FORMIDABLE Stromae, über 200 Millionen Klicks auf Youtube - N 48 - 29. NOVEMBER 2014
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N ° 48 — 29. NOV EM BER 2014 SCHWEIZ IN EUROPA: DER AUFSTAND DER ZIVILGESELLSCHAFT S. 20 FORMIDABLE Stromae, über 200 Millionen Klicks auf Youtube EINE KURZE GESCHICHTE DER VOLKSINITIATIVE S. 28
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EDITOR IAL/INHALT S. 20 Dieses Wochenende wird abge- stimmt; eine Annahme der Ecopop- Initiative wäre katastrophal, die Anliegen der Initianten sind menschen- verachtend, unchristlich, und sie schaden der Wirtschaft. Das Tessin leidet stark unter den tiefen Löhnen wegen der Grenzgänger aus Italien, Xenophobie ist seit geraumer Zeit die Tessiner Krankheit. Die Situation DA S M AGA Z I N 4 8/2014 — C OV E R U N D E DI T OR I A L: OL I V I E R VO GE L S A NG / T R I BU N E DE GEN È V E; E DI T OR I A L: A N DR É R AU L S U R AC E ist aber komplex, tatsächlich profitiert der Kanton auch von italienischen Investitionen; der Unmut der Tessiner Formidabler Künstler, formidabler Mensch, Stromae richtet sich jedoch weniger gegen S. 10 die italienischen Kollegen als gegen die Behörden und die Wirtschaft. Unsere Reportage auf S. 32 zeichnet ein differenziertes Bild der Beziehungen zwischen Tessinern und Grenzgängern. Die Schweiz ist ein Teil Europas, auch wenn der antieuropäische Medien- mainstream in der Schweiz das nicht gerne hört. Jetzt erheben sich plötzlich Stimmen aus dem Politik- und Wirtschaftsestablishment, sie alle wollen mindestens die Bilateralen Ver- träge retten. Joel Bedetti hat mit den Leuten gesprochen, für die die Zukunft der Schweiz nicht Isolationismus heisst S. 20. Ja, es wird abgestimmt, diesmal über eine sehr dumme Initiative. Wie ist das möglich? Die kleine Geschichte der Volksinitiative von Thomas Zaugg S. 28 tröstet erklärend, sollte es nicht so kommen, wie man es vielleicht erwartet hat an diesem Wochenende. Finn Canonica S. 32 3
KOMMENTAR EUROPÄISCHE AVANTGARDE Von DANIEL BINSWANGER sing», also der künstlichen Ausweitung in die gegenteilige Richtung. Die Ecopop- Die Schweiz steht ihren Nachbarländern der Geldmenge. Beides hat in der Euro- Initiative wiederum wirkt wie eine öko- mit wachsendem Misstrauen gegenüber Zone nur begrenzt stattgefunden. Den logische Variante der europäischen Ge- und verteidigt entschlossen den helveti- Krisenstaaten wird im Gegenteil durch sundschrumpfungsneurose. Offenbar er- schen Sonderweg. Das ist umso bemer- den Fiskalpakt ein rascher Defizit-abbau scheint es nie als ganz falsch, den Gürtel kenswerter, als sich eine zunehmende aufgenötigt – was die Schuldenländer in noch enger zu schnallen, auch nicht mit- ideologische Annäherung zwischen den der Rezession gefangen hält und parado- ten in einer Nachfrage-Krise: Wer gesün- Eidgenossen und ihren vermeintlichen xerweise dazu führt, dass sich ihre Schul- digt hat, soll sich zu seiner Erlösung ge- europäischen Antipoden zu vollziehen denlast nicht abbaut, sondern weiter ver- fälligst selbst kasteien. scheint. Es gibt einen zunehmenden grössert. Die tiefe Verwandtschaft zwischen Konsens darüber, wie der Bedrohung Die Schweiz hat sich zwar nicht mit Goldstandart-Fixierung und Austeritäts- durch Wachstumsschwäche, hohe Ar- beitslosigkeit, Staatsverschuldung und einer Schuldenkrise herumzuschlagen, aber dieses Wochenende stehen gleich glaube bestätigte sich bereits in den 20er Jahren. John Maynard Keynes hat SWISS First politische Polarisierung zu begegnen ist zwei Abstimmungen an, die dem Austeri- schon in «Die wirtschaftlichen Folgen Entdecken Sie eine neue Welt – oder wie man sich im Falle der Schweiz davor zu schützen hat, auf die Bahn die- tätsgeist, der Europa die Luft abschnürt, zutiefst seelenverwandt sind. Die Gold- des Friedensvertrages» die Austeritäts- politik, die nach dem ersten Weltkrieg schon auf dem Weg dahin. ser Negativentwicklungen zu geraten. Initiative will eine abgeschwächte Form dem deutschen Reich auferlegt wurde, Europa reagiert auf die immer be- der Golddeckung des Schweizer Fran- als für ganz Europa zerstörerisch denun- lastendere Euro-Krise mit der Ross-Kur kens durchsetzen, die Ecopop-Initiative ziert. In derselben Schrift findet sich auch der Austeritätspolitik, obwohl ständig will aus Gründen ökologischer Nachhal- eine scharfe Kritik des Goldstandards, deutlicher wird, dass diese den Kontinent tigkeit die Zuwanderung und damit den der es verunmöglicht, durch Währungs- immer tiefer in die Stagnation führt. Die wichtigsten Schweizer Wachstumsmotor abwertungen den internationalen Han- Vereinigten Staaten und Grossbritanni- drosseln. Mitten in einem europäischen del ins Gleichgewicht zu bringen. Keynes en haben auf die Finanzkrise mit expan- Umfeld, dessen längerfristige Wachs- Warnung vor Goldstandard und Auste- siverer Geld- und Fiskalpolitik reagiert tumsaussichten schlechter sind denn je, rität wurde durch die Weltwirtschafts- und sich weit besser von dem Einbruch sollen die Schweizer Stimmbürger eine krise und ihre apokalyptischen Folgen erholt als die Volkswirtschaften der Euro- Politik der aktiven Wachstumsreduktion eindrücklich validiert. Leider sind die Zone. Der Hauptgrund ist das «Zero- erwägen. Mitten in einer Situation, in der Parallelen zur heutigen Situation der lower-bound»-Phänomen: Leitzinsen eine aktive Wechselkurspolitik für die Euro-Zone nur allzu offenkundig. können nicht tiefer abgesenkt werden Exportwirtschaft unverzichtbarer ist Es hat beinahe den Anschein, als als bis auf Null. Der von der Finanzkrise denn je, soll die Handlungsfreiheit der habe der alte Kontinent den Glauben an ausgelöste Nachfrage-Schock war aller- Nationalbank beschnitten werden. seine Produktivität und Entwicklungs- dings so gross, dass die Zinsen heute Die Goldinitiative ist durch exakt die- fähigkeit verloren – als könne er sich nur tiefer als Null, also negativ sein müssten, selben Befürchtungen motiviert wie die noch in Enthaltsamkeit üben, eine un- um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Tabuisierung einer expansiven Geld- fruchtbare Askese hochhalten, das Pa- Da Negativ-Zinsen nur schwer durchge- und Fiskalpolitik in der Euro-Zone: Die thos der Härte zelebrieren. Die Schweiz DA S M AGA Z I N 4 8/2014 setzt werden können, muss in einer ein- Angst vor Inflation und Geldentwertung. glaubt ihre Souveränität zu verteidigen, schneidenden Krise zu anderen Mitteln Sowohl in der Schweiz als auch in der doch mehr und mehr steht sie in Gefahr, gegriffen werden, um die Nachfrage- Euro-Zone geht zwar heute die wahre Be- wie die Avantgarde der europäischen Lücke zu schliessen: entweder zur geziel- drohung nicht von Inflation, sondern Sklerose zu erscheinen. ten Erhöhung der Staatsverschuldung von Deflation aus. Dennoch drängt der oder wenigstens zum «quantitative ea- Primärreflex der «Wertsicherung» genau DA N I EL BI N S WA NGER ist Redaktor beim «Magazin». 4
DR AUSSEN SEIN MIT: STEFAN WIESNER Nichts inspiriert den hochdekorierten Koch aus dem Entlebuch mehr als die Gerüche von Torf, Rottannen und geräucherten Schneeflocken. Von CHRISTIAN SEILER Es ist stets das Draussen, das Wiesner inspiriert. Er schneidet Für Stefan Wiesner hat das «Draussen» eine ganz besondere zum Beispiel mit der Motorsäge Scheiben aus frisch gefällten Bedeutung. Andere Köche seiner Preisklasse (Wiesners «Röss- Bäumen, um deren Geruch mit Gerichten, die er als verwandt li» in Escholzmatt, Kanton Luzern, ist mit 17 «Gault Millau»- einschätzt, zu kombinieren. Er zelebriert die dumpfen, dunk Punkten und einem Michelin-Stern ausgezeichnet) verlassen len Gerüche des Torfs und die Schärfe der fragilen Sprossen, für ihr Mise en Place nicht die Küche, aber für Wiesner beginnt die er aus den Samen der Rottanne zieht. Er lässt Essig mit Lin- das Kochen ganz bestimmt nicht innerhalb des Hauses, in dem denblüten und Lindenholz wochenlang ziehen und bereitet schon seine Eltern ihren Gästen Bratwurst und Rösti serviert aus Süssholz Saucen zu, macht Holzkohle zu Senf und gart eine haben. Forelle im Ameisensäuresud. Das – und viele Spinnereien mehr Bratwurst und Rösti serviert Wiesner übrigens auch, und – hat ihm den Beinamen «Hexer» eingetragen, den Wiesner mit ich darf an dieser Stelle festhalten, dass es sich dabei um eine einem gewissen Stolz trägt. ganz besonders gute Bratwurst handelt, die in der Rössli-Küche Wir gehen über das Hochmoor, das sich ein paar Hundert eigens gefüllt und mit etwas Blattgold dekoriert auf den Tisch Meter ausserhalb von Escholzmatt erstreckt. Wiesner schrei- kommt. Das mit dem Gold wäre, wie ich finde, gar nicht not- tet durch diesen Wald wie ein Tier, das hier zu Hause ist. Er wendig, aber Stefan Wiesner möchte ein kleines Zeichen set- prüft die verschiedenen Schattierungen von Grün, welche die zen: Konzentriert euch auf diese Wurst, Leute. Sie ist es wert. Nadelbäume voneinander unterscheiden, betrachtet das mit Man muss vielleicht erklären, warum Stefan Wiesner so Wasser vollgesogene Moos und die Astgeflechte der Heubee- darauf erpicht ist, dass man seine Arbeit auch entsprechend ren, er bläht die Nasenflügel, um zu wittern, ob es nach Pilzen ästimiert. Zum Beispiel verfolgte er den Aufstieg der Nordic riecht, obwohl es um diese Jahreszeit nie nach Pilzen riecht – Cuisine mit grossem Staunen. Als ein paar Foodies, die in Ko- aber wer weiss? Er legt die Hand an den Stamm einer Birke penhagen und Stockholm gewesen waren, auch bei Wiesner und zeigt, wo er im Frühling ein Loch in die Rinde bohren wird, einkehrten, sagten die ihm nämlich: «Dort passiert nichts an- um den Saft, der «wie aus einem Wasserhahn sprudelt», auf- deres, als was du seit Jahren machst.» zufangen und in die Küche mitzunehmen. Wiesner wollte aus der Bratwurst-und-Rösti-Beiz seiner Als wir aus dem Wald treten und das Moor überqueren, Eltern das beste Restaurant zwischen Bern und Luzern machen, steuert Wiesner auf ein Loch zu, das er schon vor Wochen wie und weil er keinen Sinn darin sah, im Entlebuch eine klassische ein Eisfischer in den Boden gegraben hat. Etwa einen Meter französische Küchenshow abzuziehen, wie er sie als Stift im unter der Erdoberfläche befindet sich hier reiner Torf, ein or- Luzerner Château Gütsch gelernt hatte, überlegte er sich et- ganisches Sediment, das klassischerweise als Brennstoff ver- was im Grunde Philosophisches. wendet wurde, bei Wiesner aber mit Schokolade und Fleur de Sel zu kleinen, aromatischen Kügelchen verarbeitet wird. Klassiker Heusuppe Er legt sich auf eine mitgebrachte Decke in den Schnee, Er beschloss, die sehr spezielle Topografie und landschaftliche setzt für einen Augenblick sogar den Hut ab, der ihm sonst wie Prägung des Entlebuchs in Geschmack zu übersetzen. Dazu angewachsen auf dem Schädel sitzt, und wühlt sich mit den fielen ihm Rezepte ein, die entweder knapp an der Genialität Fingern in die richtige Tiefe des Torfs hinunter, dort, wo die vorbeischrammten, wie seine «Heusuppe», ein sofortiger Sedimente absolut sauber und keimfrei sind. Er packt ein paar Klassiker, oder am Wahnwitz, wie die nur als Akt der Spiri Handvoll Torf in seine «Freitag»-Tasche und gönnt sich für tualität zu verstehende «geräucherte Schneesuppe»: Bei star- einen Augenblick das strahlende Lächeln, das die oft verson- kem Schneefall stellt Wiesner seinen Räuchercontainer in die nene, fast nach innen gewandte Miene des Kochs plötzlich in Landschaft und entfacht darin ein Feuer aus Rottannenholz. ein helles, warmes Licht setzt. Die Schneeflocken nehmen die Aromen des aufsteigenden «Crazy, nicht wahr?», sagt Wiesner, sichtlich zufrieden Rauchs an und sammeln sich in einem Gefäss, das über dem damit, dass er ein Leben führt, dessen Erfolg darauf beruht, von Feuer eingehängt wurde. Dieses geräucherte Wasser wird Berufs wegen ein bisschen verrückt zu sein und dem Begriff schliesslich mit Rinderknochen und Gemüse zu einer kräftigen «Spinner» in Escholzmatt und Umgebung einen respektvollen DA S M AGA Z I N 4 8/2014 Bouillon verkocht und mit Eidottern und Rahm abgerundet. Unterton abzutrotzen. Das Bestechende an dem Gericht ist die Idee, das Tanzen der Schneeflocken mit dem Aufsteigen des Rauchs zu verheiraten. Die ketzerische Frage, ob sich geräucherte Schneeflocken im Geschmack von geräuchertem Leitungswasser unterscheiden, prallt an diesem Akt handwerklicher Poesie ab. Stefan Wiesner im Hochmoor bei Escholzmatt LU Bild NA DJA AT H A NA SIOU 7
K ATJA FRÜH MEIN LEBEN UND DER HUT Im Sommer hat mir mein Mann einen lächle. Oder, bei der Preisübergabe an Pein und Not in ihren Augen sehen? Zum Hut gekauft. Einen wagenradgrossen mich, ins Publikum winkend, mit dem Einkaufen? Zum Schuhmacher? In die Strohhut mit aprikosenfarbenen Blüten Hut selbstredend, vom Podest aus all den Physiotherapie? In die Pizzeria? Immer drauf. Ich weiss nicht, warum er schwach Leuten dankend, die mich unterstützt wollte ich, wenn ich alt bin, Exzentrike- wurde, mir so ein Geschenk zu machen, haben. Als Operndiva, als Konzernchefin rin werden, aber jetzt hab ich nicht ein- aber er schien kurz entschlossen. Ich pro- oder auch in einer Liebesnacht, hinten mal die Eier, falls ich welche hätte, den bierte den Hut an und war selbst, was läuft leise «Leave Your Head On» von Hut in der Migros zu tragen. Ich gehe selten vorkommt, hingerissen, geradezu Joe Cocker, der Sommerwind streift sanft nicht an Pferderennen, für Beerdigungen platt. Der Rand des Hutes umspielt das durch die Gardinen. ist er zu bunt, an Hochzeiten erschlägt er Gesicht auf schmeichelnde Weise, die Braut, an Premieren suggeriert die Augen wirken gross und schat- er, dass lieber ich auf der Bühne tig, der Mund tritt etwas hervor, stünde. sehr sexy, die Konturen wirken auf Vielleicht würde der Hut, ungenaue Art irgendwie straffer, wenn ich ihn denn trüge, mein was in meinem Alter besonders Leben total umkrempeln. Im wunderbar ist. Fast war ich in Ver- wahrsten Sinn des Wortes. Viel- suchung, ein Selfie zu machen. leicht geht es von aussen nach in- Wenn ich Selfies nicht hassen wür- nen. So wie man jetzt Depressiven de und davon überzeugt bin, dass Botox spritzt, damit ihre Kummer- es den Selfie-Machern einst ge- und Zornesfalten verschwinden nauso mies gehen wird wie dem und sich so auch die Seele glättet. armen Narziss mit seinem Was- Oder, auch von Psychologen em serspiegelbild. pfohlen: Wenn du dich schlecht Ich sehe mich mit diesem Hut fühlst, wütend, traurig, dann tu an der Amalfiküste auf einer Mee einfach so, als ob es dir gut ginge. res-Terrasse Bellini trinken. Auf Lächle, auch wenns wehtut, sei einen Produzenten wartend. Oder freundlich zu den Menschen, auch durch meinen Blumengarten spa- wenn du sie grässlich findest, bü- zierend meinem Liebhaber, dem gle deine Wäsche mit Lavendel Grafen, zuwinkend, der in brau- wie im Grandhotel, auch wenn du nen Lederstiefeln sein Land ab- in einer 2-Zimmer-Wohnung in schreitet. Oder in Cannes die Croi- Rümlang wohnst. sette entlangschlendernd. Einen Vielleicht würde ich, diesen Empfang gebend in einem Som- Hut tragend, ein Bilderbuchleben mergarten, ein endloses Fest . . . Oder im Da hängt er, der Hut, an der Garderobe, bekommen. sommerlichen Paris im Marais einen Pas- im November. Die Kluft zwischen ihm Aber ich werde ihn nicht tragen. Nie- tis schlürfend, bevor ich im Georges V und meinem Leben wird schon wetter- mals. Ich werde ihn meinen Enkelkin- einchecke. Oder in den Hamptons am bedingt immer grösser. dern schenken. Dann können sie damit Strand, wenn mir der Hut von einer küh- Was könnte ich mit ihm anstellen? «Ich wäre und du wärst» spielen. Sie len Brise immer wieder davonfliegt, mein Ich meine in meinem Leben. Hätte ich dürfen das noch. Ich nicht mehr. Kavalier ihn mir lachend hinterherträgt. mich beim «Magazin» vielleicht so als Oder den Hut festhaltend und das Kleid neue Kolumnistin vorstellen sollen? Oder herunterziehend, wenn ich aus dem Flug- soll ich in einem Club auftauchen, in DA S M AGA Z I N 4 8/2014 zeug steige und milde die Fotografen an dem meine Kinder verkehren? Und die Die Drehbuchautorin und Regisseurin K AT JA F RU EH schreibt hier im Wechsel mit Hazel Brugger. Bild LU K A S WA S SM A N N 8
M A X KÜNG VON HÄNDEN, HOSEN, SÄCKEN In der spätabendlichen Sendung «Giacobbo/Müller» auf SRF 1 dürfen sich eingeladene Politiker als das präsentieren, was sie gern wären: als Menschen. Menschen, die gern lachen, sogar manchmal über sich selber ;–)), die schlagfertig sind, ein Herz haben, randvoll sind mit Liebe, Güte, Barmherzigkeit. Nun wissen alle, die eine an- dere Sendung gesehen haben, nämlich «House of Cards», dass Politikerinnen und Politiker durch und durch schlecht sind, ver- dorben wie ein Tetrapak Milch, der offen drei Wochen auf dem Küchentisch stand. Schlimmer als Politiker sind nur noch Jour- nalisten: Sie haben von nichts eine Ahnung, zu allem aber eine Meinung. Am allerschlimmsten folglich wäre einer, der so- wohl Journalist wie auch Politiker wäre, ein Journalitiker oder Pornalist oder wie man dem auch immer sagen würde. Zum Glück gibt es das nicht. Die Politikermenschlichmachungsmaschine bei Giacobbo/ Müller funktioniert mal besser, mal schlechter. Kürzlich war ein Rechtspolitiker zu Gast. Ich erinnere mich weder an seinen Namen noch an sein Gesicht, beides war recht langweilig, je- doch nicht sein Hobby: Jodeln. Der Rechtspolitiker sagte nicht ohne Stolz, das Jodeln sei «weltweit das einzige Hobby, bei dem man beim Ausüben die Hände im Hosensack haben kann». Genau so hat er es gesagt, inklusive des schönen Worts «ausüben». Tatsächlich: Das Jodeln ist herrlich im Ohr, und es deln um das weltweit einzige Hobby handele, welches man mit ist alt, ötzimässig alt, die Ursprünge reichen zurück in eine Zeit, den Händen im Hosensack ausüben kann. in der man hier noch mit angespitzten Haselruten Mammuts (Unvollständige) Liste der Hobbys, welche man mit den jagte und politische Diskussionen mit Geröllkeulen führte. Vor Händen im Hosensack ausüben kann: allem ist das Jodeln noch etwas: ein Symbol für das Gegenteil — Tanzen (vor allem das elegante Antanzen des anderen von Abschottung und Binnengedanken. Denn das Jodeln ist ein Geschlechts in Dancings und Diskotheken); weltumspannendes Phänomen, welches man nicht nur im Al- — Kirschkernweitspucken (Weltrekord bei den Frauen gehal- penraum kennt, sondern auch bei den zentralafrikanischen ten von der ehemaligen Guggenmusiktrompeterin Conchita Baka-Pygmäen praktiziert («ausübt»), bei den Samen im nörd- Kohler aus 5236 Remigen: 15,24 Meter); lichsten Norden des Nordens, auf Halmahera und den anderen — Plainspotting (das Beobachten von Flugzeugen am Him- Inseln der Molukken ebenso wie bei den Inuit, formerly known mel und auf Flughäfen); as Eskimos, und in vielen anderen Ecken und Zipfeln dieser — Fussball (ausser man ist Goalie); Welt. Überall liebt man das Jodeln – und so ist der jodelnde — und dann ist da noch das Hobby, welches man NUR mit Rechtspolitiker ein Bruder des jodelnden zentralafrikani- den Händen im Hosensack ausüben kann: Sackbillard. Ein schen Buschschamanen, ein Bruder des jodelnden Hawaii Hobby übrigens, welches sich bestens mit dem Jodeln kombi- DA S M AGA Z I N 4 8/2014 aners, ein Bruder des jodelnden Palästinensers (der traditio- nieren lässt. Und umgekehrt. nell an Hochzeiten jodelt, während der Rasur des Bräutigams). PS: Beim Jodeln empfiehlt es sich übrigens, die Hände Das Jodeln macht den Rechtspolitiker zu einem Teil einer auch mal aus den Hosensäcken zu nehmen, zumindest nach grossen globalen Gemeinschaft. dem zwölften Kafi fertig. Die Nase wird es danken. Was jedoch nicht stimmt, und zwar ganz und gar nicht, das ist die Aussage des Rechtspolitikers, dass es sich beim Jo- M A X K Ü NG ist Reporter beim «Magazin». 9
DER FARBIGE Stromae, der elektrische Chansonnier aus Brüssel, schreibt dunkle Verse mit geschmeidigen Melodien. Und er singt sie für Millionen. Ein Rendezvous vor seinem Zürcher Konzert. Von Jean-Martin Büttner Bilder Olivier Vogelsang
real watches for real people Er ist über einsneunzig gross und sieht aus wie von Giacometti Paul wächst in einem armen Stadtteil von Brüssel auf, lernt an modelliert, die Muster seiner grellbunten Kleider erinnern an der Musikakademie Harmonielehre und Perkussion, studiert die Vexierbilder von M.C. Escher. Er durchquert den Raum mit an der Filmschule, beginnt zu musizieren, schreibt Stücke für Anmut, sein Lachen erleuchtet das Gesicht, er redet mit langen andere, gründet Bands, macht ohne sie weiter, versucht sich Händen. Er ist 29 Jahre alt und sieht jünger aus, ein schmaler als Hip-Hop-Sänger, arbeitet temporär, geht zum Radio. «Auf Mann mit der Feingliedrigkeit eines Tänzers. Wenn er in der dem Weg zur Arbeit kam ich an den Läden vorbei, in denen ich Tür steht, drehen sich alle nach ihm um, dabei ist er es, der auf heute Platten signiere», sagt er. die anderen zugeht. «Vous allez bien?», fragt er, faltet sich in «Alors on danse», seine erste Single, die er im Estrich sei- den Sessel, bestellt englischen Tee und blickt das Gegenüber ner Mutter auf dem Laptop einspielt, wird in Belgien und dann mit dunklen, melancholischen Augen an. in Frankreich und Europa zum Hit. Er enthält alles, was Stro- Das ist Paul Van Haver, der sich Stromae nennt, die Um- mae als Musiker, Sänger und Texter auszeichnet. Eingängig- kehrung von Maestro. Paul ist Mestize, das fünfte Kind einer keit, Eleganz, Tristesse. flämischen Mutter und eines ruandischen Vaters, eines Archi- Qui dit amour dit les gosses, tekten, der die Familie früh verlässt, in seine Heimat zurück- dit toujours et dit divorce. kehrt und als Tutsi beim Genozid von 1994 ermordet wird; der Qui dit proches te dis deuils Leichnam wird nie gefunden. Stromae wird über die abwesen- car les problèmes ne viennent pas seul. den Väter ein Lied schreiben, «Papaoutai», das viele Kinder Das Scheitern einer Beziehung, einer Familie, der Tod der und Mütter zum Weinen bringt, die es hören. Im Video spielt Nächsten, alles zu vier lakonischen, scheinbar mühelos mon- DA S M AGA Z I N 4 8/2014 er den Vater als Wachsfigur; es wurde im Internet über 206 Mil- tierten Zeilen komprimiert. Er singt sie in seinem geschmei- lionen Mal angeklickt, eine enorme Zahl, die amerikanischen digen Sprechgesang, man hört das Stück einmal, hört es wie- Superstars vorbehalten bleibt, ein elektrischer Chansonnier aus der und wieder, wird es nicht mehr los. Der Clip zum Song Brüssel wird dort nicht erwartet. weist ihn als instinktiven Schauspieler aus, die Filmsprache, Un jour ou l’autre on sera tous papa die Choreografie und die Inszenierung zeugen von seinem Et d’un jour à l’autre on aura disparu. Talent und seinem Humor. Die erste Platte heisst «Cheese», Er lässt die Leute selig zurück: Stromaes Publikum am Paléo Festival von Nyon 12
zeigt ihn lächelnd mit umgebundener Fliege und macht ihn weit ne Verbindung zustande, interessiert es mich nicht. Erst wenn über seine Heimat hinaus bekannt. Ausverkaufte Konzerte, ver- zücktes Publikum, exaltierte Kritiken. Stromae wird zum Star. sie gelingt, beginnt für mich der Prozess des Geschichtener- zählens, bei dem am Ende der Zuhörer etwas erlebt.» real watches for real people 2013 bringt er «Racine Carrée» (Quadratwurzel) heraus, Stromaes Texte klingen immer wie selbst erlebt. «Formi- die Platte führt noch ein Jahr nach Erscheinen die Schweizer dable» erzählt von der Leere nach dem Rausch, von Heirat Verkaufsliste von iTunes an. Die Musik klingt energischer, und Verlassenheit, das Lied imitiert die weinerliche Anmache Stromae kombiniert seinen melodiösen Hip-Hop mit Elektro- eines Zurückgewiesenen. Das ist alles so mitleidlos präzis beats und Einwürfen kongolesischer und kubanischer Tänze zu rapportiert, dass man sich gar nicht vorstellen kann, dass hier einer globalisierten Musik aus dem Estrich. Gelegentlich klingt einer bloss beobachtet hat und nicht erlebt. Das Stück beginnt seine Musik künstlich und blechern, meistens überzeugt mit einer simplen, geschlauften Klavierfigur, dann singt sein aber die Kombination zwischen der Kühle der Elektronik und Autor und redet los, und er kommt einem vor, als sei er der der Wärme seiner Stimme. Und da sind noch die Texte. Stromae Musik ausgeliefert, als würde sie ihn vor sich hertreiben. Wie schreibt poetisch direkt. Die Zeilen tanzen, die Metaphern ist das Stück entstanden? gleissen, die Wortspiele funkeln. Und immer ist da ein Ernst «Ich hatte diese vier Noten aus Händels ‹Sarabande› im in seinen Songs, eine Dunkelheit in allem, was er macht, von der Kopf, das ich von Stanley Kubricks ‹Barry Lyndon› kannte, die auch seine Selbstironie nicht ablenkt. Bereits wird er mit Edith Musik steigt hoch und fällt wieder in sich zusammen. Als wir Piaf verglichen, Yves Montand und allen voran Jacques Brel, die Szene an der Filmschule analysierten, sagte unser Prof, «Die Musik bestimmt alles bei mir, auch die Musikalität der Worte, lange bevor diese einen Sinn ergeben. Kommt keine Verbindung zustande, interessiert es mich nicht.» dem belgischen Chansonnier, den Stromae so sehr verehrt, Kubrick habe diese Musik gerade deshalb eingesetzt. Zuerst dass er sich jeden Vergleich mit ihm verbittet, er reagiert auf- geht alles gut, dann wird alles schlecht. Daraus ergab sich der gebracht, wenn man ihn in Brels Nähe lobt. Dabei kann man Text.» manchmal nicht anders als an den Landsmann zu denken, Das Bemerkenswerte am Song ist nicht nur die Verfilmung nicht nur von der Intensität des Vortrags her, sondern weil es im fahlen Alltagslicht von Brüssel, sondern die Zahl, die bei auch bei Stromae oft humorvoll zugeht, aber selten fröhlich. Youtube daruntersteht: Über 96 Millionen Mal ist dieser Oris Big Crown ProPilot Altimeter Da ist zum Beispiel «Formidable» aus dem zweiten Album, schmucklose Clip weltweit angeklickt worden, mehr als «Bad» Patentiertes Automatik-Uhrwerk das schon wegen seiner Verfilmung zu reden gab. Im Videoclip von Michael Jackson. Sein letztes Zürcher Konzert gab Stromae mit mechanischem Höhenmesser zum Song irrt Stromae betrunken über eine Tramstation in im Palais X-tra, wo das Publikum seine Texte im Chor mitsang. Matt satiniertes Edelstahlgehäuse Wasserdicht bis 10 bar/100 m der Brüsseler Innenstadt, im strömenden Regen beschimpft Sein nächstes spielt er am Freitag im Hallenstadion*, es ist seit www.oris.ch er Passanten und entschuldigt sich im nächsten Satz, dazwi- Monaten ausverkauft. Vorher spielt er noch in den USA und in schen fällt er fast vors Tram. Drei junge Polizisten halten ihn Kanada, im nächsten Jahr bereist er Afrika. auf, bitten ihn freundlich, doch heimzugehen und sich aus- Mit dem Erfolg kommt die Routine, mit der Routine droht zunüchtern. «Je suis un grand fan», sagt einer von ihnen. Was die Gleichförmigkeit. Etwas davon merkt man dem Konzert an, sie nicht wissen: Der Musiker lässt seinen Auftritt mit versteck- das Stromae am Abend des Interviews geben wird. Sein Auf- ten Kameras filmen, das Taumeln im angetrunkenen Zustand tritt am Paléo Festival von Nyon war innert neun Minuten aus- ist inszeniert. Hinter dem Spontanen wird der Kontrollieren- verkauft, und obwohl er erst nachts um halb eins auf die Bühne de spürbar, der seine Songs am Computer komponiert, die tritt, drängt sich eine riesige Menge vor die grosse Bühne, Zehn- DA S M AGA Z I N 4 8/2014 Muster seiner Kleider in Auftrag gibt, über die Gestaltung tausende feiern ihn vom ersten bis zum letzten Ton. Stromae seiner Clips entscheidet und darin auftritt wie ein Erzähler lässt sie singen und klatschen, bedient alle Techniken der Pu- über das Leben der anderen. Am Anfang stehe immer die blikumsbeteiligung, dankt überschwänglich, bringt seine Musik, sagt er. Show, spielt seine Hits, wechselt die Garderobe. Die Schein- «Die Musik bestimmt alles bei mir, auch die Musikalität werfer blitzen, die Videoleinwand leuchtet, er tanzt, er winkt, der Worte, lange bevor diese einen Sinn ergeben. Kommt kei- er geht und lässt die Leute selig zurück. Trotzdem bleibt der 14
Auftritt unter den Erwartungen, gerade weil er alle Erwartun- Wenn das letzte Konzert der Tournee gespielt und die letzte In- Meisterwerk gen erfüllt. Etwas Distanzloses geht von seinen Ansagen und terviewfrage beantwortet und das letzte Hotelzimmer verlassen Durchsagen aus, die Aufführung der Musik steht im auffälli- ist, will er sich zurückziehen. Ein neues Album werde es frühes- gen Kontrast zur Skepsis seiner Texte. tens in drei Jahren geben, sagt er, wenn überhaupt. Dabei kommt Möglicherweise betreibt er solche Auftritte als Verteidi- er einem nicht abgelöscht vor, im Gegenteil, der Sänger ist dau- gung. Denn je länger das Gespräch andauert, desto mehr er- ernd in Bewegung, hält es fast nicht aus auf seinem Stuhl, den zählt er davon, wie sehr ihn der Erfolg belastet. Wenn er über Tee hat er vergessen, es redet aus ihm heraus. Er hört den Fragen seine Karriere redet, kommt es einem vor, als gehe sie ihm viel genau zu, aber seine Antworten zerstäuben unweigerlich in ei- zu schnell. Obwohl der Gestaltungswille bei ihm fast körper- nem sehr freien Assoziieren, für das er sich regelmässig folgen- lich spürbar wird, das Bedürfnis nach Beachtung, wirkt seine los entschuldigt. Er war einem als unkompliziert und beschei- Bescheidenheit glaubhaft. Mit dem Erfolg nehme man Scha- den beschrieben worden, selbstkritisch, neugierig und offen für den, sagt er. In seinem eleganten, präzisen Französisch, das alle Fragen. Das sind Attribute, die man in diesem Geschäft oft auch seinem Reden über sich selber etwas Ungekünsteltes behauptet und selten bestätigt sieht, bei ihm treffen alle zu. Er verleiht, klingt das so: hat ein ungeheures Charisma, man spürt es wie eine Hitzewelle. «On s’abîme, et on abîme tout le monde, parce que c’est très Gleichzeitig fällt einem das Melancholische an ihm auf, das auch violent, le succès, tout ce qui se passe. Je ne suis pas en train de me plaindre du tout, c’est juste une realité, et elle m’a changée.» seine Texte bestimmt. So nachdenklich hat man noch selten einen Musiker erlebt, der ein so fröhliches Genre bedient. Il Bruciato 2012/13 Bolgheri doc Tenuta Guado al Tasso Antinori – Toscana 20% Stromae singt von schlagenden Männern, geschlagenen Frauen und weinenden Kindern. Dabei klingt Sonnenglut der Maremma. er nie nach einem singenden Sozialarbeiter. Verzauberndes Fruchtbouquet. Maskuline Struktur, langes Finale. Verleitet zum Geniessen. Ob er noch derselbe sei, das werde er oft gefragt. «Das Entschei- Stromae erzählt von der Gefahr, der Einsamkeit und der Angst, dende bleibt, dass ich mich das selber immer wieder frage, von Rassismus, Gewalt, Pädophilie, Krebs und Selbstmord. Von und solange ich das tue, ist es gut.» Obwohl er charmant auftritt schlagenden Männern, geschlagenen Frauen und weinenden und sich der Wirkung auf andere bewusst ist, obwohl sich die Kindern. Dabei klingt er nie nach einem singenden Sozialar- Presse um ihn reisst und man ihn oft am Fernsehen sieht, bei beiter, zumal er seine dunklen Verse mit hellen Melodien ver- Galaauftritten, an Preisverleihungen und in Talkshows, kommt sieht. Oft bleibt das Schreckliche im Alltäglichen versteckt, und er einem zerbrechlich vor, nicht nur weil er fast anorektisch man braucht mehrere Zeilen, bis man die fröhliche Tarnung aussieht in seinem Schmalsein. Es passiert viel mit ihm, und durchschaut. Selbst in seinen schlimmsten Versen flackert es gefällt ihm nicht. Humor auf, etwa dann, wenn sich der Sänger am Ende aller Warum das so ist, zeigen Videoaufnahmen in Frankreich, Hoffnung und am Ende eines Liebesliedes, das «Te Quiero» wo Stromae eine Buchhandlung besucht, um sein neues Album heisst, den Suizid des Verlassenen vorstellt: zu signieren. Die Fans drängen sich um ihn, die Sicherheits- leute reagieren überfordert, die Lage droht ausser Kontrolle Le moral bas, en haut d’un pont, d’une falaise ou d’un building CHF 18.80 netto zu geraten. Als der Musiker nach dem Signieren in das Auto steigt und weggefahren wird, sieht das aus wie eine Flucht. J’aurai l’air d’un con quand je sauterai dans le vide. Demoralisiert steht er zuoberst, aber wenn er ins Leere statt 23.50, 75 cl Wie hat er die Begegnung erlebt? springt, sieht er aus wie ein Idiot. Warum schreibt er solche Sa- «Sie machte mir Angst. Es gab da einen Moment, bei dem chen, wie kommt dieses düstere Zeug in seine gefällige Musik? gültig bis 31.12.2014 ich mir vorkam, als sei ich nicht mehr ich selber. Das war, als die Und warum macht er sich gleichzeitig darüber lustig? Das eine jetzt bestellen auf DA S M AGA Z I N 4 8/2014 Fans um den Wagen herumstanden, als sie schrien und mit habe mit seiner Haltung zu tun, sagt er, das andere mit seiner Fäusten auf das Autodach einschlugen. Ich empfand das als Kindheit. Er sehe gerne das Negative, den plötzlichen Ab- bindella.ch gewalttätig, es gibt kein anderes Wort dafür. Ich habe kleine sturz, das Finstere. Kinder erlebt, die diese Szene gesehen haben und in Tränen «Dass ich mich manchmal so ironisch gebe dabei, mag ausgebrochen sind. Mich hat ihre Reaktion aufgewühlt. So damit zu tun haben, dass man mich in meinem Leben selten hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt.» ernst nahm. Als ich klein war und mich meinen älteren Ge- 16
schwistern zu erklären versuchte, wurde ich ausgelacht. Ich habe auch den belgischen Surrealismus produziert. Er lacht, war ein verträumtes Kind und verhaspelte mich oft beim Reden. als man ihn auf das Zitat anspricht; man findet es komisch, er Das passiert mir noch heute manchmal, ich versuche, etwas zu findet es logisch. erklären, und verheddere mich in meinen Einfällen. Ich könne «Denken Sie an René Magritte, an seine Männer im Anzug, doch gut reden, hat mir mein Manager versichert, aber das die vom Himmel regnen, in einer klassizistischen Technik ge- überrascht mich, denn das hat man mir nie gesagt. Ein guter malt: Das hat doch einen lächerlichen Ernst. Ich kann nicht Redner ist strukturiert, ich bin das gerade nicht, ich springe von für alle Belgier reden, aber ich glaube wirklich, dass das unse- einem Thema zum anderen, wie Sie sicher gemerkt haben, das ren Surrealismus ausgemacht hat. Sich nicht ernst zu nehmen, mag eine gewisse Logik haben, aber es hat oft keinen Zusam- ist schon einmal eine gesunde Haltung. Ausserdem haben wir menhang.» kleinen Länder keine andere Wahl. Selbstironie wird zur Stra- Die Disziplin, die ihm beim Reden fehlt, kompensiert er in tegie, denn die Grossen werden immer mächtiger.» seinem Schreiben. Dabei muss er sich, wie alle Songwriter, ge- Stromae spricht Französisch und ein exzellentes Englisch, gen die Unterstellung wehren, seine Texte handelten von ihm; kann aber kaum ein Wort in den Sprachen seiner Eltern, Flä- Stromae sei die singende Version von Paul Van Haver. Das misch oder Ruandisch. In Belgien, das vom Hass seiner Kul- stimme nicht, sagt er, nur etwa ein Fünftel dessen, was er singe, turen zerrissen wird, gilt er als grösste Integrationsfigur neben falle mit ihm zusammen, der Rest resultiere aus Beschreibun- der Fussball-Nationalmannschaft. Wie schwierig die Frage der gen von anderen. Und er werde nie erzählen, welches Lied von Herkunft für ihn bleibt und damit der Identität, hat er in ei- ihm handle. «Das ist meine Art, mich zu schützen. Auch wenn nem seiner härtesten Lieder verarbeitet, er trägt es als Rap vor ich mit der grösstmöglichen Aufrichtigkeit singe, übe ich dabei und macht seine Position schon im Titel klar: «Bâtard» heisst einen Beruf aus, voilà. Stromae ist eine Figur, ein Projekt.» Über es, Bastard. «Bist du ein Hutu oder ein Tutsi, ein Flame oder ein Privates redet er fast nie, sagt auch nichts zu seinen Frauen- Wallone?», fragt er – und gibt sich selbst die Antwort: beziehungen. Man weiss von ihm, dass die Geschwister an sei- Ni l’un, ni l’autre ner Karriere beteiligt sind und er seine Mutter für den wichtigs- bâtard, tu es, tu l’étais, et tu le restes ten Menschen in seinem Leben hält; er habe ihr alles zu ver- ni l’un ni l’autre, je suis, j’étais et resterai moi. danken. Weder der eine noch der andere, du bleibst ein Bastard, Wie kunstvoll er sich inszeniert, zeigen seine Videoclips, warst es und bleibst es auch. Ich bin, ich war, ich bleibe mich sie haben eine träumerische Qualität, etwas Fantastisches und selber. Surreales geht von ihnen aus. Belgien sei stolz darauf, ein lä- Im nächsten Jahr wird Stromae in mehreren afrikanischen cherliches Land zu sein, zitiert ihn die «New York Times», das Ländern Konzerte geben, dabei wird er auch in Kigali spielen, der ruandischen Hauptstadt. Was für Gefühle registriert er, Mit einem zu unschlagbarem Kundenservice. wenn er an diesen Auftritt vorausdenkt? «Komplexe Gefühle», gibt er zurück. «Ich war einmal in meinem Leben in Kigali, und es wird eigenartig sein, dort aufzutreten, weil so viel Persönliches mitschwingt. Den Auftritt als professionelles Engagement zu sehen, wird mir helfen. Aber das Private wird mich berühren, so viel ist sicher. Dass ich jedoch durch Afrika toure, ohne in Ruanda zu spielen, ist für mich undenkbar. Es ist eine Aufgabe und eine Freude.» «Je n’ai pas peur de la mort mais de l’oubli», singt er ein- mal, wieder so ein plötzlicher Satz von ihm: Ich habe nicht Angst vor dem Tod, aber vor dem Vergessen. Das Stück heisst «Je cours»: Ich renne. Stromae rennt immer. • * Freitag, 5. Dezember 2014, 20 Uhr, Hallenstadion Zürich DA S M AGA Z I N 4 8/2014 Die Krawatte — männer J E A N-M A RT I N BÜ T T N ER ist Reporter beim «Tages-Anzeiger». jean-martin.buettner@tages-anzeiger.ch macht mode — 19.09.2014 In diesen Tagen erscheint sein Buch «Anfänge. Und so weiter» im Echtzeit Verlag. Vernissage am 9. Dezember um 20 Uhr im Kaufleuten. 18.01.2015 Der Fotograf OL I V I ER VO GEL SA NG lebt in Genf. Die führende Online-Krankenkasse mit persönlicher Beratung. Wechseln Sie jetzt zur Krankenkasse mit den WWW.KRAWATTE.LANDESMUSEUM.CH Er hat Stromae für die «Tribune de Genève» fotografiert. ausserordentlich zufriedenen Kunden. Und profitieren Sie erst noch von Prämienrabatten bis zu 20%. Wann www.oliviervogelsang.com; www.tdg.ch macht’s auch bei Ihnen Klick? Für Ihre persönliche Offerte und das bequeme Wechselpaket: www.kpt.ch, Telefon 058 310 98 88 oder via den QR-Code und Ihr Smartphone.
Die Gegenwelle Rolf Soiron kommt die Treppe seines Basler Stadthauses her- die Elite mit hohen Gehältern unglaubwürdig gemacht, ein Os- unter, von dessen Vorplatz man einen prächtigen Blick auf den pel zum Beispiel oder ein Vasella, der einst sein Assistent beim Rhein und die Basler Altstadtkulisse hat. Soiron, 69 Jahre, einer Pharmakonzern Sandoz war. «Wenn man eine halbe Million der grossen Wirtschaftskapitäne der Schweiz, schneeweisse verdient», sagt Soiron, «vergisst man schnell, wie es ist, mit Haare und weiche Züge, nimmt mir die Jacke ab und führt 75 000 Franken pro Jahr zu rechnen. Man weiss nicht mehr, wie nach oben ins Wohnzimmer. «Ohne zu kokettieren», schrieb die Mehrheit der Leute lebt.» So habe die Wirtschaft die Ängs- er in der Mail mit der Wegbeschreibung zu seinem Haus: «Ich te der Bevölkerung vor dem Wachstum nicht ernst genommen. bin nicht scharf auf mediale Auftritte, weiss aber, dass wir Wirt- Die Wirtschaftselite, meint Peter Nobel, meide geradezu schaftschefs uns zeigen müssen.» die Öffentlichkeit. «Ich kenne viele Wirtschaftsführer, die pa- Soiron ist Verwaltungsrat des Basler Pharmamultis Lonza nische Angst vor der Presse haben», sagt Nobel. «Sie fürchten und Vorstandsmitglied von Economiesuisse. Im Wohnzimmer, um ihre Aura und verstecken sich hinter PR-Verantwortlichen.» das mit beigen Möbeln und hohen Bücherwänden ausgestattet Doch nationale Politik sei aus ihrer Perspektive sowieso nur ein ist, serviert er ein Tablett mit Apfelschorle und Mineralwasser. Faktor unter vielen. Das Resultat gemäss Nobel: «Es sitzen Er setzt sich und sagt: «Das Dreieck zwischen Bevölkerung, nicht mehr die besten Köpfe in der Politik.» Die seien eher in Wirtschaft und Politik, das unser Land lange solide zusammen- der Wirtschaft und in der Kunst. hielt, hat Spannungen und Risse. Das beschäftigt mich sehr.» Peter Nobel ortet einen tiefen Defekt im politischen Ge- Peter Nobel empfängt im Konferenzraum seiner Kanzlei füge. «Wenn mit Volksinitiativen Bundesrat und Parlament Nobel & Hug, die im Zürcher Seefeld liegt, nicht weit vom ständig ausgehebelt werden können, muss das ein Alarmsi- Opernhaus. Nobel, gleich alt wie Soiron, ein St. Galler mit etwas gnal sein.» Das politische System, sagt Nobel, sei nicht mehr im Embonpoint und gemütlichem Lachen, sieht auf den ersten Einklang mit der Bevölkerung. Das Band, das die Schweizer Blick aus wie jemand, mit dem man gern ein Feierabendbier in Grundfragen zusammenhielt, habe sich gelockert. «Gerade trinken würde, aber nicht unbedingt wie der wichtigste Wirt- die Armee hat früher dazu beigetragen, dass sich die Schweizer schaftsanwalt im Land, der Viktor Vekselberg und Philipp Hilde- homogenisierten», sagt Nobel. «Man hat zusammen geplau- brand vertritt. Nobel redet entspannt, demonstriert eine Luft- dert und gejasst.» bläserinstallation des Künstlers Roman Signer. Dann wird er Er gehe jedoch nicht vom Schlimmsten aus, sagt der An- nachdenklicher. Während des Gesprächs hält er die Krawatte walt. Man müsse nun die Ecopop-Initiative abwarten, die hof- und die Lesebrille in der Hand. «Ich sehe die EU nicht als feind- fentlich abgelehnt werde, und dann weitersehen. Auch Rolf liches Konstrukt», sagt Nobel, «sie hat Krieg in Europa undenk- Soiron gibt sich optimistisch, dass die Schweiz einen Ausweg bar gemacht. Stattdessen hat man hierzulande über jeden aus der Europakrise findet. Er erinnert an die verlorene EWR- kleinen Fehler der EU geredet. Den Schweizern wurde ein Abstimmung von 1992. «Damals waren die Verlierer weit de- Horrorbild eingepflanzt.» primierter als heute.» Aber man habe dann doch einen erfolg- reichen Ausweg gefunden. «Vielleicht», sagt Soiron, «trägt die Entfremdung der Wirtschaft derzeitige Häufung von Problemen dazu bei, dass sich neue Rolf Soiron und Peter Nobel gehören zu den 112 Erstunter- Kräfte bündeln.» zeichnern des Appells «Die Schweiz in Europa», der am 12. Oktober öffentlich wurde und eine neue, grundlegende Dis- Warnschüsse sind echte Schüsse kussion um die Beziehung der Schweiz mit der EU anschieben Seitdem das Volk am 9. Februar mit einer 50,3-Prozent-Mehr- will. Für Soiron und Nobel ist der Entscheid vom 9. Februar kein heit die Masseneinwanderungsinitiative angenommen hat, Unfall, sondern das Symptom eines kritischen Zustandes. «Wir herrscht europapolitischer Ausnahmezustand. Bis im Februar testen die Grenzen unserer Wirtschaftsentwicklung massiv», 2017 müssen Bundesrat und Parlament die Initiative umsetzen, sagt Peter Nobel. «Der Boom der 2000er-Jahre hat die Schwei- und ob die EU, die gerade ziemlich mit sich selbst beschäftigt zer überheblich gemacht», meint Rolf Soiron. «Wir denken, ist, Lust auf eine Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit wir könnten uns Experimente leisten.» hat, ist fraglich. Mit dem Ecopop-Urnengang kommt zudem Sowohl der Industrielle als auch der Wirtschaftsanwalt diesen Sonntag eine noch viel radikalere Initiative zur Abstim- stellen fest, dass sich die Wirtschaft von der Bevölkerung ent- mung, die die Zuwanderung auf rund ein Fünftel der derzeitigen Die Zivilgesellschaft meldet sich in der Europafrage. fremdet hat. «Früher sprachen die Chefs Dialekt, sie wohnten Zahlen senken will. Wer glaubt, dass der bilaterale der richtige um die Ecke, man sah sie im Tram», sagt Rolf Soiron. Er ist noch Weg ist für die Schweiz, hat allen Grund, sich zu mobilisieren. Wirtschaftskapitäne, ehemalige Diplomaten, ein Wirtschaftsführer der alten Schule. Soiron machte Karriere Nach der ersten Schockstarre haben sich deshalb in ver- Rechtsgelehrte, Naturwissenschaftler und Studenten bei Sandoz, präsidierte die Verwaltungsräte des Zementgigan- ten Holcim und des Pharmamultis Lonza, war aber daneben schiedenen Milieus Gruppierungen formiert, die sich in die Europadebatte einklinken und das Steuer herumreissen wol- wollen die Bilateralen retten, alle auf ihre Weise. DA S M AGA Z I N 4 8/2014 Gemeinderat, Grossrat und Präsident des Basler Universitäts- len. In den vergangenen Wochen tauchten gleich mehrere die- rates. «Ich bin ein Auslaufmodell», meint er lakonisch. ser Bewegungen in der Öffentlichkeit auf. Neben dem Appell Die Globalisierung habe solche Biografien schwierig ge- «Die Schweiz in Europa» waren da eine Gruppe junger Aka- Von Joel Bedetti macht, sagt Rolf Soiron. Die Welt eines Managers sei der des demiker namens «Libero», ein Komitee namens «Forschung Politikers fern geworden. «Vielleicht», sagt Soiron, «haben wir in einer weltoffenen Schweiz» um den renommierten Zürcher es versäumt, neue Brücken zu bauen.» Stattdessen habe sich Medizinprofessor Adriano Aguzzi und die Gruppe «Raus aus 21
der Sackgasse» um den St. Galler Arbeitsrechtsprofessor Tho- Strassen. Doch Roth zeigt sich pessimistisch, was die Umset- mas Geiser. Wo auch immer das hinführen wird: Es tut sich et- zung seiner Verbesserungsvorschläge angeht. «Dazu wären was in der Schweizer Zivilgesellschaft. Investitionen nötig», sagt Roth, «aber die bürgerliche Mitte Jean-Pierre Roth steht im Türrahmen seines Büros, das scheint zurzeit keinen Mut zu haben, solche Projekte gegen sich an bester Lage auf der Genfer Rhône-Insel befindet. Er ist den Populismus der SVP zu verteidigen.» angezogen wie in einer Zeit, als man noch von «Bänklern» und «Direktoren» sprach, trägt einen Anzug, Schnauz und eine Uhr, Das Paradox des freien Personenverkehrs die wie ein Familienerbstück aussieht. Der ehemalige Präsident Der eigentliche Verfasser des Appells «Die Schweiz in Europa» der Schweizer Nationalbank, Präsident der Genfer Kantonal- ist jedoch Benedikt von Tscharner, ein altgedienter Europa bank und Verwaltungsrat von Nestlé, Swiss Re und Swatch ist veteran. Als Missionschef der Schweiz in Brüssel reichte er im einer der Köpfe des Appells «Die Schweiz in Europa». Es war Mai 1992 das legendäre Beitrittsgesuch der Schweiz ein und Roth, der darauf gepocht hat, auch Wirtschaftsspitzen wie Peter berief nach der verlorenen EWR-Abstimmung eine Sitzung Nobel, Rolf Soiron oder den Swiss-Re-Präsidenten Walter Kiel- ein, an der Schweizer und EU-Diplomaten Themen zur Weiter- holz einzubinden. verhandlung definierten, die später zum Abschluss der bilate- Am 9. Februar, sagt Jean-Pierre Roth, der eben von einer ralen Verträge führten. Nicht nur Wirtschaftsköpfe, auch viele Asienreise zurückgekehrt ist, hätten bei ihm die Alarmglocken ehemalige Diplomaten und Spitzenbeamte sind unter den Erst- geschrillt. Auch Bekannte von ihm stimmten der Initiative zu. unterzeichnern des Europa-Appells zu finden. Auf die Frage, «Viele Stimmbürger wollten einen Warnschuss abgeben», sagt mit welchen Mitteln man die Europadebatte denn beeinflussen Roth. «Doch die Schweizer scheinen bei Abstimmungen ver- wolle, mit Veranstaltungen, Auftritten, wehrt von Tscharner gessen zu haben, dass ein Warnschuss immer auch ein echter jedoch ab. «Für Vereinsmeierei bin ich inzwischen zu alt.» Zwar Schuss ist.» Jean-Pierre Roth steckte einige Wochen darauf mit wurde er für einige Vorträge gebucht, aber er lässt durchblicken, dem ehemaligen Nationalbankdirektor Jean Zwahlen und dem dass es sich dabei wohl um Predigten vor Bekehrten handeln pensionierten Diplomaten Benedikt von Tscharner die Köpfe wird. zusammen. Gemeinsam erarbeiteten sie das Manifest und Es sei schon paradox, meint der weit gereiste Diplomat. Die aktivierten ihre Netzwerke, um eine Liste mit prominenten Erst Personenfreizügigkeit funktioniere in der EU eigentlich ent- unterzeichnern zu erstellen. täuschend. «Der Franzose geht kaum je nach Dänemark arbei- Anders als einige seiner Mitstreiter will Roth nicht in erster ten.» Die Schweizer Wirtschaft habe hingegen immer positiv Linie eine europapolitische Debatte lancieren. Für ihn richtet auf Öffnungsimpulse reagiert. «Die Schweizer sind reise- und sich der Appell an die politische Elite. «Die Politik, gerade die handelsfreudig; sie importieren und exportieren.» In der bürgerliche Politik, hat versagt», sagt Roth. «Sie hat die Neben- Schweiz, sagt Benedikt von Tscharner, funktioniere die Perso- 10CAsNsjY0MDQx0TU2MzUxMgMAhPQt2g8AAAA= effekte der Personenfreizügigkeit nicht ernst genommen.» nenfreizügigkeit eigentlich so, wie sie gedacht sei. 10CFWLrQ6AMAwGn6hLv67dOirJHEEQ_AxB8_6KH4c4dXfLEpb4Y-7r3rcAQ5VyMZUS1ixJLQjnmrzmVgKAy9NM4NzYpfpvIVUXYx5vQwDBB_iRZDJMkK7jvAF8RPVedQAAAA== Die Bevölkerung, meint Jean-Pierre Roth, habe nicht mehr das Gefühl, dass eine offene Wirtschaftspolitik auch ihr etwas Rütlifeier für Europa bringt. «Der Mittelstand hat den Eindruck, dass die Politik ihn Am Abend des 5. November versammelten sich im Plenarsaal vergessen hat», meint Roth. «Die Unterschicht wird subventio- des Instituts für Europa und Wirtschaftsvölkerrecht im Berner niert, und die Elite wird in der gegenwärtigen Wirtschaftsord- Länggasse-Quartier rund zwei Dutzend Personen. Geladen nung sowieso immer reicher.» Die Bevölkerung wolle nun Ta- hatte der ehemalige Zürcher Regierungsrat Markus Notter, der ten sehen, sagt der Bankier. «Verkehrsausbau, Wohnungen zu das Zürcher Europainstitut präsidiert und in den Wochen zuvor bezahlbaren Preisen.» In Genf sind die Nebenwirkungen der Personenfreizügig- keit besonders scharf. Es herrscht Wohnungsmangel, am Feier- neue sowie bereits existierende Gruppierungen kontaktiert hatte, die sich in der Europafrage zu Wort melden wollen. Dabei waren unter anderem Delegationen von «Operation Libero», An mein Vermögen abend blockieren die Tausende französische Grenzgänger, ohne die die Genfer Wirtschaft zusammenbrechen würde, die Foraus und Yes, die sich aus dem jungakademischen Milieu re- krutieren, Vertreter des grünen Wirtschaftsverbandes Clean- lasse ich nur mich selbst. DA S M AGA Z I N 4 8/2014 Und Experten. Vermögensverwaltung – so individuell wie Sie. Nutzen Sie das Können unserer Anlageexperten und profitieren Sie direkt von «Die bürgerliche Politik hat versagt», meint Jean-François unserer globalen Finanzexpertise. Wir steuern Ihr Portfolio zielgenau nach Ihrer persönlichen Strategie. Roth, der frühere Nationalbank-Präsident. credit-suisse.com/invest 22
www.citroen.ch tech, Professoren der verschiedenen Europainstitute, Thomas grinst. «Das kommt einem bekannt vor.» In den Sechzigern Held, der frühere Direktor von Avenir Suisse, Benedikt von habe man dann Angst vor den Italienern gehabt. «Heute giesst Tscharner und die SP-Parlamentarier Hans Stöckli und Martin jeder Olivenöl über den Salat», sagt Thomas Geiser, «aber da- Näf. Es ist eine bunte, vorderhand recht unkoordinierte Truppe. mals war das exotisch.» An der Zusammenkunft sollten sich die verschiedenen Grup- Einer der vermutlich mit Olivenöl kochenden Einwande- pierungen kennen lernen und über ein gemeinsames Vorge- rer sitzt im Büro F43 des Universitätsspitals Zürich. Sein Name hen beraten. ist Adriano Aguzzi, er ist 54 Jahre alt, Medizinprofessor und Gastgeber des Koordinationstreffens war Thomas Cottier. einer der renommiertesten Prionenforscher der Welt. Der Weg Der Professor für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht ist über- zu seinem Büro führt über grauen Linoleumboden, vorbei an zeugt, dass sich in der Schweiz ein Glaubenskrieg zwischen na- Labors und Zimmern, in denen Männer und Frauen in Kitteln tionaler Isolation und europäischer Integration abspielt. Den über Tastaturen gebeugt sind. 9. Februar sieht er, anders als der Wirtschaftskapitän Roth, Im ersten Moment wirkt Aguzzi schüchtern, doch dann weniger als Reaktion der Schweizer auf den Konkurrenzkampf sprudelt es aus ihm heraus. «Unser Wohlstand hängt von wis- um Jobs, Wohnungen und einen Sitzplatz im Tram, sondern als senschaftlicher Innovation ab», sagt der Professor und deutet Licht, mit dem Sie StrahLen Langzeitwirkung der SVP. «Die Landbevölkerung, welche die auf das Smartphone, welches das Gespräch aufnimmt. «Da Konsequenzen des Wachstums weniger spürt, hat der Vorlage steckt Arbeit von zwei Nobelpreisträgern drin.» Einen For- mit grosser Mehrheit zugestimmt», meint Cottier. schungsabbau, sagt er, spüre man zwar nicht so schnell wie eine Deshalb will der Professor jetzt zur Gegenoffensive anset- Finanzkrise, sondern erst zwanzig Jahre später. «Aber man ver- zen: «Wir müssen Druck machen und Terrain besetzen.» Er baut sich die Zukunft.» Aguzzi fürchtet um die Wissenschaft plant eine Initiative, welche den Artikel 121a, also die Massen- in der Schweiz. einwanderungsinitiative, durch eine Verfassungsbestimmung ersetzt, die in die entgegengesetzte Richtung zielt: einen Para- Die alte Angst der Eingeborenen grafen, der eine bessere Integration der Schweiz in Europa ver- Nach dem 9. Februar holte die EU zum ersten Gegenschlag aus langt. Drei Punkte seien darin zentral, sagt Cottier. «Das Be- – gegen die Wissenschaft. Die Schweiz wurde vom Programm kenntnis zur europäischen Menschenrechtskommission und «Horizon 2020», an dem sich Forscher aus Europa um millio- zu den europäischen Werten, das Bekenntnis zum Binnen- nenschwere Forschungskredite bewerben, ausgeschlossen. markt und zum Vorrang des Völkerrechts.» «Das war eine grosse Ungerechtigkeit seitens der EU», ärgert sich Aguzzi, «die Wissenschaft hat keine Lobby, sie ist ein leich- Fehlender Spielraum tes Opfer.» Doch für ihn war es der Weckruf, wie schnell es ans Ein auf den ersten Blick ähnliches Vorhaben hat Cottiers Be- Eingemachte gehen kann. Nach Verhandlungen dürfen die 10CAsNsjY0MDQx0TU2MzOwMAQAn44aqw8AAAA= rufskollege Thomas Geiser. Der Professor für Arbeitsrecht an Schweizer Forscher zwar wieder an Teilen des «Horizon»-Pro- 10CFXKIQ7DMBBE0ROtNbOetTc1rMKigircJArO_VHbsIKH_t-2EQW35_ra1_cgKFltDckRSxTvbSR6ya47-teDClU05t9vUnoA8_cYYdSkW1SrmIQW71S5jvMDNJk3MHcAAAA= der Uni St. Gallen sucht jedoch nicht den politischen Kampf gramms teilnehmen, jedoch nur bis Februar 2017, wenn die zur grundsätzlichen Klärung des Verhältnisses der Schweiz zu Masseneinwanderungsinitiative umgesetzt sein muss. Europa. Er will lediglich einen minimalen chirurgischen Ein- Ohne internationale Vernetzung, sagt Adriano Aguzzi, griff in die Verfassung vornehmen. drohe der Wissenschaft in der Schweiz eine geistige Verar- Geiser will den Paragrafen 121a ersatzlos streichen. «Die mung. Das zeige sein eigenes Team, in dem Schweizer, Deut- Initiative», sagt Geiser, «lässt keinen Spielraum offen.» Wenn sche, Inder, Chinesen, Russen und Italiener arbeiten. «Wenn wir man sie umsetze, verletze man die Bilateralen, und wenn man Probleme von verschiedenen Blickwinkeln aus angehen, gibt es diese rette, verletze man die Verfassung. Sein Anliegen will er fast immer bessere Ergebnisse», sagt der Professor. Daher mit einer Volksinitiative durchsetzen. «Der 9. Februar war ein stelle er Forscher mit unterschiedlichen Biografien an. «Ich be- Zufallsmehr», meint der Jurist. «Man muss dem Stimmvolk komme viele exzellente Bewerbungen aus Deutschland», er- nochmals die Gelegenheit geben, über die Vorlage abzustim- zählt Aguzzi. «Würde ich nur nach den Examensnoten gehen, men.» Politisch sei dies keine Revolution, meint Geiser. Man habe auch mehrmals über das Frauenstimmrecht abgestimmt. hätte ich hier sehr schnell eine bundesrepublikanische Reinkul- tur. Aber das will ich nicht.» Habe er die Wahl zwischen zehn DS 3 SO irréSiStiBLe Im Gegensatz zu den anderen Bewegungen hat Thomas Gei- Deutschen, einem Israeli und einem Schweizer, wähle er alle mit neUer LichtSiGnatUr XenOn FULL Led* ser, zu dessen Mitstreitern der Rechtsprofessor Andreas Auer, Nationen. Von kosmopolitischer Forschung, sagt Adriano Aguz- 17"-Alufelgen diamantgeschliffen Dekor «Paris» Automatischer Notbremsassistent der Clown Dimitri und der Multimillionär Hansjörg Wyss ge- zi, würden gerade auch die Schweizer Studenten profitieren. Zweifarbiges Dach Moondust Hi-Fi-Anlage Klimaanlage und Einparkhilfe hinten hören, ein begrenztes Ziel und einen klaren Zeitplan. Noch vor «Es motiviert sie, in die Welt hinauszugehen, so steigert sich Weihnachten will er das Initiativkomitee vorstellen und mit der Unterschriftensammlung beginnen. ihr Marktwert, und man holt sie gern als Professoren zurück.» Diese Offenheit sei das Erfolgsrezept der Schweizer For- Premium Leasing Fr. 179.– / Monat mit 5 Jahren Garantie DA S M AGA Z I N 4 8/2014 Für Thomas Geiser steht die Masseneinwanderungsinitia- schung, sagt Aguzzi. «Die Angst der Eingeborenen, von intel- tive in einer Kontinuität der Fremdenangst. Er erzählt von den ligenteren Ausländern überrannt zu werden, ist nicht neu», DS 3 ab Fr. 14’690.– verfügbar ländlichen Katholiken, die während der Industrialisierung in fügt er hinzu. Aber die Schweizer Unis hätten der Versuchung, die Städte zogen und dort Angst auslösten. «Ich habe von einem Inländer zu bevorzugen, immer widerstanden. Er habe solche Lausanner Gesetz aus der Jahrhundertwende gelesen, das den Diskussionen am Unispital immer wieder erlebt, erzählt Katholiken verbot, Kirchtürme zu bauen», sagt Geiser und Aguzzi. «Da gab es vielleicht eine vakante Professur und einen Die Angebote gelten für alle zwischen dem 1. November und dem 31. Dezember 2014 verkauften Fahrzeuge. Angebote gültig für Privatkunden; nur bei den an der Aktion beteiligten Händlern. Empfohlene Verkaufspreise. Citroën behält sich das Recht vor, die technischen Daten, die Ausstattungen und die Preise ohne Vorankündigung zu ändern. DS 3 1.2 PureTech 82 Manuell So Irréstistible, Verkaufspreis Fr. 25’850.–, Cash-Prämie Fr. 4’200.–, Fr. 21’650.–; Verbrauch gesamt 4,7 l/100 km; CO2 -Emission 107 g/km; Treibstoffverbrauchskategorie B. Premium Leasingzins 2,9 %, 60 Monatsraten zu Fr. 179.–, 10’000 km/Jahr, Restwert Fr. 6’763.10, 30 % Anzahlung. Erste Rate um 30 % erhöht. Effektiver Jahreszins 2,99 %. 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