DATEN IN NEUEN DIMENSIONEN - Paul Scherrer Institut (PSI)
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SCHWERPUNKTTHEMA D AT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N 5 Das Magazin des Paul Scherrer Instituts 2 0 2 / 2022 3 2
SCHWERPUNKT THEMA: D AT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N HINTERGRUND Schneller und smarter Wenn Grossforschungsanlagen wie der Schweizer Freie-Elektronen-Röntgenlaser SwissFEL und die Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS auf Hochtouren laufen, produzieren sie gewaltige Mengen an Daten. Sie zu gewinnen, zu verarbeiten und auszuwerten, ist eine enorme Aufgabe. Seite 10 1 HINTERGRUND Lösung für das Unlösbare PSI und ETH Zürich haben den Quantum- Computing-Hub gegründet. Spitzenforschende arbeiten dort gemeinsam an Konzepten für Quantencomputer, die herkömmliche Computer bei bestimmten Rechenaufgaben einmal bei Weitem übertreffen sollen. Seite 18 3 2 2
NACHGEFRAGT Was machen Sie da, Herr Rüegg? 4 A L LTA G Schlüssel und Schloss 6 FORSCHUNG Aufspüren und andocken 7 S C H W E R P U N K T T H E M A : DAT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N 8 H I N T E R G R U N D Schneller und smarter 10 I N F O G R A F I K Schritt für Schritt – oder alles zugleich 16 H I N T E R G R U N D Lösung für das Unlösbare 18 IM BILD Schaltplan des Gehirns 21 IN DER SCHWEIZ I N H A LT 2 Herkules und Akkus durchleuchtet 22 Sowohl für antike Gegenstände als auch für moderne INFOGRAFIK Technologien braucht es Untersuchungsmethoden, bei denen das Objekt komplett intakt bleibt. Forschende Schritt für Schritt – am PSI nutzen dafür Elementarteilchen namens Myonen. oder alles zugleich IN KÜRZE Aktuelles aus der PSI-Forschung 26 Der Quantencomputer revolutioniert die 1 Neuer, besserer Corona-Virus-Schnelltest Computertechnik. Weil seine Qubits miteinander 2 Simulation hilft bei Aufräumarbeiten in Fukushima in Verbindung stehen und viele verschiedene 3 Mehr Einblick in den Sehsinn Zustände gleichzeitig annehmen, kann er Rechen- 4 Mist und Gülle als Energie-Ressourcen aufgaben ausführen, die klassische Computer niemals lösen können. GALERIE Seite 16 Kunst am PSI 28 Hier zeigen wir Ihnen eine Auswahl an Kunstwerken, die am PSI zu sehen sind. ZUR PERSON Chancen ergreifen 34 Als Doktorand baute Philipp Kraft am PSI einen neuartigen Röntgendetektor. Heute wirkt er bei der Modernisierung des Testzentrums eines Finanzinstituts mit. WIR ÜBER UNS 38 IMPRESSUM 40 AUSBLICK 41 5232 Das Magazin des Paul Scherrer Instituts 3
Was machen Sie da, Herr Rüegg? NACHGEFRAGT Der Krieg in der Ukraine bringt viele Menschen in grösste Not und fordert uns auf, unsere grundlegenden Werte zu reflektieren und zu verteidigen. Direktor Christian Rüegg erläutert, mit welchen Massnahmen das PSI den Betroffenen die Hand reicht und wie gerade jetzt die Wissenschaft gefordert ist. 4
NACHGEFRAGT Herr Rüegg, der Krieg in der Ukraine bringt grosses Leid über viele Menschen. Wie kann das PSI als Forschungs- institut hier unterstützen? Wir unterstützen zum einen betroffene ukrainische Forschende. Das PSI ist Mitglied im internationalen Netzwerk «Scholars at Risk» und kann sich daher an den Hilfsangeboten des Schwei- zerischen Nationalfonds beteiligen. Zudem haben wir be- schlossen, auslaufende Arbeitsverträge von ukrainischen Mit- arbeitenden bis mindestens Ende des Jahres zu verlängern. Wichtig ist für uns auch der direkte, persönliche Austausch. Wir sprechen mit unseren ukrainischen Mitarbeiterinnen und Mit- arbeitern und versuchen für ihre Sorgen und Nöte individuelle Lösungen zu finden. In welcher Weise ist in einer Situation wie dieser die Wis- senschaft in ihrem Selbstverständnis gefordert? Wir müssen unsere Werte nach aussen tragen. Die Wissen- schaft lebt vom offenen und internationalen Austausch. Wie schon in der COVID-19-Pandemie ist sie Teil der Lösung und nicht das Problem. Wir verstehen Wissenschaft als globale Gemeinschaft. Nationale, ideologische oder politische Grenzen haben in unserem Selbstverständnis keinen Platz. Am P aul Scherrer Institut arbeiten Mitarbeitende aus über 60 Natio- nen – auch aus der Ukraine und aus Russland – friedlich an dem gemeinsamen Ziel, Wissenschaft und Forschung zum Nut- zen aller Menschen voranzubringen. Die Wissenschaft baut Brücken auf, sie reisst diese nicht ab. Dieses hohe Gut müs- sen wir schützen. Gleichzeitig setzen wir die Sanktionen der Schweiz gegen Russland um. Welche Entwicklung erwarten Sie für die Zukunft? Die Kontakte und Freiheit seit dem Ende des Kalten Kriegs ha- ben viele gesellschaftliche, wirtschaftliche und wissenschaft- liche Früchte getragen. Innerhalb weniger Wochen hat sich die Welt nun wieder grundlegend geändert. Wir müssen befürchten, dass sich nach diesem Krieg die politischen Systeme für lange Zeit unversöhnlich gegenüberstehen und sich die Fronten zwi- schen unterschiedlichen Weltsichten global zunehmend ver- härten. Der Austausch von Ideen und Technologie wird nicht mehr selbstverständlich sein, wie wir es bisher gewohnt waren. Mit diesem Spannungsfeld müssen wir lernen umzugehen. Ge- rade in dieser schwierigen Zeit ist es besonders wichtig, einan- der respektvoll zu begegnen und den Dialog zu suchen. Frieden und globaler Fortschritt müssen unser aller Ziel sein. Sie sind nötig, um die grossen Herausforderungen zum Beispiel für das Klima und die Gesundheit mithilfe der Wissenschaft zu lösen. 5232 Das Magazin des Paul Scherrer Instituts 5
A L LTA G & Schlüssel und Schloss Der Mensch verfügt nicht nur gerne über alle möglichen Dinge, er möchte auch den Zugriff auf sie beziehungsweise Zugang zu ihnen steuern. Deshalb erfanden findige Köpfe schon vor be- reits etwa 3500 Jahren eine Vorrichtung, mit deren Hilfe sich das bewerkstelligen lässt: Schlösser und die dazugehörigen Schlüssel. Die ersten Vertreter dieser mechanischen Kontroll- mechanismen waren nicht viel mehr als eine Art Haken, den man durch eine kleine Öffnung in einer Tür schieben musste. Dieser Schlüssel war genau so konstruiert, dass man mit ihm an einen Riegel herankam und diesen dann zurückschieben konnte. Mit der Zeit und vielen Erfindern mehr verfeinerte sich dieses System immer weiter, um andere dort zu lassen, wo man sie haben wollte: draussen und ausgesperrt oder drinnen und eingesperrt. Dabei konzentrierte sich der menschliche Einfalls- reichtum vor allem darauf, immer weiter ausgefeilte Schlösser zu konstruieren, in die immer schwieriger nachzubauende, komplexe Schlüssel passen. Das Prinzip, nach dem ein Schlüs- sel mit seiner Form kompatibel zu einem ganz spezifischen Schloss ist, setzt sich von der Mechanik bis zur heutigen digi- talen Welt fort, in der ebenfalls mit Schlüsseln gearbeitet wird – allerdings nicht, um Schätze von Gold und Edelsteinen zu hüten, sondern um wertvolle Informationen zu schützen. 6
FORSCHUNG Aufspüren und andocken Bald ist es 130 Jahre her, dass der Chemiker und spätere No- belpreisträger Emil Fischer 1894 einen Artikel veröffentlichte, in dem er eine Analogie zwischen Schlüssel und Schloss und der Funktionsweise von biologischen Molekülen zog. Er stütz- te sich dabei auf Untersuchungen an Enzymen, also jenen Bausteinen auch unseres Körpers, die Reaktionen vermitteln, beschleunigen oder überhaupt erst möglich machen, zum Bei- spiel bei der Verdauung. So schrieb er: «Um ein Bild zu gebrau- chen, will ich sagen, dass Enzym und Glucosid wie Schloss und Schlüssel zueinander passen müssen, um eine chemische Wirkung aufeinander ausüben zu können.» Bis heute haben Forschende zahlreiche biologische Systeme gefunden, für die dieses Schlüssel-Schloss-Prinzip eine entscheidende Rolle spielt, zum Beispiel auch bei unserem Immunsystem. Inner- halb dieses Abwehrsystems sind sogenannte Antikörper wich- tig. Sie erkennen spezifisch bestimmte Strukturen auf der Oberfläche von unerwünschten Eindringlingen oder entarte- ten körpereignen Zellen. An diese docken sie dann an. Das nutzen PSI-Forschende beispielsweise für die Radiopharmazie und bringen mit speziellen Antikörpern radioaktive Isotope gezielt zu Tumorzellen, um sie aufzuspüren oder zu eliminieren. 5232 Das Magazin des Paul Scherrer Instituts 7
Daten in neuen Dimensionen SCHWERPUNKTTHEMA Am PSI arbeiten Forschende bestens vernetzt – sowohl untereinander als auch mit Institutionen in der Schweiz und weltweit. Damit das in Zukunft so bleibt oder sogar noch besser abläuft, wurden am PSI unter anderem der neue Forschungsbereich Computergestützte Wissenschaften, Theorie und Daten sowie ein Quantum-Computing-Hub gemeinsam mit der ETH Zürich gegründet. Das eröffnet neue Perspektiven für die Arbeit mit Daten. Text: Bernd Müller HINTERGRUND Schneller und smarter Seite 10 1 8
DAT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N 3 HINTERGRUND Lösung für das Unlösbare Seite 18 INFOGRAFIK Schritt für Schritt – oder alles zugleich 2 Seite 16 5232 Das Magazin des Paul Scherrer Instituts 9
Schneller und smarter Wenn Grossforschungsanlagen wie der Schweizer Freie-Elektronen-Röntgenlaser SwissFEL und die Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS auf Hochtouren laufen, produzieren sie gewaltige Mengen an Daten. Um diese zu interpretieren und beispielsweise zur Entwicklung neuer Medikamente oder Materialien zu nutzen, bündelt das PSI jetzt seine Expertise im neuen Forschungsbereich Computergestützte Wissenschaften, Theorie und Daten. Text: Bernd Müller Alun Aston kümmert sich am PSI darum, dass Forschende eine exzellente IT-Infrastruktur nutzen können. 10
DAT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N Die Forscherkarriere von Alun Ashton begann in Wissenschaften, Theorie und Daten, kurz SCD, der den 1990ern, also gewissermassen in der Stein- im Juli 2021 gegründet wurde. Der SCD verbindet zeit, zumindest was die Nutzung von Computern bereits bestehende Einheiten wie beispielsweise betrifft. «Als Student habe ich die Daten meiner das Labor für Simulation und Modellierung, das in- Messungen auf Floppy-Discs gespeichert», erin- terimsweise von Andreas Adelmann geleitet wird, nert sich der Biochemiker und Computerwissen- aber auch neue Einheiten wie den dritten Standort schaftler. Für alle, die nicht wissen, wovon hier die des Swiss Data Science Center am PSI, der die bei- Rede ist: Disketten waren wechselbare Magnet- den bisherigen Standorte an der ETH Lausanne speicher, die in ihrer modernsten Ausführung sa- (EPFL) und der ETH Zürich (ETHZ) ergänzt. Rund genhafte 1,4 Megabytes fassen konnten. «Müsste siebzig Personen in vier Abteilungen forschen, ent- ich die Daten, die heute an nur einem Experiment wickeln und stellen Support bereit, schon bald sol- an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS ent- len es hundert sein. Während die drei Laborleiter stehen, auf solchen Floppys speichern, bräuchte Andreas Adelmann, Andreas Läuchli und Nicola ich davon Millionen – und mehrere Leben, um die Marzari sich vor allem um wissenschaftliche Metho- Disketten zu wechseln.» den in ihren jeweiligen Fachdisziplinen kümmern, Zum Glück hat sich die Informationstechnologie leitet Alun Ashton mit der Abteilung Wissenschaft- so rasant entwickelt, dass Ashton seine Zeit für liche IT-Infrastruktur und Dienstleistungen eine sinnvollere Dinge nutzen kann. Selbst grosse Da- Service-Einheit, die Wissenschaftler und Wissen- tenmengen aus den Experimenten am PSI werden schaftlerinnen im Forschungsbereich Photonenfor- ausreichend schnell verarbeitet und gespeichert. schung, am SCD sowie PSI-weit fachlich im Scien- Zumindest bis jetzt. Spätestens wenn 2025 nach tific Computing unterstützt. einem Upgrade der SLS die SLS 2.0 den Betrieb auf- «Die Forschungsabteilungen sollen forschen nimmt, werden die Forschenden am PSI vor einem und nicht eigene IT-Abteilungen unterhalten», so grossen Problem stehen. Nach dem Upgrade auf die Ashton. Deshalb sei die Zentralisierung im SCD der SLS 2.0 können Experimente eine bis zu tausend- richtige Schritt. «Wir erfinden das Rad nicht neu, fach höhere Leistungsfähigkeit haben als bei der aber mit dem SCD haben wir dennoch ein Alleinstel- heutigen SLS und bei anderen Konfigurationen. Sie lungsmerkmal», pflichtet Andreas Adelmann bei. können daher viel mehr Daten liefern als bislang. Der neue Forschungsbereich nutze Synergien bes- Hinzu kommen bessere und schnellere Detektoren ser, habe Strahlkraft in der internationalen Wissen- mit höherer Auflösung. Wo die heutige SLS-Strahl- schaft und ziehe gute Leute an. Adelmann: «Das linie einen Datensatz pro Minute erzeugt, werden SCD ist mehr als die Summe seiner Teile.» mit der SLS 2.0 in weniger als einer Sekunde solche Einer seiner interessantesten «Kunden» sei Datenmengen entstehen. Der brandneue Jungfrau- Marco Stampanoni, sagt Alun Ashton mit einem Detektor am SwissFEL kann bei voller Geschwindig- Augenzwinkern. Das Team des ETH-Professors hat keit sogar auf 50 Gigabytes pro Sekunde kommen. sich der tomografischen Röntgenmikroskopie ver- Eine herkömmliche PC-Festplatte wäre schon nach schrieben, die allerhöchste Anforderungen an die wenigen Sekunden randvoll. Insgesamt liefern die Rechenleistung und Speicherkapazität stellt. Um Experimente am PSI derzeit 3,6 Petabytes pro Jahr. etwa zu untersuchen, wie bei der Synthese einer Wenn die SLS 2.0 voll in Betrieb ist, können die Ex- neuen Legierung ein warmes Gas in einen metalli- perimente allein dort bis zu 30 Petabytes pro Jahr schen flüssigen Schaum dringt, muss die Software erzeugen, wofür man rund 50 000 PC-Festplatten für jede Millisekunde einen dreidimensionalen bräuchte. Wer das unbedingt in Floppy-Discs um- Schnappschuss aus den Daten errechnen. Das sind rechnen möchte, kann gut und gerne noch sechs gewaltige Datenmengen, die erzeugt und weiterbe- Nullen anhängen. arbeitet werden müssen. Andere Kollegen im glei- chen Labor beschäftigen sich mit computer Frische Ideen gesucht gestützter Mikroskopie und insbesondere der Ptychografie. Sie ersetzt die konventionelle Rönt- Seit Jahren ist klar: Mit den alten Konzepten lassen genmikroskopie, die mit Linsen arbeitet, aber nicht sich am PSI die neuen Herausforderungen nicht so feine Auflösungen erreicht, wie es mit Röntgen bewältigen. Es braucht frische Ideen, wie man der strahlen eigentlich möglich wäre. Bei der Ptycho- riesigen Datenmengen Herr werden kann, um die grafie rekonstruiert ein iterativer Algorithmus das immer anspruchsvolleren und zahlreicheren For- Röntgenbild aus den Rohdaten des Detektors, der schungsfragen zu beantworten. Und es braucht weit von der Probe entfernt ist, ohne dass eine einen eigenen Forschungsschwerpunkt mit ent- Linse dazwischen liegt, und der die kohärenten sprechender organisatorischer Struktur. Ergebnis Eigenschaften einer Synchrotronquelle nutzt. Die ist der neue Forschungsbereich Computergestützte zugrunde liegende mathematische Operation ist 5232 Das Magazin des Paul Scherrer Instituts 11
Xavier Deupi erforscht am PSI Biomoleküle, zum Beispiel Lichtsensoren. Um genau zu wissen, wie sie funktionieren, muss man ihre Struktur kennen. Bei deren Erkundung fallen immense Datenmengen an. 12
DAT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N rechnerisch sehr anspruchsvoll und muss tausend Nutzer ihre Datenfragen lösen und in überschauba- Mal ausgeführt werden. Bei der SLS 2.0 werden rer Zeit wissenschaftliche Ergebnisse erzielen kön- die Anforderungen an solche Rechenleistungen er- nen», hofft Stampanoni. heblich steigen, was die Nutzung des Supercompu- ters am Swiss National Supercomputing Centre in Synergien nutzen Lugano unabdingbar macht. Xavier Deupi hat keine Zweifel, dass dies gelingen Kein Verlass aufs Mooresche Gesetz wird. Für den Wissenschaftler der Forschungs- gruppe Theorie kondensierter Materie war die Ein- Und die Leistungslücke dürfte eher noch anwach- richtung des SCD unausweichlich. «Das PSI brauch sen. Denn auf das Mooresche Gesetz können sich te eine Konsolidierung des wissenschaftlichen die Forschenden am PSI sowie in vielen anderen Rechnens in einer organisatorischen Einheit, um naturwissenschaftlichen Disziplinen nicht mehr Synergien nutzen zu können.» Die Datenwissen- verlassen. Intel-Mitgründer Gordon Moore hatte schaftler sind jetzt in der gleichen Abteilung, sie 1965 vorhergesagt, dass sich die Zahl der Transis- können Fragen von Deupis Team schneller beant- toren, was ungefähr mit der Rechenleistung korre- worten und gemeinsame Projekte starten. «Aus spondiert, alle achtzehn Monate verdoppelt – man- ihrem IT-Knowhow und unserem Wissen über Bio- che Quellen geben auch zwölf beziehungsweise logie entstehen neue Werkzeuge zur Erforschung vierundzwanzig Monate an. Das Mooresche Gesetz von Proteinen.» gilt bis heute und wird wohl auch noch dieses Jahr- Deupi bezeichnet sich selbst als «Heavy User» zehnt Bestand haben. Doch das reicht leider nicht. des leistungsfähigen Merlin-Rechners am PSI und «Die Brillanz der Quellen wie SwissFEL oder SLS 2.0 des Supercomputers in Lugano. Für ein Experiment steigt schneller als das Mooresche Gesetz», warnt setzt er Hunderte Prozessoren ein, die Hunderte Marco Stampanoni. «Es braucht schlauere Lösun- Stunden laufen, manchmal sogar mehrere Monate. gen als einfach nur immer mehr Rechenleistung.» Doch das ist immer noch nicht genug. Trotz der lan- Eine könnte das maschinelle Lernen sein. «Es gen Rechenzeit kann Deupi nur Veränderungen an ist eine Binsenweisheit: In unseren Daten steckt Proteinen simulieren, die wenige Mikrosekunden viel mehr, als wir bisher auswerten konnten», sagt dauern. Doch wenn sich ein Molekül an ein Protein Andreas Adelmann. Maschinelles Lernen könne bindet – zum Beispiel Adrenalin an Rezeptoren in dieses verborgene Wissen in den riesigen Daten- Herzzellen –, dauert das mindestens Millisekunden. bergen finden. Und es kann helfen, teure Strahl- Etwa ein Drittel aller Medikamente bindet an die zeit an SLS und SwissFEL zu sparen. Früher nahmen Proteine, die Deupi untersucht. Könnte man den die Experimentatoren nach dem Ende ihrer Messun- kompletten Vorgang wie in einem dreidimensiona- gen die Daten mit nach Hause und analysierten sie len Video beobachten, wäre das für die Entwick- in Ruhe. Aber Experimente können auch schiefge- lung solcher Medikamente ein Durchbruch. Doch hen und das fiel dann oft erst Monate später auf. selbst die stärksten Computer sind dazu noch nicht Schnelle Modelle auf Basis von maschinellem Ler- in der Lage. nen können noch während eines laufenden Experi- Aber warum so kompliziert, wenn es auch ein- ments Aussagen treffen, ob die Messwerte plausi- fach geht? Diese Frage stellen sich viele, seit bel sind. Falls nicht, bleibt Zeit, die Messapparatur Google mit AlphaFold eine Software vorgestellt hat, zu justieren. Adelmann: «Die Datenerhebung im die mit künstlicher Intelligenz Modelle von solchen Experiment und die Datenanalyse rücken näher zu- Proteinen viel schneller und genauer berechnet. sammen.» Man gibt nur noch die Sequenz ein und AlphaFold Marco Stampanoni sieht hier das SCD als wich- spuckt die Struktur aus. «AlphaFold ist extrem gut», tigen Partner. Viele Nutzer und Forschende haben lobt Deupi. Das Ende der strukturellen Biologie, das mit IT nichts am Hut und können damit überfordert manche schon prophezeien, sei aber damit nicht in sein. «Ein Mediziner muss nicht wissen, wie ein Syn- Sicht. Und um seinen Arbeitsplatz mache er sich chrotron funktioniert oder wie und wo genau die auch keine Sorgen. Denn erstens sagt der Google- Daten gespeichert werden.» Wenn er sich für die Algorithmus nicht die ganze Struktur eines Proteins Wirkung eines Medikaments auf die Stabilität von voraus und zweitens kann man aus der Struktur Knochen interessiert, will er den 10 Terabytes gro- nicht einfach auf die Funktion des Proteins schlies ssen Datensatz nicht durcharbeiten müssen, den sen. «AlphaFold trifft keine Aussage, wie sich Pro- ihm ein tomografisches Experiment am Synchro- teine bewegen.» Genau dafür brauche es weiter- tron liefert. Ihm reicht eine einfache Grafik, von der hin Grossforschungsanlagen wie die SLS und den er die wichtigsten Ergebnisse ablesen kann. «Das SwissFEL. «AlphaFold ersetzt diese Maschinen SCD wird hier künftig einen Beitrag leisten, sodass nicht, sie ergänzen sich vielmehr.» 5232 Das Magazin des Paul Scherrer Instituts 13
«Wer erfolgreich forschen und Den Wandel begleiten publizieren will, braucht dafür Das SCD sei genau der richtige Ort, um solche neu- en Werkzeuge zu erproben. Dafür müssen Experi- eine gute Maschine und eine mentatoren, Theoretikerinnen, Computerexperten, Ingenieurinnen und viele mehr miteinander reden. gute Modellierung.» Das sei notwendig, damit Computerwissenschaftler Andreas Läuchli, Leiter des Labors für Theoretische und die richtigen Lösungen für sie fänden, so Marie Yao. computergestützte Physik Sie wurde eigens am SCD eingestellt, um die baby- lonische Sprachverwirrung zu überwinden und die Veränderung zu begleiten für bestmögliche wissen- schaftliche Resultate. Würde sie in einem Unter- Maschine und Modellierung nehmen arbeiten, dürfte sie sich als Managerin für strategische Allianzen bezeichnen. «Wandel ist Im Fall von Andreas Läuchli ist das schon gelungen. nicht immer einfach», weiss Yao, die mehrere Jahre Er ist neben Andreas Adelmann und Nicola Marzari in einer ähnlichen Position am Oak Ridge National der Leiter des dritten wissenschaftlichen Labors am Laboratory in den USA gearbeitet hat. Manche Mit- SCD, das sich mit theoretischer und computerge- arbeitenden hätten Angst vor Bedeutungsverlust stützter Physik beschäftigt. Vor einem Jahr kam er und würden an alten Abläufen festhalten. Sie sieht aus Innsbruck ans PSI und an die EPFL, wo er auch ihre Aufgabe darin, Teamarbeit zu fördern und ein einen Lehrstuhl hat. Läuchli soll die Theorie stärken, Umfeld zu schaffen, in dem sich alle sicher und aber Hand in Hand mit den Experimentalphysikern wertgeschätzt fühlen durch den von ihnen geleiste- arbeiten und ihnen Ideen für neue Experimente ge- ten Beitrag zu besseren technischen Lösungen. ben, vor allem am SwissFEL sowie an der SLS 2.0. Dazu koordiniert Yao im Team von Alun Ashton Die Gründung des SCD hält Läuchli für eine gute an der Schnittstelle von SCD und den weiteren Di- Entscheidung. «Experimente und Theorie werden visionen am PSI die Entwicklungen für den Start der immer komplexer. Wer erfolgreich forschen und SLS 2.0 im Jahr 2025 und trägt dazu bei, technische publizieren will, braucht dafür eine gute Maschine Lösungen zu entwickeln. Bis dahin müssen Hard- und eine gute Modellierung.» Das SCD sei wichti- ware, Software und Netze bereit sein und die enor- ger Bestandteil dieser Synthese. men Datenmengen bewältigen. Ein ganzheitlicher Läuchlis Steckenpferd sind Vielteilchensyste- Ansatz sei wichtig, so Yao: «Die ganze Datenpipeline me, worunter in der Physik alles fällt, das mehr als ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied.» ein einzelnes Wasserstoff-Atom ist – also nahezu Ein zunehmend schwächeres Glied in der Wis- sämtliche Materie auf der Erde. Alle Wege, Ener- senschaft wie auch in anderen Bereichen der Wirt- gieniveaus in diesen Systemen zu bestimmen, füh- schaft ist der Fachkräftemangel. Wenn es nicht ren über die Schrödinger-Gleichung. Sie liefert genügend geeignete Experten gebe, müsse man sie für das Wasserstoff-Atom exakte Ergebnisse, für ausbilden, häufig auf interdisziplinären Gebieten, Vielteilchensysteme wächst der Rechenaufwand so Yao. «Die Gesellschaft gibt uns gut ausgebildete exponentiell. Deshalb weichen Forschende schon Experten, deshalb sollten wir etwas an die Gesell- bei wenigen Atomen auf Näherungen aus. Doch schaft zurückgeben – eine Möglichkeit hierzu ist, nicht immer ist sicher, dass die Näherungen nah dass wir uns in der Ausbildung der nächsten Gene- genug an der Realität sind. ration engagieren.» Dann packt Läuchli die Brechstange aus. «Brute Die Forschenden von morgen haben einiges an force» nennt sich die Methode, bei der er mit Arbeit vor sich. Software zur Lösung wissenschaft- brachialer Rechenleistung die Schrödinger-Glei- licher Fragestellungen ist oft zwanzig Jahre alt chung für bis zu fünfzig Teilchen in die Knie zwingt. und teilweise nicht effizient genug. Die Defizite mit 20 000 Prozessorkerne mit mehreren Terabytes noch mehr Rechenleistung zu erschlagen, funktio- Arbeitsspeicher rechnen dann simultan mitunter niert heute nicht mehr. Wissenschaftliche Software mehrere Wochen an so einem Problem. Selbst der muss fit gemacht werden für die rasant wachsenden Supercomputer in Lugano ist dann zeitweise für an- Datenmengen und für Trends im Höchstleistungs- dere Nutzer gesperrt. Läuchli: «Manchmal ist die rechnen wie die Nutzung von Grafikprozessoren Brute-force-Methode wichtig, um zu überprüfen, ob anstatt von herkömmlichen zentralen Rechen- und unsere Näherungen wirklich gültig sind.» Steuereinheiten eines Computers. «Das SCD kann Natürlich kann nicht jede Arbeitsgruppe spon- helfen, Leute anzuziehen, die genau so etwas kön- tan den Rechner belegen. Jedes Team muss in Lu- nen», glaubt Marie Yao. gano einen bis zu zwanzigseitigen Antrag einreichen, 14
DAT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N Laborleiter Andreas Läuchli erforscht unter anderem, wie sich Energieniveaus oder magnetische Momente in sogenannten Vielteilchensystemen verhalten. Bei dieser enorm komplexen Aufgabe könnte ihm ein Quantencomputer gute Dienste leisten. der nach wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn und Effizienz der Algorithmen bewertet wird. Un- bürokratischer ist die Nutzung am Computerclus- ter Merlin am PSI. Wer dort viel Rechenzeit konsu- miert hat, wird allerdings erst mal zurückgestuft und muss sich in der Warteschlange weiter hinten einreihen. Grosse Erwartungen knüpft Andreas Läuchli an das Quantum-Computing-Hub (QCH), das 2021 am PSI gegründet wurde (siehe Artikel Seite 18). «Viel- leicht können wir Physik-Probleme, die sich auf klassischen Computern nicht rechnen lassen, künf- tig auf Quantencomputern abbilden.» Auch der Hub würde von der Zusammenarbeit profitieren, denn Quantencomputer basieren auf den physikalischen Prinzipien, die Läuchli mit seinem Team untersucht. Andreas Läuchli: «SCD und QCH gemeinsam – da sehe ich grosses Potenzial.» 5232 Das Magazin des Paul Scherrer Instituts 15
Schritt für Schritt – oder alles zugleich Der Quantencomputer eröffnet neue Möglichkeiten in der Computertechnik. Weil seine Qubits miteinander in Verbindung stehen und viele verschiedene Zustände gleichzeitig annehmen, kann er Rechenaufgaben ausführen, die klassische Computer niemals lösen können. Ein Quantencomputer mit supra- leitenden Qubits funktioniert nur bei extrem tiefen Temperaturen. Dazu wird in einem Mischungskryostat eine 35 K Kombination aus Helium-3- und Helium-4-Gas zusammengebracht, um noch einmal deutlich kälter als flüssiges Helium (4,2 K) zu werden. Der Chip mit den Qubits befindet sich ganz unten, dort ist es mit 0,01 Kelvin am kältesten. Kühlkopf des Kompressors 3K 0,9 K Mikrowellen-Leitungen für Kontrollsignale und zum Auslesen der Qubits 0,15 K 0,01 K Isolator Chip mit supraleitenden Qubits in einem Behältnis zur Abschirmung gegen Wärmestrahlung und Magnetfelder Vereinfachte Darstellung Skala links: Temperatur (0,01 K = -273,14 °C) 16
DAT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N Klassischer Computer Quantencomputer Jedes Bit kann zu einem Zeitpunkt nur einen von Jedes Qubit kann zu jedem Zeitpunkt beliebig zwei Zuständen einnehmen: 0 oder 1 – wie eine Glüh- viele Zustände einnehmen, – wie eine Glühlampe, lampe, die ein- oder ausgeschaltet wird. deren Helligkeit und Farbton jeweils stufenlos geregelt werden. Ausserdem sind die Bits unabhängig voneinander Qubits (hier in Ionenfallen auf einem Mikrochip) und beeinflussen sich nicht gegenseitig. sind miteinander verschränkt, beeinflussen sich also gegenseitig. Dadurch kann ein klassischer Computer immer nur Dadurch kann der Quantencomputer viele Berech- eine Berechnung ausführen. Um den Weg durch nungen gleichzeitig ausführen – zum Beispiel alle ein Labyrinth zu finden, muss er alle Möglichkeiten Wege durch ein Labyrinth parallel ausprobieren. Am hintereinander ausprobieren. Ende erhält man eine Antwort. Jede Rechnung muss allerdings einige Male wiederholt werden, damit der wahrscheinlich beste Weg aus der Statistik der Antworten herauskommt. 5232 Das Magazin des Paul Scherrer Instituts 17
Lösung für das Unlösbare PSI und ETH Zürich haben den Quantum-Computing-Hub gegründet. Spitzenforschende arbeiten dort gemeinsam an Konzepten für Quantencomputer, die herkömmliche Computer bei bestimmten Rechenaufgaben einmal bei Weitem übertreffen sollen. Text: Bernd Müller Kirsten Moselund und Cornelius Hempel sollen am PSI erforschen, wie sich ein funktionierender Quantencomputer umsetzen lässt. 18
DAT E N I N N E U E N D I M E N S I O N E N Würde man eine Liste der weltweit führenden For- Im Untergeschoss baut das Team von Jonathan schenden für Quantencomputer aufstellen, würden Home, Professor für experimentelle Quanteninfor- Jonathan Home und Andreas Wallraff sehr weit mation, nun Quantenschaltkreise auf Basis von Io- oben stehen. Die beiden Physik-Professoren von nenfallen. Im Obergeschoss befasst sich Andreas der ETH Zürich sind Meister ihres Fachs – und nicht Wallraff, Professor für Festkörperphysik, mit den allein: In der Schweiz hat sich in den letzten Jahren gleichen Fragen. Er und sein Team nutzen dafür aber eine Expertise in der Quantenforschung etabliert, ultrakalte supraleitende Bauteile. Noch in diesem die mit den grossen Nationen mithalten kann. Aus Jahr sollen zwei weitere Forschungsteams hinzu- serdem gibt es zahlreiche junge Unternehmen, kommen, die noch andere Konzepte zum Bau von die Quantentechnologien entwickeln, wie Zurich In Quantencomputern verfolgen. Von derzeit zwanzig struments oder ID Quantique. Forschenden soll der Hub in fünf Jahren auf hundert Alles bestens also? Nicht ganz. «Die Quanten- wachsen. Ausserdem entsteht gerade im neuen technologie hat einen grossen Schritt in Richtung Park Innovaare in direkter Nachbarschaft zum PSI Anwendung gemacht», sagt Gabriel Aeppli, Leiter ein Reinraum mit Nanofabrikationsanlagen, wo die des Forschungsbereichs Photonenforschung am Forschenden eigene Qubits herstellen werden, die PSI. «Dafür braucht es jetzt Experten mit Fähigkei- Basis jedes Quantencomputers. ten, die weit über das hinausgehen, was selbst eine Dieses Wachstum organisieren soll Kirsten Mo- renommierte Hochschule wie die ETH Zürich leisten selund, die seit Februar 2022 das Labor für Nano- kann – vor allem Ingenieure, die Forschungsergeb- und Quantentechnologien am PSI leitet und damit nisse in funktionierende Prototypen umsetzen auch den Quantum-Computing-Hub. Die Professo- können.» Und hier komme das PSI ins Spiel. «Ein rin für Elektronik und Mikrotechnologie an der ETH nationales Labor wie das PSI vereint alle Fähigkei- Lausanne (EPFL) war zuvor am IBM-Forschungsla- ten, die es für dieses Scale-up braucht», so A eppli. bor in Rüschlikon, wo sie sich mit Nanophotonik Damit ist der Übergang vom Grundlagenexperiment beschäftigte. «Im neuen Hub bringen wir Quanten- zu einer Technologie gemeint, die in absehbarer Zeit technologien und eine starke Technologieplattform echte – irgendwann auch kommerzielle – Probleme zusammen», so Moselund. Um Quantencomputer lösen kann. sei ein regelrechter Wettlauf entbrannt, ähnlich wie Dass das PSI so etwas kann, beweist es seit beim Rennen um die erste bemannte Mondlandung. Jahren an den Grossforschungsanlagen wie der Den Hub sieht Moselund dabei in einer ausgezeich- Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS und dem neten Startposition: «ETH Zürich und PSI ergänzen Schweizer Freie-Elektronen-Röntgenlaser Swiss- sich sehr gut. Und mit Grossforschungsanlagen wie FEL, wo Technologien gebraucht werden, die man SLS und SwissFEL haben wir Möglichkeiten, die nicht einfach irgendwo kaufen kann. Das PSI pro- andere nicht haben, zum Beispiel, wenn wir Defek- fitiert als nationales Labor davon, dass dort Ex- te in Materialien für künftige Quantenchips unter- pertinnen und Experten mit Erfahrung über länge- suchen wollen.» re Zeit an komplexen Herausforderungen arbeiten Doch ein so komplexes Problem wie die Reali- können. Bei einem Forschungsteam an einer Uni- sierung eines alltagstauglichen Quantencomputers versität ist das nicht gegeben. «Wir haben viele braucht zahlreiche Kooperationen. Deshalb arbei- talentierte Wissenschaftlerinnen und Wissen- ten Forschende des PSI mit vielen weiteren Institu- schaftler, die aber nach ein paar Jahren, meist tionen zusammen, allen voran dem Schweizer Nati- nach ihrer Promotion, das Team wieder verlassen onal Center of Competence in Research (NCCR) müssen», so Jonathan Home. Ein Scale-up wie MARVEL, das an der EPFL seinen Sitz hat und dem am PSI sei deshalb an der ETH Zürich prinzipiell Nicola Marzari, Professor an der EPFL, vorsteht. nicht möglich. Noch existieren keine kommerziell verfügbaren Die ETH Zürich und das PSI haben erkannt, universellen und fehlertoleranten Quantencompu- dass sich beide Institutionen bei der Entwicklung ter. Solche Apparate, wie sie von IBM oder Google von Quantencomputern perfekt ergänzen. Deshalb entwickelt werden, kommen derzeit auf wenig mehr richten sie gemeinsam den Quantum-Compu- als hundert Qubits. Weil jedes Qubit nicht nur die ting-Hub ein. Organisatorisch ist diese Forschungs- Zustände null und eins, sondern beliebig viele Zu- einrichtung dem Bereich Photonenforschung von stände annehmen kann, und weil die Qubits unter- Gabriel Aeppli und darin dem Labor für Nano- und einander «verschränkt» sind, können schon ein Quantentechnologien zugeordnet. Räumlich befin- paar Dutzend Qubits Probleme bearbeiten, die det sich der Quantum-Computing-Hub auf dem selbst für Mikroprozessoren mit Milliarden Transis- PSI-Gelände bei Villigen, wo ein Gebäude für die toren zu komplex wären. In den bisher vorgestellten Quantenforschung aufgerüstet wurde. Dort verfol- Quantencomputern sind aber immer nur wenige gen Forschende unterschiedliche Ansätze zur Ver- Qubits gleichzeitig miteinander verschränkt, was wirklichung eines Quantencomputers. die tatsächliche Rechenleistung begrenzt. 5232 Das Magazin des Paul Scherrer Instituts 19
«Die Schweiz braucht eine starke Präsenz in Quanten ein ausfallsicheres logisches Qubit, was bedeutet, dass die Anzahl der Qubits im Computer etwa eine technologien.» Million betragen müsste. Von hundertsiebenundzwanzig physikalischen Kirsten Moselund, Laborleiterin für Nano- Qubits, die IBM kürzlich in einem Chip demonstriert und Quantentechnologien hat, auf eine Million Qubits? Das scheint nur eine Frage der Skalierung der Fertigung zu sein. Doch leider gibt es bisher keinen Weg, grössere und kom- «Forschende haben schon heute Spass an Quan- plexere Systeme zu bauen, ohne dadurch auch mehr tencomputern», sagt Cornelius Hempel, Gruppen- Fehler in das System zu lassen. Insofern sind alle leiter für Quantencomputing mit Ionenfallen am PSI. Erfolgsmeldungen, wie sie von Google, IBM oder In der Physik gebe es Fragen, die sich bereits mit Amazon regelmässig verbreitet werden, mit Vorsicht fünfzig Qubits lösen liessen. An der ETH Zürich zu geniessen. Es handelt sich um fehlerhafte Gerä- schafft es Homes Team, Gruppen von Atomen mit te, die noch nicht unmittelbar die Vorteile von mehr elektromagnetischen Feldern in einer Ionenfalle zu Qubits nutzen können. Den Quantencomputer, den fangen und diese durch Beschuss mit Laserlicht zu man sich auf den Schreibtisch stellen kann, um da- beeinflussen und logische Rechenoperationen aus- mit echte Probleme zu lösen, wird es in den nächs- führen zu lassen (siehe auch Grafik Seite 16). Das ten zehn Jahren nicht geben, vielleicht sogar nie. PSI plant Mikrochips mit Dutzenden von Ionenfal- Doch die Forschenden sind zuversichtlich, dass len, zwischen denen Ionen hin- und hergeschoben kommerzielle Quantencomputer möglich sind. Ein werden können und die sich zu einem grösseren solcher Computer mit Millionen von Qubits würde Quantenchip verbinden. Das Laserlicht wird über in einem Rechenzentrum neben den herkömmli- feine Lichtfasern in den Chip gespeist und manipu- chen Supercomputern arbeiten. liert die Atome, indem es ihre energetischen Zu- An dem Problem der Störanfälligkeit arbeitet stände verändert, während elektrische Felder sie auch Alexander Grimm, Physiker am PSI. Für sein hin und her bewegen. Diese Atome – alle mit glei- neues Projekt COOLCCAT erhielt er im Januar dieses chen Eigenschaften – sind perfekte Qubits. Die Jahres einen sogenannten ERC-Grant mit einer For- Herausforderung besteht darin, sie zu kontrollie- schungsförderung in Millionenhöhe zugesprochen. ren. Für praktische Anwendungen in der Industrie Grimm möchte eine Sorte Qubits erschaffen, die ist das derzeit noch uninteressant. Ein Beispiel: sich Störungen gegenüber möglichst stabil verhält. Nitrogenase ist ein Enzym, mit dem Bakterien Seine Kandidaten: Oszillator-Qubits, auch bosoni- Stickstoff aus der Luft binden, der als natürlicher sche Qubits genannt. Diese bestehen beispielswei- Dünger für Pflanzen dient. Künstlicher Dünger wird se aus einem extrem dünnen und schmalen Stück heute wie vor hundert Jahren mit dem Haber-Bosch- supraleitendem Metall, das einige Millimeter lang ist. Verfahren unter erheblichem Energieaufwand her- Noch ist nicht einmal klar, welches Qubit-Kon- gestellt. Wüsste man, wie das Enzym arbeitet und zept sich durchsetzen wird. Neben supraleitenden könnte man das nachbilden, wäre das ein Durch- Qubits und Ionenfallen tüfteln Forschende weltweit bruch für die Nahrungsversorgung der Menschheit. noch an einem halben Dutzend weiterer Ideen – die Doch dieses Rätsel lässt sich bis heute selbst mit man am Quantum-Computing-Hub ebenfalls verfol- Supercomputern nicht lösen. Ein Quantencompu- gen wird, sofern sich dort vielversprechende Um- ter mit tausend fehlerfreien Qubits könnte jedoch setzungskonzepte anbahnen. Vielleicht ergeben das Enzym in nur wenigen Millionen Rechenopera- sich auch ganz neue Optionen, mutmasst beispiels- tionen modellieren. weise Cornelius Hempel: «Wer weiss – vielleicht fin Wobei die Betonung auf «fehlerfrei» liegt. Denn den die Kolleginnen und Kollegen an der SLS oder Qubits rechnen heute mit einer Fehlerrate von am SwissFEL ein neues Material, aus dem wir viel einem Prozent, was viel zu viel ist. Zum Vergleich: bessere Qubits bauen können.» Ein Transistor verrechnet sich bei 10 27 (eine Zahl Für Kirsten Moselund gibt es keine Alternati- mit 27 Nullen) Rechenoperationen im Schnitt nur ve zum Quantum-Computing-Hub. «Die Schweiz einmal. Der Ausweg sind logische Qubits, die aus braucht eine starke Präsenz in Quantentechno mehreren physikalischen Qubits bestehen und die logien», fordert die Ingenieurin. Kommerzielle Fehler erkennen und beseitigen können. In den Quantencomputer, wie sie Google, Amazon und Co Labors von Wallraff und Home wurde die Fehler- vermutlich irgendwann als Clouddienst anbieten korrektur bereits in kleinem Massstab demons werden, seien eine Blackbox, in die man nicht hin- triert, aber die Fehlerkorrektur wird besser durch einschauen dürfe. Moselund: «Um Quantencompu- die Verwendung immer grösserer Systeme. Für das ter sinnvoll nutzen zu können, müssen wir wissen, Nitrogenase-Problem bräuchte man nach manchen was unter der Haube passiert. Und das bieten wir Schätzungen etwa tausend physikalische Qubits für am PSI.» 20
IM BILD Schaltplan des Gehirns Die Verknüpfungen der Nervenzellen im Gehirn bil- den sich aufgrund von Erfahrungen und Lernpro zessen. Unklar ist derzeit, wie das Verknüpfungs- muster aussieht. Der Neurowissenschaftler Adrian Wanner will an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS mithilfe des dortigen Röntgenlichts neuronale Strukturen bis in ihre feinsten Verästelungen auf- klären. Unter anderem wird er dabei der Frage nach- gehen, wie Nervenzellen Informationen verarbeiten. Die daraus resultierenden Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns werden neue medizi- nische Therapieansätze für neurodegenerative Er- krankungen ermöglichen. 5232 Das Magazin des Paul Scherrer Instituts 21
Herkules und Akkus durchleuchtet IN DER SCHWEIZ Sowohl für antike Gegenstände als auch für moderne Technologien braucht es Untersuchungsmethoden, bei denen das Objekt komplett intakt bleibt. Forschende am PSI nutzen dafür Elementar- teilchen namens Myonen und entwickeln ein neues experimen- telles Verfahren, das für die Archäologie nützlich ist und ebenso Fragen der Batterieentwicklung beantworten kann. Text: Barbara Vonarburg Gepolstert in eigens zugeschnittenem Schaumstoff: Eine gut sechs Zentimeter hohe Silberstatuette des griechischen Helden Herkules, begleitet von einem mythologischen Eber, wartet darauf, mit Myonen untersucht zu werden. 22
IN DER SCHWEIZ 5232 Das Magazin des Paul Scherrer Instituts 23
Zwei Forschende bereiten mit letzten Handgriffen ein Messinstrument für den Transport vor. Die Ap- «Wir konnten zeigen, dass Minerva paratur, die eine Forschungsgruppe am PSI in den vergangenen zehn Monaten entwickelt und zusam- und Herkules aus einer hochwertigen mengebaut hat, ist zur Absicherung von einem etwa zweieinhalb Meter hohen Gestänge umrahmt. «Wir Silberlegierung bestehen.» werden damit zerstörungsfrei bestimmen können, Isabel Megatli, wissenschaftliche Mitarbeiterin, aus welchen chemischen Elementen eine Probe be- Römerstadt Augusta Raurica. steht», erklärt Lars Gerchow, verantwortlich für das Design des Instruments. Dazu benötigen sie spe zielle Elementarteilchen, sogenannte Myonen. Gerchow, seine Kollegin Sayani Biswas und wei- also wahrscheinlich in der gleichen Werkstatt her- tere Helfende befinden sich in der grossen Halle, in gestellt.» Mit weiteren Untersuchungen können die der die Myonen-Quelle des PSI untergebracht ist. Forschenden teilweise sogar bestimmen, aus wel- Myonen sind Elementarteilchen, die als Teil der kos- cher Mine die verwendeten Metallerze stammen. mischen Strahlung allgegenwärtig natürlich vor- «Und auch Fälschern können wir auf die Schliche kommen. «Im Schnitt durchquert jede Sekunde ein kommen», sagt Megatli. «Denn beispielsweise Alumi- Myon unseren Kopf», erklärt der Physiker. Am PSI nium wird erst seit dem 19. Jahrhundert verarbeitet.» werden diese Teilchen jedoch künstlich erzeugt mit- hilfe eines grossen Beschleunigers. Fingerabdruck der Elemente Das Messinstrument ist bereit für den Weg zum vorgesehenen Platz – eine heikle Aufgabe, für die Die Physikerin Sayani Biswas erklärt, wie das Expe- ein Hallenkran benötigt wird. Der Kranführer be- riment funktionieren wird: «Wir haben eine Probe, kommt vom Boden aus Anweisungen via Funk, dann darauf schicken wir negativ geladene Myonen.» Ein fliegt das Instrument in die Höhe. Atom in der Probe fängt ein Myon ein. Anstelle eines Elektrons umkreist nun ein Myon den Atomkern. Es Gold und Silber aus der Römerstadt befindet sich anfänglich in einem angeregten Zu- stand und fällt dann stufenweise in seinen Grund- Im Kontrollraum, von dem aus die Physikerinnen zustand. Dabei wird Röntgenstrahlung ausgesendet. und Physiker das Myonen-Experiment steuern wer- Die Energie dieser Strahlung ist charakteristisch für den, trifft derweil die Archäologin Isabel Megatli den Atomtyp, also das Element, welches das Myon letzte Vorbereitungen für ihren Einsatz. Sie hat eingefangen hat. Biswas, die für die Datenverarbei- kostbare Gold- und Silberobjekte mitgebracht, die tung und Datenanalyse verantwortlich ist, zeigt auf in Augusta Raurica ausgegraben wurden, einer der eine früher aufgenommene Kurve mit spitzen Aus- bedeutendsten römischen Fundstätten der Schweiz, schlägen, ein sogenanntes Spektrum. Jedes Ele- rund zehn Kilometer östlich von Basel. Besonders ment hat ein spezifisches Muster solcher Linien im hübsch sind zwei Figürchen aus dem 2. Jahrhundert Spektrum – wie ein Fingerabdruck. nach Christus, Darstellungen römischer Gottheiten In der Halle ist das Messinstrument nun unter aus einem Hausheiligtum. Der nur gut sechs Zenti- grösster Vorsicht heil an seinem Zielort angekom- meter hohe Herkules, mit Löwenfell über dem Arm, men. Nun befestigen mehrere Fachleute die sechs wird von einem mythologischen Eber begleitet, den grossen Röntgendetektoren am Gestänge. die Forschenden unter sich «das Schweinchen» Auch Alex Amato hilft mit, Leiter ad interim des nennen. Minerva trägt ein faltenreiches Gewand Bereichs Forschung mit Neutronen und Myonen am und einen extravaganten Helm. PSI. Er hat das Projekt initiiert, an dem sich neben Die Statuetten wurden aus Silber gegossen und dem PSI die Römerstadt Augusta Raurica, die Empa teilweise vergoldet. «Wir möchten wissen, welche und das Naturhistorische Museum Bern beteiligen Silberlegierung verwendet wurde», sagt Megatli. und das vom Schweizerischen Nationalfonds im «Mit bisherigen Methoden können wir nur die äus Rahmen des Sinergia-Programms mit knapp ein- sersten Hundertstelmillimeter untersuchen, oft einhalb Millionen Franken unterstützt wird. «Am wurde diese Oberfläche aber über die Jahrhunderte PSI versuchte man schon vor dreissig Jahren, mit hinweg verfälscht.» Mit Myonen dagegen kann man Myonen die elementare Zusammensetzung von Ma- mehrere Millimeter in die Tiefe blicken. terial bis tief in dessen Inneres zu bestimmen, doch Auch einige antike Schmuckstücke, die als damals war der Teilchenstrahl nicht intensiv genug», Grabbeigaben gefunden wurden, hat Megatli mitge- erklärt der Forschungsleiter. «Heute sind wir zwan- bracht. «Die Giesser der Antike hatten jeweils eige- zigmal besser. Und wir haben tausendmal mehr In- ne strenge Rezepte», erklärt die Archäologin. «Wenn tensität als die Kollegen in England und Japan bei zwei Objekte dieselbe Legierung haben, wurden sie ihren ähnlichen Experimenten.» 24
IN DER SCHWEIZ Sayani Biswas und Lars Gerchow besprechen an der Myonen-Strahllinie das anstehende Experiment. Im Sinergia-Beschrieb steht denn auch: «Dieses Vorgang sichtbar machen. Später möchten die For- Projekt zielt darauf ab, die Schweiz zu einem welt- schenden das Lithium in der Batterie verfolgen. Die weit führenden Standort in der zerstörungsfreien Ergebnisse sollen helfen, die Energiedichte und die Elementanalyse zu machen.» Und man erwarte eine Sicherheit von Lithium-Ionen-Batterien zu verbessern. grosse Nachfrage von Industrie, Kultur und akade- Nach einer Woche sind die Messungen sowohl mischen Bereichen. der antiken Objekte als auch der Batterien beendet. Doch noch stehen die Forschenden am Anfang – «Bei der Batterie sehen wir im Spektrum schöne versammelt im Kontrollraum vor einer Reihe von Linien für Nickel, Mangan und Kobalt», sagt Sayani Computer-Bildschirmen. Im Experimentierbereich Biswas zufrieden. In den kommenden Wochen wird sind jetzt keine Menschen mehr. Hier warten nur die Ryo Asakura die Batterien an der Empa immer wie- Statuetten von Herkules und Minerva auf ihren je- der laden und entladen, um in einer zweiten Mess weiligen Einsatz. In eigens zurechtgeschnittenen periode die Veränderungen nach diesem Alterungs- Schaumstoffhalterungen stehen sie in Metallrah- prozess zu beobachten. men, die wiederum auf einer Schiene vor den De- tektoren in Position gebracht wurden. Lars Gerchow Die Ausschläge zeigen zwei Silberisotope gibt im Kontrollraum das Kommando: «Wir können den Strahl starten.» Damit beginnen die Messun- In den Messdaten der Proben aus Augusta Raurica gen, die nun rund um die Uhr fortgesetzt werden. zeigt Sayani Biswas auf einige sich überlappende Ausschläge: «Hier kann man zwei verschiedene Sil- Batterien im Myonen-Strahl berisotope sehen», also minimal verschiedenartige Atomarten von Silber. Das Verhältnis dieser Isotope Zwei Tage später platzieren die Forschenden ein kann der Archäologin Isabel Megatli helfen, die Her- völlig anderes Objekt in den Myonen-Strahl: Eine kunft des Silbers zu bestimmen. Sie ist bereits von Lithium-Ionen-Batterie. «Wir wollen herausfinden, den vorläufigen Ergebnissen begeistert: «Wir konn- wie die Batterie durch ihren Einsatz altert», erklärt ten zeigen, dass Minerva und Herkules aus einer Ryo Asakura, Forscher an der Empa in Dübendorf. hochwertigen Silberlegierung bestehen.» Er hat deshalb eine neue sowie eine bereits ge- Die nächste Messperiode ist in zwei Monaten brauchte Batterie ans PSI mitgebracht – flache geplant. Dann soll neben weiteren antiken Stücken Päckchen, die ähnlich aussehen wie die Akkus in und den Lithium-Ionen-Batterien auch eine Pfeil- Smartphones. «Die Kathode dieser Batterien ent- spitze aus der Bronzezeit untersucht werden, die hält Nickel, Mangan und Kobalt», erklärt Asakura. womöglich aus Meteoritenmaterial hergestellt wur- Mit der Zeit lösen sich diese Metalle von der Katho- de. «Auch bei dieser Frage ist unsere zerstörungs- de ab – was zur Alterung dieses Batterie-Typs bei- freie Methode hervorragend geeignet», sagt Lars trägt. Die Messungen mit den Myonen sollen diesen Gerchow. 5232 Das Magazin des Paul Scherrer Instituts 25
Aktuelles aus der PSI-Forschung 1 Neuer, besserer Corona-Virus-Schnelltest Forschende des Paul Scherrer Instituts PSI und der Universität Basel haben ei- nen Covid-19-Schnelltest entwickelt. Sein neuartiges Funktionsprinzip erlaubt zuverlässige und quantifizierbare Aussa- gen über eine Covid-19-Erkrankung und deren Verlauf. Aber auch Covid-Varian- ten oder andere Erreger wie die Grippe lassen sich mit ihm nachweisen. Anders als Antigen-Tests weist er nicht direkt Bestandteile des Virus nach, sondern die Antikörper, die das Immunsystem als Reaktion auf die Infektion produziert. Er nutzt dabei unter anderem sehr enge Röhren, sogenannte Kapillaren, in denen Kügelchen mit angedockten Antikör- pern an bestimmten Stellen hängen blei- ben. Der Test verspricht erheblich mehr Aussagekraft und ist genauso günstig, schnell und einfach zu handhaben wie die bisherigen Antikörper-Tests. Bis er zum Einsatz kommen kann, muss er al- lerdings noch weiter getestet und opti- miert werden. Weitere Informationen: http://psi.ch/de/node/49630 Mit29 Blutproben wurde das neue Test-Kit überprüft. 2 In nur Minuten soll der Test nach einer Optimierung durchzuführen sein. 100 Etwa Mal dünner als ein menschliches Haar sind die Test-Kapillaren an ihrer engsten Stelle. 26
IN KÜRZE 3 Mehr Einblick in den Sehsinn PSI-Forschende haben einen wichtigen Bestandteil im Auge aufgeklärt. Es han- delt sich um ein Protein in den Stäbchen- zellen der Netzhaut, die es uns ermögli- chen, bei Dämmerlicht zu sehen. Das Protein sorgt als Ionenkanal in der Zell- membran dafür, dass das Sehsignal vom 2 Simulation hilft bei Auf- 4 Mist und Gülle als Auge ins Gehirn weitergeleitet wird. Der räumarbeiten in Fukushima Ionenkanal besitzt die Aufgabe eines Energie-Ressourcen Pförtners, der regelt, ob und welche Teil- Ein internationales Team unter Feder- chen ins Innere der Sinneszelle gelangen Hofdünger, also Mist und Gülle, werden führung der Universität Sheffield und können. Er ist in die fettreiche Hülle – die in der Schweiz kaum zur Energiegewin- Beteiligung des PSI hat eine neue Simu- Zellmembran – der Stäbchenzellen ein- nung genutzt. Dabei könnte ihre Vergä lation der gefährlichsten radioaktiven gebettet. In der Dunkelheit ist der Ionen- rung nicht nur fossile Brennstoffe erset- Trümmer des havarierten Kernkraftwerks kanal und damit das Tor in die Zelle voll- zen, sondern auch die Landwirtschaft im japanischen Fukushima entwickelt. ständig geöffnet. Trifft Licht auf das klimafreundlicher machen. Eine Publika- Anhand der Erkenntnisse über die in den Auge, wird in den Stäbchenzellen eine tion von Energieforschenden, unter ande- Reaktoren von Fukushima verwendeten Kaskade von Prozessen in Gang gesetzt. rem von der Eidgenössischen Forschungs- Materialien – beispielsweise Brennstoff, Das sorgt letztendlich dafür, dass sich anstalt für Wald, Schnee und Landschaft Ummantelung und Beton – wurde ein Re- das Tor schliesst und positiv geladene WSL und dem PSI, soll Fachleuten aus zept für die Brennstofftrümmer entwi- Teilchen wie Kalziumionen nicht mehr in Behörden und Praxis helfen, diese wert- ckelt. Die Forschenden erhitzten diese die Zelle strömen können. Dieses elek volle Ressource besser zu nutzen. Die Materialien auf die extrem hohen Tempe trochemische Signal setzt sich über Ner- Studie gibt zahlreiche Hinweise für Ver- raturen, die während des Unfalls herr- venzellen bis ins Sehzentrum des Ge- besserungen. So könnten technische schten, und stellten so ein Pendant zu hirns fort, wo wir dann zum Beispiel Neuerungen bei den Verfahren die Anla- den Brennelementtrümmern mit geringer einen Lichtblitz wahrnehmen. Menschen, gen für die Biogasgewinnung rentabler Radioaktivität her. Mithilfe des Simula bei denen das Molekül aufgrund einer machen. Vorbehandlungen mit Mikroor- tionsmaterials können die Behörden nun, Erbkrankheit nicht richtig funktioniert, ganismen erhöhen die Energieausbeute, fast elf Jahre nach der Katastrophe, erst- erblinden. Die Forschenden haben nun ebenso die Trennung von festen und mals mehr über die chemische Zusam- die dreidimensionale Struktur des Pro- flüssigen Bestandteilen des Stallabfalls. mensetzung und die mechanischen Ei- teins entziffert und so dabei mitgeholfen, In der meist ungenutzten Abwärme der genschaften der Trümmer erfahren und den Weg für eine zukünftige Heilmetho- Anlagen steckt weitere Energie. Zusam- sichere Strategien für deren Beseitigung de zu ebnen. mengenommen könnte dies Investitio- entwickeln. Für ihre Untersuchungen nen in Vergärungsanlagen für Landwirte nutzten die Forschenden die Synchro- Weitere Informationen: attraktiver machen. Als Alternative zur tron Lichtquelle Schweiz SLS. Ihre Stu- http://psi.ch/de/node/49360 Vergärung von Mist und Gülle bieten sich die könnte den Aufräumarbeiten einen sogenannte hydrothermale Verfahren an, enormen Schub geben. da die Umwandlung der Biomasse weit- gehend verlustfrei erfolgen kann. Davon Weitere Informationen: könnte die Stromversorgung im ganzen http://psi.ch/de/node/49916 Land profitieren. Weitere Informationen: http://psi.ch/de/node/49910 5232 Das Magazin des Paul Scherrer Instituts 27
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