle Souveränität und eine
                                                                     tern oder bewusst politisch latent gehaltene Fra­
vollends durchschaubare, entscheidungsoffene Welt“, Bogner
(Anm. 1), S. 104.
                                                                     gen der Gesellschaft (zum Beispiel die soziale
07 Scott Lash, Expertenwissen oder Situationsdeutung? Kultur
und Institutionen im desorganisierten Kapitalismus, in: Ulrich
Beck/Anthony Giddens/Scott Lash (Hrsg.), Reflexive Moderni-          10 Ulrich Beck, Wissen oder Nicht-Wissen? Zwei Perspektiven
sierung: eine Kontroverse, Frank­furt/M. 1996, S. 338–364, hier      „reflexiver Modernisierung“, in: ders./Giddens/Lash (Anm. 7),
S. 344.                                                              S. 289–315, S. 299.
08 Ulrich Beck, Risikogesellschaft: auf dem Weg in eine andere       11 Ders., (Anm. 8), S. 302.
Moderne, Frank­furt/M. 1986, S. 25.                                  12 Ebd.
09 Ebd., S. 255.                                                     13 Boltanski (Anm. 4), S. 13.

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