DATEN IN NEUEN DIMENSIONEN - Paul Scherrer Institut (PSI)

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DATEN IN NEUEN DIMENSIONEN - Paul Scherrer Institut (PSI)
SCHWERPUNKTTHEMA

                                               D AT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N

                                                       5
Das Magazin des Paul Scherrer Instituts

                                                       2
                                          0 2 / 2022

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DATEN IN NEUEN DIMENSIONEN - Paul Scherrer Institut (PSI)
SCHWERPUNKT THEMA:
                             D AT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N

                                                         HINTERGRUND

                                                         Schneller und smarter
                                                         Wenn Grossforschungsanlagen wie der Schweizer
                                                         Freie-Elektronen-Röntgenlaser SwissFEL und die
                                                         Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS auf Hochtouren
                                                         laufen, produzieren sie gewaltige Mengen an Daten.
                                                         Sie zu gewinnen, zu verarbeiten und auszuwerten, ist
                                                         eine enorme Aufgabe.

                                                         Seite 10

                                                                              1

HINTERGRUND

Lösung für das
Unlösbare
PSI und ETH Zürich haben den Quantum-­
Computing-Hub gegründet. Spitzenforschende
arbeiten dort gemeinsam an Konzepten für
Quantencomputer, die herkömmliche Computer
bei bestimmten Rechenaufgaben einmal bei
Weitem übertreffen sollen.

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NACHGEFRAGT

                                                                  Was machen Sie da, Herr Rüegg?                                4

                                                                  A L LTA G

                                                                  Schlüssel und Schloss	 6

                                                                  FORSCHUNG

                                                                  Aufspüren und andocken                                        7

                                                                         	 S C H W E R P U N K T T H E M A :
                                                                           DAT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N          8

                                                                         	 H I N T E R G R U N D

                                                                           Schneller und smarter                               10

                                                                         	 I N F O G R A F I K

                                                                           Schritt für Schritt – oder
                                                                  		       alles zugleich                                      16

                                                                         	 H I N T E R G R U N D

                                                                           Lösung für das Unlösbare                            18

                                                                  IM BILD
                                                                  Schaltplan des Gehirns                                       21

                                                                  IN DER SCHWEIZ
                                                     I N H A LT

                           2                                      Herkules und Akkus durchleuchtet                             22
                                                                  Sowohl für antike Gegenstände als auch für moderne
INFOGRAFIK                                                        Technologien braucht es Untersuchungsmethoden, bei
                                                                  denen das Objekt komplett intakt bleibt. Forschende
Schritt für Schritt –                                             am PSI nutzen dafür Elementarteilchen namens Myonen.

oder alles zugleich                                               IN KÜRZE

                                                                  Aktuelles aus der PSI-Forschung                              26
Der Quantencomputer revolutioniert die
                                                                  1   Neuer, besserer Corona-Virus-Schnelltest
Computer­technik. Weil seine Qubits miteinander
                                                                  2   Simulation hilft bei Aufräumarbeiten in Fukushima
in Verbindung stehen und viele verschiedene
                                                                  3   Mehr Einblick in den Sehsinn
Zustände gleichzeitig annehmen, kann er Rechen-
                                                                  4   Mist und Gülle als Energie-Ressourcen
aufgaben ausführen, die klassische Computer
niemals lösen können.
                                                                  GALERIE

Seite 16                                                          Kunst am PSI                                                 28
                                                                  Hier zeigen wir Ihnen eine Auswahl an Kunstwerken, die am
                                                                  PSI zu sehen sind.

                                                                  ZUR PERSON

                                                                  Chancen ergreifen                                            34
                                                                  Als Doktorand baute Philipp Kraft am PSI einen neuartigen
                                                                  Röntgendetektor. Heute wirkt er bei der Modernisierung des
                                                                  Testzentrums eines Finanzinstituts mit.

                                                                  WIR ÜBER UNS                                                 38

                                                                  IMPRESSUM                                                    40

                                                                  AUSBLICK                                                     41

5232       Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                              3
DATEN IN NEUEN DIMENSIONEN - Paul Scherrer Institut (PSI)
Was machen
              Sie da, Herr Rüegg?
NACHGEFRAGT

              Der Krieg in der Ukraine bringt viele Menschen in
              grösste Not und fordert uns auf, unsere grundlegenden
              Werte zu reflektieren und zu verteidigen. Direktor
              Christian Rüegg erläutert, mit welchen Massnahmen das
              PSI den Betroffenen die Hand reicht und wie gerade
              jetzt die Wissenschaft gefordert ist.

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DATEN IN NEUEN DIMENSIONEN - Paul Scherrer Institut (PSI)
NACHGEFRAGT

                                   Herr Rüegg, der Krieg in der Ukraine bringt grosses Leid
                                   über viele Menschen. Wie kann das PSI als Forschungs-
                                   institut hier unterstützen?
                               Wir unterstützen zum einen betroffene ukrainische Forschende.
                               Das PSI ist Mitglied im internationalen Netzwerk «Scholars at
                               Risk» und kann sich daher an den Hilfsangeboten des Schwei-
                               zerischen Nationalfonds beteiligen. Zudem haben wir be-
                               schlossen, auslaufende Arbeitsverträge von ukrainischen Mit-
                               arbeitenden bis mindestens Ende des Jahres zu verlängern.
                               Wichtig ist für uns auch der direkte, persönliche Austausch. Wir
                               sprechen mit unseren ukrainischen Mitarbeiterinnen und Mit-
                               arbeitern und versuchen für ihre Sorgen und Nöte individuelle
                               Lösungen zu finden.

                                    In welcher Weise ist in einer Situation wie dieser die Wis-
                                    senschaft in ihrem Selbstverständnis gefordert?
                                Wir müssen unsere Werte nach aussen tragen. Die Wissen-
                                schaft lebt vom offenen und internationalen Austausch. Wie
                                schon in der COVID-19-Pandemie ist sie Teil der Lösung und
                                nicht das Problem. Wir verstehen Wissenschaft als globale
                               ­Gemeinschaft. Nationale, ideologische oder politische Grenzen
                                haben in unserem Selbstverständnis keinen Platz. Am P     ­ aul
                                Scherrer Institut arbeiten Mitarbeitende aus über 60 Natio-
                                nen – auch aus der Ukraine und aus Russland – friedlich an
                                dem gemeinsamen Ziel, Wissenschaft und Forschung zum Nut-
                                zen aller Menschen voranzubringen. Die Wissenschaft baut
                                Brücken auf, sie reisst diese nicht ab. Dieses hohe Gut müs-
                                sen wir schützen. Gleichzeitig setzen wir die Sanktionen der
                                Schweiz gegen Russland um.

                                   Welche Entwicklung erwarten Sie für die Zukunft?
                               Die Kontakte und Freiheit seit dem Ende des Kalten Kriegs ha-
                               ben viele gesellschaftliche, wirtschaftliche und wissenschaft-
                               liche Früchte getragen. Innerhalb weniger Wochen hat sich die
                               Welt nun wieder grundlegend geändert. Wir müssen befürchten,
                               dass sich nach diesem Krieg die politischen Systeme für lange
                               Zeit unversöhnlich gegenüberstehen und sich die Fronten zwi-
                               schen unterschiedlichen Weltsichten global zunehmend ver-
                               härten. Der Austausch von Ideen und Technologie wird nicht
                               mehr selbstverständlich sein, wie wir es bisher gewohnt waren.
                               Mit diesem Spannungsfeld müssen wir lernen umzugehen. Ge-
                               rade in dieser schwierigen Zeit ist es besonders wichtig, einan-
                               der respektvoll zu begegnen und den Dialog zu suchen. Frieden
                               und globaler Fortschritt müssen unser aller Ziel sein. Sie sind
                               nötig, um die grossen Herausforderungen zum Beispiel für das
                               Klima und die Gesundheit mithilfe der Wissenschaft zu lösen.

5232   Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                    5
DATEN IN NEUEN DIMENSIONEN - Paul Scherrer Institut (PSI)
A L LTA G      &

    Schlüssel und
    Schloss
    Der Mensch verfügt nicht nur gerne über alle möglichen Dinge,
    er möchte auch den Zugriff auf sie beziehungsweise Zugang zu
    ihnen steuern. Deshalb erfanden findige Köpfe schon vor be-
    reits etwa 3500 Jahren eine Vorrichtung, mit deren Hilfe sich
    das bewerkstelligen lässt: Schlösser und die dazugehörigen
    Schlüssel. Die ersten Vertreter dieser mechanischen Kontroll-
    mechanismen waren nicht viel mehr als eine Art Haken, den
    man durch eine kleine Öffnung in einer Tür schieben musste.
    Dieser Schlüssel war genau so konstruiert, dass man mit ihm
    an einen Riegel herankam und diesen dann zurückschieben
    konnte. Mit der Zeit und vielen Erfindern mehr verfeinerte sich
    dieses System immer weiter, um andere dort zu lassen, wo man
    sie haben wollte: draussen und ausgesperrt oder drinnen und
    eingesperrt. Dabei konzentrierte sich der menschliche Einfalls-
    reichtum vor allem darauf, immer weiter ausgefeilte Schlösser
    zu konstruieren, in die immer schwieriger nachzubauende,
    komplexe Schlüssel passen. Das Prinzip, nach dem ein Schlüs-
    sel mit seiner Form kompatibel zu einem ganz spezifischen
    Schloss ist, setzt sich von der Mechanik bis zur heutigen digi-
    talen Welt fort, in der ebenfalls mit Schlüsseln gearbeitet wird –
    allerdings nicht, um Schätze von Gold und Edelsteinen zu hüten,
    sondern um wertvolle Informationen zu schützen.

6
DATEN IN NEUEN DIMENSIONEN - Paul Scherrer Institut (PSI)
FORSCHUNG

   Aufspüren und
   andocken
   Bald ist es 130 Jahre her, dass der Chemiker und spätere No-
   belpreisträger Emil Fischer 1894 einen Artikel veröffentlichte,
   in dem er eine Analogie zwischen Schlüssel und Schloss und
   der Funktionsweise von biologischen Molekülen zog. Er stütz-
   te sich dabei auf Untersuchungen an Enzymen, also jenen
   Bausteinen auch unseres Körpers, die Reaktionen vermitteln,
   beschleunigen oder überhaupt erst möglich machen, zum Bei-
   spiel bei der Verdauung. So schrieb er: «Um ein Bild zu gebrau-
   chen, will ich sagen, dass Enzym und Glucosid wie Schloss und
   Schlüssel zueinander passen müssen, um eine chemische
   Wirkung aufeinander ausüben zu können.» Bis heute haben
   Forschende zahlreiche biologische Systeme gefunden, für die
   dieses Schlüssel-Schloss-Prinzip eine entscheidende Rolle
   spielt, zum Beispiel auch bei unserem Immunsystem. Inner-
   halb dieses Abwehrsystems sind sogenannte Antikörper wich-
   tig. Sie erkennen spezifisch bestimmte Strukturen auf der
   Oberfläche von unerwünschten Eindringlingen oder entarte-
   ten körpereignen Zellen. An diese docken sie dann an. Das
   nutzen PSI-Forschende beispielsweise für die Radiopharmazie
   und bringen mit spe­ziellen Antikörpern radioaktive Isotope
   gezielt zu Tumorzellen, um sie aufzuspüren oder zu eliminieren.

   5232      Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                 7
DATEN IN NEUEN DIMENSIONEN - Paul Scherrer Institut (PSI)
Daten in neuen Dimensionen
    SCHWERPUNKTTHEMA

                       Am PSI arbeiten Forschende bestens vernetzt – sowohl untereinander als auch
                       mit Institutionen in der Schweiz und weltweit. Damit das in Zukunft so
                       bleibt oder sogar noch besser abläuft, wurden am PSI unter anderem der neue
                       Forschungsbereich Computergestützte Wissenschaften, Theorie und Daten
                       sowie ein Quantum-Computing-Hub gemeinsam mit der ETH Zürich gegründet.
                       Das eröffnet neue Perspektiven für die Arbeit mit Daten.

                       Text: Bernd Müller

                                               HINTERGRUND

                                               Schneller und smarter
                                               Seite 10
                                                                    1

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DATEN IN NEUEN DIMENSIONEN - Paul Scherrer Institut (PSI)
DAT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N

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                                                                                               Lösung für das Unlösbare
                                                                                               Seite 18
           INFOGRAFIK

           Schritt für Schritt – oder alles zugleich
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           Seite 16

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DATEN IN NEUEN DIMENSIONEN - Paul Scherrer Institut (PSI)
Schneller und smarter
Wenn Grossforschungsanlagen wie der Schweizer Freie-Elektronen-Röntgenlaser
SwissFEL und die Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS auf Hochtouren
laufen, produzieren sie gewaltige Mengen an Daten. Um diese zu interpretieren
und beispielsweise zur Entwicklung neuer Medikamente oder Materialien
zu nutzen, bündelt das PSI jetzt seine Expertise im neuen Forschungsbereich
Computergestützte Wissenschaften, Theorie und Daten.

Text: Bernd Müller

                                                                  Alun Aston kümmert sich am PSI
                                                                  darum, dass Forschende eine exzellente
                                                                  IT-Infrastruktur nutzen können.

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DAT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N

       Die Forscherkarriere von Alun Ashton begann in              Wissenschaften, Theorie und Daten, kurz SCD, der
       den 1990ern, also gewissermassen in der Stein-              im Juli 2021 gegründet wurde. Der SCD verbindet
       zeit, zumindest was die Nutzung von Computern               bereits bestehende Einheiten wie beispielsweise
       betrifft. «Als Student habe ich die Daten meiner            das Labor für Simulation und Modellierung, das in-
       Messungen auf Floppy-Discs gespeichert», erin-              terimsweise von Andreas Adelmann geleitet wird,
       nert sich der Biochemiker und Computerwissen-               aber auch neue Einheiten wie den dritten Standort
       schaftler. Für alle, die nicht wissen, wovon hier die       des Swiss Data Science Center am PSI, der die bei-
       Rede ist: Disketten waren wechselbare Magnet-               den bisherigen Standorte an der ETH Lausanne
       speicher, die in ihrer modernsten Ausführung sa-            (EPFL) und der ETH Zürich (ETHZ) ergänzt. Rund
       genhafte 1,4 Megabytes fassen konnten. «Müsste              siebzig Personen in vier Abteilungen forschen, ent-
       ich die Daten, die heute an nur einem Experiment            wickeln und stellen Support bereit, schon bald sol-
       an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS ent-             len es hundert sein. Während die drei Laborleiter
       stehen, auf solchen Floppys speichern, bräuchte             Andreas Adelmann, Andreas Läuchli und Nicola
       ich davon Millionen – und mehrere Leben, um die             Marzari sich vor allem um wissenschaftliche Metho-
       Disketten zu wechseln.»                                     den in ihren jeweiligen Fachdisziplinen kümmern,
            Zum Glück hat sich die Informationstechnologie         leitet Alun Ashton mit der Abteilung Wissenschaft-
       so rasant entwickelt, dass Ashton seine Zeit für            liche IT-Infrastruktur und Dienstleistungen eine
       sinnvollere Dinge nutzen kann. Selbst grosse Da-            Service-Einheit, die Wissenschaftler und Wissen-
       tenmengen aus den Experimenten am PSI werden                schaftlerinnen im Forschungsbereich Photonenfor-
       ausreichend schnell verarbeitet und gespeichert.            schung, am SCD sowie PSI-weit fachlich im Scien-
       Zumindest bis jetzt. Spätestens wenn 2025 nach              tific Computing unterstützt.
       einem Upgrade der SLS die SLS 2.0 den Betrieb auf-               «Die Forschungsabteilungen sollen forschen
       nimmt, werden die Forschenden am PSI vor einem              und nicht eigene IT-Abteilungen unterhalten», so
       grossen Problem stehen. Nach dem Upgrade auf die            Ashton. Deshalb sei die Zentralisierung im SCD der
       SLS 2.0 können Experimente eine bis zu tausend-             richtige Schritt. «Wir erfinden das Rad nicht neu,
       fach höhere Leistungsfähigkeit haben als bei der            aber mit dem SCD haben wir dennoch ein Alleinstel-
       heutigen SLS und bei anderen Konfigurationen. Sie           lungsmerkmal», pflichtet Andreas Adelmann bei.
       können daher viel mehr Daten liefern als bislang.           Der neue Forschungsbereich nutze Synergien bes-
       Hinzu kommen bessere und schnellere Detektoren              ser, habe Strahlkraft in der internationalen Wissen-
       mit höherer Auflösung. Wo die heutige SLS-Strahl-           schaft und ziehe gute Leute an. Adelmann: «Das
       linie einen Datensatz pro Minute erzeugt, werden            SCD ist mehr als die Summe seiner Teile.»
       mit der SLS 2.0 in weniger als einer Sekunde solche              Einer seiner interessantesten «Kunden» sei
       Datenmengen entstehen. Der brandneue Jungfrau­-             Marco Stampanoni, sagt Alun Ashton mit einem
       Detektor am SwissFEL kann bei voller Geschwindig-           Augenzwinkern. Das Team des ETH-Professors hat
       keit sogar auf 50 Gigabytes pro Sekunde kommen.             sich der tomografischen Röntgenmikroskopie ver-
       Eine herkömmliche PC-Festplatte wäre schon nach             schrieben, die allerhöchste Anforderungen an die
       wenigen Sekunden randvoll. Insgesamt liefern die            Rechenleistung und Speicherkapazität stellt. Um
       Experimente am PSI derzeit 3,6 Petabytes pro Jahr.          etwa zu untersuchen, wie bei der Synthese einer
       Wenn die SLS 2.0 voll in Betrieb ist, können die Ex-        neuen Legierung ein warmes Gas in einen metalli-
       perimente allein dort bis zu 30 Petabytes pro Jahr          schen flüssigen Schaum dringt, muss die Software
       erzeugen, wofür man rund 50 000 PC-Festplatten              für jede Millisekunde einen dreidimensionalen
       bräuchte. Wer das unbedingt in Floppy-Discs um-             Schnappschuss aus den Daten errechnen. Das sind
       rechnen möchte, kann gut und gerne noch sechs               gewaltige Datenmengen, die erzeugt und weiterbe-
       Nullen anhängen.                                            arbeitet werden müssen. Andere Kollegen im glei-
                                                                   chen Labor beschäftigen sich mit computer­
           Frische Ideen gesucht                                   gestützter Mikroskopie und insbesondere der
                                                                   Ptychografie. Sie ersetzt die konventionelle Rönt-
       Seit Jahren ist klar: Mit den alten Konzepten lassen        genmikroskopie, die mit Linsen arbeitet, aber nicht
       sich am PSI die neuen Herausforderungen nicht               so feine Auflösungen erreicht, wie es mit Röntgen­
       bewältigen. Es braucht frische Ideen, wie man der           strahlen eigentlich möglich wäre. Bei der Ptycho-
       riesigen Datenmengen Herr werden kann, um die               grafie rekonstruiert ein iterativer Algorithmus das
       immer anspruchsvolleren und zahlreicheren For-              Röntgenbild aus den Rohdaten des Detektors, der
       schungsfragen zu beantworten. Und es braucht                weit von der Probe entfernt ist, ohne dass eine
       einen eigenen Forschungsschwerpunkt mit ent-                Linse dazwischen liegt, und der die kohärenten
       sprechender organisatorischer Struktur. Ergebnis            Eigenschaften einer Synchrotronquelle nutzt. Die
       ist der neue Forschungsbereich Computergestützte            zugrunde liegende mathematische Operation ist

5232   Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                            11
Xavier Deupi erforscht am PSI Biomoleküle,
zum Beispiel Lichtsensoren. Um genau zu
wissen, wie sie funktionieren, muss man ihre
Struktur kennen. Bei deren Erkundung fallen
immense Daten­mengen an.

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DAT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N

       rechnerisch sehr anspruchsvoll und muss tausend             Nutzer ihre Datenfragen lösen und in überschauba-
       Mal ausgeführt werden. Bei der SLS 2.0 werden               rer Zeit wissenschaftliche Ergebnisse erzielen kön-
       die Anforderungen an solche Rechenleistungen er-            nen», hofft Stampanoni.
       heblich steigen, was die Nutzung des Supercompu-
       ters am Swiss National Supercomputing Centre in                 Synergien nutzen
       Lugano unabdingbar macht.
                                                                   Xavier Deupi hat keine Zweifel, dass dies gelingen
           Kein Verlass aufs Mooresche Gesetz                      wird. Für den Wissenschaftler der Forschungs-
                                                                   gruppe Theorie kondensierter Materie war die Ein-
       Und die Leistungslücke dürfte eher noch anwach-             richtung des SCD unausweichlich. «Das PSI brauch­
       sen. Denn auf das Mooresche Gesetz können sich              te eine Konsolidierung des wissenschaftlichen
       die Forschenden am PSI sowie in vielen anderen              Rechnens in einer organisatorischen Einheit, um
       naturwissenschaftlichen Disziplinen nicht mehr              Synergien nutzen zu können.» Die Datenwissen-
       verlassen. Intel-Mitgründer Gordon Moore hatte              schaftler sind jetzt in der gleichen Abteilung, sie
       1965 vorhergesagt, dass sich die Zahl der Transis-          können Fragen von Deupis Team schneller beant-
       toren, was ungefähr mit der Rechenleistung korre-           worten und gemeinsame Projekte starten. «Aus
       spondiert, alle achtzehn Monate verdoppelt – man-           ihrem IT-Knowhow und unserem Wissen über Bio-
       che Quellen geben auch zwölf beziehungsweise                logie entstehen neue Werkzeuge zur Erforschung
       vierundzwanzig Monate an. Das Mooresche Gesetz              von Proteinen.»
       gilt bis heute und wird wohl auch noch dieses Jahr-             Deupi bezeichnet sich selbst als «Heavy User»
       zehnt Bestand haben. Doch das reicht leider nicht.          des leistungsfähigen Merlin-Rechners am PSI und
       «Die Brillanz der Quellen wie SwissFEL oder SLS 2.0         des Supercomputers in Lugano. Für ein Experiment
       steigt schneller als das Mooresche Gesetz», warnt           setzt er Hunderte Prozessoren ein, die Hunderte
       Marco Stampanoni. «Es braucht schlauere Lösun-              Stunden laufen, manchmal sogar mehrere Monate.
       gen als einfach nur immer mehr Rechenleistung.»             Doch das ist immer noch nicht genug. Trotz der lan-
            Eine könnte das maschinelle Lernen sein. «Es           gen Rechenzeit kann Deupi nur Veränderungen an
       ist eine Binsenweisheit: In unseren Daten steckt            Proteinen simulieren, die wenige Mikrosekunden
       viel mehr, als wir bisher auswerten konnten», sagt          dauern. Doch wenn sich ein Molekül an ein Protein
       Andreas Adelmann. Maschinelles Lernen könne                 bindet – zum Beispiel Adrenalin an Rezeptoren in
       dieses verborgene Wissen in den riesigen Daten-             Herzzellen –, dauert das mindestens Millisekunden.
       bergen finden. Und es kann helfen, teure Strahl-            Etwa ein Drittel aller Medikamente bindet an die
       zeit an SLS und SwissFEL zu sparen. Früher nahmen           Proteine, die Deupi untersucht. Könnte man den
       die Experimentatoren nach dem Ende ihrer Messun-            kompletten Vorgang wie in einem dreidimensiona-
       gen die Daten mit nach Hause und analysierten sie           len Video beobachten, wäre das für die Entwick-
       in Ruhe. Aber Experimente können auch schiefge-             lung solcher Medikamente ein Durchbruch. Doch
       hen und das fiel dann oft erst Monate später auf.           selbst die stärksten Computer sind dazu noch nicht
       Schnelle Modelle auf Basis von maschinellem Ler-            in der Lage.
       nen können noch während eines laufenden Experi-                 Aber warum so kompliziert, wenn es auch ein-
       ments Aussagen treffen, ob die Messwerte plausi-            fach geht? Diese Frage stellen sich viele, seit
       bel sind. Falls nicht, bleibt Zeit, die Messapparatur        Google mit AlphaFold eine Software vorgestellt hat,
       zu justieren. Adelmann: «Die Datenerhebung im               die mit künstlicher Intelligenz Modelle von solchen
       Experiment und die Datenana­lyse rücken näher zu-           Proteinen viel schneller und genauer berechnet.
       sammen.»                                                    Man gibt nur noch die Sequenz ein und AlphaFold
            Marco Stampanoni sieht hier das SCD als wich-          spuckt die Struktur aus. «AlphaFold ist extrem gut»,
       tigen Partner. Viele Nutzer und Forschende haben            lobt Deupi. Das Ende der strukturellen Biologie, das
       mit IT nichts am Hut und können damit überfordert           manche schon prophezeien, sei aber damit nicht in
       sein. «Ein Mediziner muss nicht wissen, wie ein Syn-        Sicht. Und um seinen Arbeitsplatz mache er sich
       chrotron funktioniert oder wie und wo genau die             auch keine Sorgen. Denn erstens sagt der Google-
       Daten gespeichert werden.» Wenn er sich für die             Algorithmus nicht die ganze Struktur eines Proteins
       Wirkung eines Medikaments auf die Stabilität von            voraus und zweitens kann man aus der Struktur
       Knochen interessiert, will er den 10 Terabytes gro-         nicht einfach auf die Funktion des Proteins schlies­
       ssen Datensatz nicht durcharbeiten müssen, den              sen. «AlphaFold trifft keine Aussage, wie sich Pro-
       ihm ein tomografisches Experiment am Synchro-               teine bewegen.» Genau dafür brauche es weiter-
       tron liefert. Ihm reicht eine einfache Grafik, von der      hin Grossforschungsanlagen wie die SLS und den
       er die wichtigsten Ergebnisse ablesen kann. «Das            SwissFEL. «AlphaFold ersetzt diese Maschinen
       SCD wird hier künftig einen Beitrag leisten, sodass         nicht, sie ergänzen sich vielmehr.»

5232   Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                            13
«Wer erfolgreich forschen und
     Den Wandel begleiten
                                                                   publizieren will, braucht dafür
Das SCD sei genau der richtige Ort, um solche neu-
en Werkzeuge zu erproben. Dafür müssen Experi-
                                                                   eine gute Maschine und eine
mentatoren, Theoretikerinnen, Computerexperten,
Ingenieurinnen und viele mehr miteinander reden.
                                                                   gute Modellierung.»
Das sei notwendig, damit Computerwissenschaftler
                                                                   Andreas Läuchli, Leiter des Labors für Theoretische und
die richtigen Lösungen für sie fänden, so Marie Yao.
                                                                   computergestützte Physik
Sie wurde eigens am SCD eingestellt, um die baby-
lonische Sprachverwirrung zu überwinden und die
Veränderung zu begleiten für bestmögliche wissen-
schaftliche Resultate. Würde sie in einem Unter-            Maschine und Modellierung
nehmen arbeiten, dürfte sie sich als Managerin für
strategische Allianzen bezeichnen. «Wandel ist          Im Fall von Andreas Läuchli ist das schon gelungen.
nicht immer einfach», weiss Yao, die mehrere Jahre      Er ist neben Andreas Adelmann und Nicola Marzari
in einer ähnlichen Position am Oak Ridge National       der Leiter des dritten wissenschaftlichen Labors am
Laboratory in den USA gearbeitet hat. Manche Mit-       SCD, das sich mit theoretischer und computerge-
arbeitenden hätten Angst vor Bedeutungsverlust          stützter Physik beschäftigt. Vor einem Jahr kam er
und würden an alten Abläufen festhalten. Sie sieht      aus Innsbruck ans PSI und an die EPFL, wo er auch
ihre Aufgabe darin, Teamarbeit zu fördern und ein       einen Lehrstuhl hat. Läuchli soll die Theorie stärken,
Umfeld zu schaffen, in dem sich alle sicher und         aber Hand in Hand mit den Experimentalphysikern
wertgeschätzt fühlen durch den von ihnen geleiste-      arbeiten und ihnen Ideen für neue Experimente ge-
ten Beitrag zu besseren technischen Lösungen.           ben, vor allem am SwissFEL sowie an der SLS 2.0.
     Dazu koordiniert Yao im Team von Alun Ashton       Die Gründung des SCD hält Läuchli für eine gute
an der Schnittstelle von SCD und den weiteren Di-       Entscheidung. «Experimente und Theorie werden
visionen am PSI die Entwicklungen für den Start der     immer komplexer. Wer erfolgreich forschen und
SLS 2.0 im Jahr 2025 und trägt dazu bei, technische     publizieren will, braucht dafür eine gute Maschine
Lösungen zu entwickeln. Bis dahin müssen Hard-          und eine gute Modellierung.» Das SCD sei wichti-
ware, Software und Netze bereit sein und die enor-      ger Bestandteil dieser Synthese.
men Datenmengen bewältigen. Ein ganzheitlicher               Läuchlis Steckenpferd sind Vielteilchensyste-
Ansatz sei wichtig, so Yao: «Die ganze Datenpipeline    me, worunter in der Physik alles fällt, das mehr als
ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied.»            ein einzelnes Wasserstoff-Atom ist – also nahezu
     Ein zunehmend schwächeres Glied in der Wis-        sämtliche Materie auf der Erde. Alle Wege, Ener-
senschaft wie auch in anderen Bereichen der Wirt-       gieniveaus in diesen Systemen zu bestimmen, füh-
schaft ist der Fachkräftemangel. Wenn es nicht          ren über die Schrödinger-Gleichung. Sie liefert
genügend geeignete Experten gebe, müsse man sie         für das Wasserstoff-Atom exakte Ergebnisse, für
ausbilden, häufig auf interdisziplinären Gebieten,      Vielteilchensysteme wächst der Rechenaufwand
so Yao. «Die Gesellschaft gibt uns gut ausgebildete     exponentiell. Deshalb weichen Forschende schon
Experten, deshalb sollten wir etwas an die Gesell-      bei wenigen Atomen auf Näherungen aus. Doch
schaft zurückgeben – eine Möglichkeit hierzu ist,       nicht immer ist sicher, dass die Näherungen nah
dass wir uns in der Ausbildung der nächsten Gene-       genug an der Realität sind.
ration engagieren.»                                          Dann packt Läuchli die Brechstange aus. «Brute
     Die Forschenden von morgen haben einiges an        force» nennt sich die Methode, bei der er mit
Arbeit vor sich. Software zur Lösung wissenschaft-      brachialer Rechenleistung die Schrödinger-Glei-
licher Fragestellungen ist oft zwanzig Jahre alt        chung für bis zu fünfzig Teilchen in die Knie zwingt.
und teilweise nicht effizient genug. Die Defizite mit   20 000 Prozessorkerne mit mehreren Terabytes
noch mehr Rechenleistung zu erschlagen, funktio-        Arbeitsspeicher rechnen dann simultan mitunter
niert heute nicht mehr. Wissenschaftliche Software      mehrere Wochen an so einem Problem. Selbst der
muss fit gemacht werden für die rasant wachsenden       Supercomputer in Lugano ist dann zeitweise für an-
Datenmengen und für Trends im Höchstleistungs-          dere Nutzer gesperrt. Läuchli: «Manchmal ist die
rechnen wie die Nutzung von Grafikprozessoren           Brute-force-Methode wichtig, um zu überprüfen, ob
anstatt von herkömmlichen zentralen Rechen- und         unsere Näherungen wirklich gültig sind.»
Steuereinheiten eines Computers. «Das SCD kann               Natürlich kann nicht jede Arbeitsgruppe spon-
helfen, Leute anzuziehen, die genau so etwas kön-       tan den Rechner belegen. Jedes Team muss in Lu-
nen», glaubt Marie Yao.                                 gano einen bis zu zwanzigseitigen Antrag einreichen,

14
DAT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N

                                                                                  Laborleiter Andreas Läuchli erforscht
                                                                                  unter anderem, wie sich Energieniveaus oder
                                                                                  magnetische Momente in sogenannten
                                                                                  Vielteilchensystemen verhalten. Bei dieser
                                                                                  enorm komplexen Aufgabe könnte ihm
                                                                                  ein Quantencomputer gute Dienste leisten.

der nach wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn
und Effizienz der Algorithmen bewertet wird. Un-
bürokratischer ist die Nutzung am Computerclus-
ter Merlin am PSI. Wer dort viel Rechenzeit konsu-
miert hat, wird allerdings erst mal zurückgestuft
und muss sich in der Warteschlange weiter hinten
einreihen.
     Grosse Erwartungen knüpft Andreas Läuchli an
das Quantum-Computing-Hub (QCH), das 2021 am
PSI gegründet wurde (siehe Artikel Seite 18). «Viel-
leicht können wir Physik-Probleme, die sich auf
klassischen Computern nicht rechnen lassen, künf-
tig auf Quantencomputern abbilden.» Auch der Hub
würde von der Zusammenarbeit profitieren, denn
Quantencomputer basieren auf den physikalischen
Prinzipien, die Läuchli mit seinem Team untersucht.
Andreas Läuchli: «SCD und QCH gemeinsam – da
sehe ich grosses Potenzial.»

5232      Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                               15
Schritt für Schritt – oder
alles zugleich
Der Quantencomputer eröffnet neue Möglichkeiten in der Computertechnik.
Weil seine Qubits miteinander in Verbindung stehen und viele verschiedene
Zu­stände gleichzeitig annehmen, kann er Rechenaufgaben ausführen, die
klassische Computer niemals lösen können.

                                                                             Ein Quantencomputer mit supra­­­-
                                                                             leit­enden Qubits funktioniert nur bei
                                                                             extrem tiefen Temperaturen. Dazu
                                                                             wird in einem Mischungskryostat eine
      35 K
                                                                             Kombination aus Helium-3- und
                                                                             Helium-4-Gas zusammengebracht,
                                                                             um noch einmal deutlich kälter als
                                                                             flüssiges Helium (4,2 K) zu werden.
                                                                             Der Chip mit den Qubits befindet
                                                                             sich ganz unten, dort ist es mit
                                                                             0,01 Kelvin am kältesten.

                                                                                Kühlkopf des Kompressors
      3K

      0,9 K                                                 Mikrowellen-Leitungen für Kontrollsignale
                                                                        und zum Auslesen der Qubits

      0,15 K

      0,01 K
                                                                                                   Isolator

                                               Chip mit supraleitenden Qubits in einem Behältnis zur
                                              Abschirmung gegen Wärmestrahlung und Magnetfelder

                                                  Vereinfachte Darstellung
     Skala links:
     Temperatur (0,01 K = -273,14 °C)

16
DAT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N

Klassischer Computer                                                              Quantencomputer

Jedes Bit kann zu einem Zeitpunkt nur einen von                                   Jedes Qubit kann zu jedem Zeitpunkt beliebig
zwei Zuständen einnehmen: 0 oder 1 – wie eine Glüh-                               viele Zustände einnehmen, – wie eine Glühlampe,
lampe, die ein- oder ausgeschaltet wird.                                          deren Helligkeit und Farbton jeweils stufenlos
                                                                                  geregelt werden.

Ausserdem sind die Bits unabhängig voneinander                                    Qubits (hier in Ionenfallen auf einem Mikrochip)
und beeinflussen sich nicht gegenseitig.                                          sind miteinander verschränkt, beeinflussen
                                                                                  sich also gegenseitig.

Dadurch kann ein klassischer Computer immer nur                                   Dadurch kann der Quantencomputer viele Berech-
eine Berechnung ausführen. Um den Weg durch                                       nungen gleichzeitig ausführen – zum Beispiel alle
ein Labyrinth zu finden, muss er alle Möglichkeiten                               Wege durch ein Labyrinth parallel ausprobieren. Am
hintereinander ausprobieren.                                                      Ende erhält man eine Antwort. Jede Rechnung
                                                                                  muss allerdings einige Male wiederholt werden, damit
                                                                                  der wahrscheinlich beste Weg aus der Statistik
                                                                                  der Antworten herauskommt.

5232      Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                                    17
Lösung für das Unlösbare
PSI und ETH Zürich haben den Quantum-Computing-Hub gegründet.
Spitzenforschende arbeiten dort gemeinsam an Konzepten für Quantencomputer,
die herkömmliche Computer bei bestimmten Rechenaufgaben einmal bei
Weitem übertreffen sollen.

Text: Bernd Müller

                                      Kirsten Moselund und Cornelius Hempel
                                      sollen am PSI erforschen, wie sich
                                      ein funktionierender Quantencomputer
                                      umsetzen lässt.

18
DAT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N

                   Würde man eine Liste der weltweit führenden For-            Im Untergeschoss baut das Team von Jonathan
                   schenden für Quantencomputer aufstellen, würden             Home, Professor für experimentelle Quanteninfor-
                   Jonathan Home und Andreas Wallraff sehr weit                mation, nun Quantenschaltkreise auf Basis von Io-
                   oben stehen. Die beiden Physik-Professoren von              nenfallen. Im Obergeschoss befasst sich Andreas
                   der ETH Zürich sind Meister ihres Fachs – und nicht         Wallraff, Professor für Festkörperphysik, mit den
                   allein: In der Schweiz hat sich in den letzten Jahren       gleichen Fragen. Er und sein Team nutzen dafür aber
                   eine Expertise in der Quantenforschung etabliert,           ultrakalte supraleitende Bauteile. Noch in diesem
                   die mit den grossen Nationen mithalten kann. Aus­           Jahr sollen zwei weitere Forschungsteams hinzu-
                   serdem gibt es zahlreiche junge Unternehmen,                kommen, die noch andere Konzepte zum Bau von
                   die Quantentechnologien entwickeln, wie Zurich In­          Quantencomputern verfolgen. Von derzeit zwanzig
                   struments oder ID Quantique.                                Forschenden soll der Hub in fünf Jahren auf hundert
                        Alles bestens also? Nicht ganz. «Die Quanten-          wachsen. Ausserdem entsteht gerade im neuen
                   technologie hat einen grossen Schritt in Richtung           Park Innovaare in direkter Nachbarschaft zum PSI
                   Anwendung gemacht», sagt Gabriel Aeppli, Leiter             ein Reinraum mit Nanofabrikationsanlagen, wo die
                   des Forschungsbereichs Photonenforschung am                 Forschenden eigene Qubits herstellen werden, die
                   PSI. «Dafür braucht es jetzt Experten mit Fähigkei-         Basis jedes Quantencomputers.
                   ten, die weit über das hinausgehen, was selbst eine              Dieses Wachstum organisieren soll Kirsten Mo-
                   renommierte Hochschule wie die ETH Zürich leisten           selund, die seit Februar 2022 das Labor für Nano-
                   kann – vor allem Ingenieure, die Forschungsergeb-           und Quantentechnologien am PSI leitet und damit
                   nisse in funktionierende Prototypen umsetzen                auch den Quantum-Computing-Hub. Die Professo-
                   können.» Und hier komme das PSI ins Spiel. «Ein             rin für Elektronik und Mikrotechnologie an der ETH
                   nationales Labor wie das PSI vereint alle Fähigkei-         Lausanne (EPFL) war zuvor am IBM-Forschungsla-
                   ten, die es für dieses Scale-up braucht», so A ­ eppli.     bor in Rüschlikon, wo sie sich mit Nanophotonik
                   Damit ist der Übergang vom Grundlagenexperiment             beschäftigte. «Im neuen Hub bringen wir Quanten-
                   zu einer Technologie gemeint, die in absehbarer Zeit        technologien und eine starke Technologieplattform
                   echte – irgendwann auch kommerzielle – Probleme             zusammen», so Moselund. Um Quantencomputer
                   lösen kann.                                                 sei ein regelrechter Wettlauf entbrannt, ähnlich wie
                        Dass das PSI so etwas kann, beweist es seit            beim Rennen um die erste bemannte Mondlandung.
                   Jahren an den Grossforschungsanlagen wie der                Den Hub sieht Moselund dabei in einer ausgezeich-
                   Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS und dem                 neten Startposition: «ETH Zürich und PSI ergänzen
                   Schweizer Freie-Elektronen-Röntgenlaser Swiss-              sich sehr gut. Und mit Grossforschungsanlagen wie
                   FEL, wo Technologien gebraucht werden, die man              SLS und SwissFEL haben wir Möglichkeiten, die
                   nicht einfach irgendwo kaufen kann. Das PSI pro-            andere nicht haben, zum Beispiel, wenn wir Defek-
                   fitiert als nationales Labor davon, dass dort Ex-           te in Materialien für künftige Quantenchips unter-
                   pertinnen und Experten mit Erfahrung über länge-            suchen wollen.»
                   re Zeit an komplexen Herausforderungen arbeiten                  Doch ein so komplexes Problem wie die Reali-
                   können. Bei einem Forschungsteam an einer Uni-              sierung eines alltagstauglichen Quantencomputers
                   versität ist das nicht gegeben. «Wir haben viele            braucht zahlreiche Kooperationen. Deshalb arbei-
                   talentierte Wissenschaftlerinnen und Wissen-                ten Forschende des PSI mit vielen weiteren Institu-
                   schaftler, die aber nach ein paar Jahren, meist             tionen zusammen, allen voran dem Schweizer Nati-
                   nach ihrer Promotion, das Team wieder verlassen             onal Center of Competence in Research (NCCR)
                   müssen», so Jonathan Home. Ein Scale-up wie                 MARVEL, das an der EPFL seinen Sitz hat und dem
                   am PSI sei deshalb an der ETH Zürich prinzipiell            Nicola Marzari, Professor an der EPFL, vorsteht.
                   nicht möglich.                                                   Noch existieren keine kommerziell verfügbaren
                        Die ETH Zürich und das PSI haben erkannt,              universellen und fehlertoleranten Quantencompu-
                   dass sich beide Institutionen bei der Entwicklung           ter. Solche Apparate, wie sie von IBM oder Google
                   von Quantencomputern perfekt ergänzen. Deshalb              entwickelt werden, kommen derzeit auf wenig mehr
                   richten sie gemeinsam den Quantum-Compu-                    als hundert Qubits. Weil jedes Qubit nicht nur die
                   ting-Hub ein. Organisatorisch ist diese Forschungs-         Zustände null und eins, sondern beliebig viele Zu-
                   einrichtung dem Bereich Photonenforschung von               stände annehmen kann, und weil die Qubits unter-
                   Gabriel Aeppli und darin dem Labor für Nano- und            einander «verschränkt» sind, können schon ein
                   Quantentechnologien zugeordnet. Räumlich befin-             paar Dutzend Qubits Probleme bearbeiten, die
                   det sich der Quantum-Computing-Hub auf dem                  selbst für Mikroprozessoren mit Milliarden Transis-
                   PSI-Gelände bei Villigen, wo ein Gebäude für die            toren zu komplex wären. In den bisher vorgestellten
                   Quantenforschung aufgerüstet wurde. Dort verfol-            Quantencomputern sind aber immer nur wenige
                   gen Forschende unterschiedliche Ansätze zur Ver-            Qubits gleichzeitig miteinander verschränkt, was
                   wirklichung eines Quantencomputers.                         die tatsächliche Rechenleistung begrenzt.

5232   Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                                  19
«Die Schweiz braucht eine
starke Präsenz in Quanten­                                                 ein ausfallsicheres logisches Qubit, was bedeutet,
                                                                           dass die Anzahl der Qubits im Computer etwa eine
technologien.»                                                             Million betragen müsste.
                                                                                Von hundertsiebenundzwanzig physikalischen
Kirsten Moselund, Laborleiterin für Nano-                                  Qubits, die IBM kürzlich in einem Chip demonstriert
und Quantentechnologien                                                    hat, auf eine Million Qubits? Das scheint nur eine
                                                                           Frage der Skalierung der Fertigung zu sein. Doch
                                                                           leider gibt es bisher keinen Weg, grössere und kom-
                    «Forschende haben schon heute Spass an Quan-           plexere Systeme zu bauen, ohne dadurch auch mehr
                    tencomputern», sagt Cornelius Hempel, Gruppen-         Fehler in das System zu lassen. Insofern sind alle
                    leiter für Quantencomputing mit Ionenfallen am PSI.    Erfolgsmeldungen, wie sie von Google, IBM oder
                    In der Physik gebe es Fragen, die sich bereits mit     Amazon regelmässig verbreitet werden, mit Vorsicht
                    fünfzig Qubits lösen liessen. An der ETH Zürich        zu geniessen. Es handelt sich um fehlerhafte Gerä-
                    schafft es Homes Team, Gruppen von Atomen mit          te, die noch nicht unmittelbar die Vorteile von mehr
                    elektromagnetischen Feldern in einer Ionenfalle zu     Qubits nutzen können. Den Quantencomputer, den
                    fangen und diese durch Beschuss mit Laserlicht zu      man sich auf den Schreibtisch stellen kann, um da-
                    beeinflussen und logische Rechenoperationen aus-       mit echte Probleme zu lösen, wird es in den nächs-
                    führen zu lassen (siehe auch Grafik Seite 16). Das     ten zehn Jahren nicht geben, vielleicht sogar nie.
                    PSI plant Mikrochips mit Dutzenden von Ionenfal-       Doch die Forschenden sind zuversichtlich, dass
                    len, zwischen denen Ionen hin- und hergeschoben        kommerzielle Quantencomputer möglich sind. Ein
                    werden können und die sich zu einem grösseren          solcher Computer mit Millionen von Qubits würde
                    Quantenchip verbinden. Das Laserlicht wird über        in einem Rechenzentrum neben den herkömmli-
                    feine Lichtfasern in den Chip gespeist und manipu-     chen Supercomputern arbeiten.
                    liert die Atome, indem es ihre energetischen Zu-            An dem Problem der Störanfälligkeit arbeitet
                    stände verändert, während elektrische Felder sie       auch Alexander Grimm, Physiker am PSI. Für sein
                    hin und her bewegen. Diese Atome – alle mit glei-      neues Projekt COOLCCAT erhielt er im Januar dieses
                    chen Eigenschaften – sind perfekte Qubits. Die         Jahres einen sogenannten ERC-Grant mit einer For-
                    Herausforderung besteht darin, sie zu kontrollie-      schungsförderung in Millionenhöhe zugesprochen.
                    ren. Für praktische Anwendungen in der Industrie       Grimm möchte eine Sorte Qubits erschaffen, die
                    ist das derzeit noch uninteressant. Ein Beispiel:      sich Störungen gegenüber möglichst stabil verhält.
                    Nitrogenase ist ein Enzym, mit dem Bakterien           Seine Kandidaten: Oszillator-Qubits, auch bosoni-
                    Stickstoff aus der Luft binden, der als natürlicher    sche Qubits genannt. Diese bestehen beispielswei-
                    Dünger für Pflanzen dient. Künstlicher Dünger wird     se aus einem extrem dünnen und schmalen Stück
                    heute wie vor hundert Jahren mit dem Haber-Bosch-      supraleitendem Metall, das einige Millimeter lang ist.
                    Verfahren unter erheblichem Energieaufwand her-             Noch ist nicht einmal klar, welches Qubit-Kon-
                    gestellt. Wüsste man, wie das Enzym arbeitet und       zept sich durchsetzen wird. Neben supraleitenden
                    könnte man das nachbilden, wäre das ein Durch-         Qubits und Ionenfallen tüfteln Forschende weltweit
                    bruch für die Nahrungsversorgung der Menschheit.       noch an einem halben Dutzend weiterer Ideen – die
                    Doch dieses Rätsel lässt sich bis heute selbst mit     man am Quantum-Computing-Hub ebenfalls verfol-
                    Supercomputern nicht lösen. Ein Quantencompu-          gen wird, sofern sich dort vielversprechende Um-
                    ter mit tausend fehlerfreien Qubits könnte jedoch      setzungskonzepte anbahnen. Vielleicht ergeben
                    das Enzym in nur wenigen Millionen Rechenopera-        sich auch ganz neue Optionen, mutmasst beispiels-
                    tionen modellieren.                                    weise Cornelius Hempel: «Wer weiss – vielleicht fin­
                         Wobei die Betonung auf «fehlerfrei» liegt. Denn   den die Kolleginnen und Kollegen an der SLS oder
                    Qubits rechnen heute mit einer Fehlerrate von          am SwissFEL ein neues Material, aus dem wir viel
                    einem Prozent, was viel zu viel ist. Zum Vergleich:    bessere Qubits bauen können.»
                    Ein Transistor verrechnet sich bei 10 27 (eine Zahl         Für Kirsten Moselund gibt es keine Alternati-
                    mit 27 Nullen) Rechenoperationen im Schnitt nur        ve zum Quantum-Computing-Hub. «Die Schweiz
                    einmal. Der Ausweg sind logische Qubits, die aus       braucht eine starke Präsenz in Quantentechno­
                    mehreren physikalischen Qubits bestehen und die        logien», fordert die Ingenieurin. Kommerzielle
                    Fehler erkennen und beseitigen können. In den          Quantencomputer, wie sie Google, Amazon und Co
                    Labors von Wallraff und Home wurde die Fehler-         vermutlich irgendwann als Clouddienst anbieten
                    korrektur bereits in kleinem Massstab demons­          werden, seien eine Blackbox, in die man nicht hin-
                    triert, aber die Fehlerkorrektur wird besser durch     einschauen dürfe. Moselund: «Um Quantencompu-
                    die Verwendung immer grösserer Systeme. Für das        ter sinnvoll nutzen zu können, müssen wir wissen,
                    Nitrogenase-Problem bräuchte man nach manchen          was unter der Haube passiert. Und das bieten wir
                    Schätzungen etwa tausend physikalische Qubits für      am PSI.»

20
IM BILD

Schaltplan des Gehirns                                     Die Verknüpfungen der Nervenzellen im Gehirn bil-
                                                           den sich aufgrund von Erfahrungen und Lernpro­
                                                           zessen. Unklar ist derzeit, wie das Verknüpfungs-
                                                           muster aussieht. Der Neurowissenschaftler Adrian
                                                           Wanner will an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz
                                                           SLS mithilfe des dortigen Röntgenlichts neuronale
                                                           Strukturen bis in ihre feinsten Verästelungen auf-
                                                           klären. Unter anderem wird er dabei der Frage nach-
                                                           gehen, wie Nervenzellen Informationen verarbeiten.
                                                           Die daraus resultierenden Erkenntnisse über die
                                                           Funktionsweise des Gehirns werden neue medizi-
                                                           nische Therapieansätze für neurodegenerative Er-
                                                           krankungen ermöglichen.

5232   Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                             21
Herkules und Akkus
                 durchleuchtet
IN DER SCHWEIZ

                 Sowohl für antike Gegenstände als auch für moderne Technologien
                 braucht es Untersuchungsmethoden, bei denen das Objekt
                 komplett intakt bleibt. Forschende am PSI nutzen dafür Elementar-
                 teilchen namens Myonen und entwickeln ein neues experimen-
                 telles Verfahren, das für die Archäologie nützlich ist und ebenso
                 Fragen der Batterieentwicklung beantworten kann.

                 Text: Barbara Vonarburg

                 Gepolstert in eigens zugeschnittenem
                 Schaumstoff: Eine gut sechs Zentimeter hohe
                 Silberstatuette des griechischen Helden
                 Herkules, begleitet von einem mythologischen
                 Eber, wartet darauf, mit Myonen untersucht
                 zu werden.

22
IN DER SCHWEIZ

5232   Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                    23
Zwei Forschende bereiten mit letzten Handgriffen
ein Messinstrument für den Transport vor. Die Ap-
                                                           «Wir konnten zeigen, dass Minerva
paratur, die eine Forschungsgruppe am PSI in den
vergangenen zehn Monaten entwickelt und zusam-
                                                           und Herkules aus einer hochwertigen
mengebaut hat, ist zur Absicherung von einem etwa
zweieinhalb Meter hohen Gestänge umrahmt. «Wir
                                                           Silberlegierung bestehen.»
werden damit zerstörungsfrei bestimmen können,
                                                            Isabel Megatli, wissenschaftliche Mitarbeiterin,
aus welchen chemischen Elementen eine Probe be-
                                                            Römerstadt Augusta Raurica.
steht», erklärt Lars Gerchow, verantwortlich für das
Design des Instruments. Dazu benötigen sie spe­
zielle Elementarteilchen, sogenannte Myonen.
     Gerchow, seine Kollegin Sayani Biswas und wei-    also wahrscheinlich in der gleichen Werkstatt her-
tere Helfende befinden sich in der grossen Halle, in   gestellt.» Mit weiteren Untersuchungen können die
der die Myonen-Quelle des PSI untergebracht ist.       Forschenden teilweise sogar bestimmen, aus wel-
Myonen sind Elementarteilchen, die als Teil der kos-   cher Mine die verwendeten Metallerze stammen.
mischen Strahlung allgegenwärtig natürlich vor-        «Und auch Fälschern können wir auf die Schliche
kommen. «Im Schnitt durchquert jede Sekunde ein        kommen», sagt Megatli. «Denn beispielsweise Alumi-
Myon unseren Kopf», erklärt der Physiker. Am PSI       nium wird erst seit dem 19. Jahrhundert verarbeitet.»
werden diese Teilchen jedoch künstlich erzeugt mit-
hilfe eines grossen Beschleunigers.                        Fingerabdruck der Elemente
     Das Messinstrument ist bereit für den Weg zum
vorgesehenen Platz – eine heikle Aufgabe, für die      Die Physikerin Sayani Biswas erklärt, wie das Expe-
ein Hallenkran benötigt wird. Der Kranführer be-       riment funktionieren wird: «Wir haben eine Probe,
kommt vom Boden aus Anweisungen via Funk, dann         darauf schicken wir negativ geladene Myonen.» Ein
fliegt das Instrument in die Höhe.                     Atom in der Probe fängt ein Myon ein. Anstelle eines
                                                       Elektrons umkreist nun ein Myon den Atomkern. Es
     Gold und Silber aus der Römerstadt                befindet sich anfänglich in einem angeregten Zu-
                                                       stand und fällt dann stufenweise in seinen Grund-
Im Kontrollraum, von dem aus die Physikerinnen         zustand. Dabei wird Röntgenstrahlung ausgesendet.
und Physiker das Myonen-Experiment steuern wer-        Die Energie dieser Strahlung ist charakteristisch für
den, trifft derweil die Archäologin Isabel Megatli     den Atomtyp, also das Element, welches das Myon
letzte Vorbereitungen für ihren Einsatz. Sie hat       eingefangen hat. Biswas, die für die Datenverarbei-
kostbare Gold- und Silberobjekte mitgebracht, die      tung und Datenanalyse verantwortlich ist, zeigt auf
in Augusta Raurica ausgegraben wurden, einer der       eine früher aufgenommene Kurve mit spitzen Aus-
bedeutendsten römischen Fundstätten der Schweiz,       schlägen, ein sogenanntes Spektrum. Jedes Ele-
rund zehn Kilometer östlich von Basel. Besonders       ment hat ein spezifisches Muster solcher Linien im
hübsch sind zwei Figürchen aus dem 2. Jahrhundert      Spektrum – wie ein Fingerabdruck.
nach Christus, Darstellungen römischer Gottheiten          In der Halle ist das Messinstrument nun unter
aus einem Hausheiligtum. Der nur gut sechs Zenti-      grösster Vorsicht heil an seinem Zielort angekom-
meter hohe Herkules, mit Löwenfell über dem Arm,       men. Nun befestigen mehrere Fachleute die sechs
wird von einem mythologischen Eber begleitet, den      grossen Röntgendetektoren am Gestänge.
die Forschenden unter sich «das Schweinchen»               Auch Alex Amato hilft mit, Leiter ad interim des
nennen. Minerva trägt ein faltenreiches Gewand         Bereichs Forschung mit Neutronen und Myonen am
und einen extravaganten Helm.                          PSI. Er hat das Projekt initiiert, an dem sich neben
    Die Statuetten wurden aus Silber gegossen und      dem PSI die Römerstadt Augusta Raurica, die Empa
teilweise vergoldet. «Wir möchten wissen, welche       und das Naturhistorische Museum Bern beteiligen
Silberlegierung verwendet wurde», sagt Megatli.        und das vom Schweizerischen Nationalfonds im
«Mit bisherigen Methoden können wir nur die äus­       Rahmen des Sinergia-Programms mit knapp ein-
sersten Hundertstelmillimeter untersuchen, oft         einhalb Millionen Franken unterstützt wird. «Am
wurde diese Oberfläche aber über die Jahrhunderte      PSI versuchte man schon vor dreissig Jahren, mit
hinweg verfälscht.» Mit Myonen dagegen kann man        Myonen die elementare Zusammensetzung von Ma-
mehrere Millimeter in die Tiefe blicken.               terial bis tief in dessen Inneres zu bestimmen, doch
    Auch einige antike Schmuckstücke, die als          damals war der Teilchenstrahl nicht intensiv genug»,
Grabbeigaben gefunden wurden, hat Megatli mitge-       erklärt der Forschungsleiter. «Heute sind wir zwan-
bracht. «Die Giesser der Antike hatten jeweils eige-   zigmal besser. Und wir haben tausendmal mehr In-
ne strenge Rezepte», erklärt die Archäologin. «Wenn    tensität als die Kollegen in England und Japan bei
zwei Objekte dieselbe Legierung haben, wurden sie      ihren ähnlichen Experimenten.»

24
IN DER SCHWEIZ

Sayani Biswas und Lars Gerchow besprechen
an der Myonen-Strahllinie das anstehende
Experiment.

Im Sinergia-Beschrieb steht denn auch: «Dieses Vorgang sichtbar machen. Später möchten die For-
Projekt zielt darauf ab, die Schweiz zu einem welt- schenden das Lithium in der Batterie verfolgen. Die
weit führenden Standort in der zerstörungsfreien Ergebnisse sollen helfen, die Energiedichte und die
Elementanalyse zu machen.» Und man erwarte eine Sicherheit von Lithium-Ionen-Batterien zu verbessern.
grosse Nachfrage von Industrie, Kultur und akade-         Nach einer Woche sind die Messungen sowohl
mischen Bereichen.                                    der antiken Objekte als auch der Batterien beendet.
     Doch noch stehen die Forschenden am Anfang – «Bei der Batterie sehen wir im Spektrum schöne
versammelt im Kontrollraum vor einer Reihe von Linien für Nickel, Mangan und Kobalt», sagt Sayani
Computer-Bildschirmen. Im Experimentierbereich Biswas zufrieden. In den kommenden Wochen wird
sind jetzt keine Menschen mehr. Hier warten nur die Ryo Asakura die Batterien an der Empa immer wie-
Statuetten von Herkules und Minerva auf ihren je- der laden und entladen, um in einer zweiten Mess­
weiligen Einsatz. In eigens zurechtgeschnittenen periode die Veränderungen nach diesem Alterungs-
Schaumstoffhalterungen stehen sie in Metallrah- prozess zu beobachten.
men, die wiederum auf einer Schiene vor den De-
tektoren in Position gebracht wurden. Lars Gerchow        Die Ausschläge zeigen zwei Silberisotope
gibt im Kontrollraum das Kommando: «Wir können
den Strahl starten.» Damit beginnen die Messun- In den Messdaten der Proben aus Augusta Raurica
gen, die nun rund um die Uhr fortgesetzt werden.      zeigt Sayani Biswas auf einige sich überlappende
                                                      Ausschläge: «Hier kann man zwei verschiedene Sil-
     Batterien im Myonen-Strahl                       berisotope sehen», also minimal verschiedenartige
                                                      Atomarten von Silber. Das Verhältnis dieser Isotope
Zwei Tage später platzieren die Forschenden ein kann der Archäologin Isabel Megatli helfen, die Her-
völlig anderes Objekt in den Myonen-Strahl: Eine kunft des Silbers zu bestimmen. Sie ist bereits von
Lithium-Ionen-Batterie. «Wir wollen herausfinden, den vorläufigen Ergebnissen begeistert: «Wir konn-
wie die Batterie durch ihren Einsatz altert», erklärt ten zeigen, dass Minerva und Herkules aus einer
Ryo Asakura, Forscher an der Empa in Dübendorf. hochwertigen Silberlegierung bestehen.»
Er hat deshalb eine neue sowie eine bereits ge-           Die nächste Messperiode ist in zwei Monaten
brauchte Batterie ans PSI mitgebracht – flache geplant. Dann soll neben weiteren antiken Stücken
Päckchen, die ähnlich aussehen wie die Akkus in und den Lithium-Ionen-Batterien auch eine Pfeil-
Smartphones. «Die Kathode dieser Batterien ent- spitze aus der Bronzezeit untersucht werden, die
hält Nickel, Mangan und Kobalt», erklärt Asakura. womöglich aus Meteoritenmaterial hergestellt wur-
Mit der Zeit lösen sich diese Metalle von der Katho- de. «Auch bei dieser Frage ist unsere zerstörungs-
de ab – was zur Alterung dieses Batterie-Typs bei- freie Methode hervorragend geeignet», sagt Lars
trägt. Die Messungen mit den Myonen sollen diesen Gerchow.

5232      Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                           25
Aktuelles aus der
PSI-Forschung
1	Neuer, besserer
   Corona-Virus-Schnelltest

Forschende des Paul Scherrer Instituts
PSI und der Universität Basel haben ei-
nen Covid-19-Schnelltest entwickelt.
Sein neuartiges Funktionsprinzip erlaubt
zuverlässige und quantifizierbare Aussa-
gen über eine Covid-19-Erkrankung und
deren Verlauf. Aber auch Covid-Varian-
ten oder andere Erreger wie die Grippe
lassen sich mit ihm nachweisen. Anders
als Antigen-Tests weist er nicht direkt
Bestandteile des Virus nach, sondern die
Antikörper, die das Immunsystem als
Reaktion auf die Infektion produziert. Er
nutzt dabei unter anderem sehr enge
Röhren, sogenannte Kapillaren, in denen
Kügelchen mit angedockten Antikör-
pern an bestimmten Stellen hängen blei-
ben. Der Test verspricht erheblich mehr
Aussagekraft und ist genauso günstig,
schnell und einfach zu handhaben wie
die bisherigen Antikörper-Tests. Bis er
zum Einsatz kommen kann, muss er al-
lerdings noch weiter getestet und opti-
miert werden.

Weitere Informationen:
http://psi.ch/de/node/49630

                         Mit29       Blutproben wurde das neue
                         Test-Kit überprüft.

                             2
                         In nur   Minuten soll der Test nach einer
                         Optimierung durchzuführen sein.

                            100
                         Etwa             Mal dünner als ein
                         menschliches Haar sind die Test-Kapillaren
                         an ihrer engsten Stelle.

26
IN KÜRZE

                                               3	Mehr Einblick in den
                                                  Sehsinn

                                               PSI-Forschende haben einen wichtigen
                                               Bestandteil im Auge aufgeklärt. Es han-
                                               delt sich um ein Protein in den Stäbchen-
                                               zellen der Netzhaut, die es uns ermögli-
                                               chen, bei Dämmerlicht zu sehen. Das
                                               Protein sorgt als Ionenkanal in der Zell-
                                               membran dafür, dass das Sehsignal vom
2	Simulation hilft bei Auf-                                                                  4	Mist und Gülle als
                                               Auge ins Gehirn weitergeleitet wird. Der
   räumarbeiten in Fukushima                   Ionenkanal besitzt die Aufgabe eines              Energie-Ressourcen
                                               Pförtners, der regelt, ob und welche Teil-
Ein internationales Team unter Feder-          chen ins Innere der Sinneszelle gelangen       Hofdünger, also Mist und Gülle, werden
führung der Universität Sheffield und          können. Er ist in die fettreiche Hülle – die   in der Schweiz kaum zur Energiegewin-
Beteiligung des PSI hat eine neue Simu-        Zellmembran – der Stäbchenzellen ein-          nung genutzt. Dabei könnte ihre Vergä­
lation der gefährlichsten radioaktiven         gebettet. In der Dunkelheit ist der Ionen-     rung nicht nur fossile Brennstoffe erset-
Trümmer des havarierten Kernkraftwerks         kanal und damit das Tor in die Zelle voll-     zen, sondern auch die Landwirtschaft
im japanischen Fukushima entwickelt.           ständig geöffnet. Trifft Licht auf das         klimafreundlicher machen. Eine Publika-
Anhand der Erkenntnisse über die in den        Auge, wird in den Stäbchenzellen eine          tion von Energieforschenden, unter ande-
Reaktoren von Fukushima verwendeten            Kaskade von Prozessen in Gang gesetzt.         rem von der Eidgenössischen Forschungs-
Materialien – beispielsweise Brennstoff,       Das sorgt letztendlich dafür, dass sich        anstalt für Wald, Schnee und Landschaft
Ummantelung und Beton – wurde ein Re-          das Tor schliesst und positiv geladene         WSL und dem PSI, soll Fachleuten aus
zept für die Brennstofftrümmer entwi-          Teilchen wie Kalziumionen nicht mehr in        Behörden und Praxis helfen, diese wert-
ckelt. Die Forschenden erhitzten diese         die Zelle strömen können. Dieses elek­         volle Ressource besser zu nutzen. Die
Materialien auf die ex­trem hohen Tempe­       trochemische Signal setzt sich über Ner-       Studie gibt zahlreiche Hinweise für Ver-
raturen, die während des Unfalls herr-         venzellen bis ins Sehzentrum des Ge-           besserungen. So könnten technische
schten, und stellten so ein Pendant zu         hirns fort, wo wir dann zum Beispiel           Neuerungen bei den Verfahren die Anla-
den Brennelementtrümmern mit geringer          einen Lichtblitz wahrnehmen. Menschen,         gen für die Biogasgewinnung rentabler
Radioaktivität her. Mithilfe des Simula­       bei denen das Molekül aufgrund einer           machen. Vorbehandlungen mit Mikroor-
tionsmaterials können die Behörden nun,        Erbkrankheit nicht richtig funktioniert,       ganismen erhöhen die Energieausbeute,
fast elf Jahre nach der Katastrophe, erst-     erblinden. Die Forschenden haben nun           ebenso die Trennung von festen und
mals mehr über die chemische Zusam-            die dreidimensionale Struktur des Pro-         flüssigen Bestandteilen des Stallabfalls.
mensetzung und die mechanischen Ei-            teins entziffert und so dabei mitgeholfen,     In der meist ungenutzten Abwärme der
genschaften der Trümmer erfahren und           den Weg für eine zukünftige Heilmetho-         Anlagen steckt weitere Energie. Zusam-
sichere Strategien für deren Beseitigung       de zu ebnen.                                   mengenommen könnte dies Investitio-
entwickeln. Für ihre Untersuchungen                                                           nen in Vergärungsanlagen für Landwirte
nutzten die Forschenden die Synchro-           Weitere Informationen:                         attraktiver machen. Als Alternative zur
tron Lichtquelle Schweiz SLS. Ihre Stu-        http://psi.ch/de/node/49360                    Vergärung von Mist und Gülle bieten sich
die könnte den Aufräumarbeiten einen                                                          sogenannte hydrothermale Verfahren an,
enormen Schub geben.                                                                          da die Umwandlung der Biomasse weit-
                                                                                              gehend verlustfrei erfolgen kann. Davon
Weitere Informationen:                                                                        könnte die Stromversorgung im ganzen
http://psi.ch/de/node/49916                                                                   Land profitieren.

                                                                                              Weitere Informationen:
                                                                                              http://psi.ch/de/node/49910

5232       Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                                  27
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