Demokratiebildung Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen
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17. Mai 2019 | 73. Jahrgang | 4 Euro Ausgabe 05 / 2019 bildung und wissenschaft – Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württemberg Demokratiebildung Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen Arbeitnehmer / innen Prävention Hochschulen Mehr Wertschätzung von der Schutzkonzepte Was Personalräte Landesregierung erwartet müssen alle mittragen bewirken können
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Editorial Doro Moritz, Landesvorsitzende GEW Baden-Württemberg Foto: GEW BW Europa- und Kommunalwahlen – Demokratie stärken! Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Leserin, lieber Leser, im Mai sind nicht nur Personalratswahlen. Am und Regierungsbeteiligungen von rechtspo- 26. Mai sind wir zur Wahl des Europaparlaments pulistischen Parteien in Italien, Ungarn, Polen, und der kommunalen Parlamente aufgerufen. Österreich, das Jahr des Brexit. Wir müssen uns Es ist für die GEW nicht egal, wie es mit Europa gemeinsam mit Rechtspopulismus und extre- weitergeht und wie die europäische Wirtschafts-, men Rechten auseinandersetzen – im persönli- Sozial-, Friedens- und Migrationspolitik gestaltet chen Umfeld, am Arbeitsplatz, in Baden-Würt- wird. Europa betrifft die beruflichen, wirtschaft- temberg und in Europa. lichen, sozialen und rechtlichen Interessen der Wir wollen verhindern, dass die Anti-Europäer GEW-Mitglieder. Deshalb wollen wir Politik mitge- oder die Rechtspopulisten im Europäischen Par- stalten. Das ist unser gewerkschaftlicher Auftrag. lament das Sagen haben. Sie dürfen nicht so Diese Wahl betrifft uns alle – die Beschäftigten stark werden, dass sie das Parlament regelmä- und die Gesellschaft als Ganze. Auch wenn wir ßig blockieren können. Deswegen rufe ich alle nicht mit allem in der EU zufrieden sind: Euro- Kolleginnen und Kollegen auf: Gehen Sie zur pa ist die Antwort auf viele Herausforderungen Wahl und stärken Sie mit Ihrer Stimme die euro- der heutigen Zeit. Globalisierung, Klimawandel, päische Demokratie. Friedenssicherung und Digitalisierung machen Für mich ist das Wahlrecht auch Wahlpflicht für an keiner Staatsgrenze halt. Kein Staat kann das Demokratinnen und Demokraten. Das gilt erst alleine für sich regeln. recht für Pädagoginnen und Pädagogen, die Lange Zeit standen in der EU nicht die Rechte der junge Menschen auf ein Leben in gesellschaftli- Beschäftigten im Vordergrund. Aber allmählich cher Teilhabe, Toleranz und Verantwortung vor- wächst das Bewusstsein, dass soziale Fragen die bereiten. Die Diskussion über den Brexit macht zentrale Rolle spielen, um Europa zusammenzu- deutlich, welche negativen Folgen eine „Denk- halten. Die europäische Einigung wurde bisher zettel-Wahl“ aus einer diffusen oder tatsächli- oft zu stark auf die wirtschaftlichen Freiheiten chen Unzufriedenheit heraus haben kann. anstatt an sozialen Rechten und den Interessen Am 26. Mai finden auch Kommunalwahlen statt. der Menschen ausgerichtet. Die Gewerkschaften Sie sind sehr wichtig. Bildung und Betreuung des DGB engagieren sich seit Jahrzehnten für werden in hohem Maße von den Kommunen ein soziales, solidarischeres und gerechtes Euro- und Landkreisen gestaltet. Über die Ausstattung pa und hatten dem 1. Mai das Motto gegeben: der Schulen, die Schülerbeförderung, Kitage- Europa, jetzt aber richtig! Steuergerechtigkeit, bühren oder Betreuungskonzepte an Schulen Finanztransaktionsteuer, Regeln für den inter- und Kindertageseinrichtungen entscheiden die nationalen Handel, Regeln für faire Arbeit und Gemeinde- und Kreisräte. gegen Lohndumping, für Arbeitsschutz, für Beteiligen Sie sich bitte an den Europa- und soziale Sicherheit, für Umwelt- und Verbraucher- Kommunalwahlen. Nutzen Sie Ihr gutes Recht! schutz – das sind unsere gewerkschaftlichen Ziele für Europa. Mit freundlichem Gruß Europa ist in einer außergewöhnlichen Situa- Ihre tion: Grenzkontrollen, Schließung der Mittel- meerhäfen, teilweise eine hohe Arbeitslosigkeit (insbesondere von Jugendlichen), Wahlerfolge bildung & wissenschaft 05 / 2019 3
8 Schöner Beruf schwer gemacht 26 Bei Ankündigungen ist die Kultusministerin gut 32 Ist das Konsulatsmodell doch das falsche Konzept? S.12 Titelthema Demokratiebildung Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen der Einfalt ist g !!! lfalt D ie Vie roß 4 bildung & wissenschaft 05 / 2019
Inhalt In dieser Ausgabe Titelthema Aus der Arbeit der GEW Demokratiebildung 8 GEW-Umfrage zur Arbeitszufriedenheit: 12 Mehr als Gemeinschaftskunde Schöner Beruf schwer gemacht, Teil II 17 Demokratie muss 24 Arbeitnehmer/innentag 2019: im Alltag erlebbar bleiben Mehr Wertschätzung von der 20 Im Zeitalter Landesregierung erwartet digitaler Meldeplattformen 26 Schulleitungstagung der GEW: 22 Was die Menschen verbindet Bei Ankündigungen ist die Kultusministerin gut 34 Personalratsarbeit: Arbeitsplatz Schule / „Faul, fauler Müller“ Kindertageseinrichtung 36 GEW Südbaden im Gespräch mit dem Schulpräsidenten: 25 Landtagsanfrage: Wort gehalten Situation der Fachlehrkräfte 37 Tagung zur Digitalisierung: und Technischen Lehrkräfte verbessern „Die Technik spielt nur die zweite Geige“ 30 Prävention sexualisierter Gewalt: Schutzkonzepte müssen alle mittragen 32 Herkunftssprachlicher Unterricht: Rubriken Ist das Konsulatsmodell doch das falsche Konzept? 3 Editorial 6 Aktuell 7 Glosse Aus-, Fort- und Weiterbildung 35 Kurz berichtet Hochschule 38 Vor Ort 41 Jubilare 28 Personalratswahlen: 43 Totentafel Was Personalräte an Hochschulen 46 Impressum bewirken können 46 Termine Heftmitte: Unterrichtspraxis Foto: Rawpixel / iStock Titelbild: Rawpixel / iStock Redaktionsschluss für die nächste b&w Ausgabe: 13. Mai 2019 bildung & wissenschaft 05 / 2019 5
Aktuell AUFRUF ZUR GROSSDEMO AM 19. MAI Ein Europa für alle: Deine Stimme gegen Nationalismus! staat und unabhängige Gerichte angegrif fen, Menschen und Freiheitsrechte ein geschränkt und das Asylrecht abgeschafft werden sollen. Deshalb geht am 26. Mai wählen – tretet ein gegen Nationalismus und Rassismus: Für ein demokratisches, friedliches und solidarisches Europa! Am Sonntag, 19. Mai 2019 gehen europa weit zehntausende Menschen gleichzeitig auf die Straße! Für die Zukunft Europas, gegen Nationalismus! Sei dabei! In Stuttgart beginnt die Auftakt kundgebung um 13 Uhr auf dem Arnulf KlettPlatz vor dem Hauptbahnhof. b&w Die Europawahl am 26. Mai 2019 entschei Großdemonstrationen in sieben Städten det über die Zukunft der Europäischen Deutschlands. Stuttgart ist dabei. Union. Nationalisten und Rechtsextre Wir halten dagegen, wenn Menschenver Weitere Informationen: me wollen das Ende der EU einläuten achtung und Rassismus gesellschaftsfähig www.ein-europa-fuer- und Nationalismus wieder groß schrei gemacht, Hass und Ressentiments gegen alle.de ben. Ein Bündnis aus mehr als 60 Orga Flüchtlinge und Minderheiten geschürt nisationen und Initiativen organisiert werden. Wir lassen nicht zu, wenn Rechts TAG DER ARBEIT Mai-Kundgebungen An den diesjährigen MaiKundgebun gen des DGB haben sich landesweit 28.600 Menschen beteiligt. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften hatten in BadenWürttemberg 53 Veranstaltungen Foto: Helmut Roos zum Tag der Arbeit ausgerichtet. Bundes weit sind 381.500 Teilnehmende für gute Arbeit und ein soziales Europa auf die Straße gegangen. Der 1. Mai stand unter Michael Futterer sprach in Mannheim. dem Motto „Europa. Jetzt aber richtig!“ Festredner auf der Abschlusskundgebung Foto: Thomas Steinebrunner, DGB Freiburg in Mannheim war der stellvertretende Die GEWVorsitzende Doro Moritz war GEWVorsitzende Michael Futterer. Er Hauptrednerin auf der Kundgebung in warnte vor wachsender Ungleichheit. Freiburg. Sie erinnerte daran, dass der „Obwohl die Wirtschaft boomt und die Bund der Gewerkschaften 70 Jahre alt Staatsfinanzen solide sind wie lange nicht wird. „Die Gewerkschaften haben einen mehr, klafft die Schere zwischen Arm und maßgeblichen Beitrag dazu geleistet, Reich weiter auseinander. Viele Menschen unser Land sozialer, menschlicher und machen sich Sorgen um ihre Zukunft, damit lebenswerter zu machen. Wir haben ihre Alterssicherung und die Chancen unsere Gesellschaft demokratischer und Doro Moritz redete in Freiburg. ihrer Kinder. Und auch die Digitalisierung gerechter gestaltet und Deutschland wie schafft neue Unsicherheiten. Wir brauchen der zu einem geachteten Teil der Völkerge eine Politik für mehr soziale Gerechtigkeit meinschaft gemacht, der sich dem verein der Menschenrechte“, sagte Moritz. Rund – eine Politik für Arbeitnehmerinnen und ten Europa und dem Frieden in der Welt 2.000 Menschen applaudierten. Arbeitnehmer“, sagte der Gewerkschafter. ebenso verpflichtet fühlt wie der Achtung b&w 6 bildung & wissenschaft 05 / 2019
Aktuell GESUNDHEIT SFÖRDERUNG, ARBEIT SMEDIZIN, SICHERHEIT STECHNIK Betreuung der Lehrkräfte durch den Betriebsärztlichen Dienst B.A.D. Seit Anfang 2019 ist das überarbeitete Beratungstermin zur Vorsorge bei Bild tung oder krankmachende Arbeitsbe Webportal „Sicher gesund“ des B.A.D. schirmarbeit und zu einer Bildschirm dingungen nicht. Vielmehr muss der online. Lehrkräfte sowie Schulleiter/ arbeitsplatzbrille vereinbart werden. Arbeits und Gesundheitsschutz weiter innen finden dort Informationen und • FAQs zur Bildschirmarbeitsplatzbrille entwickelt und ein betriebliches Gesund Formulare zur Kontaktaufnahme. Hier findet man mit dem Reiter „Vorsorge“. heitsmanagement eingeführt werden. einige Beispiele: • Über den Reiter „ASASitzungen“ kön Georgia Kolb • Schwangere Lehrerinnen können sich nen Schulleiter/innen mit dem B.A.D. über Fragen des Mutterschutzes infor einen Termin für ihre ASASitzung mieren und bei Bedarf einen Mutter vereinbaren. schutzvorsorgetermin bei der oder dem • Unter dem Stichwort Gesundheitsför zuständigen Betriebsärzt/in vereinbaren. derung gibt es allgemeine Informatio • Unter der Rubrik „Arbeitsmedizin“ ste nen zum Umgang mit Belastungen und Das Webportal ist hen Informationen und ein Kontakt Schulungsangebote. unter folgendem Link zu erreichen: formular für individuelle betriebsärzt Die B.A.D.Homepage löst allerdings www.sicher-gesund liche Beratung zur Verfügung. Über die vielfältigen Probleme wie Lärm und -schule-bw.de/ diesen Weg kann z. B. ein individueller Frustration über die hohe Arbeitsbelas Glosse Sprechende Gegenstände Mein Vater war gesegnet mit einem fei- philosophiert, ob das eventuell eine alter- weiter sind. Denn Schönheit liegt im Auge nen Humor. Das war sein Glück, denn ich native Form der Ordnung sein könnte. des Betrachters, das weiß man ja. Ein wüsste nicht, wie er sonst unbeschadet Diesen Vorschlag brachte ich als Jugend- Klassenzimmer mit verstreuten Papier- meine Kindheit und Jugend überstanden licher einmal bei meiner Mutter an. Sie schnipseln auf dem Boden, verschobenen hätte. Ordnung war ein stetes Konflikt- lachte laut und sagte: „Kerle, des isch koi Tischen, verschmierter Tafel, Brotkrümeln feld zwischen mir und meiner Mutter. Alternative, des isch a elendige Saurei!“ auf den Tischen und umgeworfenen Stüh- Und als die Dinge wieder einmal eska- Jetzt bin ich Lehrer. Und ich gestehe: Mein len sagt zu den Kindern wahrscheinlich: lierten, da erklärte mein Vater mir Fol- Vater hatte Recht. Die Gegenstände spre- „Seht! Ich bin ein Kunstwerk, als hätte gendes: „Wenn ein Gegenstand auf dem chen. Man muss nur genau hinhören. In Joseph Beuys mich erschaffen, ich sym- Boden liegt, und wenn klar ist, er gehört allen Lehrkräftezimmern, die ich in meinen bolisiere den lebendigen Prozess des Wer- dort nicht hin, dann spricht er zu dir.“ Ich bisherigen Schulen kennengelernt habe, dens und Vergehens!“ Eine Performance verdrehte die Augen. „Normalerweise gibt es diese herrenlosen Papier- und ist so ein verwüstetes Klassenzimmer auf sagt der Gegenstand: Bitte räume mich Bücherstapel, die merkwürdigerweise von jeden Fall. an meinen Platz, dort gehöre ich hin!“ Ort zu Ort zu wandern scheinen. Wenn Als Pädagoge ist meine Aufgabe dann, Ich verdrehte nochmal die Augen. „Aber man genau hinhört, rufen sie mit dün- die Kunst aufzuräumen, so wie es Ursus du hörst den Gegenständen nicht richtig nem Stimmchen: „Ich bin eine nomadi- Wehrli in seinen schönen Büchern macht. zu, lieber Jens, du hörst nämlich: Hallo, sche Lehrkräftezimmer-Papierdüne, schieb Jens Buchholz ich bin ein Gegenstand, ich liege jetzt mich an deinen Nachbarplatz, denn wan- hier, also gewöhn dich schon mal dran, dern ist meine Bestimmung!“ Foto: www.kunstaufraeumen.ch/de/presse denn das ist jetzt mein Platz!“ Meine In den Klassenzimmern dagegen ist es Schwester lachte laut. Ich verdrehte wie- anders. Aufgeräumte Klassenzimmer sind der die Augen. Klar lachte sie laut. Meine auf jeden Fall ein herrlicher Anblick. Sie Schwester war derart ordentlich, dass strahlen die Lehrkraft an und sagen mit man es nicht aushalten konnte. fester Stimme: „Genieße meine Schönheit, Komischerweise hat sich das mit den denn meine Ordnung ist die Ordnung im rufenden Gegenständen, an die ich mich Kopf deiner Schüler/innen.“ gewöhnen soll, tief in meinem Gehirn Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, festgesetzt. Lange habe ich darüber dass die Schüler/innen oft einen Schritt bildung & wissenschaft 05 / 2019 7
Aus der Arbeit der GEW GE W-UMFR AGE ZUR ARBEIT SZUFRIEDENHEIT AN SCHULEN Schöner Beruf schwer gemacht, Teil II „Geht’s Ihnen gut an der Schule?“ fragte die GEW im Februar ihre Mitglieder. 5.700 Lehrkräfte haben die Online-Fragen beantwortet. Die allgemeinen Ergebnisse hat die b&w in der Aprilausgabe (S. 10) vorgestellt. Wie Lehrkräfte ihre Schulleitungen sehen und was ihnen an den einzelnen Schularten zu schaffen macht, zeigen wir in diesem Teil. Im ersten Bericht zu dieser Befragung Realschulen. Bei beruflichen Schulen allem ist meine Arbeit zufriedenstellend) wurde deutlich, dass die Arbeit als Lehr und Gymnasien ist die Zustimmung am Mit den Beschreibungen „frustrierend“ kraft häufig positiv bewertet wurde. höchsten. und „niemandem zu wünschen“ konn 72 Prozent aller Befragten stimmten der Schon deutlich geringer ist die Zustim ten zwei negative Aussagen ausgewählt Aussage „völlig“ oder „ziemlich“ zu, dass mung bei der Frage, ob die Arbeit alles in werden. Zwischen 14 Prozent (Gymnasi ihre Arbeit sinnstiftend sei. Über alle allem „zufriedenstellend“ sei. Ein Viertel en) und 38 Prozent (Gemeinschaftsschu Schularten hinweg überwiegen die posi der Lehrkräfte an Gemeinschaftsschulen len) liegt die Bandbreite derjenigen, die tiven Aussagen. (Siehe Abbildung 1). Es lehnen diese Aussage ab. Bei Befragten dieser Beschreibung völlig oder ziem gibt aber auch augenfällige Unterschiede. aus Haupt/Werkrealschulen und Real lich zustimmen, zwischen 22 Prozent An den Gemeinschaftsschulen ist der schulen ist der Anteil derjenigen, die (Haupt/Werkrealschulen) und 42 Pro Anteil der positiv gestimmten Lehrkräf ihre Arbeit zufriedenstellend finden, zent liegen die Werte, die die Beschrei te am geringsten (57 Prozent), dicht nur etwas mehr als halb so groß wie an bung ablehnen. Die sehr harte Aussage, gefolgt von Haupt/Werkrealschulen und Gymnasien. (Siehe Abbildung 2: Alles in dass die Arbeit niemandem zu wünschen Foto: Marco Stritzinger Matthias Schneider (GEW-Pressesprecher) und Doro Moritz stellten Ende April die Ergebnisse der GEW-Umfrage der Landespresse vor. 8 bildung & wissenschaft 05 / 2019
Aus der Arbeit der GEW Meine Arbeit ist alles in allem sinnstiftend alle Befragten 71 23 6 Berufliche Schule 77 19 5 Gemeinschaftsschule 57 33 10 Gymnasium 80 18 2 Realschule 62 28 10 Haupt-/Werkrealschule 61 29 10 SBBZ 76 20 5 Grundschule sei, wird noch deutlicher abgelehnt. Wie 77 19 4 der sind es die Kolleg/innen an berufli 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% chen Schulen und den Gymnasien, die Zustimmung teil�eise Zus�mmung Ablehnung diese negative Wertung nicht teilen (84 und 80 Prozent). Alles in allem ist unver Abbildung 1: Alles in allem ist meine Arbeit sinnstiftend. kennbar, dass Gemeinschafts, Haupt/ Werkreal und Realschulen ihre Arbeit schlechter bewerten als SBBZ, berufliche Meine Arbeit ist alles in allem zufriedenstellend Schulen und Gymnasien. Berufliche Schule 58 32 10 Vertrauenswürdige Schulleitungen Personalrät/innen haben häufig damit Gemeinschaftsschule 33 42 25 zu tun, Konflikte mit Kolleg/innen und Schulleitungen zu schlichten. Vor diesem Gymnasium 64 30 6 Hintergrund hat uns das positive Bild, das die meisten Lehrkräfte über alle Schularten Realschule 39 39 22 hinweg über ihre Schulleitungen ankreuz ten, überrascht. Die Zuschreibungen ver Haupt-/Werkrealschule 34 45 22 trauenswürdig, gerecht, rücksichtsvoll, fair und kompetent wurden im Schnitt aller SBBZ 50 38 12 Befragten von deutlich über der Hälfte positiv gewertet. Im Vergleich der Schul arten herrscht bei den Grundschulen das Grundschule 47 40 14 positivste Bild. Dort sagen 70 Prozent, 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% meine Schulleitung ist vertrauenswürdig, Zustimmung teilweise Zustimmung Ablehnung an den beruflichen Schulen ist der Wert mit 57 Prozent am niedrigsten. Abbildung 2: Alles in allem ist meine Arbeit zufriedenstellend. Noch besser schneidet in der Bewertung das Kollegium ab. Hier werden in allen Schularten Bestwerte erzielt. Unterrichtsfaktoren und Arbeitszufriedenheit Das größte Problem für den Unterricht aller Schularten ist die Leistungsband breite der Schüler/innen, dicht gefolgt von Disziplinschwierigkeiten. Die Kolleg/innen an Realschulen weisen hier die mit Abstand höchsten Problem werte auf. Für Gymnasien, SBBZ und für Grundschulen sind die Werte – relativ zu den anderen Schularten – unter dem bildung & wissenschaft 05 / 2019 9
Aus der Arbeit der GEW nterrichtsfakt r - eistungsbandbreite alle Befragten 1 10 30 34 24 Berufliche Schule 1 9 29 38 23 Gemeinschaftsschule 2 11 26 34 27 Gymnasium 1 9 40 35 15 Realschule 1 5 21 38 35 Haupt-/Werkrealschule 1 8 29 35 26 SBBZ 3 19 31 25 21 Grundschule 1 10 33 34 22 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% nie selten ab und zu h ufig meistens / immer wei nicht / trifft nicht zu Abbildung 3: Unterrichtsfaktor Leistungsbandbreite Durchschnitt (siehe Abbildung 3). Deut dass dies für sie nie oder selten zutrifft. Grundschulen 33, berufliche Schulen 43, lich ist, nahezu alle Beschäftigten brauchen Die Gruppe der immer oder häufig Gemeinschaftsschulen 47. mehr Unterstützung, weil die Schülerzu fachfremd Unterrichtenden ist an den Was überall ein Problem ist, wenn auch sammensetzung so heterogen ist. Aller Gemeinschaftsschulen mit 27 Prozent aus unterschiedlichen Gründen, ist der dings ist die Heterogenität an den jeweili am größten. Zeitmangel. Abbildung 4 macht sehr gen Schularten ganz unterschiedlich. Dies Fazit zum Thema „Unterricht“: Einen klar, dass „Zeit für mehr Zeit“ das Gebot zeigen die Antworten auf die Frage nach guten Unterricht, der Schüler/innen för der Stunde ist – für alle Schularten. Dies dem Unterrichtsfaktor „Sprachprobleme“. dert und auch zu guten Leistungen führt, wird verstärkt durch die Befragten, bei An den Haupt und Werkrealschu kann nur erreicht werden, wenn die denen die Arbeitszeit nie oder selten len ist das Problem der unzureichen jeweilige Problemlagen genau betrachtet ausreicht, um ihre Arbeitsaufgaben gut den Sprachkenntnisse enorm, an den und die Lösungen und Unterstützung bewältigen zu können. An Grund und Gymnasien spielt es eine sehr geringe darauf abgestimmt werden. Die Schulart Gemeinschaftsschulen ist der Anteil Rolle. Kolleg/innen, die nur an Haupt muss dabei als ein gewichtiges Kriterium der Kolleg/innen, denen ihre Arbeits und Werkrealschulen arbeiten, sagen herangezogen und bei der Ressourcen zeit ausreicht, am geringsten (siehe zu 30 Prozent (!), dass die Sprachpro zuweisung berücksichtigt werden. Abbildung 5). Ursache dafür ist unter bleme immer oder meistens ein Prob Dass Faktoren, die den Unterricht anderem die Zunahme der außerunter lem darstellen. An Grundschulen sagen erschweren, auch negativ auf die Arbeits richtlichen Tätigkeiten, die in den letz das 13 Prozent der Lehrkräfte, an SBBZ zufriedenheit wirken, ist naheliegend. ten Jahren deutlich zugenommen hat. 12 und berufliche Schulen 11 Prozent. So beeinträchtigen fehlende Lernvor 70 Prozent der Befragten aus Realschu Wenig überraschend ist der Wert in aussetzungen und ein schwieriges Ver len und 73 Prozent aus Gemeinschafts Gymnasien mit 3 Prozent am niedrigsten. halten der Schüler/innen die Arbeitszu schulen und 68 Prozent aus den Grund Mit der Qualitätsdebatte der letzten friedenheit. Das gilt über alle Schularten schulen sehen das so. Monate hat die GEW das Thema „fach hinweg. Den höchsten Wert erreichen Was tun, um Entlastung für die Beschäf fremder Unterricht“ problematisiert. Haupt/Werkrealschulen und Realschu tigten und damit gute Arbeit zu ermög Und auch hier zeigen die Ergebnisse, len. Dort geben 51 Prozent bzw. 59 Pro lichen? Bei Befragten aller Schularten dass das Qualitätskriterium unterschied zent der Lehrkräfte an, dass fehlende waren die kleineren Klassen die am lich relevant ist. An Gymnasien und Lernvoraussetzungen ihre Arbeitszu häufigsten gewählte Maßnahme. 80 Pro beruflichen Schulen ist das fachfremde friedenheit stark/sehr stark beeinträch zent der Realschullehrkräfte sahen dies Unterrichten nur für wenige ein Prob tigen. Den niedrigste Wert (21 Prozent) als entscheidend. Auch die Anrechnung lem. An Realschulen sagen 65 Prozent, weisen SBBZ aus, Gymnasien 24 Prozent, von außerunterrichtlichen Tätigkeiten 10 bildung & wissenschaft 05 / 2019
Aus der Arbeit der GEW Beeintr chtigung der Arbeits ufriedenheit Zeitmangel alle Befragten 45 36 14 4 Berufliche Schule 38 36 19 6 Gemeinschaftsschule 51 33 13 3 Gymnasium 46 37 13 4 Realschule 52 32 12 3 Haupt-/Werkrealschule 47 35 14 4 SBBZ 38 36 18 7 Grundschule 46 37 14 3 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% sehr stark stark mittelm ig gering gar nicht Abbildung 4: Zeitmangel und Arbeitszufriedenheit erzielt hohe Zustimmungswerte, eben so der Wunsch nach weniger oder/und ertragliche Arbeitszeit effektiveren Sitzungen. Für Gemein schaftsschulen wäre eine Verstärkung alle Befragten 2 12 24 41 22 der sonderpädagogischen Unterstützung Berufliche Schule wichtig, 4 13 25 40 17 Diese Faktoren und auch die in den offe Gemeinschaftsschule 1 9 20 43 27 nen Fragen häufig genannte Reduzie rung des Deputats zeigt: Die Investiti Gymnasium 2 11 26 38 23 onen in Zeit für Schule und Unterricht sind der Schlüssel für Verbesserungen Realschule 2 10 23 42 23 im Bildungssystem. Bessere Qualität und bessere Arbeitsbedingungen gehen Haupt-/Werkrealschule 2 12 27 40 19 Hand in Hand und hier gilt es, anzuset zen. Eine Handreichung ist dazu nicht SBBZ 4 18 24 38 17 erforderlich. Ute Kratzmeier Grundschule 2 10 24 42 23 GEW-Referentin für allgemeine Bildung 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% reicht aus reicht meistens aus reicht teilweise aus reicht selten aus reicht nie aus Abbildung 5: Die vertragliche Arbeitszeit reicht aus. Weitere Informationen: www.gew-bw.de/ umfrage-arbeitszeit bildung & wissenschaft 05 / 2019 11
Titelthema bildung & wissenschaft 05 / 2019
Titelthema DEMOKR ATIEBILDUNG Mehr als Gemeinschaftskunde Demokratie lernen und erfahren ist eine Querschnittsaufgabe für alle Lehrkräfte. Sie ist zu wichtig, als dass sie nur in der Verantwortung der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer liegen kann. Die Vorgaben der KMK, der Beutelsbacher Konsens und die neuen Bildungspläne bilden den Rahmen. Nicht nur historische Erfahrungen in Deutschland zeigen, so dazu wie das Berufen auf den Willen einer Mehrheit in der dass Demokratie und demokratisches Bewusstsein der Bür- Bevölkerung. gerinnen und Bürger keine Selbstverständlichkeit sind. So ist Mit zunehmender Digitalisierung bieten sich zudem nicht eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung 2019 zu dem Ergebnis nur umfangreiche gesellschaftliche und politische Möglich- gekommen, dass 26 Prozent der Nachwendekinder im Osten, keiten der Partizipationen an, es lauert auch die Gefahr, dass aber auch 23 Prozent im Westen der Meinung sind, dass es sich Kontroversen z. B. durch Fake News, Hate Speeches oder „einen starken Führer“ geben sollte, „der sich nicht um Parla- Social Bots verschärfen, zumal die sozialen Medien die Mög- mente und Wahlen kümmern muss“. Außerdem ist die Politik- lichkeit bieten, Vorurteile und Hassbotschaften – vermeintlich verdrossenheit in beiden Gruppen beängstigend hoch. Mehr – anonym vorzutragen. Die Auseinandersetzung in der digita- als 60 Prozent aller Befragten glauben, dass sie „keinen Ein- len Welt muss deshalb möglichst rasch mit einer Förderung der fluss darauf haben, was die Regierung macht“. Was bedeutet kritischen Medienkompetenz bei allen Beteiligten einhergehen. „Demokratiebildung“ im Schulalltag? Der Beutelsbacher Konsens Herausforderungen der Demokratieerziehung Die KMK und die meisten Bildungspläne der Bundeslän- Im Demokratieverständnis des Grundgesetzes wird deutlich, der beziehen sich explizit auf den Beutelsbacher Konsens. dass es keineswegs ausreicht, sich lediglich auf Mehrheitsent- Er wurde 1977 auf einer Tagung der Landeszentrale für scheidungen eines Volkes zu berufen. Zur Demokratie gehö- politische Bildung Baden-Württemberg (LbB) formuliert ren mindestens genauso die Achtung der Menschenrechte, der und ist inzwischen weit über die politische Bildung hinaus Minderheitenschutz, die Gewaltenteilung sowie Verfahren des akzeptiert. In den 1970er-Jahren standen auf der einen Seite unabhängigen Rechtsstaates, um nur einige wesentliche Aspek- emanzipatorische Ansätze, die die Aufgabe der Schule vor- te anzusprechen. Gerade in Zeiten vermehrter globaler Migra- nehmlich darin sahen, gesellschaftlich benachteiligte soziale tion und ökonomischer Globalisierung stehen die Schulen vor Gruppen durch die schulische Bildung zu emanzipieren. Auf einer besonderen Herausforderung: das Miteinander unter- der anderen Seite standen die Traditionalisten, die die Aufga- schiedlicher Ethnien und Kulturen zu ermöglichen, ohne die be schulischer Bildung insbesondere in der Sozialisation zu zentralen Grundsätze der liberalen Demokratie zu verleugnen patriotischen Staatsbürgerinnen und -bürgern sahen. Solche bzw. aus falsch verstandener Liberalität nicht nachhaltig einzu- nationalistische, identitätsstiftende Ziele prägen nach wie vor Foto: PolaRocket / Photocase fordern. Die Kultusministerkonferenz spricht davon, „Empa- zahlreiche Bildungspläne innerhalb und außerhalb der Euro- thie, Respekt, Achtung und Toleranz“ (KMK, 2018) müssten päischen Union. Es bleibt das Verdienst des damaligen Leiters insbesondere an den Schulen gelehrt, gelernt und erfahren der LpB Baden-Württemberg, Dr. Siegfried Schiele, mit der werden. Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz, Achtung der Formulierung des Beutelsbacher Konsenses zwischen diesen Menschenrechte, Gewaltenteilung, Mehrparteiensystem sowie Lagern vermittelt und einen weithin akzeptierten Konsens die Achtung rechtsstaatlicher Verfahren gehören dabei eben- erreicht zu haben. bildung & wissenschaft 05 / 2019 13
dir n e JETZT. Bilde d e i eigene Me inu ng! Grundsätze des Beutelsbacher Konsenses diesen Forderungen auseinanderzusetzen. Dies betrifft auch 1. Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, den Schüler bzw. gut gemeinte Projekte z. B. zur Zukunftsfähigkeit des Plane- die Schülerin – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne ten Erde oder zur Antidiskriminierung. Die politische Aus- erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der einandersetzung zeigt auch hier, dass es beispielsweise beim „Gewinnung eines selbstständigen Urteils“ zu hindern. Hier Umweltschutzes, beim fairen Handel oder bei der Antidiskri- genau verläuft die Grenze zwischen politischer Bildung und minierung zumeist deutlich unterschiedliche Lösungsansätze, Indoktrination. Indoktrination ist unvereinbar mit der Rolle gibt und dass die Schülerinnen und Schüler sehr sensibel sind, des Lehrers bzw. der Lehrerin in einer demokratischen Gesell- wenn sie den Eindruck bekommen, überwältigt zu werden. schaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von Auch hier sollten das Kontroversitätsgebot und die Priorität der Mündigkeit des Schülers und der Schülerin. der selbstständigen Suche der Schüler/innen nach Lösungen, die ihren eigenen Interessen entsprechen, gelten. 2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch Im Lehrerbegleitheft zu den baden-württembergischen Bil- im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit dungsplänen 2016 fordert Hans Anand Pant den Beutelsba- der vorgenannten aufs Engste verknüpft. Wenn unterschiedli- cher Konsens offiziell und explizit für alle Fächer sowie den che Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschla- Schulalltag. gen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Häufig wird im Schulalltag allerdings der dritte Teil des Beutels- Indoktrination beschritten. (...) bacher Konsenses unterschätzt, enthält er doch direkte Konse- quenzen für die Methodik des Unterrichts. Schülerinnen und 3. Die Schülerin bzw. der Schüler muss in die Lage versetzt Schüler sollen durch den Unterricht nämlich in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessen- werden, ihre eigenen Interessen zu analysieren und in ihrem lage zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, Interesse zu beeinflussen. Dies bedeutet zunächst, dass sich die die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen Unterrichtenden an didaktischen Methoden und Modellen, z. B. zu beeinflussen. Multiperspektivität, orientieren sollen, die es den Schüler/innen ermöglichen, ein eigenes Urteil mit Urteilskriterien zu entwi- Zumindest im Gemeinschaftskunde- und Geschichtsunter- ckeln. Dabei ist das Urteilen keineswegs schularten- oder alters- richt dürften inzwischen das Überwältigungsverbot (Punkt abhängig. Auch in der Primarstufe urteilen Schülerinnen und 1) und das Kontroversitätsgebot (Punkt 2) weitgehend akzep- Schüler. Dies aufzugreifen und pädagogisch zu begleiten, ist im tiert sein. Andere Fachbereiche beginnen gerade erst, sich mit Schulalltag keineswegs immer ganz einfach. 14 bildung & wissenschaft 05 / 2019
Titelthema links: Schülerinnen und Schüler sollen durch den Unterricht ihre eigenen Interessen analysieren und in ihrem Interesse beeinflussen können. Foto: Rawpixel / Photocase (links) Patty1971 / Photocase (rechts) Die Bildungsinhalte und Unterrichtsmethoden sind nicht leitungen tragen hierfür eine besondere Verantwortung. von jeder Schule willkürlich festlegbar. Sie sind in den Bil- Es gibt aber immer auch Einflüsse von außen: Aufgrund eines dungsplänen fixiert, die durch die Abgeordneten im Landtag mächtigen Wirtschaftslobbyismus wurde in den Bildungsplä- demokratisch legitimiert werden. Demokratie und Schule ist nen 2016 auf Kosten von Geographie und Gemeinschaftskun- deshalb stets ein schwieriges Mit- und Gegeneinander. Die de Raum für ein neues Fach WBS (Wirtschaft, Berufs- und Demokratiebildung bleibt jedoch ein zentrales Anliegen schu- Studienorientierung) geschaffen. Die bisherige Integration lischer Sozialisation. wirtschaftlicher Fragestellungen in die Sozialwissenschaften wurde bewusst aufgegeben. Demokratie als Herrschaftsform Auch diesem neuen Fach liegen die Prinzipien des Beutelsba- Demokratie als Herrschaftsform wird vor allem im Gemein- cher Konsenses zugrunde. Allerdings scheinen dessen Prinzi- schaftskundeunterricht thematisiert, der nach Artikel 21, pien in der ersten Phase der Ausbildung der Kolleginnen und Absatz 2, der Landesverfassung von Baden-Württemberg Kollegen an den baden-württembergischen Universitäten kei- „ordentliches Lehrfach an allen Schulen“ in Baden-Württem- neswegs immer selbstverständlich zu sein. berg ist. Damit hat das Fach in Baden-Württemberg Verfas- sungsrang. Dass es für das Fach Gemeinschaftskunde in den Demokratiebildung in der Schule Sekundarstufen I und II trotz dieser Verfassungsregelung sehr Wenn Schule mehr als ein Ort demokratischer Wissensver- wenig Wochenstunden gibt (z. B. ab Klasse 8 an den Gym- mittlung sein will, liegt in ihrem Erfahrungsraum eine hohe nasien meist nur eine Wochenstunde), wird nicht nur von Verantwortung. „Schule muss ein Ort sein, an dem demokra- Gemeinschaftskundelehrkräften als völlig unzureichend ange- tische und menschenrechtliche Werte und Normen gelebt, sehen. Zu einer Ausweitung waren allerdings weder frühere vorgelebt und gelernt werden“ (KMK, 2018).Dabei dürfe kei- noch die aktuelle grün-schwarze Landesregierung bereit. In neswegs jede Position akzeptiert werden oder müssten alle fast allen anderen Bundeslänwdern steht für politische Bil- Positionen in gleicher Weise gültig seien. Wenn Äußerungen dung weit mehr Lernzeit zur Verfügung. fallen, die mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Demokratische Herrschaft beruht auf politisch-rechtlicher und den Menschenrechten nicht vereinbar sind, „dürfen Leh- Gleichheit und politischen Beteiligungsrechten der erwach- rerinnen und Lehrer diese keineswegs unkommentiert oder senen Bevölkerung (Volkssouveränität). In den meisten unreflektiert lassen“ (KMK, 2018). Lehrkräfte müssen aller- westlichen Demokratien wählen die Stimmberechtigten ihre dings sicherstellen, dass Themen multiperspektivisch beleuch- parlamentarischen Vertretungen. Allerdings gibt es auch tet werden. Dies beinhaltet naturgemäß auch Perspektiven Möglichkeiten direktdemokratischer Partizipation in den und Erfahrungen von Menschen, die von Abwertungsideolo- deutschen Bundesländern und Kommunen. Über diese For- gien und Diskriminierungen besonders betroffen sind. men wird im Gemeinschaftskunde-, zum Teil aber auch im Das bedeutet jedoch nicht, dass Lehrerinnen und Lehrer keine Geschichtsunterricht informiert. eigene Meinung im Unterricht äußern dürften. Zur Glaubwür- Demokratie bleibt aber nicht auf die Staatlichkeit beschränkt. digkeit und zur Vorbildfunktion von Lehrkräften gehört es Nur wenn demokratischer Prinzipien gesellschaftlich veran- selbstverständlich, eigene und reflektierte Positionen zu ent- kert und tradiert sind, funktionieren politische demokratische wickeln. Wichtig ist hierbei immer die Transparenz: Die eige- Systeme. Dies bedingt eine starke Zivilgesellschaft mit freien ne Meinung muss als solche deutlich kenntlich gemacht wer- Bürgerinitiativen, Verbänden und Vereinen, in der Pluralis- den und neben ein Spektrum kontroverser Meinungen gestellt mus und soziale Differenz Raum haben und Konflikte friedlich werden. (vgl. ebenda) geregelt werden. Auch wirtschaftlicher Wettbewerb, ausgetra- gen unter fairen Bedingungen, sollte in einer demokratischen Demokratieerfahrungen in der Schule Zivilgesellschaft möglich sein. In allen Fächern, vor allem im Schulen sind kein Ort, an dem frei z. B. über Unterrichtsinhalte, Meinungsbildungsprozess und durch Partizipation am inner- Prüfungsformen oder Personalentscheidungen entschieden wird. schulischen Kommunikationsprozess, können Schulen das Eine – von manchen gewünschte – Autonomie der einzelnen notwendige soziale und demokratische Lernen fördern. Schul- Schule besteht jedenfalls nicht, was nicht ausschließt, dass es bildung & wissenschaft 05 / 2019 15
Titelthema durchaus Spielräume für Partizipation vor Ort gibt. Bildungsplä- Diskriminierung, des Rassismus, gruppenbezogener Menschen- ne werden im Auftrag des Kultusministeriums entwickelt, Perso- feindlichkeit, des Antisemitismus, der Islamophobie, der Homo- nalentscheidungen werden von der Schulaufsicht bzw. der jeweils phobie u. a. gehören dabei jedenfalls zu den zentralen Aufgaben vorgesetzten Behörde getroffen, bei Beschwerden ist stets der der Demokratiebildung. Dienstweg einzuhalten. Dabei stehen das direktoriale Prinzip und Schulen kommt hier neben der Aufgabe, zentraler Ort der die Demokratiebildung allerdings in einem Spannungsverhältnis. Wissensvermittlung zu sein, immer auch die Aufgabe zu, Ort Andererseits müssen sich sowohl das Kultusministerium vor der demokratischen Erfahrung zu werden. Durch die Einbe- dem jeweiligen Landtag, Schulleitungen vor dem Ministe- ziehung handlungs- und erfahrungsorientierter Methoden, rium, aber auch vor der Schulkonferenz und eventuell sogar wie z. B. der Debatte, der Fall- und Konfliktanalyse sowie des öffentlich rechtfertigen. Seit der grün-roten Landesregierung Planspiels bzw. der Simulation, kann es gelingen, unterrichtli- (2011 – 2016) gibt es in der Schulkonferenz gar eine Drittelpa- che, aber auch außerunterrichtliche Lernsituationen zu orga- rität für Lehrer/-innen, Eltern und Schüler/innen. nisieren, die diese Kompetenzen beflügeln sollen. Der „Leitfa- Die KMK fordert die Länder ausdrücklich auf, im Rahmen den Demokratiebildung“ bietet dazu für alle Unterrichtsfächer der inneren Schulentwicklung Schulen verstärkt zu befähigen, anregende Impulse. Abzuwarten gilt, welche Konsequenzen „demokratische Gremien und Arbeitsformen“ zu entwickeln sich daraus für die einzelnen Unterrichtsfächer sowie die und umzusetzen, die „Schülerinnen und Schülern Entschei- inner- und außerschulische Kommunikation ergeben werden. dungsspielräume eröffnen und echte Beteiligung ermöglichen. Ohne nachhaltige Fortbildungen und externe Evaluationen Dazu gehören alle Formen der Schülervertretung, aber auch droht nämlich die Gefahr, dass dieser wesentliche Impuls zur möglichst „niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten insbeson- „Demokratiebildung“ im Schulalltag zu verpuffen droht. dere für junge bildungsbenachteiligte und politikfern aufwach- sende junge Menschen“ (KMK 2018). Im Kleinen beginnt dies in der Schul- und Unterrichtskultur mit Jürgen Kalb einer wertschätzenden und diversitätsbewussten Kommunikati- Der Studiendirektor ist Fachreferent bei der LpB, on bzw. Partizipation aller am Schulleben beteiligten Personen. Chefredakteur der Zeitschrift „Deutschland und Europa“ und Fachberater für Geschichte, Gemeinschaftskunde Dazu gehört auch die Pflicht zur Transparenz der Information und Wirtschaft am Regierungspräsidium Stuttgart und Meinungsbildung der Verantwortlichen. Dazu trägt der (Gymnasien). Führungsstil der Schulleitung sowie die demokratiefördernde Einstellung von Lehrkräften wesentlich bei. Das Erlernen und Erfahren von Demokratie ist eine zentrale Auf- gabe schulischen Lernens, keineswegs nur der gesellschaftswis- Literaturhinweise senschaftlichen Fächer, sondern eine Querschnittsaufgabe für alle • Dewey, John (2004): Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die Lehrkräfte, um Schülerinnen und Schüler letztlich an die Über- philosophische Pädagogik. Weinheim: Beltz-Verlag nahme von Verantwortung heranzuführen, sie also zur aktiven • Faus, Rainer / Storks, Simon(2019): Im vereinten Deutschland geboren Mitgestaltung am Schulleben zu motivieren. Dazu gehört auch die – in den Einstellungen gespalten? OSB-Studie zur ersten Nachwendegene- Entwicklung von Konfliktfähigkeit in einer pluralistischen Gesell- ration. Frankfurt /Main; schaft. Zudem bietet auch die im Bildungsplan zentral verankerte • Frech, Siegfried / Richter, Dagmar (Hrsg.) (2017): Der Beutelsbacher Unterscheidung zwischen inhalts- und prozessbezogenen Kom- Konsens. Bedeutung. Wirkung. Kontroversen. Frankfurt / M., Wochen- petenzen die Möglichkeit, im Sinne des Beutelsbacher Konsenses schauverlag die Unterrichtskultur in den einzelnen Fächern zu verbessern und • Himmelmann, Gerhard (2001): Demokratie lernen. Als Lebens-, Gesell- zur Methoden- und Handlungsvielfalt beizutragen. Die starke schafts- und Herrschaftsform. Frankfurt/M, Wochenschau-Verlag Betonung der selbstständigen Urteilsbildung ist jedenfalls ein zen- • Kalb, Jürgen (2018): Der Beutelsbacher Konsens und seine Bedeutung trales Anliegen des Beutelsbacher Konsenses. für die Bildungspläne 2016 in Baden-Württemberg, in: LpB Ba-Wü (2018): Dabei ist Schule kein wertneutraler Ort. Ein Bekenntnis zu den Der Beutelsbacher Konsens in den Fächern Gemeinschaftskunde und WBS Menschen- und Grundrechten des Grundgesetzes bleibt der (Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung) in den Klassen 9 und 10 der unverrückbare Ankerpunkt jeder demokratischen Erziehung. Bildungspläne 2016 in Baden-Württemberg. Band 2. Stuttgart, S. 3ff Das unterscheidet sie von extremistischen und populistischen • Klieme, E. / Hartig, J. (2007): Kompetenzkonzepte in den Sozialwissen- Weltanschauungen mit ihren einfachen und aggressiven Feind- schaften und im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. Zeitschrift für Er- bildern. Solch ein Unterricht muss auch kein denunziatorisches ziehungswissenschaft, 10 (Sonderheft 8), 11 – 29. Meldeportal einzelner rechtspopulistischer Abgeordneter fürch- • Kultusministerkonferenz (2018): Demokratie als Ziel, Gegenstand und ten. Die wichtigen Anliegen einer Demokratiepädagogik wie der Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule. (Beschluss reflektierte und vorurteilsfreie Umgang mit allen Formen der der Kultusministerkonferenz vom 06.03.2009 i. d. F. vom 11.10.2018) 16 bildung & wissenschaft 05 / 2019
Titelthema DEMOKR ATIEBILDUNG Demokratie muss im Alltag erlebbar bleiben Politische Bildung kommt in den Schulen zu kurz. Den neuen Leitfaden, den das Kultusministerium zur Stärkung der Demokratiebildung zum Schuljahr 2019/20 einführt, begrüßt die GEW grundsätzlich. Erhard Korn hat ihn begutachtet und stuft ihn für Schulen als alltagsuntauglich ein. Foto: FatCamera / iStock Das Grundgesetz und das Schulgesetz verpflichten Lehrkräfte dazu, Menschenwürde und die Gleichberechtigung aller Menschen einzuhalten und zu lehren. 20 Sekunden haben Schülerinnen und Schüler pro Woche Zeit, licher und fachdidaktischer Expertise“ solle dazu Orientierung um über ihre politischen Ideen und Sorgen zu sprechen. Die bieten. Es bleibt abzuwarten, ob der Fachtag am 1. Juli 2019 Konsequenz seien mangelhafte politische Kenntnisse, beklag- zur Demokratiebildung die Expertise der Universität Bielefeld ten Bielefelder Bildungsforscher vor einem Jahr. Die Stärkung widerlegen kann, dass auch Baden-Württemberg der politi- der Demokratiebildung, die Kultusministerin Susanne Eisen- schen Bildung „keine besondere Aufmerksamkeit“ schenkt. mann bei der Schulleitungstagung der GEW angekündigt hat, Nur 2,3 Prozent der Stunden sehe die baden-württembergi- kann also nur begrüßt werden. Ein „Leitfaden mit hoher fach- sche Stundentafel der Sekundarstufe für politische Bildung vor bildung & wissenschaft 05 / 2019 17
Titelthema – fast doppelt so viele sind es in Schleswig-Holstein. Auch für Anknüpfend an eine Synopse, die Bezüge zu den Fachplänen „außerunterrichtliche Lernerfahrungen im Bereich der politi- herstellt (Leitfaden ab S. 31), sollten konkrete Beispiele präsen- schen Bildung“ stünde, im Gegensatz zur ökonomischen Bildung, tiert werden, die auch Lehrplaninhalte so abdecken, dass dies in „kaum Zeit zur Verfügung“. der vorhandenen Lernzeit geleistet werden kann. Dabei muss Demokratiebildung als wichtiger Aspekt von Schul- qualität diskutiert werden. Sie darf in den Diskussionen über Bedrohungen der Demokratie schulische Leistungen nicht verloren gehen: Das Grundgesetz Fachwissenschaftlich ist der Rückgriff des Leitfadens auf den und das Schulgesetz verpflichten Lehrkräfte dazu, Menschenwür- Extremismus- und Populismusbegriff und deren Vermengung de und die Gleichberechtigung aller Menschen einzuhalten und nicht akzeptabel. Diese Begriffe werden hier zur Kennzeichnung zu lehren und die Verletzung dieser Rechte zu thematisieren. Wir für die Gefährdungen der Demokratie verwendet und suggerie- müssen den Wert unserer Demokratie und die, die sie gefährden ren, dass diese zentral von den Rändern (Extremismus) oder wollen, in der Schule thematisieren – im Klassenzimmer und im der Form der Auseinandersetzungen (Populismus) ausgehen. Lehrerzimmer. Dies fordern auch Wissenschaftler/innen: Politi- Damit wird überspielt, dass wir es derzeit mit einer ernsthaften sche Bildung sollte in der Sekundarstufe I durchgehend unterrich- „Krise der Politik“, „Krise der Demokratie“ oder gar „Krise der tet werden und mindestens vier Prozent der gesamten Lernzeit Volkssouveränität“ zu tun haben, die dem autoritären Nationa- umfassen. (Gökbudak u. a. S.18) lismus erst seine Wirkungsmöglichkeit öffnet. Der Leitfaden ist auch eine Reaktion auf aktuelle Krisenphänome- Wissenschaftlich solide fundiert sind dagegen empirische Fest- ne der Demokratie. Eine neue Mitte-Studie aus Leipzig (Decker stellungen, dass der Aufstieg des „autoritären Nationalradikalis- 2018) belegt dramatische Neigungen zu Autoritarismus, Nati- mus“ aus Entwicklungen im ökonomischen System wie „auto- onalismus und Fremdenfeindlichkeit. Die KMK hat daher im ritärem Kapitalismus, sozialen Desintegrationsprozessen und Oktober 2018 versprochen, „Lehrkräfte in ihrem Bemühen zur politischer Demokratieentleerung“ (Heitmeyer) zu erklären ist. Demokratiebildung, der Erziehung zu Menschenrechten und im Der aktuelle Aufstieg des Nationalradikalismus kommt nicht Eintreten für Toleranz, Respekt und Mitmenschlichkeit im Sinne vom Rand, sondern aus der Mitte der Gesellschaft, die sich in des Grundgesetzes zu unterstützen.“ autoritäre und demokratische Milieus spaltet. (Decker u. a.) Schon in der Stellungnahme zum Bildungsplan 2016 hatte die Wer Demokratie stärken will, darf sich nicht darauf beschrän- GEW vorgeschlagen, Demokratiebildung als Leitperspektive auf- ken, formale Merkmale von Demokratie aufzuzählen, deren zunehmen. Das soll jetzt der „Leitfaden Demokratiebildung“ Institutionen zunehmend geschwächt und ausgehöhlt werden. nachholen. Mit 51 Seiten ist der Das hat jüngst der frühe- Leitfaden allerdings so lang wie re Verfassungsrichter Dieter der für die Klassen 7– 10 gel- Grimm konstatiert: „Demo- Foto: Patty1971 / Photocase tende Bildungsplan Gemein- kratien sterben heutzutage schaftskunde. Statt an diesem nicht laut, sondern erodieren anzuknüpfen und ihn zu erwei- langsam.“ (FAZ 10.12.2018) tern, formuliert der Leitfaden Dies betreffe auch den Prozess ein eigenes System und folgt der europäischen Einigung, anderen Kompetenzmodellen. bei dem die Verlagerung von Der Leitfaden bildet die fachdi- Kompetenzen nicht von einer daktische Diskussion der politischen Bildung ab. Er kann so in der Demokratisierung der europäischen Entscheidungsstrukturen Lehrkräfteaus- und Fortbildung hilfreich sein. Der Leitfaden ist für begleitet werde. Antidemokratischer Nationalismus kann so Lehrkräfte bestimmt, die nicht Gemeinschaftskunde unterrichten unter der Fahne der Verteidigung der Demokratie marschieren. und dürfte gerade diese Gruppe am meisten abschrecken: durch Der Erosionsprozess von Demokratie hängt, so Christoph seine Länge, die Begrifflichkeit und Komplexität und die struktu- Schönberger, eng mit einem „Kahlschlag der Zivilgesellschaft“ rellen Überlappungen zwischen Bausteinen, Bestimmungsfakto- zusammen. Das ist ein Auflösungsprozess gesellschaftlichen ren, Leitperspektiven, Themenfeldern, Kompetenzen, Handlungs- Zusammenhalts hin zu individualistischen und konkurrenzori- feldern etc. Durch die derzeitige Konzeption des Leitfadens ist es entierten Handlungsweisen, die den ökonomischen Eliten eine undenkbar, Eltern und Schüler/innen mit einzubeziehen. vorher undenkbare Akzeptanz ihres ungeheuren Status- und Hilfreicher und motivierender wäre ein einfacherer Aufbau des Machtzuwachses bescherten. (FAZ 28.02.2019) Leitfadens. Er könnte so auf wenigen Seiten altersgemäße Mög- lichkeiten von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II den drei Entsolidarisierung beginnt im Bildungsbereich grundlegenden Perspektiven von Demokratie als Lebensform (z. B. Heitmeyer beschreibt unter dem Stichwort „rohe Bürgerlichkeit“ Toleranz, Solidarität, Fairness), Demokratie als Gesellschaftsform ein Ellenbogendenken, das sich auch in der bildungspolitischen (Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit, Konfliktkultur, Mitbestimmung) Diskussion bemerkbar macht. Nicht nur in der AfD-Forderung, und Demokratie als Herrschaftsform (Wahlen, Parlamentarismus, dass angesichts des Lehrermangels ausgebildete Lehrkräfte direkte Demokratie, Gewaltenteilung etc.) zuordnen. zuerst deutsche Schüler/innen und Schüler zu unterrichten hät- 18 bildung & wissenschaft 05 / 2019
Titelthema ten, spiegelt sich diese Entsolidarisierung. Wenn, wie die KMK ohne Beteiligung der Betroffenen beruhen, wie Martin Linde- postuliert, Schule die einzige gesellschaftliche Institution ist, in boom von der Deutschen Vereinigung für politische Bildung der wir alle Kinder erreichen können und daher auch demokra- kritisiert. (b&w 4/2019, S. 31) Demokratie als Leitbild kann nur tischer Erfahrungsraum, so bedeutet das, dass auch die Diskus- wirken, wenn sie auf im Alltag erlebbarer Anerkennung fußt. sionen um Schulstruktur, Integration und Inklusion verknüpft Und das gilt sowohl für den Umgang von Lehrkräften mit Schü- sind mit der den Perspektiven einer „solidarischen Gesellschaft“. lerinnen und Schülern, als auch für den Umgang von Regierung, Parlament und Schulverwaltung mit Lehrkräften. Voraussetzung für ein Zurückdrehen der Rechtsentwicklung ist damit auch die Stärkung von gewerkschaftlicher Gegenmacht. Sie muss konsequenter als bisher ein politisches Mandat wahr- nehmen, das schon immer auf die soziale und demokratische Gestaltung der Arbeitswelt zielt. Ohne die vom DGB in seiner Stellungnahme zum Leitfaden geforderte stärkere Berücksichti- gung der „sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Dimen- sionen der Arbeitswelt“ bliebe Demokratiebildung daher an der Oberfläche hängen. Am Beginn unserer Demokratie, der Novemberrevolution von 1918, stand die Forderung nach einer „sozialen Republik“. Ihre Erosion hat Hitler mit dem Verbot von Gewerkschaften und Arbeiterparteien vollendet. Auch daraus sollten Lehrkräfte und Schüler/innen heute lernen. Foto: imago Ein gutes Miteinander kann man überall lernen. Erhard Korn Im Leitungsteam des GEW-Vorstandbereichs Grundsatzfragen. Es fällt zudem auf, dass Wahlpräferenzen für nationalistische Parteien Milieus spiegeln, die geradezu „getrennte Welten“ dar- stellen, die auch eng mit Schulabschlüssen zusammenhängen: Die AfD-Klientel verfügt meist über ein „mittleres Einkom- mens- und Bildungsniveau“. (Heitmeyer S.226) Die integrative Wirkung einer alle Gesellschaftsgruppen umfassenden Schule, Literaturhinweise die nach Klasse 4 endet, reicht offenbar nicht mehr aus, eine • Hans-Jürgen Bieling, Die Krise der Politik als Ausdruck gesellschaftlicher gemeinsame Basis für einen demokratischen Dialog zu legen. Kräfteverschiebungen, Das Argument 4/2018 Mit dem Aufstieg „finanzkapitalistischer Akteure“ war in den • Oliver Decker: u. a., Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Ein- letzten 20 Jahren die Schwächung jener Akteure verbunden, die stellungen in Deutschland (Leipziger Mitte-Studie) Gießen 2016 und die Fortset- in Gewerkschaften und Parteien für „soziale Sicherheit, Stabili- zungsstudie Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft, Gießen 2018 tät und gesellschaftliche Teilhabe“ stehen. (Bieling S. 496) Empi- • Wilhelm Heitmeyer: Autoritäre Versuchungen, Berlin 2018 rische Befunde wie die Studie von Dieter Sauer u. a. stützen diese • Claus Leggewie: Verfassungsschutz. Über das Ende eines deutschen Son- Analyse. Druck auf soziale Standards und Leistungsdruck auf derwegs, Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2012 der einen Seite, die „Erosion gewerkschaftlicher Gegenmacht“ • Dieter Sauer: u. a., Rechtspopulismus und Gewerkschaften, Hamburg 2018 und Entsolidarisierung auf der anderen Seite produzierten nach • Gökbudak M., Hedtke R.: Ranking Politische Bildung 2018. Social Science Sauer Ängste, Enttäuschung über Politik, auf die man keinen Education/Working Papers. Einfluss mehr habe und eine Suche nach Sicherheit, die vom autoritären Nationalismus aufgefangen und scheinbar bedient werden könne. Die „entdemokratisierte Arbeitswelt“ mit zuneh- mend autokratisch auftretendem Management wird so zum Nährboden der Rechtsentwicklung. (Sauer S.170) Auch Kul- tusministerin Eisenmann wäre glaubwürdiger, würde sie sich in ihrem Agieren an ihren eigenen Prämissen orientieren: wenn, wie sie zurecht betont, Demokratie auf das „lebhafte, streitige Der Leitfaden Demokratiebildung wird ab dem Schul- und überzeugte Engagement der Bürger zwingend angewiesen jahr 2019/2020 verbindlich an allen allgemein bilden- den Schulen eingeführt. ist“, sollte das eigene Agieren etwa bei der Einrichtung der neuen www.bildungsplaene-bw.de Bildungsinstitute und beim Umgang mit den Fort- und Ausbil- dern, „nicht auf völlig intransparenten Entscheidungsprozessen“ bildung & wissenschaft 05 / 2019 19
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