BEZAHLBARKEIT VON ENERGIE - ENERGIE - Verbraucherzentrale
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ENERGIE BEZAHLBARKEIT VON ENERGIE Eine Studie des Marktwächters Energie zu angedrohten beziehungsweise durchgeführten Stromsperren in Deutschland
VORWORT Dieser Bericht wurde im Rahmen des Projekts Markt- wächter Energie der Verbraucherzentralen und des Verbraucherzentrale Bundesverbands e. V. verfasst, dessen Mittelbewilligung durch das Bundesminis- terium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) sich über den Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis zum 31. Dezember 2019 erstreckte. Beteiligte Verbraucherzentralen: • Verbraucherzentrale Berlin • Verbraucherzentrale Hessen • Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz
Inhalt | 3 INHALT VORWORT 2 ABBILDUNGSVERZEICHNIS 5 1. ZUSAMMENFASSUNG 7 2. EINLEITUNG 8 3. METHODISCHES VORGEHEN 9 3.1. Sektoranalyse 9 3.2. Frühwarnnetzwerk 9 3.3. Vertiefende Erhebung in der Verbraucherberatung 10 3.4. Verbraucheraufruf 10 3.5. Unternehmensbefragung 11 3.6. Expertenbefragung 12 3.7. Qualitative Einzelinterviews 12 3.8. Datensätze und Untersuchungen der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz und der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen 13 3.8.1. Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz 13 3.8.2. Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen 14 4. DER SPERRPROZESS 15 4.1. Höhe des Zahlungsrückstands 15 4.2. Informationspflichten der Energielieferanten 15 4.3. Verhältnismäßigkeit der Unterbrechung 17 4.4. Wiederherstellung der Stromversorgung und Dauer der Unterbrechung 17 4.5. Zwischenfazit 18 5. MÖGLICHE URSACHEN FÜR ZAHLUNGSRÜCKSTÄNDE 19 5.1. Mangelnde finanzielle Ressourcen 20 5.2. Abschlagszahlungen 21 5.2.1. Disput über Abschlagshöhe 21 5.2.2. Vom Anbieter geschätzter Verbrauch 22 5.3. Vom Kunden falsch eingeschätzter tatsächlicher Verbrauch 22 5.3.1. Mangelnde Kontrollmöglichkeiten des Stromzählers 22 5.3.2. Stromintensive Technik 23 5.4. Prozesse Sozialleistungsträger 24 5.5. Unstimmigkeit Abrechnungsmodalitäten 25 5.6. Persönliche Situation der Verbraucher 26 5.7. Zusammenfassung 27 6. EXKURS: KOSTENTREIBER NEBEN- UND FOLGEKOSTEN 29
4 | Inhalt 7. TILGUNG DER ZAHLUNGSRÜCKSTÄNDE 31 7.1. Lösungsfindung mit Energielieferanten 31 7.1.1. Kontakt mit Energielieferanten 31 7.1.2. Individuelle Raten- und Ausgleichszahlungen 32 7.2. Hilfe durch Sozialbehörden 33 7.3. Hilfe durch Beratungsangebote 33 8. UMGANG MIT DER STROMSPERRE 35 8.1. Wahrnehmung der Situation 35 8.2. Bewältigungsstrategien betroffener Verbraucher 36 8.3. Reaktion auf Stromsperre 37 9. HANDLUNGSOPTIONEN 40 9.1. Anpassung (rechtlicher) Rahmenbedingungen 42 9.1.1. Prüfung der Verhältnismäßigkeit 42 9.1.2. Deckelung von Nebenkosten und Verlängerung von Zahlungsfristen 42 9.1.3. Schätzungen 43 9.1.4. Abgestimmtes Verwaltungshandeln 43 9.1.5. Verweis auf bestehende Beratungsangebote 43 9.1.6. Akteursübergreifende Austauschformate 46 9.1.7. Energiepreise 46 9.1.8. Staatliche Hilfen im Rahmen der Sicherungssysteme 47 9.1.9. Kündigung 48 9.2. Energielieferanten 48 9.2.1. Kundenkommunikation 48 9.2.2. Anpassung der Zahlungsmodalitäten und -systeme 49 9.2.3. (Unterjährige) Abrechnungen und digitale Systeme 50 10. FAZIT 52 11. LITERATURVERZEICHNIS 53
Abbildungsverzeichnis | 5 ABBILDUNGSVERZEICHNIS 1 Informationspflichten der Energielieferanten 16 2 Verständlichkeit Sperrandrohung 16 3 Dauer Stromsperre 18 4 Gründe für die Ankündigung bzw. Durchführung einer Stromsperre (Unternehmensbefragung) 19 5 Gründe für die Ankündigung bzw. Durchführung einer Stromsperre (Verbraucherbefragung) 20 6 Maßnahmen zur Vermeidung von Stromsperren (Unternehmensbefragung) 40 7 Maßnahmen zur Vermeidung von Stromsperren (Expertenbefragung) 41
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Zusammenfassung | 7 1. ZUSAMMENFASSUNG Im Jahr 2017 wurde in etwa 4,8 Millionen Haushalten genzuwirken. Diese lassen sich jedoch nur im ressort- in Deutschland eine Stromsperre angedroht. Davon und fachübergreifenden Dialog finden, müssen doch wurde rund 340.000 Haushalten der Strom gesperrt technische, energie- und umwelt- als auch wohn- und – eine in der Vergangenheit gleichbleibend hohe An- sozialpolitische Belange sowie Vorgaben bei der Erar- zahl. Der Marktwächter Energie der Verbraucherzent- beitung von Lösungsvorschlägen berücksichtigt wer- ralen und des Verbraucherzentrale Bundesverbands den. Ein Zusammenwirken von Politik, kommunaler e. V. geht mit der vorliegenden Untersuchung den Ur- Verwaltung, Energiewirtschaft, Sozial- und Verbrau- sachen des Zahlungsverzugs, den Herausforderungen cherverbänden und weiteren Akteuren erscheint not- bei der Lösungsfindung und den Folgen einer Sperr- wendig, um nachhaltige Lösungsstrategien zu entwi- androhung beziehungsweise Stromsperre in Deutsch- ckeln und um die Bezahlbarkeit von Energie für alle zu land aus Verbraucherperspektive auf den Grund. gewährleisten. Die Ergebnisse zeigen, dass die Ursachen für die An- drohung beziehungsweise Durchführung einer Strom- sperre komplex und vielfältig sind. Viele Faktoren füh- ren dazu, dass Verbraucher ihre Energie nicht mehr bezahlen können. Steigende Energiepreise, gepaart mit Faktoren wie geringem Einkommen, hohem Ener- gieverbrauch durch unsanierte Gebäude oder ineffi- zienten Geräten sowie zeitlich ungünstigen Abläufen bei der Auszahlung von Sozialleistungen, können zu Energieschulden führen. Fehlende Finanz- und Pla- nungskompetenz, Unwissenheit über Zahlungs- und Abrechnungsmodalitäten und kritische Lebensereig- nisse wie eintretende Arbeitslosigkeit oder Krankheit aufseiten der Verbraucher tragen ebenso dazu bei, dass Energieschulden entstehen. Ein starres und ausgeprägtes Forderungsmanagement der Energielieferanten kann darüber hinaus die Lö- sungsfindung erschweren. So bleiben mildere Mittel wie Ratenzahlung mitunter ungeprüft. Erhöhen dazu Nebenforderungen die ursprünglich ausstehenden Positionen um ein Vielfaches, ist eine Regulierung der Beträge für betroffene Verbraucher kaum möglich. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass unabhängige Beratungsangebote in der Praxis eine zentrale Rolle bei der Abwendung beziehungsweise Aufhebung von Stromsperren spielen. Als Vermittler zwischen Ver- braucher, Energielieferant und gegebenenfalls Sozi- albehörde finden sie zeitnahe Lösungen und tragen langfristig zu einer verbesserten Zusammenarbeit zwi- schen den einzelnen Akteuren bei. Insgesamt ist ein Bündel an Maßnahmen erforderlich, um Zahlungsrückständen und Stromsperren entge-
8 | Einleitung 2. EINLEITUNG Im Jahr 2017 ging bei vielen Haushalten in Deutsch- land das Licht aus: Rund 340.000 privaten Haushalten und gewerblichen Stromkunden wurde in Deutschland der Strom gesperrt, nachdem circa 4,8 Millionen Kun- den eine Stromsperre angedroht wurde – eine in der Vergangenheit gleichbleibend hohe Anzahl.1 Ohne Strom ist ein normales Leben in Deutschland jedoch kaum möglich. Er wird zum Heizen, Kochen und Küh- len genauso gebraucht wie für die Nutzung von Wasch- maschine, Fernseher, Telefon und Computer. Unter an- derem deswegen wird die Versorgung mit Energie vom Bundesverfassungsgericht als Teil des „menschen- würdigen Existenzminimums“ angesehen.2 Die Europäischen Staaten sind seit 2009 aufgefordert, „eine ausreichende Energieversorgung für schutzbe- dürftige Kunden [zu] gewährleisten“ (2009/72/EG, Nr. 53) und diese Zielgruppe zu definieren. Der Markt- wächter Energie der Verbraucherzentralen und des Verbraucherzentrale Bundesverbands e. V. (im Fol- genden Marktwächter Energie) betrachtet aus der Ver- braucherperspektive die Ursachen des Zahlungsver- zugs, die Herausforderungen bei der Lösungsfindung und die Folgen einer Sperrandrohung beziehungswei- se Stromsperre in Deutschland. Mit seinem mehrstu- figen Untersuchungsdesign und bundesweiten Daten von Betroffenen, Beratern und Energielieferanten trägt er mit der vorliegenden Untersuchung zur Prob- lem- und Begriffsklärung und damit zur Debatte rund um die Bezahlbarkeit von Energie in Deutschland bei.3 1 Bei den von Stromsperren betroffenen Haushalten handelt es sich um private Haushalte und gewerbliche Stromkunden mit einem Jah- resverbrauch unter 10.000 kWh, denen vom Verteilernetzbetreiber im Auftrag des örtlichen Grundversorgers oder eines Sondervertragsliefe- ranten der Strom gesperrt wurde (BNetzA/BKartA 2018: S. 264, 266 f.). 2 Urteile aus den Jahren 2010 und 2014 (1 BvL 1/09; 1 BvL 10/12). 3 Die vorliegende Studie konzentriert sich im Folgenden allein auf die Untersuchung von Stromsperren und vernachlässigt die möglichen Ur- sachen und Folgen von Gassperren.
Methodisches Vorgehen | 9 3. METHODISCHES VORGEHEN Sperrandrohungen und Stromsperren stellen betrof- sowie eine anschließende qualitative Analyse ermög- fene Verbraucher4 vor große Herausforderungen. Um licht. Zudem werden die von Verbrauchern über das on- die Situation, Ansichten und Motive der beteiligten line zugängliche Marktwächterformular (www.markt- Akteure zu verstehen, wählte der Marktwächter Ener- waechter.de) eingegangenen Beschwerden gesichtet, gie ein mehrstufiges Untersuchungsdesign. Zwischen wobei die relevanten Fälle mit in das Frühwarnnetz- dem 11. März 2019 und dem 12. Juni 2019 wurden werk einfließen. Die Analyse des Frühwarnnetzwerks neben einem Verbraucheraufruf und einer Erhebung hilft bei der Konkretisierung des Untersuchungsge- in der Beratung der Verbraucherzentralen auch qua- genstands und generiert Fallbeispiele. Eine Quantifi- litative Einzelinterviews mit Verbrauchern sowie eine zierung der Daten aus dem Frühwarnnetzwerk heraus Experten- und eine Unternehmensbefragung durch- beziehungsweise ein Rückschluss auf die Häufigkeit geführt. Darüber hinaus wertete der Marktwächter des Vorkommens in der Verbraucherberatung oder in Energie vorliegende Beschwerden und Vertragsunter- der Gesamtbevölkerung ist aufgrund des qualitativen lagen aus der Marktbeobachtung (Frühwarnnetzwerk, Charakters des Frühwarnnetzwerks nicht möglich. siehe Kap. 3.2.) sowie von den Verbraucherzentralen Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen erstellte Da- tensätze und Untersuchungen aus. METHODENSTECKBRIEF 3.1. SEKTORANALYSE Untersuchungsmethode: Im Vorfeld der Untersuchung führte der Marktwächter Auswertung des Frühwarnnetzwerks Energie eine sogenannte Sektoranalyse durch, bei der ausschließlich Informationen berücksichtigt wurden, Vorgehen: die frei über das Internet zugänglich waren. Darunter Sichtung und inhaltliche Analyse sämtlicher Fall- fallen auch Positionen und Maßnahmenvorschläge beschreibungen, die im Erhebungszeitraum zum der im Bundestag vertretenen Parteien. Alle auf die- Thema Bezahlbarkeit von Energie im Frühwarn- sem Wege zusammengetragenen Informationen flos- netzwerk eingegangen sind sen in die Formulierung der Fragen und in die Auswer- tung mit ein. Erhebungszeitraum: 22.06.2017 bis 12.06.2019 3.2. FRÜHWARNNETZWERK Grundgesamtheit: Das Frühwarnnetzwerk ist ein Erfassungs- und Ana- Verbraucher, die in einer der bundesweit rund lysesystem für auffällige5 Sachverhalte aus der Ver- 200 Beratungsstellen der Verbraucherzentralen braucherberatung. Grundlage stellt eine ausführliche die rechtliche Beratung in Anspruch nahmen Sachverhaltsschilderung durch Beratungskräfte der oder die das Beschwerdeformular auf der Inter- Verbraucherzentralen dar, die eine Kategorisierung netseite der Marktwächter nutzten 4 Die im weiteren Text gewählte männliche Form bezieht sich immer zu- Betrachtete Fälle: gleich auf Personen aller Geschlechter. Wir bitten um Verständnis für 33 auffällige Fallbeschreibungen aus 10 Bundes- den weitgehenden Verzicht auf Mehrfachbezeichnungen zugunsten einer besseren Lesbarkeit des Texts. ländern, darunter 27 Schilderungen, die auf Be- 5 Wann ein Fall als auffällig gilt, richtet sich nach verschiedenen Kri- ratungen der Verbraucherzentralen zurückgehen, terien: Neuigkeit (z. B. Anbieter, Maschen, Vertriebsmethoden), Rechtsrelevanz (z. B. ungeklärte Rechtslage), Häufigkeit (z. B. Prob- und 6 Hinweise, die über das Beschwerdeformu- lemhäufung bei einem Anbieter in einem kurzen Zeitraum), subjektive lar auf www.marktwaechter.de eingingen Einschätzung (z. B. besonders „dreiste“ oder ungewöhnliche Fälle), „Dauerbrenner“ (z. B. typische Fälle), hohe Schadenssummen bzw. hohe Anzahl betroffener Verbraucher sowie Zielgruppenthemen (z. B. Betroffenheit, Ausschluss oder Ausnutzung bestimmter Zielgruppen).
10 | Methodisches Vorgehen 3.3. VERTIEFENDE ERHEBUNG IN DER VERBRAUCHERBERATUNG METHODENSTECKBRIEF Der Marktwächter Energie ließ Gespräche mit Verbrau- chern, denen in den letzten drei Jahren eine Strom- Untersuchungsmethode: sperre angedroht und/oder bei denen eine Strom- Erhebung in der Verbraucherberatung (schriftli- sperre durchgeführt wurde, in den Beratungsstellen che beziehungsweise Onlinebefragung) der Verbraucherzentralen dokumentieren. Die Berater wurden gebeten, zum Abschluss der jeweiligen Bera- Vorgehen: tung mit Einwilligung der Verbraucher einen von den Strukturierte Leitfadeninterviews mit Verbrau- Mitarbeitern des Marktwächters Energie entwickelten chern durch die Beratungskräfte in den jeweili- Fragebogen entweder online oder als Printversion gen Verbraucherzentralen auszufüllen. Erhebungszeitraum: Im Zeitraum vom 21.03.2019 bis 17.05.2019 gingen aus 21.03.2019 bis 17.05.2019 5 von 16 Bundesländern insgesamt 73 komplett aus- gefüllte Fragebögen ein. In 28 von diesen 73 Fällen Grundgesamtheit: wurde Verbrauchern in den letzten drei Jahren schon Verbraucher, die in den letzten drei Jahren von einmal der Strom abgestellt, während es für 38 befrag- einer Stromsperre bedroht oder betroffen waren te Verbraucher bei einer Stromsperrandrohung blieb.6 Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu berücksich- Nettostichprobe: tigen, dass diese weder für den gesamten Strommarkt 73 Befragte, die in den letzten drei Jahren von in Deutschland noch für die bei den Beratungsstellen einer Stromsperre bedroht oder betroffen waren eingehenden Fälle repräsentativ sind. Da zudem die und die rechtliche Beratungen rund um das The- Anzahl der Fälle pro Bundesland nicht quotiert ist, kön- ma Bezahlbarkeit von Energie in einer der bun- nen regionale Effekte nicht ausgeschlossen werden. desweit rund 200 Beratungsstellen der Verbrau- cherzentralen genutzt haben 3.4. VERBRAUCHERAUFRUF Verbraucher erhielten über das Onlineportal des Markt- wächters Energie (www.marktwaechter.de/energie) oder vor Ort in den Verbraucherberatungsstellen die Möglichkeit, einen von den Mitarbeitern des Markt- wächters Energie entwickelten Fragebogen auszufül- len. Zielgruppe waren auch hier Stromkunden, denen in den letzten drei Jahren eine Stromsperre angedroht und/oder bei denen eine Stromsperrung durchgeführt wurde. Im Zeitraum vom 12.03.2019 bis 30.06.2019 nahmen 141 Verbraucher an der Befragung teil. Von diesen gaben 95 in der Eingangsfrage an in den letzten drei Jahren von einer Stromsperre bedroht oder betroffen 6 Sieben Befragte konnten oder wollten hierzu keine konkreten Anga- gewesen zu sein. Die Auswertung des Verbraucherauf- ben machen. rufs bezieht sich ausschließlich auf diese 95 Verbrau-
Methodisches Vorgehen | 11 cher. Aufgrund des vorselektierten Personenkreises 3.5. UNTERNEHMENSBEFRAGUNG und der daraus resultierenden geringen Fallzahlen sind die Befragungsergebnisse im statistischen Sin- Weitere Erkenntnisse wurden sowohl durch eine Un- ne nicht repräsentativ für den gesamten Strommarkt ternehmens- als auch durch eine Expertenbefragung in Deutschland und die bei den Beratungsstellen der gewonnen. Verbraucherzentralen eingehenden Fälle. Energielieferanten, die Haushaltskunden in Deutsch- Aufgrund der unterschiedlichen Befragungsmodi und land beliefern wollen, müssen dies bei der Bun- der in Teilen verschiedenen Fragebögen werden die desnetzagentur nach § 5 Energiewirtschaftsgesetz Erhebung in der Beratung und der Verbraucheraufruf (EnWG) anzeigen. Nach Prüfung der vollständigen in diesem Bericht getrennt voneinander ausgewertet Unterlagen werden Name und Adresse des Unterneh- und die Ergebnisse – auch bei identischen Fragefor- mens von der Bundesnetzagentur veröffentlicht.7 Auf mulierungen – separat dargestellt. Wenn es sich an- diesem Wege wurden 822 Energielieferanten ermit- bietet, wird auf ähnliche Tendenzen bei den Ergebnis- telt (Stand 1. April 2019), im Rahmen der Unterneh- sen verwiesen. mensbefragung postalisch angeschrieben und um Teilnahme an der Umfrage gebeten. Insgesamt nah- men 84 Energielieferanten postalisch oder online an METHODENSTECKBRIEF der Umfrage teil, was einer Rücklaufquote von 10,2 Prozent entspricht. Untersuchungsmethode: Die 84 befragten Energielieferanten zeichnen sich Untersuchung von Rückläufern eines Verbrau- hinsichtlich des Untersuchungsthemas durch folgen- cheraufrufs (schriftliche beziehungsweise On- de Charakteristika aus: 42 Energielieferanten bieten linebefragung) ausschließlich wettbewerbliche Energieversorgungs- verträge (Sonderverträge) und 41 befragte Energielie- Vorgehen: feranten sowohl Sonder- als auch Grundversorgungs- Befragung mithilfe eines standardisierten Frage- verträge an. Lediglich ein Energielieferant offeriert bogens, der von den Verbrauchern auf der Inter- ausschließlich Verträge in der Grundversorgung. 43 netseite der Marktwächter oder vor Ort in den Be- von 84 Energielieferanten geben an im Jahr 2018 ratungsstellen der Verbraucherzentralen selbst Stromsperren in Auftrag gegeben zu haben. ausgefüllt wurde Darüber hinaus wurden 18 deutsche Wohnungsunter- Erhebungszeitraum: nehmen und Verbände der Wohnungswirtschaft, die – 12.03.2019 bis 30.06.2019 laut einer eigenen Webrecherche8 fast die Hälfte aller verfügbaren Mietwohnungen in Deutschland vertreten Grundgesamtheit: oder besitzen – angeschrieben und um Teilnahme an Verbraucher, die in den letzten drei Jahren von der Umfrage gebeten. Allerdings hat sich keines dieser einer Stromsperre bedroht oder betroffen waren Unternehmen beziehungsweise Verbände an der Um- frage beteiligt und zu den Fragen des Marktwächters Nettostichprobe: Energie zur Bezahlbarkeit von Energie Stellung genom- 95 Befragte, die in den letzten drei Jahren von men oder Auskunft über vorhandene Heiz- und Warm- einer Stromsperre bedroht oder betroffen waren wassersysteme erteilt. und die aufgrund des Verbraucheraufrufs an der Onlinebefragung auf der Internetseite der Markt- wächter oder vor Ort in den Beratungsstellen teil- genommen haben 7 Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen (BNetzA) (2019). 8 Laut Auskünften auf den öffentlich zugänglichen Webpräsenzen der angeschriebenen Unternehmen und Verbände.
12 | Methodisches Vorgehen METHODENSTECKBRIEF METHODENSTECKBRIEF Untersuchungsmethode: Untersuchungsmethode: Unternehmensbefragung Expertenbefragung Vorgehen: Vorgehen: Postalische und Onlinebefragung mithilfe eines Onlinebefragung mithilfe eines standardisierten standardisierten Fragebogens Fragebogens Erhebungszeitraum: Erhebungszeitraum: 12.04.2019 bis 12.06.2019 18.04.2019 bis 12.06.2019 Grundgesamtheit: Grundgesamtheit: Energielieferanten aus Deutschland Ausgewählte Experten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft Nettostichprobe: 84 Energielieferanten (Rücklaufquote: 10,2 %) Nettostichprobe: 15 Experten (Rücklaufquote: 16 %) 3.6. EXPERTENBEFRAGUNG 3.7. QUALITATIVE EINZELINTERVIEWS Im Zuge der Expertenbefragung wurden 94 Akteure aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die sich mit Im Auftrag des Marktwächters Energie führte die INFO energiepolitischen Themen beschäftigen, per E-Mail GmbH qualitative leitfadengestützte Einzelinterviews angeschrieben und um Teilnahme an der vom Markt- mit 31 Verbrauchern aus Deutschland durch, die in wächter Energie erstellten Umfrage gebeten. Insge- den letzten drei Jahren von einer Stromsperre betrof- samt nahmen 15 Experten daran teil und füllten den fen waren, aktuell davon betroffen sind oder die eine Fragebogen vollständig online aus. Dies entspricht drohende Stromsperre kurz vor der Durchführung ab- einer Rücklaufquote von 16 Prozent. wenden konnten. Ziel war es, ein besseres Verständ- nis von der Situation dieser Menschen zu erhalten Für 10 der 15 Befragten ist das Thema ‚Bezahlbarkeit und die Hintergründe, die individuell zu dieser Lage von Energie‘ in ihrer täglichen Arbeit ein relevantes geführt haben, näher zu betrachten. Problem, während es für 3 Befragte keine Rolle spielt. 2 Befragte machten dazu keine Angaben. In jeweils Die dreißigminütigen Interviews wurden per Telefon 4 Fällen vertreten die Befragten Verbände oder po- oder – in zwei Fällen – persönlich im Studio durch- litische Parteien. Jeweils 3 Befragte repräsentieren geführt. Die Teilnehmer erhielten eine Aufwandsent- Nichtregierungsorganisationen oder Unternehmen. In schädigung. Um bei der der Rekrutierung der Befrag- einem Fall wurde keine Zugehörigkeit angegeben.9 ten durch die INFO GmbH möglichst viele persönliche Facetten zu berücksichtigen, wurde eine Quotierung nach soziodemografischen Merkmalen angelegt: Insgesamt wurden 16 Frauen und 15 Männer befragt, der Altersdurchschnitt betrug circa 38 Jahre. Etwa die 9 Mit den im Zuge der Untersuchung befragten Experten wurde verein- Hälfte der interviewten Verbraucher verfügt über die bart, dass keine namentliche Nennung der Person oder der Institution erfolgt. Aus diesem Grund verzichtet der Marktwächter Energie im Fol- mittlere Reife, die andere Hälfte verteilt sich auf hö- genden auf eine namentliche Nennung. here und niedrigere Bildungsabschlüsse. 5 Proban-
Methodisches Vorgehen | 13 den gaben keine Auskunft über ihren Schulabschluss. 3.8. DATENSÄTZE UND UNTERSU- Etwa jeder zweite Proband war zum Zeitpunkt der Er- CHUNGEN hebung berufstätig, die nächstgrößere Gruppe bilden die Arbeitssuchenden. Zusätzlich wurden Personen 3.8.1. Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz befragt, die sich in einer Ausbildung oder in Elternzeit befinden beziehungsweise Rentner sind. Jeder zwei- Die Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz betreibt eine te Befragte erhält Leistungen nach SGB I oder SGB II. vom rheinland-pfälzischen Umweltministerium finan- 8 Interviews wurden mit Probanden aus Ostdeutsch- zierte Energiekostenberatung für einkommensschwa- land (inkl. Berlin) und 23 Interviews mit Probanden che Haushalte. Im Rahmen dieser Beratung werden aus Westdeutschland realisiert. Mehrheitlich wohnen umfangreiche Daten der ratsuchenden Haushalte er- die Befragten in Großstädten mit 100.000 (oder mehr) hoben, anonym ausgewertet und veröffentlicht.10 Einwohnern, 10 Befragte wohnen in kleineren Städten Da sich der vorliegende Bericht allein auf Stromsper- beziehungsweise Gemeinden mit weniger als 100.000 ren bezieht, führte der Marktwächter Energie eine Einwohnern. gesonderte Auswertung (Sekundäranalyse) der das Untersuchungsthema betreffenden Fälle durch. Dafür wurde aus dem 748 Fälle umfassenden Ursprungsda- METHODENSTECKBRIEF tensatz ein Sample von 663 Fällen extrahiert, das alle Verbraucher mit angedrohter (259 Fälle, Anteil: 39 %) oder (zum Zeitpunkt der Beratung) bereits umgesetzter Untersuchungsmethode: Stromsperre (187 Fälle, Anteil: 28 %) sowie Verbrau- Qualitative leitfadengestützte Einzelinterviews cher mit Energieschulden (217 Fälle, Anteil: 33 %) be- inhaltet. Vorgehen: Rekrutierung von betroffenen Verbrauchern Die Energiekostenberatung spricht speziell einkom- durch das Marktforschungsinstitut INFO GmbH mensschwache Haushalte an. Aus diesem Grund be- anhand der Quotierung (Screening-Fragebogen) findet sich die Mehrzahl der im Sekundärdatensatz auf verschiedenen Wegen, z. B. über Mithilfe von abgebildeten Fälle im Leistungsbezug. Von den (ku- Schuldnerberatungen und Sozialberatungsein- muliert) 446 Fällen mit angedrohter oder umgesetzter richtungen, per Anzeige auf eBay Kleinanzeigen Stromsperre hat mehr als die Hälfte (55 %) im Rahmen und/oder über andere Teststudios der Energiekostenberatung angegeben, Leistungen vom Jobcenter zu erhalten. Beinahe ein Viertel dieser Durchführung der Interviews anhand eines Leit- im Datensatz abgebildeten Verbraucher bezieht Ein- fadens durch geschulte Interviewer der INFO kommen entweder aus einem Angestelltenverhältnis GmbH auf telefonischem Wege (n=29) oder per- (22 %) oder aus einer selbstständigen Tätigkeit (1 %). sönlich im Studio (n=2) Etwa jeder zehnte der betrachteten Ratsuchenden (11 %) erhält Rentenleistungen. Die restlichen Ver- Befragungszeitraum: braucher erhalten u. a. Leistungen wie ALG I (3 %) oder 12.06.2019 bis 12.07.2019 Krankengeld (2 %). Zielgruppe: Wo es sich thematisch anbietet, wird – neben der Verbraucher, die in den letzten drei Jahren von Sekundäranalyse – im vorliegenden Bericht an ver- einer Stromsperre betroffen waren, aktuell da- schiedenen Stellen auch auf die Gesamtauswertung von betroffen sind oder die eine drohende Strom- der Energiekostenberatung der Verbraucherzentrale sperre kurz vor der Durchführung abwenden Rheinland-Pfalz verwiesen. Von den 748 Ratsuchen- konnten den leben 40 Prozent in einem Single-Haushalt. 47 Prozent aller Befragten haben eine Ausbildung Anzahl der durchgeführten Interviews: abgeschlossen, 33 Prozent sind ohne Ausbildung 31 10 Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz (2019).
14 | Methodisches Vorgehen und 20 Prozent machten dazu keine Angaben.11 Von den 748 Befragten beziehen 56 Prozent Leistun- gen nach SGB II oder SGB III, 19 Prozent sind nicht und 23 Prozent sind erwerbstätig. 2 Prozent haben weder Einkommen noch beziehen sie Sozialleistungen.12 3.8.2. Verbraucherzentrale Nordrhein- Westfalen Darüber hinaus bietet die Verbraucherzentrale Nord- rhein-Westfalen seit Oktober 2012 eine Beratung rund um den Themenkomplex Energieschulden und (dro- hende) Versorgungsunterbrechungen an. Das vom Verbraucherschutzministerium des Landes Nordrhein- Westfalen und 13 kooperierenden Grundversorgern finanzierte Landesprojekt „NRW bekämpft Energiear- mut“ ist eine Beratungs-, Informations- und Vernet- zungsoffensive für Verbraucher, die aufgrund hoher Energiekosten, geringer Einkommen und weiterer Fak- toren Schwierigkeiten haben, die verbrauchte Energie zu bezahlen. Im Zeitraum 01.10.2012 bis 30.06.2019 suchten rund 6.700 Ratsuchende wegen Zahlungsproblemen rund um die Energierechnung die Budget- und Rechtsbe- ratung Energiearmut in den elf Projektstandorten auf. Zu Beratungsbeginn hatten 34 Prozent der Rat- suchenden13 bereits Sperrandrohung erhalten, bei weiteren 28 Prozent war eine Sperre bereits erfolgt. Überwiegend wurde das Beratungsangebot von Sozi- alleistungsbeziehern (55 %) in Anspruch genommen. Der vorliegende Bericht greift im Folgenden auf die Ergebnisse sowie weitere von der Verbraucherzent- rale Nordrhein-Westfalen durchgeführte Recherchen zurück.14 11 Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz (2019): S. 4 f. 12 Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz (2019): S. 6. 13 Da die Anzahl der in dieser Untersuchung beratenen Haushalte mit der Anzahl der Ratsuchenden (ein Ratsuchender repräsentiert einen Haushalt) korrespondiert, werden die Begriffe „Haushalte“ und „Rat- suchende“ hier synonym verwendet. 14 Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen (2019): S. 2–4.
Der Sperrprozess | 15 4. DER SPERRPROZESS 4.1. HÖHE DES ZAHLUNGSRÜCKSTANDS einem Zahlungsrückstand von knapp über hundert Euro eine Sperre an. Wie die nachfolgenden Kapitel Verbraucher können in Deutschland entweder einen zeigen, kann sich der Zahlungsrückstand für den Ver- Sondervertrag mit einem Energielieferanten oder ei- braucher in einem relativen kurzen Zeitraum und auch nen Energieversorgungsvertrag mit dem örtlichen unerwartet zu hohen Beträgen aufsummieren, wenn Grundversorger abschließen. Geraten Stromkunden beispielsweise Abschläge jahrelang nur geschätzt in einen Zahlungsrückstand von mehr als 100 Euro, wurden (siehe Kapitel 5.2.) oder die Energielieferan- hat der Energielieferant beziehungsweise der Grund- ten hohe Nebenforderungen in Rechnung stellen (sie- versorger nach § 19 Absatz 2 und 3 der Stromgrund- he Kapitel 5.5.). versorgungsverordnung (StromGVV)15 das Recht, den Strom unter bestimmten Voraussetzungen sperren zu In der Mehrheit der vom Marktwächter Energie un- lassen.16 tersuchten Fälle scheinen die Sperrandrohungen der Energielieferanten gerechtfertigt zu sein. Die Ver- In Deutschland drohten Energielieferanten im Jahr braucherzentrale Rheinland-Pfalz bat beispielsweise 2018 eine Stromsperre bei einem durchschnittlichen ihre Juristen die Rechtmäßigkeit der Forderungen der Zahlungsrückstand von 117 Euro an.17 In den Sekun- Energielieferanten bei denjenigen Verbrauchern mit därdaten der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz Strom-Zahlungsproblemen zu prüfen. Das Ergebnis: teilt fast die Hälfte (47 %) der 446 Befragten mit ange- Der größte Anteil der Forderungen der Energieliefe- drohter oder umgesetzter Stromsperre mit, dass ihnen ranten ist rechtmäßig (368 von 419). In 51 von 419 die Sperre (zuvor) bei Verbindlichkeiten in Höhe von geprüften Fällen wurden Fehler in der Rechnung oder über 200 bis 1.000 Euro angedroht wurde. In 39 Pro- Rechnungsstellung gefunden, die zu einer Minderung zent dieser Fälle lag die Höhe des geforderten Betrags der Forderungen führten.19 über 1.000 bis 5.000 Euro. Vier Prozent geben Beträge über 5.000 Euro an. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt 4.2. INFORMATIONSPFLICHTEN DER die Untersuchung der Verbraucherzentrale Nordrhein- ENERGIELIEFERANTEN Westfalen (n=6.315). Die offenen Forderungen lagen dort in 36 Prozent der Fälle unterhalb von 500 Euro. In Eine Stromsperre muss vier Wochen im Voraus ange- 61 Prozent der Fälle lag die Forderung im Bereich von droht und drei Werktage vor Beginn der Unterbrechung über 500 bis 5.000 Euro. Die Schwelle von 5.000 Euro angekündigt werden. Werden die offenen Forderun- wurde lediglich bei 3 Prozent der Zahlungsrückstände gen nicht beglichen, beauftragt der Energielieferant überschritten.18 Nicht zuletzt wurde im Rahmen der 31 den zuständigen Netzbetreiber mit der Unterbrechung qualitativen Interviews – zu gleichen Anteilen – von der Versorgung (§ 19 Absatz 2 StromGVV). Beträgen zwischen 200 und 500 Euro, aber auch von 500 Euro und mehr berichtet. Abbildung 1 (nächste Seite) Die unterschiedlichen Werte vermitteln einen Ein- Die Aussagen der Befragten bei den qualitativen In- druck davon, wie verschieden die Energielieferanten terviews lassen darauf schließen, dass deren Ener- in Deutschland mit dem Thema Zahlungsverzug umge- gielieferanten die bestehenden Informationspflich- hen. Verschicken manche erst bei sehr hohen Beträ- ten einhalten: Alle 31 Interviewten erinnern sich an gen Sperrandrohungen, kündigen andere bereits bei schriftliche Benachrichtigungen des Stromanbieters und sprechen von mehr als zwei Schreiben, die häufig 15 Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Grundversorgung von Haushaltskunden und die Ersatzversorgung mit Elektrizität aus bereits mehrere Monate vor Durchführung der Strom- dem Niederspannungsnetz (Stromgrundversorgungsverordnung). sperre versendet wurden. Nur eine Minderheit der 16 In § 19 GasGVV sind abweichende Voraussetzungen für eine Gassperre Befragten wurde von der Stromsperre überrascht. geregelt. 17 BNetzA/BKartA (2018): S. 366. 18 Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen (2019). 19 Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz (2019), S. 8.
16 | Der Sperrprozess 1 INFORMATIONSPFLICHTEN DER ENERGIELIEFERANTEN 4 Wochen im Voraus: 3 Tage im Voraus: Energielieferant Sperrandrohung nach Sperrankündigung beauftragt Netzbetreiber § 19 Abs. 2 nach § 19 Abs. 3 mit Durchführung der Stromsperre Darüber hinaus berichten die Interviewten nicht nur agieren relativ schnell auf diese. Nur wenige öffnen von Posteingängen vier bis sechs Wochen und wenige die Briefe nicht. Häufig sind dies von Krankheit Be- Tage vorher, sondern auch von Eingängen zwei Wo- troffene oder es handelt sich um stark verschuldete chen bis zehn Tage vor der Durchführung der Strom- Verbraucher (siehe auch Kapitel 5.6.). sperre. Scheinbar versenden ihre Energielieferanten zusätzlich ein weiteres Schreiben circa zwei Wochen Im Zuge des Verbraucheraufrufs und der Erhebung in vor der Durchführung der Stromsperre. In einigen Fäl- der Beratung wurden darüber hinaus von Stromsper- len scheinen die Energielieferanten auch mehrere Mo- ren betroffene oder bedrohte Verbraucher nach der nate mit der Umsetzung der Stromsperre zu warten. Verständlichkeit ihrer Sperrankündigungen befragt. Beide Umfragen ergaben (Verbraucheraufruf: 36 von Darüber hinaus lesen die Befragten der qualitativen 95 Fälle; Erhebung in der Beratung: 32 von 73 Fälle), Interviews in der Regel die Sperrandrohungen und re- dass die Sperrandrohung für Verbraucher teilweise 2 DAS SCHREIBEN DES ENERGIEVERSORGERS, MIT DEM DIE STROMSPERRE ANGEDROHT WURDE, WAR IHRER MEINUNG NACH ... 0 20 40 60 80 100 Verbraucheraufruf (n=95) 49 36 5 5 Erhebung in der Beratung (n=73): 28 32 3 10 Auffassung des Verbrauchers Erhebung in der Beratung (n=73): 37 15 18 3 Auffassung der Berater sehr gut / eher gut zu verstehen eher schlecht / gar nicht zu verstehen schreiben nicht erhalten / lag nicht vor weiß nicht / keine Angabe Basis: Dargestellt sind die Ergebnisse aus zwei Umfragen. Der obere Balken bezieht sich auf den Verbraucheraufruf (n=95). Bei der Erhebung in der Beratung (n=73; mittlerer und unterer Balken) wurde sowohl nach der Verbraucher- als auch der Beratersicht gefragt – beide sind hier abgebildet. Angaben in Absolutwerten
Der Sperrprozess | 17 nur schlecht oder gar nicht verständlich ist. Um ein Bislang existieren keine einheitlich erfassten Daten Gefühl für die Antworten der Befragten zu erhalten, über die Dauer von Stromsperren. Die Ergebnisse wurden im Rahmen der Erhebung in der Beratung eines von im Auftrag des Bundesministeriums für zudem die Berater gebeten, die vorliegende Sperr- Wirtschaft und Energie erstellten Gutachtens zur Un- ankündigung zu bewerten. Die Berater stuften diese terbrechung der Stromversorgung nach § 19 Absatz 2 zwar grundsätzlich besser ein, fanden das Schreiben StromGVV aus dem Jahr 201621 sowie des vom Bun- aber in gut einem Fünftel (15 von 73) der Fälle eben- deskartellamt und der Bundesnetzagentur erstellten falls schwer verständlich. Monitoring-Berichts 201822 legen nahe, dass Strom- sperren in vielen Fällen entweder durch kurzfristige Abbildung 2: Verständlichkeit Sperrandrohung Zahlungen im Zuge der Sperrandrohung vermieden oder kurz nach der Sperre wieder aufgehoben wer- 4.3. VERHÄLTNISMÄSSIGKEIT DER den. Hierbei handelt es sich jedoch um die Aussagen UNTERBRECHUNG von Energielieferanten. Tatsächlich kann die Dauer der Stromsperren stark variieren, wie die im Zuge der Die Unterbrechung der Energieversorgung muss nach Marktwächter Energie-Studie generierten Ergebnisse § 19 Absatz 2 StromGVV im Verhältnis zur Schwere vermuten lassen. der Zuwiderhandlung stehen. Damit sollen schutz- bedürftige Personen vor unerträglicher Härte ge- Laut Verbraucheraufruf musste etwa ein Drittel derje- schützt werden. Wäre zum Beispiel die Gesundheit nigen, denen in den letzten drei Jahren der Strom ab- von Kranken oder Schwächeren wie kleinen Kindern gestellt wurde, bis zu sechs Tage auf Strom verzichten gefährdet, könnte die Versorgungsunterbrechung (16 von 50). Ebenfalls gut ein Drittel (17 von 50) konnte nach § 19 Absatz 2 StromGVV unverhältnismäßig für ein bis vier Wochen und vier Befragte für fünf bis hart sein (im Folgenden „Härtefall“ genannt). Die acht Wochen nicht auf Strom zurückgreifen. Acht Be- Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz stufte in ihrem fragte hatten mehr als zwei Monate bis zu einem Jahr Ergebnisbericht „Allein, überlastet, energiearm?“ und 5 Befragte länger als ein Jahr keinen Strom. beispielsweise rund 30 Prozent der dort Ratsuchen- den mit drohender oder vollzogener Versorgungsun- Bei der Erhebung in der Beratung musste gut ein Fünf- terbrechung beziehungsweise ohne Guthaben auf tel (5 von 28) bis zu sechs Tage auf Strom verzichten, dem Prepaidzähler als potenzielle Härtefälle ein.20 während ein Viertel (7 von 28) für ein bis vier Wochen Bislang fehlt es jedoch an festen Kriterien, anhand und drei Befragte für fünf bis acht Wochen ohne Strom derer diese pauschal bestimmt werden können. zurechtkommen mussten. Acht Befragte nannten Zeit- räume von mehr als zwei Monaten bis zu einem Jahr 4.4. WIEDERHERSTELLUNG DER und zwei Befragte länger als ein Jahr. Drei Befragte STROMVERSORGUNG UND DAUER DER konnten oder wollten hierzu keine Angabe machen. UNTERBRECHUNG Der Grundversorger hat nach § 19 Absatz 4 StromGVV die Grundversorgung unverzüglich wiederherstellen zu lassen, sobald „die Gründe für ihre Unterbrechung entfallen sind und der Kunde die Kosten der Unterbre- chung und Wiederherstellung der Belieferung ersetzt hat“. Die Aussagen der Befragten in den qualitativen Interviews deuten allerdings darauf hin, dass zwischen der Tilgung der Rückstände und der Entsperrung in der Praxis mehrere Tage vergehen können. Nur vereinzelt gaben die Befragten an, dass die Sperre binnen weni- ger Stunden aufgehoben wurde. 21 Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz (2019): S. 10. 20 Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz (2019): S. 10. 22 Heindl/Löschel (2016): S. 18 f.
18 | Der Sperrprozess Abbildung 3: Dauer Stromsperre Informationspflichten nach, zeigt sich, dass die von ihnen verschickten Sperrandrohungen mitunter nur Jeweils jeder Dritte der Befragten der qualitativen In- schlecht oder gar nicht verständlich sind. Auch re- terviews konnte darüber hinaus den eigenen Strom- agieren Energielieferanten unterschiedlich auf den anschluss entweder einige Tage, ein bis vier Wochen Zahlungsverzug des Kunden: Während manche erst oder ein bis zwei Monate nicht nutzen. Vier Betroffene bei sehr hohen Beträgen Sperrandrohungen verschi- hatten sogar länger als zwei Monate keinen Strom. cken, kündigen andere bereits bei einem Zahlungs- Von den Verbrauchern der Sekundärauswertung der rückstand von knapp über hundert Euro eine Sperre Daten der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz, de- an. Darüber hinaus scheint die Verhältnismäßigkeit nen der Strom gesperrt wurde (n=187), mussten 40 der Stromsperre nicht immer im ausreichenden Maße Prozent bis zu vier Wochen und 22 Prozent ein bis geprüft zu werden. Es fehlt an festen Kriterien, anhand zwei Monate auf Strom verzichten. Ein Viertel (25 %) derer sogenannte Härtefälle festgemacht werden kön- erhielt länger als zwei Monate bis zu einem Jahr kei- nen. Die Dauer der Stromsperren selbst variiert zwi- nen Strom, während etwa jeder Zehnte (12 %) sogar schen wenigen Tagen und mehreren Monaten bezie- über ein Jahr ohne Strom auskommen musste. hungsweise über einem Jahr. 4.5. ZWISCHENFAZIT Insgesamt scheinen die Sperrandrohungen der Ener- gielieferanten sowie die durchgeführten Stromsper- rungen in der Mehrheit der untersuchten Fälle recht- mäßig zu sein. Kommen die Energielieferanten ihren 3 FÜR WIE LANGE WURDE DER STROM ABGESTELLT? Filter: Jeweils nur diejenigen, denen in den letzten drei Jahren schon einmal der Strom abgestellt wurde* 0 10 20 0 10 20 1–6 Tage 16 1–6 Tage 5 1–4 Wochen 17 1–4 Wochen 7 5–8 Wochen 4 5–8 Wochen 3 mehr als 2 Monate 8 mehr als 2 Monate 8 bis 1 Jahr bis 1 Jahr länger als 1 Jahr 5 länger als 1 Jahr 2 weiß nicht/ 0 weiß nicht/ 3 keine Angabe keine Angabe Basis: Verbraucheraufruf (n=50) Basis: Erhebung in der Beratung (n=28) Angaben in Absolutwerten
Mögliche Ursachen für Zahlungsrückstände | 19 5. MÖGLICHE URSACHEN FÜR ZAHLUNGSRÜCKSTÄNDE 4 AUS WELCHEN GRÜNDEN KÜNDIGT IHR UNTERNEHMEN BEI HAUSHALTSKUNDEN STROMSPERREN AN BZW. FÜHRT DIESE DURCH? 0 10 20 30 40 50 60 70 Nichterfüllung der Zahlungsverpflichtung 62 aus den fälligen Abschlägen Nichterfüllung der Zahlungsverpflichtung aus 58 der Jahresabrechnung, da diese eine Nachzahlung aufgrund nicht gezahlter Abschläge enthielt Nichterfüllung der Zahlungsverpflichtung aus der Jahres- 54 abrechnung, da diese eine Nachzahlung aufgrund eines höheren Verbrauchs als durch die Abschlagszahlungen abgedeckt enthielt Nichtleistung der geforderten Sicherheitsleistung 13 Sonstiges 20 weiß nicht / k. A. / nicht bekannt 12 Basis: Unternehmensbefragung (n=84) Angaben in Absolutwerten Mehrfachnennungen möglich Zahlungsrückstände beim Energielieferanten kön- lieferanten geben eine Nichterfüllung der Zahlungs- nen grundsätzlich entweder unterjährig (monatliche verpflichtung aus der Jahresabrechnung an, die eine Abschläge können nicht beglichen werden) oder mit Nachzahlung aufgrund eines höheren Verbrauchs als Erhalt der Jahresrechnung (Nachzahlungen können durch die Abschlagszahlungen abdeckte, enthält. nicht beglichen werden) entstehen. Abbildung 4: Gründe für die Ankündigung bzw. 62 von 84 Energielieferanten (Mehrfachnennungen Durchführung einer Stromsperre (Unternehmensbe- möglich) erklären beispielsweise, dass Stromsperren fragung) aufgrund einer Nichterfüllung der Zahlungsverpflich- tung aus den fälligen Abschlägen angekündigt bezie- Auch 49 von 95 Befragten des Verbraucheraufrufs und hungsweise durchgeführt werden. 58 von 84 nennen 39 von 73 Befragten der Erhebung in der Beratung ga- die Nichterfüllung der Zahlungsverpflichtung aus der ben an, die aus einer Jahresabrechnung resultierende Jahresabrechnung, die eine Nachzahlung aufgrund Nachzahlung nicht oder nur unvollständig beglichen nicht gezahlter Abschläge enthält, als Grund für den zu haben. 54 von 95 Befragten des Verbraucherauf- Versand einer Sperrandrohung. 54 von 84 Energie- rufs und 48 von 73 Befragten der Erhebung in der Be-
20 | Mögliche Ursachen für Zahlungsrückstände 5 WARUM WURDE IHNEN / DEM VERBRAUCHER EINE STROMSPERRE ANGEDROHT BZW. DER STROM ABGESTELLT? 0 20 40 60 0 20 40 60 Ich habe die monat- 54 Verbraucher hat 48 lichen Abschläge die monatlichen nicht oder unregel- Abschläge nicht mäßig bezahlt. oder unregel- mäßig bezahlt. Ich konnte die Jah- 49 resabrechnung nicht Verbraucher 39 pünktlich / voll- konnte die Jahres- ständig bezahlen. abrechnung nicht pünktlich / voll- Ich habe die 0 ständig bezahlen. geforderte Sicher- heitsleistung Verbraucher hat 1 nicht bezahlt. die geforderte Sicherheitsleis- Sonstiges 13 tung nicht bezahlt. weiß nicht / k. A. 3 Sonstiges 14 Verbraucher weiß 1 es nicht / k. A. Basis: Verbraucheraufruf (n=95) Basis: Erhebung in der Beratung (n=73) Mehrfachnennungen möglich Mehrfachnennungen möglich Angaben in Absolutwerten Angaben in Absolutwerten ratung vermochten darüber hinaus ihre monatlichen dass Verbraucher ihre Stromrechnung oder Abschläge Abschläge nicht oder nur teilweise zu zahlen.23 nicht (beziehungsweise nicht pünktlich) begleichen. Abbildung 5: Gründe für die Ankündigung bzw. 5.1. MANGELNDE FINANZIELLE Durchführung einer Stromsperre (Verbraucherbefra- RESSOURCEN gung) Zu den Umständen, warum die Forderungen der Ener- Der Bericht geht im Folgenden der Frage genauer gielieferanten nicht oder nur teilweise beglichen nach, welche Faktoren potenziell dazu führen können, werden konnten, machen 28 Prozent (187 von 663 Fällen) der von der Verbraucherzentrale Rheinland- Pfalz befragten Verbraucher konkrete Angaben. 27 23 Diese Ergebnisse werden von der Auswertung der Sekundärdaten der Prozent dieser 187 Verbraucher geben an, den For- Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz gestützt. Dort werden von 61 Pro- zent der Verbraucher Nachzahlungen beziehungsweise nicht oder nur derungen der Energielieferanten aufgrund gestiege- teilweise gezahlte Abschläge, im Zusammenhang mit dem Auftreten ner Belastungen und möglicherweise weiterer Zah- von Energieschulden genannt. Zum Beispiel wurden Abschläge, die nicht oder nur teilweise bezahlt werden konnten, mit einem Anteil von lungsverpflichtungen nicht mehr nachgekommen zu jeweils 26 und 18 Prozent als Begründung genannt. sein. Ferner begründen 11 Prozent dieser Verbraucher
Mögliche Ursachen für Zahlungsrückstände | 21 entstandene Energieschulden mit einer gescheiter- Möglichkeit gewesen, diese Situation zu vermeiden. ten Selbstständigkeit und weitere 7 Prozent mit Ein- Das ergaben die qualitativen Interviews. kommenseinbußen aufgrund von Arbeitslosigkeit.24 5.2. ABSCHLAGSZAHLUNGEN Die vorhandenen finanziellen Mittel der Verbraucher scheinen die Aufwendungen für den von ihnen ver- Wie bereits erwähnt, versenden etwa zwei Drittel (54 brauchten Strom nicht abzudecken. Die Ergebnisse von 84) der befragten Energielieferanten Sperrandro- der statistischen Erhebungen der von der Verbrau- hungen, weil die monatlichen Abschlagszahlungen cherzentrale Nordrhein-Westfalen bereitgestellten nicht mit dem tatsächlichen Verbrauch der Kunden Beratungsfälle offenbart beispielsweise, dass die übereinstimmen. Wird die in der Folge vom Energie- Ratsuchenden häufig nur über ein geringes Einkom- lieferanten geforderte Begleichung des tatsächlichen men verfügen. Des Weiteren waren die erhobenen Stromverbrauchs nicht geleistet und beträgt die Sum- Einkommen in 85 Prozent der Fälle unpfändbar.25 me im Strom-Bereich mehr als 100 Euro, kann der Energielieferant eine Sperrandrohung verschicken. Die Bundesbank, die unter dem Titel „Private Haus- Gründe, warum Verbraucher den Forderungen bezüg- halte und ihre Finanzen (PHF)“ Haushalte in Deutsch- lich der Nachzahlungen der Abschläge nicht nach- land unter anderem zu ihren Schulden befragt, kam kommen, werden im Folgenden beleuchtet. zu dem Schluss, dass rund ein Drittel der Haushalte (32 %) mit einem jährlichen Nettoeinkommen unter 5.2.1. Disput über Abschlagshöhe 13.200 Euro verschuldet sind.26 Ein ebenso hoher An- teil der Haushalte (33 %) kann überraschend anfallen- Unstimmigkeiten über die angemessene Abschlags- de Ausgaben von etwa 1.000 Euro nicht begleichen.27 höhe können ein Grund dafür sein, dass Verbraucher Aufgrund der nur begrenzt zur Verfügung stehenden den Zahlungsaufforderungen der Energielieferanten finanziellen Mittel kann es dazu kommen, dass die zunächst nicht nachkommen, weswegen es zu Rück- Forderungen der Energielieferanten nicht (pünktlich) ständen von über 100 Euro kommen kann. bezahlt werden, sind sie doch finanziell kaum zu stemmen. FALLBEISPIEL FRÜHWARNNETZWERK: Der monatliche Abschlagsbetrag wird durch den Die Vermutung liegt nahe, dass sich von Strom - Anbieter auf 182 Euro festgesetzt und per Last- sperren betroffene Haushalte durch ein geringes Ein- schrift eingezogen. Der Verbraucher legt Wider- kommen auszeichnen.28 Das lassen auch die Ergeb- spruch ein und verweist auf sein Guthaben aus nisse der Experteninterviews erahnen. Unter anderem der letzten Jahresabrechnung mit bisheriger danach gefragt, welche Aspekte sich ihrer Meinung Abschlagszahlung von 126 Euro. Der Anbieter nach am stärksten auf die Bezahlbarkeit von Energie bezieht sich auf eine angeblich vom Netzbetrei- auswirken, wählen diese das Einkommensniveau in ber neu kalkulierte Jahresverbrauchsprognose, 9 von 15 Fällen aus (Mehrfachnennungen möglich). der wiederum gegenüber dem Verbraucher an- Nicht zuletzt führen auch die 31 Befragten in den gibt, diese Kalkulation nicht vorgenommen zu qualitativen Interviews ausstehende Zahlungen fast haben, weswegen der Verbraucher den Anbieter immer auf ein (zu) geringes Einkommen und eine fi- auffordert, die monatliche Abschlagszahlung nanziell schwierige Situation zurück. Die Halbierung auf 125 Euro zu korrigieren. Der Anbieter re- der Stromkosten oder eine um 100 Euro größere Haus- agiert nicht. Der Verbraucher bucht die erhöh- haltskasse wären dagegen für einige Betroffene eine ten Abschläge zurück und entzieht die Einzugs- ermächtigung. In der Folge droht der Anbieter 24 Für mehr als ein Drittel der Verbraucher (36 %) waren die genauen Um- mit Sperrung und bucht erneut vom Konto ab. stände unklar oder sie konnten hierzu keine eindeutig klare Antwort geben (7 %). Zusätzlich gaben 111 der 663 Verbraucher „sonstige Um- stände“ an, die jedoch nicht näher konkretisiert wurden. 25 Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen (2019): S. 3f. 26 Vgl. Deutsche Bundesbank (2019): Monatsbericht. 27 Vgl. Heindl/Löschel (2016). 28 Vgl. Heindl/Löschel (2016).
22 | Mögliche Ursachen für Zahlungsrückstände 5.2.2. Vom Anbieter geschätzter Verbrauch nungen jeweils aufgrund von Schätzungen er- stellt worden waren. Gemäß § 11 Absatz 3 StromGVV darf der Grundversor- ger, wenn er oder der Netzbetreiber das Grundstück Fallbeispiel Frühwarnnetzwerk: Das Unterneh- oder die Räume des Kunden zum Zwecke der Ablesung men hat für den Zeitraum Oktober 2016 bis nicht betreten kann, den Verbrauch auf der Grundlage Oktober 2018 den Verbrauch geschätzt und for- der letzten Ablesung unter angemessener Berücksich- dert nun eine Nachzahlung in Höhe von 1.800 tigung der tatsächlichen Verhältnisse schätzen. In der Euro und einen Abschlag von 103 Euro. Es gibt Praxis treten aber auch Fallgestaltungen auf, bei de- jedoch einen Zählerstand von Juni 2019, aus nen der Energielieferant den Verbrauch über mehre- dem sich ein geringerer Verbrauch ergibt. Das re Jahre schätzt, ohne dass ein Ausnahmetatbestand Unternehmen akzeptiert diesen aber nicht und vorliegt. Dies führt aber nicht dazu, dass der Energie- bezieht sich weiter auf die geschätzten Zahlen. lieferant nicht mehr abrechnen kann. Vielmehr muss er lediglich den der Schlussrechnung zugrunde geleg- ten, bestritten Verbrauch nachweisen. 5.3. VOM KUNDEN FALSCH EINGE- SCHÄTZTER TATSÄCHLICHER Der Energielieferant kann bei Schätzungen noch Jah- VERBRAUCH re später eine korrigierte Rechnung erstellen und die Kosten für den tatsächlichen Verbrauch nachfordern. Die Mehrheit der vom Marktwächter Energie im Rah- Das heißt, dass Verbraucher die monatlichen Ab- men des Verbraucheraufrufs befragten Verbraucher, schläge zwar pünktlich in der geforderten Höhe ge- die ihre Jahresabrechnung nicht pünktlich oder nicht zahlt haben, die Abschläge aber nicht dem tatsäch- vollständig bezahlen konnten (49 von 95 Befrag- lichen Verbrauch entsprachen. Dadurch kann sich auf ten), gibt an von der Höhe des eigenen Verbrauchs Grundlage einer eventuell zu niedrig berechneten mo- überrascht worden zu sein. Für 19 von 49 Befragten natlichen Abschlagshöhe ein (vergleichsweise hoher) ist der Verbrauch in diesem Zusammenhang uner- Nachzahlungsbetrag ergeben, dessen Regulierung klärlich hoch und für 12 von 49 Befragten höher als bisweilen nur schwer möglich ist. Dem Marktwächter ursprünglich erwartet. In der Erhebung in der Be- Energie liegt ein Fall aus dem Frühwarnnetzwerk vor, ratung geben 10 der 39 Verbraucher, die die Jahres- in dem der Energielieferant die Rechnungen für die abrechnung nicht oder nicht vollständig bezahlen Jahre 2012 bis 2019 nachträglich korrigierte und der konnten, an, dass ihr Verbrauch unerklärlich hoch Verbraucher knapp 7.760 Euro nachzahlen musste. In beziehungsweise höher als ursprünglich erwartet ge- einem anderen Fall musste eine Verbraucherin sogar wesen sei. Nicht zuletzt kommt die Verbraucherzent- über 13.370 Euro nachzahlen. rale Rheinland-Pfalz zu dem Ergebnis, dass 57 Prozent aller Ratsuchenden ihren Stromverbrauch als mit- FALLBEISPIEL FRÜHWARNNETZWERK: tel und niedrig einschätzen, wobei der tatsächliche Der Verbrauch wurde in den Jahren 2013 bis Stromverbrauch bei mehr als der Hälfte dieser Ratsu- 2017 nur geschätzt, obwohl der Zähler außer- chenden im erhöhten bis sehr hohen Bereich liegt.29 halb des Wohnhauses steht und der Messstel- lenbetreiber ausdrücklich für die Ablesung zu- 5.3.1. Mangelnde Kontrollmöglichkeiten ständig ist. Anfang 2019 erhält der Verbraucher des Stromzählers eine korrigierte, rückwirkende Rechnung für die Jahre 2014 bis 2017 mit einer Nachzahlung Die Fehleinschätzungen des eigenen Verbrauchs in Höhe von rund 6.000 Euro. könnten auf mangelnde Kontrollmöglichkeit durch den Verbraucher selbst zurückzuführen sein. In der Allge- Fallbeispiel Frühwarnnetzwerk: Der Anbieter meinbevölkerung haben beispielsweise zwei Prozent fordert in der Schlussrechnung eine Nachzah- der Verbraucher keinen und weitere sechs Prozent lung in Höhe von rund 1.000 Euro für rückstän- dige Beträge der letzten 10 Jahre. Begründet wird die Nachforderung damit, dass die Abrech- 29 Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz (2019): S. 9.
Mögliche Ursachen für Zahlungsrückstände | 23 nur eingeschränkten Zugang zum eigenen Zähler.30 INTERVIEW 25: Auch 14 von 95 Befragten des Verbraucheraufrufs „Als der Strom gesperrt wurde, kam eine im- geben an, keinen beziehungsweise – bei 5 von 95 mens hohe Nachzahlung. Ich wusste auch Befragten – nur einen eingeschränkten Zugang zum nicht, woher die kam. Es hat sich dann schluss- eigenen Zähler zu besitzen. In der Erhebung in der Be- endlich herausgestellt, dass wir einfach ex ratung können 5 von 73 den eigenen Stromzähler nur treme Stromfresser in der Wohnung hatten. Es mithilfe der Hausverwaltung oder des Eigentümers gab eine, wie nennt man das, wenn das Wasser ablesen, während 11 von 73 überhaupt keinen Zugang nachts aufgeheizt wird? Diese, was quasi über zum eigenen Stromzähler haben.31 den Strom rennt, völlig bescheuert.“ 5.3.2. Stromintensive Technik INTERVIEW 11: „Wenn ich wüsste, wo der Strom hinfließt, wa- Stromintensive Technik wie elektrische Warmwasser- rum es angeblich so viel verbraucht (…). Wir aufbereitungsanlagen, elektrisch betriebene Heizun- haben überall LED-Lampen drinnen mit vier gen oder alte Kühlschränke kann den Stromverbrauch Watt, die relativ starken haben sieben Watt. (unbemerkt) in die Höhe treiben. Wurden die gezahl- Wir haben drei PCs und einen Fernseher und ten Abschläge nicht an den tatsächlichen Stromver- Kühlschrank und ein Eisfach. Ansonsten läuft brauch angepasst, kann es zu Nachzahlungen in der eigentlich nichts. Kann eigentlich nur der Boi- Jahresabrechnung kommen.32 ler sein, der wahnsinnig viel frisst.“ Mehr als die Hälfte (50 von 95) der von Stromsperren Auch 8 von 15 Experten sehen stromintensive Technik bedrohten oder betroffenen Verbraucher des Verbrau- wie elektrische Warmwasseraufbereitungsanlagen cheraufrufs geben in diesem Zusammenhang an, ihr und 6 von 15 Experten die Art des Heizsystems (zum Wasser elektrisch mithilfe eines Durchlauferhitzers Beispiel elektrische Heizungen) als Faktor an, der sich oder Boilers zu erhitzen. Bei der Erhebung in der auf die Bezahlbarkeit von Energie auswirkt.35 6 von 15 Beratung sind es etwas mehr als ein Drittel (29 von Experten erachten zudem die Energieeffizienz vorhan- 73). Auch in der Auswertung der Sekundärdaten der dener Haushaltsgeräte als einen weiteren Faktor, der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz zeigt sich, dass den Stromverbrauch und damit die Kosten in die Höhe über die Hälfte (54 %) der 663 befragten Verbraucher treiben kann. Eine Vermutung, die die Auswertung ihr Warmwasser ganz oder teilweise über Haushalts- der Sekundärdaten der Verbraucherzentrale Rhein- strom zubereitet. In der Gesamtbevölkerung erhitzen land-Pfalz zu stützen scheint. Etwa ein Drittel (230 24 Prozent ihr Warmwasser ganz und 6 Prozent teil- von 663 Fällen) der Berater der Verbraucherzentrale weise über Haushaltsstrom.33 Rheinland-Pfalz machte Angaben über die möglichen Strom-Schwachstellen im Haushalt der von Strom- Darüber hinaus geben 11 von 95 Befragten des Ver- sperren bedrohten beziehungsweise betroffenen Ver- braucheraufrufs und 13 von 73 Befragten der Erhebung braucher. Mehr als jeder Zehnte (11 %) davon verweist in der Beratung, die eine Sperrandrohung erhalten in diesem Zusammenhang auf ineffiziente Kühl- und beziehungsweise von einer Stromsperre betroffen wa- Gefriergeräte und 7 Prozent auf ineffiziente Trockner. ren, an mit Radiatoren, Nachtspeicher- oder Infrarot heizungen oder Heizlüftern zu heizen. In der Gesamt- Drei von zehn der von der Verbraucherzentrale Rhein- bevölkerung liegt dieser Anteil bei sechs Prozent.34 land-Pfalz befragten Verbraucher geben jedoch auch an, die genauen Schwachstellen bezüglich des hohen Stromverbrauchs nicht gesucht zu haben (12 %) oder dass diese unklar seien (17 %). Auch 11 von 95 Befrag- ten beim Verbraucheraufruf und 9 von 73 Befragten 30 Dünnhoff/Palm (2016): S. 11, 21. der Erhebung in der Beratung wollen oder können kei- 31 Weitere Ausführungen dazu siehe Kapitel 9.4.2.3. 32 Siehe auch Kahlheber (2016). 33 Dünnhoff/Palm (2016): S. 11, 21. 35 Siehe auch Steuwer et al. (2018): S. 14 und Verbraucherzentrale Rhein- 34 Dünnhoff/Palm (2016): S. 11. land-Pfalz (2019): S. 19.
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