Multiprofessionalität: Stark im Team - nds-zeitschrift.de

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Multiprofessionalität: Stark im Team - nds-zeitschrift.de
8-2016

                                                                                          Der weite Weg zur inklusiven Schule
                                                                                          Stellenbedarf im Gemeinsamen Lernen
                                                                                          Beschulung Geflüchteter: Neue Erlasse
                                                                                          Neues BeamtInnenrecht in NRW
                                                                                          Lehrkräftemangel an Grundschulen
                                               DIE ZEITSCHRIFT DER BILDUNGSGEWERKSCHAFT   Karrierewege an der Fachhochschule
68. Jahrgang Juni / Juli 2016 ISSN 0720-9673

                                               Multiprofessionalität:
                                               Stark im Team.
K 5141
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                                                                                                         Neue D
                                                                                                              Deutsche
                                                                                                                eutsche Schule
                                                                                                         Verlagsgesellschaft mbH

Dr. Klaus Spenlen

Islam in Deutschland
EIN LEITFADEN FÜR SCHULE,
AUS- UND WEITERBILDUNG
Reflektionen über „Islam“, „Islamismus“ und „muslimisches Leben“
in Deutschland mit praktischen Hinweisen, wie Fragestellungen
rund um diese Themen beim täglichen Umgang mit Muslima und
Muslimen beantwortet, Konflikte gelöst und dabei Gleichstellung
und Prävention verbessert werden können.

                                                                   228 Seiten, Format A4, 26,80 Euro, April 2016
                                                                   ISBN: 978-3-87964-322-6

                                                                   Jetzt versandkostenfrei bestellen
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                                                                   www.nds-verlag.de
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nds 8-2016 3

Multiprofessionalität:
Lust oder Last?
   In Ganztagsschulen und inklusiven Schulen ist die alltägliche Kooperation von verschiedenen
ExpertInnen unumgänglich. Schließlich wurden hier Aufgaben verbunden, für die unterschiedlich
ausgebildete Fachleute zuständig sind. Deren spezielle Kompetenzen gilt es im neuen Setting
so zu verknüpfen, dass daraus Synergieeffekte entstehen. Um den Anforderungen der neuen
Konzepte gerecht zu werden, reicht aber eine additive Zusammenarbeit mehrerer Professionen
nicht aus. Vielmehr sollen gemeinsam neue, breiter fundierte und dadurch bessere Lösungen für
die anstehenden Herausforderungen entwickelt werden.
Komplexe Aufgaben, komplexe Kooperation                                                               Prof. Dr. Ursula Carle
   In Bildungseinrichtungen kooperieren heute LehrerInnen, pädagogische Fachkräfte und                Professorin für Elementar-
PsychologInnen innerhalb von Teamstrukturen, mit zahlreichen Schnittstellen. Neben schulfach-         und Grundschulpädagogik
bezogenen Teams kümmern sich andere Teams um Querschnittsangelegenheiten. Insbesondere                an der Universität Bremen
für die Lösung komplexer Aufgaben, für die verschiedene Fachsichten hilfreich sind, verspricht eine   im Fachbereich Erziehungs-
mehrperspektivische Herangehensweise mehr Erfolg. So ergibt es Sinn, dass zum Beispiel Sonder-        und Bildungswissenschaften
pädagogInnen sowohl in Fachteams als auch in Teams mit Querschnittsaufgaben mitarbeiten.
Schade, dass sie sich nicht klonen können. Denn neben der Kooperation in den Teams gibt es ja
auch noch die Hauptaufgabe: die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen.
   Einigkeit herrscht in der Fachliteratur über die hauptsächlichen Schwierigkeiten der Zusammen-
arbeit: Es gibt zu wenig Möglichkeiten für fachlich-inhaltlichen Austausch. In der Folge entstehen
Missverständnisse aufgrund unterschiedlicher Ziele, Erwartungen oder Fallinterpretationen. Die
Fachgrenzen scheinen jedoch in der Realität nicht das Haupthindernis für eine gute Kooperation
zu sein. Eine Klärung der gemeinsamen Ziele, der gegenseitigen Erwartungen, Offenheit und
Wertschätzung für die Sichtweisen der Anderen schaffen Reflexionsanlässe als Voraussetzung
für zu entwickelnde neue Lösungen. Probleme werden vor allem durch zu geringe oder fehlan-
gepasste Ressourcenzuweisung, mangelnde Beweglichkeit der Organisation – wie zu wenige
überschneidungsfreie Zeitfenster für die Teams – sowie geringe Kooperationsbereitschaft und zu
wenig persönliche Flexibilität erzeugt.
Eine Anstrengung, die sich lohnt
    Multiprofessionelle Zusammenarbeit ist auf personelle Ressourcen angewiesen, die zu den
Aufgaben passen. Das heißt, dass die in vormaligen Settings vorhandenen personellen Ressour-
cen in die neue Organisationsform einfließen müssen. Zusätzlich wird Kooperationszeit benötigt,
die mit der Vielzahl der Teambeteiligungen ansteigt. Auch bei ausreichender Zuweisung von
Personalressourcen kommen auf die Leitung der Bildungseinrichtung hohe organisatorische
Anforderungen zu, um die optimalen Lösungen zu erreichen. Rollen und Aufgaben sowie Modi
der Teamsitzungen müssen in den Teams selbst geklärt werden, aber zur Entlastung der Teams
sind auf Einrichtungsebene definierte Rahmen hilfreich.
    Die Erarbeitung gemeinsamer Werte sowie eine Ausgewogenheit von Autonomie und gemein-
samer Verantwortung tragen zur Entwicklung einer Kooperationskultur der Bildungseinrichtung
bei. Vor diesem Hintergrund ist eine steigende Kooperationsbereitschaft auch der SkeptikerInnen
zu erwarten. Wenn es gelingt, eine Kooperationskultur zu entwickeln, wachsen junge KollegInnen
in ein Umfeld ohne EinzelkämpferInnentum hinein. Persönliche Vorbehalte und mangelnde
Kooperationserfahrung lassen sich nicht in der Zurückgezogenheit überwinden. Sinnvoll sind
gemeinsame, die professionellen Grenzen überschreitende Weiterbildung sowie individuelle und
teambezogene Professionalisierungsmöglichkeiten, zum Beispiel Supervision. Und letztlich zahlt
sich die Arbeit im Team aus: Denn angesichts der hohen Ansprüche an die Bildungseinrichtungen
ist es eine große Erleichterung, wenn Verantwortung im Team geteilt wird. //
Multiprofessionalität: Stark im Team - nds-zeitschrift.de
4 INHALT

THEMA
Multiprofessionalität:
Stark im Team.
Multiprofessionalität und Team-
bildung: Stolpersteine gemein-
sam aus dem Weg räumen           16
Multiprofessionelle Teams in der
Kita: An den Kindern orientieren 18
Multiprofessionelle Teams an
Grundschulen: Ein Netzwerk
für die Kinder                   20   S. 16
Multiprofessionelle Teams in
Finnland: Unterricht im Sinne
des Wohlbefindens                22

                                       S. 8

                                       Bochumer Memorandum 2011 bis 2017:
BILDUNG                                Der weite Weg zur inklusiven Schule
                                       Lehrkräftebedarf, Abordnungen und Versetzungen
                                                                                         8

                                       im Gemeinsamen Lernen: Der Unmut wächst         10
                                       Geschichte und Gegenwart der syrisch-türkischen
                                       Konflikte: Crash der Kulturen und Religionen?   12
                                       Demonstrationen gegen TTIP und CETA: Für faire
                                       Globalisierung und eine gerechte Handelspolitik 14
                                       Neue Erlasse zur Beschulung Geflüchteter:
                                       Sparmaßnahmen gefährden die Integration         15
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        ARBEITSPLATZ
        Neues BeamtInnenrecht in NRW:
        Großer Wurf oder Reförmchen? 24
        Dienstrechtsreform: Besoldung
        von LehrerInnen – die GEW NRW
        erhöht den Druck               26
        Lehrkräftemangel an Grund-
        schulen: Jetzt müssen Notmaß-
        nahmen greifen                 27
        Lehrerratswahl: Demokratische
S. 24   Beteiligung macht Schulen
        besser28
        Schulen mit Teilstandorten:
        LehrerInnen on the road        29
        Im Gespräch mit Doreen
        Siebernik: Streikbewegte Zeiten
        in Berlin                      30
        Berufswege und Karriere in der
        Wissenschaft: Gewerkschaften
        im Diskurs mit Fachhochschulen 31

S. 27

        IMMER IM HEFT
          nachrichten6
          weiterbildung33
          jubilare32
          infothek34
          termine38
          impressum39
S. 12
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6 NACHRICHTEN

Multiprofessionelle Teams im gebundenen Ganztag
                                                                                                    Bei den zusätzlichen Personalressourcen, die für die pädagogische
  Ländervergleich: Personalressourcen im gebundenen
  Ganztag in Zeitstunden je Klasse und Woche
                                                                                                Arbeit im gebundenen Ganztag gewährt werden, belegt NRW im Länder-
                                                                                                vergleich den vorletzten Platz. Das belegt die Studie „Die landesseitige
             Zusätzliche        Zusätzliche                  Zusätzliches pädagogisches
             Lehrkräfte         weiter PädagogInnen          Personal insgesamt                 Ausstattung gebundener Ganztagsschulen mit personellen Ressourcen – ein
  BW                  9,0       0,0                                  9,0                        Bundesländervergleich“ von Prof. Dr. Klaus Klemm und Dr. Dirk Zorn im
  BY                  9,0        2,3                                    11,3                    Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Unter anderem untersucht die Studie
  BE          0,0                                  25,7                                  25,7   die Personalressourcen im gebundenen Ganztag und rückt dabei multi-
  HB           3,1              0,0                            3,1                              professionelle Teams in den Fokus: „Inwieweit Schulen mit ganztägiger
  HH                4,7                 10,3                                15,0
                                                                                                Lernorganisation die an sie gestellten Ansprüche erfüllen können, hängt
  HE                5,0         0,0                              5,0
                                                                                                nicht zuletzt von den zur Verfügung stehenden personellen Ressourcen
  NI                5,8         0,0                               5,8
                                                                 4,4
                                                                                                und deren Einsatz ab. Dies bedeutet, dass neben den Lehrkräften auch
  NRW           4,4             0,0
  RP                  8,5       0,0                                  8,5
                                                                                                weiteres pädagogisch tätiges Personal, welches im Ganztagsbetrieb tätig
  SL                 7,1                12,2                                      19,3          ist, in ausreichender Zahl vorhanden sein muss.“ In NRW stehen nur 4,4
  SN          0,0                       13,1                               13,1                 Zeitstunden pro Klasse und Woche für zusätzliche Lehrkräfte zur Verfügung.
  SH            4,3               2,4                                6,8                        Ein Stundenkontingent für weitere zusätzliche PädagogInnen, beispielsweise
  TH          0,0                        14,1                               14,1                SchulsozialarbeiterInnen oder -psychologInnen, ist hier nicht vorgesehen.
                                                                                                Mehr zu multiprofessionellen Teams ab Seite 16.                       ms
Quelle: Die landesseitige Ausstattung gebundener Ganztagsschulen mit personellen
Ressourcen. Ein Bundesländervergleich. (Bertelsmann Stiftung 2016)

                                               Glück                                            40 Jahre Mitbestimmung
                                                  Glück ist subjektiv. Und doch                     „Mehr Mitbestimmung ist eine Forderung, die in die Zeit passt“,
            Begreifen                          zu erfassen? Die Professional                    betonte Rainer Hoffmann, Vorsitzender des DGB und des Vorstands der
        zum Eingreifen                         School of Education an der Ruhr-                 Hans-Böckler-Stiftung beim Jubiläumsfest: Am 1. Juli 1976 ist das Mitbe-
                                www.
                                               Universität in Bochum sowie die                  stimmungsgesetz in Kraft getreten. Es garantiert den Beschäftigten und
 Hetze gegen Flüchtlinge                       AG Sch.U.L.forschung am Institut                 ihren Gewerkschaften die Hälfte der Sitze in den Aufsichtsräten großer
 Rechtsextreme Sprache und                     für Erziehungswissenschaft setzen                Unternehmen. Allerdings verfügt bis heute die Seite der Kapitaleigne-
 Bilder haben sich in kurzer                   in Kooperation mit der Happiness                 rInnen im Aufsichtsrat über eine Zusatzstimme. Mehr Mitbestimmung
 Zeit über die Sozialen Medien
 reetabliert und sind normal im
                                               Research Organisation die Studie                 ist deshalb auch nach 40 Jahren eine wichtige Forderung, denn junge,
 Gespräch über Flucht und Mi-                  „Glück im Lehrerberuf“ um, um                    wachsende Unternehmen nutzen zunehmend Schlupflöcher im deutschen
 gration geworden. Was wir dem                 genau dieser Frage auf den Grund                 und europäischen Recht, um ArbeitnehmerInnenmitbestimmung im
 entgegensetzen können, zeigt                  zu gehen. KollgeInnen aller Schul-               Aufsichtsrat zu vermeiden – sicher einer der Gründe dafür, dass die Zahl
 die Broschüre „Hetze gegen
 Flüchtlinge in Sozialen Medien –              formen können sich an der Studie                 der mitbestimmten Unternehmen seit 2002 um gut 17 Prozent gesunken
 Handlungsempfehlungen“ der                    beteiligen. Informationen rund um                ist. Dabei beweisen aktuelle Studien, dass der Einsatz für die Interessen
 Amadeu Antonio Stiftung.                      das Forschungsprojekt gibt es unter              der Beschäftigten dem Unternehmen insgesamt Vorteile bringt. Material
 „Wir wehren uns seit 1979“
                                www.
                                               www.glueck-im-lehrerberuf.dekrü                 zu Mitbestimmung unter www.mitbestimmung.de                   HBS / krü

 Gabriel López Chiñas erläutert
 im taz-Interview die Forde-                   Richtigstellung                                  Mehr Lehrerstellen für 2017 geplant
 rungen der mexikanischen
 Lehrergewerkschaft Coordina-                     In der nds 6 / 7-2016 ist im Artikel             Der Haushaltentwurf für 2017 liegt vor: Die nordrhein-westfälische
 dora Nacional de Trabajadores                 „Ergebnisse der Personalratswahlen:              Landesregierung rechnet im kommenden Jahr mit Ausgaben von 72,3
 de la Educación (CNTE). Bei den
 Protesten sind bereits neun Men-              Rückenwind für GEW-Personalräte“                 Milliarden Euro – das ist ein Plus von 3,3 Prozent. In den Mehrausgaben
 schen ums Leben gekommen.                     (Seite 26/27) ein Druckfehler unter-             sind für den Bereich der Schul- und Weiterbildung im Vergleich zum Vorjahr
                                www.           laufen. Die falsche Zahlenangabe                 im aktuellen Entwurf rund 505 Millionen Euro enthalten, mit denen unter
 Türkei: Solidarität zeigen
                                               korrigieren wir hiermit. Im Beitrag              anderem 1.767 neue Lehrerstellen finanziert werden, die vor allem für
 Das Europäische Gewerkschafts-                heißt es zu den Vertretungen für                 Verbesserungen bei der Inklusion sorgen sollen. Für die Versorgung und
 komitee für Bildung und Wissen-
 schaft ruft seine Mitglieds-                  Gymnasien und Weiterbildungskol-                 Integration von Flüchtlingen stellt das Land im kommenden Jahr rund 4,1
 organisationen auf, zusammen                  legs richtig: „Im Hauptpersonalrat               Milliarden Euro bereit. „Die GEW NRW erkennt an, dass das Land zusätz-
 gegen den rechtswidrigen                      entfallen weiterhin fünf Sitze auf               liche Stellen für das gemeinsame Lernen und die Beschulung Geflüchteter
 Machtmissbrauch durch die tür-                                                                 bereitstellt. Das Stellenbudget für Lern- und Entwicklungsstörungen bleibt
 kische Regierung zu protestieren,
                                               die GEW NRW.“ In der Tabelle muss
 mit dem sie Demokratie, Gerech-               es dementsprechend heißen: GEW                   dennoch unzureichend ausgestattet. Außerdem brauchen die Schulen
 tigkeit und akademische Freiheit              NRW 5 Sitze, Philologenverband                   deutlich mehr Integrationsstellen als vorgesehen sind“, bewertet Dorothea
 in der Türkei unterwandert.                   NRW 9 Sitze, Sonstige 1 Sitz.fin                Schäfer, Vorsitzende der GEW NRW, den Entwurf.             land.nrw / krü
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nds 8-2016 7

Teilzeitlehrkräfte deutlich über Soll                                                              Numerus Clausus weit verbreitet
   Teilzeitlehrkräfte an Gesamtschulen in Niedersachsen leisten 2 : 31                                Vier von zehn Studiengängen in Deutschland sind zulassungsbeschränkt –
Stunden unbezahlte Mehrarbeit. Ihre wöchentliche Soll-Arbeitszeit beträgt                          das hat der „Numerus Clausus-Check 2016 / 2017“ des Centrums für Hoch-
33 : 45 Stunden. In der Realität schwanken die Arbeitszeiten in den Schul-                         schulentwicklung gGmbH (CHE) ergeben. 41,5 Prozent der Studiengänge
zeitwochen zwischen 32 und 37 Stunden mit einem Maximum von 37 : 14                                haben einen Numerus Clausus (NC). An Universitäten ist weiterhin ein
Stunden. Ihre durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 36 : 16 Stunden liegt                        niedrigerer Prozentsatz (40,1) der Studiengänge zulassungsbeschränkt als
damit deutlich über dem Sollwert. Diese Ergebnisse ihrer Arbeitszeitstudie                         an Fachhochschulen (45,8). In NRW sind mit 37,9 Prozent geringfügig
2015 / 2016 präsentierte die GEW Niedersachsen zusammen mit der                                    weniger Studiengänge zulassungsbeschränkt. Weitere Infos zur Erhebung
Universität Göttingen am 1. August 2016. Teilzeitlehrkräfte zeigen damit                           und zum NC unter www.tinyurl.com/CHE-Numerus-Clausus CHE / krü  
klar auf, wie viel Vor- und Nachbereitungszeit notwendig ist. Sie können
diese nur leisten, weil sie ihre Unterrichtsverpflichtung reduziert haben.
Alle Ergebnisse unter arbeitszeitstudie.gew-nds.de. GEW Niedersachsen                              Ausstattungsmangel an Grundschulen
Durchschnittswoche der Schulform                                                                      Obwohl Grundschule und Kindergarten die Basis des Bildungssystems
Integrierte / Kooperative Gesamtschule (acht Tätigkeitsklassen)                                    in Deutschland darstellen, ist ihre Finanzierung im Vergleich mit den weiter-
                                                                                                   führenden Schulen unterdurchschnittlich. Das gilt vor allem für die Lernzeit,
                                              15 :29 / 31,30 %                2 :57 / 6,31 %       aber auch für die Ausstattung und die Bezahlung des Personals. Prof. Dr.
                                                          Unterricht   Fahrten / Veranstaltungen
                                                                                                   Klaus Klemm nimmt in seinem Gutachten von Juni 2016 im Auftrag des
                                              14 :37 / 31,30 %                1 :21 / 2,88 %       Grundschulverband e. V. die „Finanzierung und Ausstattung der deutschen
                                          Unterrichtsnahe Lehrarbeit         Arbeitsorganisation
                                                                                                   Grundschulen“ unter die Lupe. Pro Grundschulkind gaben die Bundesländer
                                                 3 :38 / 7,77 %               0 :47 / 1,67 %       2013 im Schnitt 5.600,- Euro im Jahr aus. Das Gefälle innerhalb Deutsch-
                                                         Funktionen               Weiterbildung
                                                                                                   lands ist groß: Hamburg führt die Aufstellung mit 8.700,- Euro an, NRW
                                                5 :24 / 11,55 %               2 :30 / 5,34 %       steht mit 4.800,- klar am Ende. Auch die Stundentafel weist Unterschiede
                                                    Kommunikation           Sonstige Tätigkeiten
                                                                                                   auf: So umfasst sie in Berlin und Schleswig-Holstein 92 Wochenstunden
                                                                                                   gegenüber 108 in Hamburg. NRW hat die Pro-Kopf-Ausgaben in den
                                                                                                   vergangenen zwei Jahren zwar erhöht, ein drohender Lehrkräftemangel
                                                                                                   an Grundschulen zum Schuljahr 2016 / 2017 aber ist kaum abzuwenden.
Quelle: Arbeitszeitstudie 2015 / 2016, Kooperationsstelle Universität Göttingen                    www.tinyurl.com/Grundschule-Gutachten Grundschulverband / krü

Abiturnoten 2016                                                                                   Beteiligung an Weiterbildung sinkt
   2016 haben in NRW rund 91.000 SchülerInnen an 622 Gymnasien,                                       Der Weiterbildungsatlas 2016 der Bertelsmann Stiftung beweist NRWs
203 Gesamtschulen, 32 Weiterbildungskollegs, 32 Waldorfschulen sowie                               großen Nachholbedarf in Sachen Weiterbildung: Mit einer Teilnahme-
an 223 Beruflichen Gymnasien die zentralen Abiturprüfungen abgelegt.                               quote von 10,4 Prozent teilen sich Saarland, Mecklenburg-Vorpommern,
Die AbiturientInnen erzielten im Durchschnitt ähnliche Leistungsergeb-                             Sachsen-Anhalt und NRW den letzten Platz im Ländervergleich. Regional
nisse wie in den Vorjahren. An den Gymnasien und Gesamtschulen lag                                 gehen die Differenzen zudem weit auseinander: Die WissenschaftlerInnen
die Durchschnittsnote bei 2,45 (2015: 2,47). Den Ländervergleich führt                             erklären sich die Unterschiede zu einem Drittel mit der regionalen Sozial-,
Thüringen an mit einer Durchschnittsnote von 2,18, Schlusslicht bleibt                             Wirtschafts- und Infrastruktur – ein hoher Bildungsstand und eine starke
Niedersachsen mit 2,58.                                    MSW / krü                              Wirtschaft führen zu mehr Teilnahme an Weiterbildung. In Darmstadt
                                                                                                   sind Angebot und Nachfrage herausragend: Die Teilnahme liegt bei
Vielfalt                                       Rote Karte                                          23,1 Prozent, die Potenzialausschöpfung bei 139,4 Prozent. www.kreise.
                                                                                                   deutscher-weiterbildungsatlas.de             Bertelsmann Stiftung / krü
    Immer mehr Lehrkräfte, Schul-                 Zum pädagogischen Film „Wie
leitungen, Eltern und SchülerInnen             im falschen Film – Geschichten aus                  Darmstadt: Eine von sechs Fallstudien des Weiterbildungsatlas
unterstützen aktiv die Akzeptanz               dem Fußball“ veröffentlichte Show                       Öffentlich          Gemeinschaftlich           Privatwirtschaftlich          Betrieblich
von sexueller und geschlechtlicher             Racism the Red Card – Deutsch-                                                                                                    Bundesweiter Durchschnitt

Vielfalt an ihrer Schule. Der Bedarf           land e. V. jetzt das begleitende Ar-
                                                                                                         6,90                  0,015                       0,445                      47,45
an Konzepten und Beratung nimmt                beitsheft für den Unterricht: Mit
zu. Um die Schulen in ihrem Engage-            Gastbeiträgen von Ronny Blaschke,
ment gegen Homo- und Transfeind-               Hadija Haruna, Jennifer Dacqué                                                                              UMFELD
                                                                                                        vor Ort                 vor Ort                     vor Ort                   vor Ort
lichkeit zu stärken, haben Schule der          und Markus End werden verschie-
Vielfalt und SCHLAU NRW Fragen,                dene Diskriminierungsformen ver-
Tipps und Anregungen in einer                  tieft behandelt. Das Heft liefert                         7,25       7,93        0,020         0,017        0,919         0,630        64.64       58,83
Checkliste mit Handlungsempfeh-                Workshopbeispiele für unterschied-
lung zusammengestellt. www.tiny-               liche Altersgruppen. www.tiny-                           0 – 30                 0 – 0,13                     0 – 1,2                   0 – 90
url.com/vielfalt-Checkliste krü               url.com/redcard-Arbeitsheftkrü                     Quelle: Bertelsmann Stiftung, Deutscher Weiterbildungsatlas
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Fotos: bit.it, suze, Nalla Padam / photocase.de
8 BILDUNG

Bochumer Memorandum 2011 bis 2017: Inklusion

Der weite Weg zur inklusiven Schule

Bereits 2011 unterstrich das Bochumer Memorandums das Ziel, in den nächsten                              schulen und 3,5 Prozent an den Gesamtschulen.
zehn Jahren 85 Prozent der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf                                   In den Realschulen liegt dieser Anteil bei 1,65
integrativ zu beschulen und die Inklusionsquote jährlich um sieben Prozent zu                            Prozent und bei 0,33 Prozent an den Gymnasien.
steigern. Davon ist NRW bis heute weit entfernt. Und das obwohl mittlerweile                             4.192 SchülerInnen mit SFP besuchen in der
sehr viele SchülerInnen mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf an sehr                            Sekundarstufe II Schulen außerhalb des Förder-
vielen Schulen und damit auch von sehr vielen Lehrkräften mit großer Selbstver-                          schulsystems. Von diesen besuchen allerdings
ständlichkeit gemeinsam unterrichtet werden.                                                             nur 291 die gymnasialen Oberstufen.

   Von den insgesamt 133.581 SchülerInnen mit       Vorsicht der Interpretation feststellen, dass der    Widersprüchliche Zielsetzungen
einem anerkannten Förderbedarf in zumindest         berüchtigte Trichtereffekt des Übergangs zwar            Auch wenn festzuhalten bleibt, dass in den
einem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt         immer noch vorhanden ist, dass er sich aber          vergangenen Jahren die Zahl der SchülerInnen
(SFP) besuchten im Schuljahr 2015 / 2016 in         vor allem zwischen der Grundschule und der           mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allen
Nordrhein-Westfalen 82.312 eine Förderschu-         Sekundarstufe I abschwächt. Damit lässt sich         Schulstufen und Schulformen deutlich gestiegen
le. Ausweislich des „Statistik-TELEGRAMMs           unterstellen, dass die Zahl der SchülerInnen, die    ist, entsprechen diese Zahlen bei weitem noch
2015/16“ des Schulministeriums besuchten            innerhalb inklusiver Settings den Wechsel der        nicht den Forderungen des Bochumer Memo-
51.296 SchülerInnen mit SFP eine Schule des         Schulstufen absolvieren, deutlich angestiegen        randums. Zugleich werden widersprüchliche
Gemeinsamen Lernens. Dies sind 38,4 Prozent         ist. Diese Entwicklung kommt dem Leistungsziel       Entwicklungen deutlich, die das Ziel eines inklu-
dieser SchülerInnengruppe und ihr Anteil ist ge-    näher, das das Bochumer Memorandum 2011              siven Schulsystems fraglich erscheinen lassen.
genüber dem Vorjahr um 3,8 Prozent gestiegen.       als „vorläufig wichtigstes“ formulierte, nämlich         So zeigt der sehr unterschiedliche Anteil von
                                                    „dass alle Kinder mit sonderpädagogischem            SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förder-
Auffälligkeiten und Unterschiede                                                                         bedarf in den verschiedenen Schulformen auch,
                                                    Förderbedarf, die eine Grundschule besuchen,
    Allerdings sind die Werte in den verschie-      auch in der Sekundarstufe ihre Schullaufbahn in-     dass die Bereitschaft, sich dem Gemeinsamen
denen Schulstufen und auch in den verschie-         tegrativ – das heißt auf der allgemeinen Schule –    Lernen zu öffnen, in starkem Maße schulform-
denen Schularten sehr unterschiedlich. Im           weiterführen können“.                                abhängig ist. In Verbindung mit der Entwicklung
Grundschulbereich sind es 41,3 Prozent, in der          Der Anteil der SchülerInnen mit SFP differiert   hin zu einem zweigliedrigen Schulsystem kann
Sekundarstufe I 36 Prozent und in der Sekun-        allerdings nicht nur zwischen den einzelnen          damit festgestellt werden: In NRW entwickelt
darstufe II 43,5 Prozent der SchülerInnen mit       Schulstufen, sondern auch in den verschiedenen       sich auf der einen Seite ein inklusives Schulsy-
SFP, die eine Schule außerhalb des Förderschul-     Schulformen. Nach wie vor eröffnen neben den         stem, dem ein tendenziell exklusives System von
systems besuchen. Der isolierte Blick auf diese     Grundschulen vor allem die Haupt-, Gesamt-           Gymnasien (und Förderschulen) entgegensteht.
Werte verdeckt jedoch die sehr unterschiedliche     und Sekundarschulen SchülerInnen mit SFP                 Hinzu kommt, dass der statistische Durch-
Entwicklung in den einzelnen Schulstufen.           die Möglichkeit des Gemeinsamen Lernens und          schnittswert die beträchtlichen Unterschiede
    So hat sich die Zahl der GrundschülerInnen      insbesondere an Haupt- und Sekundarschulen           zwischen den einzelnen Schulen und Regionen
mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf          werden überproportional viele SchülerInnen           verdeckt. Die Statistik bildet nicht ab, in welchem
seit 2006 etwa verdoppelt, während sie im           mit SFP unterrichtet. So hatten im Schuljahr         Umfang festgestellte Förderbedarfe während
gleichen Zeitraum in der Sekundarstufe I um         2015 / 2016 etwa 3 Prozent aller Grundschü-          der Schulzeit wieder aufgehoben werden. Ins-
gut das sechsfache und in der Sekundarstufe         lerInnen einen SFP. In der Sekundarsufe I sinkt      besondere vor dem Wechsel der Schulstufen
II um das 1,5-fache gestiegen ist. Insbesondere     dieser Anteil auf etwa 2,5 Prozent. Allerdings       oder vor der Abschlussvergabe geschieht dies
in den Schulen der Sekundarstufe I ist also die     sind die Unterschiede bei den Schulformen be-        erfahrungsgemäß in größerem Umfang insbe-
Zahl der SchülerInnen mit SFP deutlich über-        trächtlich: Er liegt zwischen etwa 8 Prozent an      sondere bei zieldifferent unterrichteten Schüle-
proportional gestiegen. Hier lässt sich bei aller   den Hauptschulen, 7 Prozent an den Sekundar-         rInnen, um ihnen die Chance auf qualifizierte
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Abschlüsse zu ermöglichen. In der gymnasialen         sonderpädagogischer Förderbedarf zugewiesen
Oberstufe ist außerdem die Bedeutung eines            wurde. Vielmehr muss sich dieses System an der      Zum Weiterlesen
sonderpädagogischen Förderbedarfs oft nicht           Fähigkeit messen lassen, Lernende mit generell
                                                      unterschiedlichen Vorerfahrungen angemessen         Markus Ottersbach, Andrea Platte,
recht ersichtlich.
                                                                                                          Lisa Rosen (Hrsg.):
                                                      aufzunehmen. So ist auch die Zuweisung und
Qualität bleibt auf der Strecke                                                                           Soziale Ungleichheit als
                                                      Aufnahme von neu zugewanderten und schutz-
   Vor allem verliert aber das Kriterium des fest-    suchenden Kindern als Aufgabe inklusiver            Herausforderung für
gestellten sonderpädagogischen Förderbedarfs          Bildung zu betrachten, ohne dass dies in der        Inklusive Bildung
in zunehmendem Maße seine Aussagekraft. Be-           bisherigen Diskussion und auch in der bishe-
dingt durch die Änderungen der entsprechenden         rigen Fassung des Bochumer Memorandums
Vorschriften zur Feststellung, sowie durch den        angemessen berücksichtigt wird.
veränderten Stellenwert der individuellen Förde-          Bewegungen in Richtung der 2011 formu-                           Springer VS, 2016
rung und der Gewährung von Nachteilsausglei-                                                                               ISBN: 978-3-658-13494-5
                                                      lierten Forderungen für ein inklusives Bildungs-                     354 Seiten
chen ist es in zunehmendem Maße – im Bereich          system sind erkennbar, auch wenn diese in                            49,99 Euro
der Schulen des Gemeinsamen Lernens – von             Zahlen weit hinter den damals formulierten          Das Buch geht aus der Sicht unterschiedlicher
sehr vielfältigen Faktoren abhängig, ob ein           Zielen zurückbleiben. Eine genauere Betrach-        Disziplinen, Praxis- und Forschungsprojekte der
Förderbedarf überhaupt festgestellt wird oder         tung der Zahlen zeigt aber auch, dass nicht nur     Frage nach, inwiefern sozialen Ungleichheiten
nicht. Diese Entwicklung ist einerseits gewünscht                                                         durch die Gestaltung und Erforschung inklusi-
                                                      insgesamt mehr SchülerInnen mit einem SFP           ver Bildungsprozesse und -strukturen begegnet
und wird unterstützt, indem beispielsweise im         allgemeine Schulen besuchen sollten, sondern        werden kann. Die Zusammenführung formaler,
Bereich der Lern- und Entwicklungsstörungen           dass es beispielsweise auch darum gehen muss,       non-formaler und informeller Bildung entfaltet
mit der Feststellung des Förderbedarfs keine          sie verstärkt an der Vielfalt des Bildungssystems   dabei ein Verständnis von inklusiver Bildung,
Ressourcenzuweisung erfolgen soll. In diese                                                               das auf die Überwindung der Dominanz for-
                                                      und an der Vergabe höherer Bildungsabschlüsse       maler Kontexte zugunsten der Aufwertung des
Richtung geht auch die deutliche Stärkung             partizipieren zu lassen. Insbesondere die stark     stärker selbstgestaltenden und partizipativen
des Elternwillens.                                    unterschiedlichen Zahlen der SchülerInnen           Potenzials non-formaler und informeller Prozesse
   Allerdings sind die entsprechenden Entwick-                                                            abzielt. An dieser Stelle begegnen sich Soziale
                                                      mit SFP an verschiedenen Schulformen zeigen
                                                                                                          Arbeit und Erziehungswissenschaft im Inklusi-
lungen widersprüchlich, da nach wie vor der           deutlich, dass nicht von der Entwicklung des        onsdiskurs. Nicht zuletzt für deren Kooperation
gemäß AO-SF bestätigte Förderbedarf für die           gesamten Bildungssystems in Richtung Inklusion      in der Gestaltung inklusiver Bildung soll der vor-
SchülerInnenaufnahme und für die Zuweisung            gesprochen werden kann.                             liegende Band neue Impulse geben.
von Ressourcen das entscheidende Kriterium               Speziell in Bezug auf das Bochumer Memo-
darstellt. Das Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma      randum muss festgestellt werden, dass sich die
bleibt bestehen. Insgesamt ist die Entwicklung        inklusive Schule nicht nur durch die Zahl der
für die Schulen derzeit mit einem beträchtlichen      SchülerInnen mit SFP auszeichnet, sondern dass
Anwachsen von Bürokratie verbunden. Hinzu             diese Entwicklungen dringend mit den Fragen
kommt die offenkundig sehr ungleichmäßige             nach einer Bildungsbeteiligung in Abhängig-
und zum Teil auch schwer nachvollziehbare             keit von sozialer Herkunft, der Zugänglichkeit
Zuweisung von LehrerInnen für Sonderpäda-             von Bildungseinrichtungen für geflüchtete und
gogik. In diesem Kontext stellt sich auch die         schutzsuchende Lernende und der Alternativen
Frage nach der eigentlichen Aufgabe dieser            zum „Sitzenbleiben“ verzahnt werden müssen. Es
Lehrkräfte, die in der Diskussion oft verzerrt        bedarf insofern nicht nur ansteigender Zahlen. //
dargestellt wird. Ähnlich unklar ist die Frage nach
den Aufgaben der vielen SchulbegleiterInnen,
die eine unzureichende Unterrichtsversorgung,
aber auch Probleme der Unterrichtsgestaltung                   MSW NRW: Statistik-TELEGRAMM
ausgleichen sollen.                                   PDF      2015 / 2016 (Stand: April 2016)
                                                               www.tinyurl.com/Statistiktelegramm-15-16
   Zudem gibt es viele Schulen, die Inklusion
notgedrungen für sich jeweils neu erfinden
müssen, weil die Erfahrungen fehlen, weil die
                                                                    Dr. Michael Schwager
Zuweisung der Lehrkräfte unangemessen ist und
                                                                    Abteilungsleiter an der
weil Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten of-                      Gesamtschule Köln-Holweide
fenkundig nicht so greifen, wie es gewünscht ist.
Inklusion ist nicht nur eine Zahlenfrage
   Grundsätzlich lässt sich die Frage nach der                      Prof. Dr. Andrea Platte
Entwicklung eines inklusiven Schulsystems nur                       Studiengangsleiterin B.A. Pädagogik
                                                                    der Kindheit und Familienbildung an
bedingt quantitativ abbilden. Ein inklusives Bil-
                                                                    der Technischen Hochschule Köln
dungssystem lässt sich nicht auf Fragen der Plat-
zierung von SchülerInnen reduzieren, denen ein
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10 BILDUNG

Lehrkräftebedarf, Abordnungen und Versetzungen im Gemeinsamen Lernen

Der Unmut wächst
Das Land NRW hält für die Förderung der SchülerInnen mit sonder-
pädagogischem Förderbedarf zwei parallel bestehende Fördersysteme
vor: das Gemeinsame Lernen und die Förderschulen. Die verfügbaren
Stellen reichen jedoch nicht aus, um den Lehrerbedarf in beiden
Systemen zu decken. Abordnungen und Versetzungen gehen vor allem
zulasten der Förderschulen.

   Während in den Förderschulen der Personal-        beinhaltet deutlich zu wenig Stellen, um die Dop-   deutlich, dass unter dieser Zielsetzung das Ge-
bedarf nach einer LehrerInnen-SchülerInnen-          pelstruktur aus Förderschule und Gemeinsamem        meinsame Lernen nicht adäquat qualitativ um-
Relation festgelegt wird, wendet das Land im         Lernen in NRW ausreichend mit Lehrkräften zu        gesetzt werden kann. Lehrkräfte der allgemeinen
Gemeinsamen Lernen zwei Berechnungsarten an:         versorgen und eine verlässliche sonderpädago-       Schule müssen oft ohne sonderpädagogische
   Für die drei Förderschwerpunkte Lernen,           gische Grundausstattung für den Förderbereich       Unterstützung zurechtkommen. Lehrkräfte für
Emotionale-soziale Entwicklung und Sprache           LES zu gewährleisten. Auch die erlassmäßig          Sonderpädagogik können die mangelhafte För-
gibt es das Stellenbudget für Lern- und Entwick-     vorgegebenen Maßstäbe der Verteilung können         derung nicht mehr verantworten und möchten
lungsstörungen (LES). Die Personalzuweisung          nicht eingehalten werden. Stattdessen wird die      deswegen nicht weiter im Gemeinsamen Lernen
an die Einzelschule erfolgt also nicht mehr          Personalzuweisung im Gemeinsamen Lernen in          arbeiten. Eine zunehmende Anzahl von Eltern
nach einer LehrerInnen-SchülerInnen-Relation,        Regionalkonferenzen der Schulaufsicht mit den       bricht die Förderung ihrer Kinder im Gemein-
sondern wird ersetzt durch eine dauerhaft be-        Schulen ausgehandelt.                               samen Lernen ab.
reitgestellte Unterstützung durch Lehrkräfte            Bildungsforscher Prof. Dr. Klaus Klemm hat          Im Haushalt des Landes NRW werden aktuell
für Sonderpädagogik. Gedacht ist hier an eine        frühzeitig darauf hingewiesen, dass die Doppel-     vermehrt Stellen bereitgestellt. Sie können jedoch
verlässliche, systemische Ressource für eine lern-   struktur zusätzliche Personalkosten verursacht      wegen des systemischen Lehrkräftemangels nicht
prozessbezogene Diagnostik, für Förderplanung        und nicht allein mit dem Personalbedarf der         durch ausgebildete LehrerInnen für Sonderpä-
und für Förderung. Die Schulämter erhalten           Förderschulen aus dem Schuljahr 2012 / 2013         dagogik besetzt werden. Gegenwärtig sind an
ein Stellenbudget für die sonderpädagogische         finanziert werden kann. Die GEW NRW fordert         den Förderschulen die besetzten Stellen zu 87
Förderung in den Grundschulen, in der Sekun-         7.000 zusätzliche Stellen für das Gemeinsame        Prozent mit sonderpädagogisch ausgebildetem
darstufe I und in den Förderschulen Lernen,          Lernen.                                             Personal besetzt, im Gemeinsamen Lernen in den
Emotionale-soziale Entwicklung und Sprache.             Das Stellenbudget LES geht in seiner Be-         Grundschulen zu 79 Prozent, in der Sekundar-
Nachdem die Förderschulen aus diesem Budget          rechnungsgrundlage von einer konstanten be-         stufe I zu 91 Prozent. Von einer Besetzung der
nach der LehrerInnen-SchülerInnen-Relation           ziehungsweise abnehmenden Förderquote aus.          Stellen für Sonderpädagogik nach Fachlichkeit in
versorgt sind, sollen die verbleibenden Stellen      Entgegen dieser Annahme steigt die Förderquote      Bezug auf die Förderbereiche der SchülerInnen
des Budgets hälftig den Grundschulen und der         in NRW jedoch und damit auch der tatsächliche       hat sich das Land im Gemeinsamen Lernen
Sekundarstufe I zugewiesen werden, wobei die         Bedarf an Lehrkräften für sonderpädagogische        weitgehend verabschiedet. Es wird erwartet,
Grundschulen mindestens eine halbe Stelle pro        Förderung. Die Schulen des Gemeinsamen Ler-         dass die Lehrkräfte in allen Förderbereichen
Zug, die Sekundarstufenschulen mindestens            nens erhalten so trotz wachsender Bedarfe           fachlich qualifiziert unterrichten – auch dann,
eine Stelle pro Zug erhalten sollen.                 weniger Mittel – das auch, weil die Förderschulen   wenn sie nicht dafür ausgebildet sind.
   Für die Förderschwerpunkte Sehen, Hören,          gemäß den Vorgaben des Stellenbudgets LES
                                                                                                         Abordnungen und Versetzungen
Körperlich-motorische Entwicklung und Geistige       primär versorgt werden.
                                                                                                         gehen zulasten der Förderschulen
Entwicklung erfolgt die Zuweisung von Lehrkräf-
                                                     Steigerung der Inklusionsquote                         Bereits die Online-Umfrage der GEW NRW
ten für Sonderpädagogik auch im Gemeinsamen
                                                     wird zum Qualitätsproblem                           in 2015 hat ergeben, dass aus annähernd 90
Lernen nach der entsprechenden LehrerInnen-
SchülerInnen-Relation der Förderschule.                 Die gegenwärtige Steuerung der Inklusion         Prozent der befragten Förderschulen Lehrkräfte
                                                     hat primär die Steigerung der Inklusionsquote       in das Gemeinsame Lernen abgeordnet oder
Stellenbudget LES ist unzureichend                   in NRW zum Ziel. Jede Verbesserung der Quote        versetzt worden sind. Im Mittel sind in den
und nicht bedarfsgerecht                             führt jedoch zu einem zusätzlichen Lehrerbedarf     Förderschulen im Bereich LES vier Lehrkräfte
  Das Stellenbudget LES ist auf der Grundlage        im Gemeinsamen Lernen, der nur gewährt wer-         von Abordnungen betroffen. In den Schulen der
des sonderpädagogischen Personalbedarfs des          den kann, wenn an anderer Stelle abgegeben          anderen Förderbereiche ist im Durchschnitt min-
Schuljahres 2012 / 2013 festgeschrieben. Es          wird. Rückmeldungen von Lehrkräften machen          destens eine Lehrkraft abgeordnet. Annähernd
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                              50 Prozent der Förderschulen geben an, dass        der SchülerInnen mit diesen Förderschwerpunk-       Qualität sonderpädagogischer
                              Abordnungen und Versetzungen zulasten der          ten Lehrkräfte in das Gemeinsame Lernen ab. Es      Förderung entwickeln und sichern
                              Lehrerversorgung an den Schulen gehen. An-         ist jedoch festzustellen, dass mit zunehmender         Das Stellenbudget LES ist nicht ausreichend
                              nähernd 80 Prozent dieser Schulen geben an,        Tendenz Lehrkräfte dieser Schulen auch zur Erfül-   bemessen, um dem tatsächlichen Bedarf an
                              dass sie ihr Förderangebot verändern mussten.      lung des Stellenbudgets LES abgeordnet werden.      Lehrkräften für Sonderpädagogik gerecht werden
                              45 Prozent mussten die Klassen vergrößern.         Das führt regelmäßig zu einer Arbeitsverdichtung    zu können. Zudem stehen auch nicht genügend
                                 Hier wird deutlich: Die Förderschulen wer-      an den betroffenen Förderschulen. Diese Praxis      ausgebildete Lehrkräfte zur Verfügung.
                              den als ein „Reservoir“ genutzt, um die Lehrer-    muss beendet und für eine ausreichende Versor-         In der Mülheimer Erklärung fordert die GEW
                              bedarfe im Gemeinsamen Lernen abzudecken.          gung des Stellenbudgets LES gesorgt werden!         NRW zusammen mit anderen Verbänden die
                              Die Förderschulen sind nicht mehr bereit, wegen        Die Anwendung der einheitlichen Lehre-          Entwicklung und Sicherung der Qualität sonder-
Foto: eatcute / fotolia.com

                              einer extensiven Abordnungspraxis die eigenen      rInnen-SchülerInnen-Relation für LES in Höhe        pädagogischer Förderung in Schulen des Gemein-
                              Förderbedingungen zu verschlechtern. Es wird       von 1:9,92 auch in den Schulen für Emotionale-      samen Lernens und eine deutlich verbesserte
                              der Ruf laut: „Wer sichert die Qualität der För-   soziale Entwicklung macht eine Veränderung          Steuerung. „Um qualitativ gutes gemeinsames
                              derung in den Förderschulen?“                      des Förderangebotes und eine Vergrößerung           Lernen auch weiterhin zu ermöglichen, benötigen
                                 Selbst Förderschulen, die unterbesetzt sind,    der Klassen notwendig. Die Schulen stellen dar,     die Schulen des gemeinsamen Lernens deutlich
                              sollen noch Lehrkräfte in das Gemeinsame Ler-      dass die neue Berechnungsgrundlage zu einer         mehr Lehrkräfte für sonderpädagogische Förde-
                              nen abordnen. In einzelnen Regierungsbezirken      Reduzierung des Unterstützungsangebotes von         rung, kleine Klassen, ein erweitertes Angebot
                              haben sich deswegen die Personalräte darauf        mindestens 20 Prozent führt. Das führt dann         an Fortbildungen für die Lehrkräfte, eine dem
                              verständigt, dass nur dann Abordnungen und         auch zu einer Arbeitsverdichtung von eben-          Bedarf angepasste räumliche und materielle
                              Versetzungen eingeleitet werden, wenn die          falls 20 Prozent für die Lehrkräfte, die unter      Ausstattung und mehr Zeitressourcen für Ab-
                              Schulen vollständig besetzt sind. Es sind auch     den alten Bedingungen schon häufig an der           sprachen und Vorbereitung.“ //
                              Regelungen getroffen worden, wann bei einer        Grenze ihrer Belastbarkeit gearbeitet haben.
                              bezirksweiten Unterbesetzung in den Förderschu-    Außerdem beklagen die Lehrkräfte, dass die
                              len noch abgeordnet oder versetzt werden kann.     Schülerschaft in ihren Förderschulen insgesamt
                              Indem man die Bedarfe in den Förderschulen         schwieriger wird, da die „leichteren“ Fälle im                    Gerd Weidemann

                              und im Gemeinsamen Lernen in Bezug setzt           Gemeinsamen Lernen beschult werden. Bei den                       Leitungsteam der Kommission
                                                                                                                                                   Inklusion der GEW NRW
                              zu der leistbaren Bedarfserfüllung, wird ein       verbleibenden SchülerInnen handelt es sich größ-
                              Prozentsatz ermittelt. Nach diesem Wert werden     tenteils um intensivpädagogisch zu fördernde
                              dann beide Orte der sonderpädagogischen            Kinder und Jugendliche. In diesen Schulen geht
                              Förderung gleich besetzt. Der Lehrermangel         es vorwiegend darum, trotz der verschlechterten                   Ulrich Benus
                              wird hier quasi „gerecht“ verteilt.                Rahmenbedingungen das hoch spezialisierte                         Leitungsteam der Fachgruppe
                                                                                                                                                   Sonderpädagogische Berufe
                                 Die Schulen mit den Förderschwerpunkten         Unterstützungsangebot für die SchülerInnen
                                                                                                                                                   der GEW NRW
                              Sehen, Hören, Körperlich-motorische Entwicklung    und salutogene Arbeitsbedingungen für die
                              und Geistige Entwicklung ordnen zur Förderung      Lehrkräfte zu sichern.

                                                                    80%
                                                                  der Förderschulen
                                                                                                                                 Förderschule
                                                           veränderten ihr Förderangebot.*

                                                                                                                      Abordnung

                                      45%
                                     der Förderschulen
                                                                                                                                            Versetzung

                                 vergrößerten die Klassen.*

                              * aufgrund von Abordnungen und Versetzungen ins Gemeinsame Lernen
12 BILDUNG

Geschichte und Gegenwart der Konflikte im syrisch-türkischen Gebiet

Crash der Kulturen und Religionen?
Warum ist es so schwer, über geschichtliche Ereignisse zu sprechen, die
100 Jahre zurückliegen? Weshalb ist es für die Regierung der Türkei, aber
auch für viele in Deutschland lebende Menschen türkischer Abstammung
so problematisch, die Vertreibung und Vernichtung von bis zu 1,5 Millionen
ArmenierInnen vor 101 Jahren als Völkermord einzuordnen? Und weshalb ist
es für die armenische Community so wichtig, dass der Deutsche Bundestag
genau diese Anerkennung jetzt ausgesprochen hat?

    Diese Fragen standen im Hintergrund des Se-       Die einander bekämpfenden Gruppen formierten         wie sie selbst die Vertreibung der ArmenierInnen
minars „Crash der Kulturen und Religionen?“, das      sich entlang ethnischer, religiöser und machtpo-     und anderer christlicher Minderheiten wahr-
gerade einmal zwei Tage nach der Abstimmung           litischer Linien. Eine verhängnisvolle Mischung,     genommen habe. In ihrem Dorf habe sie sich
im Bundestag in der Akademie Villigst stattfand.      die Lösungen erschwerte und zu immer neuen           immer über eine leerstehende Kirche gewundert,
Eingeladen hatte das DGB Bildungswerk NRW             Verfolgungen und Fluchtbewegungen führte.            bis sie erfuhr, dass die einstigen BesucherInnen
e. V. in Kooperation mit dem Verband der Leh-         Fluchtbewegungen, die zunächst innerhalb             nicht mehr hier lebten. Nach und nach habe sie
rerInnen aus der Türkei in NRW (NRW-TÖB). Als         Syriens stattfanden: Die Flüchtenden hatten          bemerkt, wie sehr Schimpfworte mit Bezügen zu
Gäste dabei: Azat Ordukhanian, Vorsitzender           stets die Hoffnung, bald in ihre Städte und          ArmenierInnen verbunden waren. Noch heute sei
des Armenisch-akademischen Vereins 1860               Dörfer zurückkehren zu können. Doch bald             es nicht möglich, unbefangen mit ihren Eltern
e. V., und die Schriftstellerin Heide Rieck-Wotke,    schon drängten die Menschen angesichts der           über dieses Thema zu sprechen.
die seit vielen Jahren gegen das Vergessen des        anhaltenden Konflikte in die Nachbarregionen
                                                                                                           Wie umgehen mit der Schuld
Massakers an den ArmenierInnen anschreibt.            und schöpften zunehmend Hoffnung auf ein
                                                                                                           der Vorfahren?
                                                      neues Leben in Europa.
Syrien: Große Vielfalt und                                                                                    Damit knüpfte sie an einen Gedanken an,
komplexe Konflikte                                    Flucht und Vertreibung:                              den zuvor auch Heide Rieck-Wotke formuliert
   Zu Beginn der Veranstaltung analysierte Dr.        Wenn der Druck unerträglich wird                     hatte: Vergangenheitsbewältigung setze den
Kenan Engin, Politikwissenschaftler an der Uni-           Flucht und Vertreibung sind für viele Seminar-   Willen und das Bewusstsein in der Bevölkerung
versität Mainz, Hintergründe des Kriegs in Syrien     teilnehmerInnen bekannte Schicksale: Dr. Kenan       voraus, sich ernsthaft der Schuld der Vorfahren
und der damit verbundenen Fluchtwellen. Er            Engin kam selbst als Flüchtling vor 14 Jahren        zu stellen. Sie erzählte, wie sie als junge Frau
stellte heraus, dass die syrische Gesellschaft sich   aus der Türkei. Wie er verließen auch andere         mit dem Holocaust konfrontiert worden sei und
aus unterschiedlichen Ethnien und Religionen          die Türkei, weil sie als GewerkschafterInnen,        gelernt habe, mit der Schuld umzugehen. Dabei
zusammensetzt: In Syrien leben unter anderem          politisch aktive KurdInnen oder Angehörige           habe die 68er-Bewegung in ihrem heftigen Pro-
AraberInnen, TurkmenInnen, AssyrerInnen und           einer christlichen Minderheit keine Lebenspers-      test gegen die Elterngeneration sicher großen
ArmenierInnen. 85 Prozent der syrischen Bevölke-      pektive in ihrer Heimat sahen. Gymnasiallehrer       Einfluss gehabt. Doch sei die Aufarbeitung der
rung sind MuslimInnen – darunter zehn Prozent         Mathias Akar, dessen Familie in einem kleinen        nationalsozialistischen Verbrechen in Deutsch-
AlawitInnen – und zehn Prozent ChristInnen,           Dorf nahe der türkisch-syrischen Grenze lebte,       land nur möglich gewesen, weil die Alliierten
daneben gibt es JesidInnen, DruzInnen und mehr.       berichtete, dass fast alle AramäerInnen dem          nach dem zweiten Weltkrieg diesen Prozess der
Das Assad-Regime stütze sich – unter anderem          Druck ihrer Umgebung, von ihrem christlichen         Umorientierung erzwungen hätten. Die heutige
kolonialgeschichtlich bedingt – vorrangig auf         Glauben abzulassen und sich der kurdisch-            Türkei sei davon leider noch sehr weit entfernt.
nichtsunnitische Minderheiten. Latent vorhan-         muslimischen Lebensweise anzuschließen, nicht        Und Azat Ordukhanian ergänzte, dass auch heu-
dene Konflikte seien eskaliert, nachdem der           mehr ausgesetzt sein wollten. Sie sahen keine        te noch die Verantwortlichen für den Völkermord
sozial und politisch bedingte Aufstand gegen das      Lebensperspektive mehr für sich und ihre Kinder      an den ArmenierInnen als HeldInnen verehrt
Assad-Regime zunächst durch unterschiedliche          in ihrer Heimat und leben heute verstreut in         werden und Straßen, Brücken und Stadtteile mit
radikale Bewegungen dominiert und schließlich         Ländern der EU oder in den USA und in Kana-          ihren Namen schmücken. Nach wie vor gehöre
zum Spielball internationaler Akteure wurde.          da. Eine türkischstämmige Kollegin erzählte,         „der offizielle Leugnungsdiskurs der türkischen
nds 8-2016 13

                                                                                                  Workshop: Pädagogische Arbeit gegen Rassismus

                                                                                                  Was ist los in Deutschland?
                                                                                                  In dem zweitägigen Workshop „Was ist los in           liberaler Gesellschaften festgehalten werden soll,
                                                                                                  Deutschland? – Ideologien des Rechtsextremis-         haben sich dann politische Utopien einer post-
                                                                                                  mus im neuen Gewand als Herausforderung               kapitalistischen Gesellschaft erledigt? Wie steht es
                                                                                                  an die Verständigung über die Zukunft unserer         um das Verständnis von Transformationen im und
                                                                                                  Gesellschaft“ geht es um Formen der „Neuen            des Kapitalismus in den aktuellen Diskussionen?
                                                                                                  Rechten“. Das Seminar ist Teil des Programms          Führen scheinbare Alternativlosigkeiten politischen
                                                 Fotos: Chikatze, krockenmitte / photocase.de                                                           Handelns zur Aushöhlung des Pluralismus und zur
                                                                                                  „Pädagogische Arbeit gegen Rassismus! Men-
                                                                                                  schenrechts- und Demokratieerziehung in Schu-         Schließung des demokratischen Raums, während
                                                                                                                                                        sich rechten Ideologen neue Handlungsräume eröff-
                                                                                                  len“ des DGB-Bildungswerks NRW e. V.
                                                                                                                                                        nen? Das Seminar mit den Sozialwissenschaftlern
                                                                                                  Die „Novelle Droite“ von Alain de Benoist oder so-    Dr. Heidemarie Dießner und Dr. Werner Dießner
                                                                                                  genannte „Identitäre“ kommen postmodern daher         geht diesen Fragen nach.
                                                                                                  und geben ihrer antiliberalen Litanei als intellek-   Termin:    12.12.2016, ab 16.00 Uhr,
                                                                                                  tuellen Gegenentwurf zur Symbolik und zu Hand-                   bis13.12.2016, bis 16.00 Uhr
                                                                                                  lungsformen der Neonazis ein neues Image. Mit         Ort:       Haus Villigst, Iserlohner Str. 25,
                                                                                                  ihrer Kritik am Kapitalismus versuchen sie, auch                 58239 Schwerte
                                                                                                  klassische Felder der Linken zu besetzen. Wenn an     Anmeldung: www.dgb-bildungswerk-nrw.de/gew,
                                                                                                  den zivilisatorischen Errungenschaften moderner                  Seminarnummer: D17-168116-195

Politik, (...) zum nationalen Selbstverständnis. (...)                                          wird. Gelingende Kommunikation – das zeigte                dass Medienkritik genaues Lesen unterschied-
Dennoch, wer allein die damalige Führung des                                                    sich sehr schön während des Seminars – setzt               licher Medien voraussetzt. Nur so ist dem
osmanischen Staates des Genozids bezichtigt, der                                                die Bereitschaft voraus, eigene Erfahrungen                Gefühl entgegenzutreten, die Medien seien
droht zu vergessen – auch das Deutsche Reich                                                    darzustellen und anderen zuzuhören.                        ohnehin einseitig. Denn von dort bis zum Bild
war in diese monströsen Verbrechen verstrickt.                                                     Für den Umgang im Alltag mit Kindern und                einer „Lügenpresse“ ist es kein weiter Weg.
Es besteht Nachholbedarf bei der Aufarbeitung                                                   Jugendlichen sowie für den Unterricht lassen sich       Unsere Gesellschaft ist gepägt von Vielfalt
eines dunklen Kapitels. Schließlich hat sich das                                                aus dem Seminar einige Ratschläge ableiten:             hinsichtlich der Herkunft und unterschiedlicher
kaiserliche Deutschland aktiver Beihilfe zum                                                    ◆◆ Vermeiden Sie als LehrerIn in Ihrem eigenen          sozialer, kultureller und religiöser Orientierungen –
Völkermord schuldig gemacht“, schrieb Historiker                                                   Sprachgebrauch Pauschalisierungen wie „die           auch in den Klassenräumen. Von LehrerInnen
Ludger Heid in der Wochenzeitung derFreitag.                                                       TürkInnen“, „die RussInnen“ oder „wir Deut-          fordert dies die Bereitschaft, die Auswirkungen
Menschliche und demokratische Werte                                                                schen“. Wenn Sie Positionen und Haltungen            politischer Konflikte innerhalb der Zuwande-
zum Thema machen                                                                                   darstellen und bewerten, sagen Sie genau,            rungscommunitys, zwischen diesen und mit der
                                                                                                   wer diese vertritt.                                  Mehrheitsgesellschaft zu beobachten und im
   Kritisch wurde auch die Frage aufgeworfen,
                                                                                                ◆◆ Rechnen Sie bei Ihren SchülerInnen im Um-            pädagogischen Alltag angemessen zu agieren:
ob die aktuelle Diskussion um den Begriff „Völ-
                                                                                                   gang mit brisanten Themen wie beispielswei-          multiperspektivisch und auf gemeinsame Werte
kermord“ nicht die ohnehin komplizierten Bezie-
                                                                                                   se dem Völkermord an den ArmenierInnen,              bezogen. //
hungen zwischen der Türkei und Deutschland
                                                                                                   Terroranschlägen der kurdischen PKK, den
sowie innerhalb der türkischen Community und
ihrem Umfeld verschlechtert. Dem wurde ent-                                                        „Säuberungen“ durch die türkische Regierung
gegengehalten, dass gerade wegen des erstar-                                                       nach dem Putschversuch oder Übergriffen
kenden Nationalismus und der Tendenz zu einer                                                      gegen Frauen wie in der Kölner Silvesternacht        www.      Ludger Heid: Istanbuls willige Helfer
fundamentalistisch anmutenden religiösen Rück-                                                     mit Abwehr und Unwissenheit. Geben Sie                         (derFreitag, Ausgabe 2216)
                                                                                                   deshalb Raum für die Darstellung persönlicher                  www.freitag.de/autoren/der-freitag/
besinnung die offene und nicht von taktischen                                                                                                                     istanbuls-willige-helfer
Überlegungen bestimmte Auseinandersetzung                                                          Eindrücke und Erlebnisse und die mit ihnen
mit menschlichen und demokratischen Werten                                                         verbundenen Gefühle.
                                                                                                ◆◆ Entfalten und stärken Sie die Fähigkeit des                          Zülfü Gürbüz
dringend notwendig sei. Dieser Ansatz bilde
auch die Grundlage unserer pädagogischen                                                           Zuhörens mit Ihren SchülerInnen. Es reicht                           Vorsitzender des Verbands der Lehre-
                                                                                                                                                                        rInnen aus der Türkei (NRW-TÖB)
Arbeit in der Schule. Die zahlreichen Konflikte im                                                 nicht aus, jemanden zu Wort kommen zu
Nahen Osten machen – ebenso wie der Konflikt                                                       lassen, wenn das Umfeld nur auf Entgegnung
zwischen Russland und der Ukraine – nicht vor                                                      sinnt und das Gesagte nicht aufnimmt. Üben
unserer Haustür halt. Sie finden auch in den                                                       Sie dies in Ihren Klassen.                                           Manfred Diekenbrock
Communitys statt. Mehrere TeilnehmerInnen                                                       ◆◆ Sorgen Sie für Klarheit in der Sache, in-                            Mitglied im Leitungsteam des
                                                                                                                                                                        Referats Gewerkschaftliche
beklagten, dass sie Angst hätten Meinungen                                                         dem sie unterschiedliche Medien nutzen
                                                                                                                                                                        Bildungsarbeit der GEW NRW
zu äußern, die von dem abweichen, was als                                                          und Sachinformationen sorgsam von Be-
Position ihres Herkunftslands wahrgenommen                                                         wertungen trennen. Machen Sie deutlich,
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14 BILDUNG

Dezentrale Demonstrationen gegen TTIP und CETA

Für faire Globalisierung und
eine gerechte Handelspolitik
Am 17. September 2016 werden wieder Zehntausende für einen fairen
Welthandel und gegen die Handelsabkommen mit den USA (TTIP) und
Kanada (CETA) auf die Straße gehen. Der Protest ist wichtiger denn je:
Es geht um mehr als ein oder zwei weitere Freihandelsverträge. Es geht
um die Frage, ob ein Neustart bei der Gestaltung der Globalisierung
möglich ist.

   Jahrzehntelang hat die Handelspolitik ein-        Sperrklinkenklausel: Sie schreiben stets das je-     Welthandel muss allen zugutekommen
seitig auf einen freien Weltmarkt gesetzt,           weils höchste erreichte Liberalisierungsniveau
                                                                                                             Die Kritik an TTIP und CETA und der Ruf nach
ohne diesem Markt die nötigen sozialen und           fest und verhindern eine erneute Regulierung         einer besseren Handelspolitik sind kein deutsches
ökologischen Regeln zu geben. Diese Art von          von deregulierten Bereichen.                         Phänomen. Die Gewerkschaften in anderen
Globalisierung gerät zu Recht immer mehr in
                                                     Nachhaltigkeit:                                      Teilen Europas, aber auch in Kanada und den
die Kritik, denn sie hat Nebenwirkungen: Die
                                                     Keine Pflicht zur Umsetzung                          USA, teilen die Bedenken und Forderungen des
Ungleichheit nimmt vielerorts zu, der verstärkte
                                                                                                          DGB. Diese internationale Einigkeit ist wichtig.
Wettbewerbsdruck wird oft auf dem Rücken der            Zudem ermöglichen die geplanten Regeln zum
                                                                                                          Denn die Probleme der Globalisierung werden
Beschäftigten abgeladen oder geht zulasten des       Investitionsschutz Unternehmen, vor Schieds-
                                                                                                          nicht durch ein Zurück zum Nationalstaat gelöst,
Umwelt- und Verbraucherschutzes.                     gerichten gegen sinnvolle staatliche Regulierung
                                                                                                          wie manche behaupten. Die Lösung muss sein,
                                                     zu klagen. Dank des öffentlichen Drucks hat
Ausnahmenlisten:                                                                                          den Welthandel so zu gestalten, dass seine Vor-
                                                     es bei CETA klare Verbesserungen gegeben –
Kontrollen fast unmöglich                                                                                 teile wirklich allen zugutekommen. Es braucht
                                                     beispielsweise hinsichtlich der Unabhängigkeit
   Kämen CETA und TTIP wie geplant, würden                                                                einen transparenten Diskussionsprozess, der
                                                     der Schiedsrichter und der Überprüfbarkeit von
sich die Probleme noch verschärfen. CETA folgt                                                            die faire Gestaltung der Globalisierung in den
                                                     Urteilen. Grundsätzlich bleibt es aber dabei, dass   Mittelpunkt stellt.
beispielsweise als erstes EU-Abkommen über-
                                                     ausländische InvestorInnen durch das Abkom-             Dafür gehen wir am 17. September 2016
haupt dem sogenannten Negativlisten-Ansatz
                                                     men zusätzliche Rechtsansprüche gegenüber            in sieben deutschen Städten auf die Straße –
und führt damit tendenziell zu immer mehr De-
                                                     dem Staat erhalten und Regierungen unter             gemeinsam mit vielen anderen Organisationen. //
regulierung. Bislang mussten Bereiche, in denen
                                                     Druck setzen können.
der Wettbewerb verstärkt werden soll, explizit in
                                                        Stattdessen bräuchten wir effektive Durch-
einer Positivliste aufgeführt werden. Künftig soll
es nach dem Willen der VerhandlungsführerInnen
                                                     setzungsmechanismen für ArbeitnehmerIn-
                                                     nenrechte und entsprechende staatliche
                                                                                                            NRW gegen TTIP
umgekehrt sein: Möchte ein Staat Ausnahmen                                                                  Auch in NRW gehen Gewerkschaften und Bür-
festlegen, muss er den jeweiligen Bereich auf        Regulierungen müssen gestärkt werden. Und
                                                                                                            gerInnen gemeinsam auf die Straße, um gegen
eine Negativliste setzen. Damit muss nicht           tatsächlich sollen CETA und TTIP auch Nach-            TTIP und CETA zu demonstrieren:
mehr die Liberalisierung gerechtfertigt werden,      haltigkeitskapitel mit Vorgaben zum Schutz             Termin:    17.09.2016, 12.00 Uhr
sondern die Ausnahme davon.                          und zur Förderung solcher Rechte beinhalten.           Ort:       Deutzer Werft, Köln
                                                     Das Problem: Während alle anderen Teile des            Den Aufruf, weitere Materialien und alle Infos
   Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass wichtige
                                                                                                            zur Demo in Köln gibt es unter nrw.dgb.de/ttip
Regeln – etwa zum Schutz der Daseinsvorsorge –       Abkommens mit Sanktionen bewehrt sind – also
auf der Negativliste vergessen werden. Die           beispielsweise Verstöße gegen die Pflicht zur
Ausnahmenlisten bei CETA umfassen rund 870           Zollsenkung mit Strafen belegt werden können
Seiten. Damit ist kaum kontrollierbar, ob wirklich   –, gilt das für die Nachhaltigkeitskapitel nicht.                  Ste­fan Kör­zell
alle wichtigen öffentlichen Dienstleistungen         Ausgerechnet im Abkommen festgeschriebene                          DGB-Vorstandsmitglied, Schwer-
                                                                                                                        punkte: Wirtschafts-, Finanz- und
vom Geltungsbereich des Abkommens effektiv           ArbeitnehmerInnenrechte oder Umweltstandards
                                                                                                                        Steuerpolitik sowie Struktur-, Indus-
ausgenommen sind. Außerdem enthält CETA              sind damit nicht effektiv durchsetzbar. Nachhal-                   trie- und Dienst­leistungs­politik
Regelungen wie die Stillstandsklausel und die        tigkeitskapitel drohen zahnlose Tiger zu bleiben.                  Foto: DGB / Simone M. Neumann
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