Franckesche Stiftungen Magazin 2022

Die Seite wird erstellt Christine Fröhlich
 
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Franckesche Stiftungen Magazin 2022
Franckesche
Stiftungen
Magazin
2022

Die Macht der Emotionen
Jahresausstellung zum Mitdenken,
Mitreden und Mitfühlen

Das hat mich bewegt!
Menschen und ihre Geschichten
von Angst bis Zuversicht

»Was raus muss, muss raus«
Der Rap-Workshop im Treff für
Jugendliche im Quartier

                                   Das Jahresmagazin der ­Franckeschen Stiftungen 2022, 6. Jahrgang
Franckesche Stiftungen Magazin 2022
Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

 ob Glück, Wut, Angst oder Hoffnung, ob Bauchgefühl oder Kopfkino –
Emotionen bestimmen unser Leben. Sie beeinflussen unsere Entschei­
 dungen, prägen unseren Alltag und treiben uns an in dem, was wir tun.
Emotionen bringen Farbe in unser Leben, nicht immer nur strahlend
 und harmonisch, aber ein Leben ohne sie, ganz rational, ohne Gefühl
 und Mitgefühl, wäre schlechterdings nicht menschlich. Dabei bestimmen
­Emotionen nicht nur unser individuelles Erleben, sondern gestalten maß­
 geblich auch unser Miteinander und sind nicht erst seit Shitstorms in den
 sozialen Medien eine gesellschaftliche Herausforderung. Gleichwohl sind
 wir nur »ganz« mit allen Höhen und Tiefen unserer Gefühlswelten.

Diesem Spannungsfeld widmet sich unter dem Motto »Ganz im Affekt«
  unser Jahresprogramm, mit dem sich die Franckeschen Stiftungen auch
  in das stadtweite Themenjahr zur Macht der Emotionen einbringen.
­Dabei gehen wir traditionsgemäß von der Stiftungsgeschichte aus und
 ­nehmen hier angestoßene Entwicklungen zum Ausgangspunkt, um bri­
  sante ­Fragen der Gegenwart zu beleuchten. So rückte schon der Pietismus
  in ­einer Zeit, als der Mensch vor allem über seine Fähigkeit zur Vernunft
  definiert wurde, die Herzensfrömmigkeit ins Zentrum seiner Reform­
  bewegung und entwickelte eine ganz eigene Gefühlskultur.

Herzstück unseres Programms ist eine interaktiv angelegte ­Ausstellung,
die sich mit der Relevanz von Emotionen beschäftigen wird und sich
im Besonderen an junge Menschen richtet. Spannende Gäste konnten
wir ­gewinnen, mit denen wir zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten
ins ­Gespräch kommen möchten: Welche Rolle spielen Emotionen ­heute
in ­Gesellschaft, Politik und Medien? Wieviel Emotion ist gut für die
Meinungs­bildung, in unseren Alltagswelten und was macht eigentlich
glücklich?

Lassen Sie sich auf den folgenden Seiten zu einem bewegenden Gang
durch unser Programmjahr und hinter die Stiftungskulissen einladen.
Wir freuen uns auf Sie!

Ihr Thomas Müller-Bahlke
Direktor der Franckeschen Stiftungen
Franckesche Stiftungen Magazin 2022
Inhalt

Der Dokumentarfotograf Andreas Herzau war ein Jahr                                                          Jahresthema                               Neues aus den                            50
lang in den Franckeschen ­Stiftungen unterwegs und hat                                                                                                                                         Kurznachrichten aus Bildung und
das Leben in der historischen Schulstadt eingefangen.                                                       2022                                      Francke­schen                            Sozialem
Seine Fotos bewegen sich dabei jenseits des bloß Doku-
                                                                                                                                                      Stiftungen
mentarischen, sie nehmen überraschende Blickwin-
kel ein und ­kommunizieren über Momente und Gefühle:                                                        6                                                                                  52
                                                                                                            Ganz im Affekt                                                                     Auf die Plätze, fertig, spielen!
Momente des Ausgelassenseins und der Würde, der
­An­spannung und des Loslassens, der Be­ständigkeit und
                                                                                                            Einführung zum Jahresthema von            34                                       Reportage über das Spielehaus in der
                                                                                                            Prof. Dr. Thomas Müller-Bahlke            Neu entdeckt. Neu erworben.              Großen Scheune
 des Neuen. Einen Ausschnitt dieser Gefühlswelten zeigt                                                                                               Neu erschienen.
 das Magazin. Der Bildband #francke ist im Infozentrum
 der Franckeschen Stiftungen erhältlich.                                                                    10
                                                                                                            Ohne Empörung und Widerspruch                                                      Rückblick
                                                                                                             wäre die Geschichte anders
                                                                                                            ­verlaufen
                                                                                                             Im Gespräch mit der Historikerin                                                  56
                                              Gefühlswelten in den Stiftungen,                              Prof. Dr. Ute Frevert                                                              Themen, die uns 2021 bewegt
                                              fotografiert von Andreas Herzau                                                                                                                  haben
                                              Titelmotiv und Seite 1–19
                                                                                                            16
                                                                                                            Die Macht der Emotionen
                                                                                                            Einblicke in die Jahresausstellung 2022   38
                                                                                                                                                      Kurznachrichten aus Wissen-
                                                                                                                                                      schaft und Forschung
                                                                                                            20
                                                                                                             Das hat mich bewegt!
                                                                                                            Von Angst bis Zuversicht: fünf            40
                                                                                                            ­Menschen erzählen ihre Geschichte(n)       Platz für die Zukunft
                                                                                                                                                      Der Umzug von Archiv- und                64
                                                                                                                                                       ­Bibliotheksbeständen in das sanierte   Besucherinformationen,
                                                                                                            24                                        ­Druckereigebäude                        ­Freundeskreis, Impressum
                                                                                                            »Wie bringen wir den Glauben
                                                                                                             vom Kopf ins Herz?«
                                                                                                            Affekt und Gefühl im Halleschen           42
                                                                                                            ­Pietismus                                »Was raus muss, muss raus«
                                                                                                                                                      Der Rap-Workshop im TiQ – Treff für
                                                                                                                                                      Jugendliche im Quartier
                                                                                                            26
                                                                                                            Wider alle »Unruhe des Herzens«
                                                                                                            Tagebuchschreiben als fromme, emotio-
                  Affekt, Gefühl und Gemüt                                                                  nale Praxis am Halleschen Waisenhaus
                      im Pietismus Seite 24

                                                                                                            28
                                                                                                            Kartografie der Gefühle
                                                                                                            Eine Spurensuche nach Emotions­
                                                                                                            geschichten in den Stiftungen

                                                                                                                                                      48
                                                                                                            30                                        Die Stimmen der Dinge
                                                                                                            Höhepunkte zum Jahresthema                Eine digitale Rettungsmission in der
                                                                                 Geselliger Wettstreit im   2022                                      Wunderkammer
                                                                                 Spielehaus, Reportage
                                                                                 Seite 52

4                                                                                                                                                                                                                                     5
Franckesche Stiftungen Magazin 2022
7
Franckesche Stiftungen Magazin 2022
Jahresthema 2022

                Ganz im Affekt
                                                                                                                                                 darauf zielt schon der programmatische Titel »Ganz       menschlicher Begegnung ein emotionaler Akt ist.
                                                                                                                                                 im Affekt«. Kommunikationstechnisch und in der           Und in der Regel lernen wir schon von Kindesbei-
                                                                                                                                                 Terminologie der Werbewirtschaft handelt es sich         nen an die Grundregeln, um unsere Gefühle zu bän-
                                                                                                                                                 bei diesem Slogan um einen sogenannten Störer.           digen und sie angemessen einzusetzen. Dennoch
                                                                                                                                                 Denn im ersten Moment stört er die Erwartung des         scheint es besonders in unserer Gegenwart immer
                                                                                                                                                 Lesers oder der Leserin an das Kulturprogramm der        schwieriger zu werden, den richtigen Umgang mit
                                                                                                                                                 Stiftungen, ja führt ihn vielleicht sogar etwas in die   den eigenen und – fast noch wichtiger – den Emoti-
                Einführung zum Jahresthema von                                                                                                   Irre. Kennt man diesen Ausdruck doch am ehesten          onen anderer zu finden. Das hat einerseits damit zu
                                                                                                                                                 aus Kriminalromanen von der Beschreibung ein-            tun, dass unser Gesellschaftsmodell ein Recht auf
                Prof. Dr. Thomas Müller-Bahlke                                                                                                   schlägiger Straftaten und vermutet ihn nicht als Titel   größtmögliche persönliche Entfaltung propagiert
                                                                                                                                                 eines kulturellen Jahresprogramms. Aber vielleicht       und den Anspruch auf ein kaum begrenztes Maß an
                                                                                                                                                 erregt er dadurch die beabsichtigte Aufmerksamkeit,      Individualität beim persönlichen Lebensvollzug in
                                                                                                                                                 im besten Falle sogar Neugier darauf, was da gebo-       den Vordergrund stellt. Eine solche Anspruchshal-
                                                                                                                                                 ten wird. Und bei genauerem Hinsehen und Hin-            tung führt unweigerlich zu sozialen Konflikten, weil
                                                                                                                                                 einlesen in das Programm wird dann deutlich, dass        sie die eigenen Bedürfnisse, also auch die ­eigenen
                                                                                                                                                 damit das gemeint ist, was für die Pietisten des 18.     Befindlichkeiten und Gefühle, stets über die der
                                                                                                                                                 Jahrhunderts, wie oben beschrieben, bereits selbst-      Mitmenschen stellt. Die zunehmende Emotionali-
                Wir Menschen sehen uns selbst gerne als vernunft-       in Fächern wie Ethik oder auch gelegentlich bei der                      verständlich war: nämlich die Affekte, eine frühneu-     sierung der Gesellschaft wird andererseits aber auch
                begabte Wesen an. In der Fähigkeit, rational zu den-    Beschäftigung mit bestimmter belletristischer Lite-                      zeitliche Bezeichnung für Emotionen und Gefüh-           durch eine immer stärkere Durchdringung u    ­ nseres
                ken und zu handeln, vermeinen wir den Hauptun-          ratur thematisiert. Dabei gehört das Wissen um die                       le, als Bestandteil eines ganzheitlichen Menschen-       Lebens von Werbemaßnahmen ­aller Art ­verursacht.
                terschied des Menschen zu Tieren und anderen Le-        Macht der Emotionen, das Kennenlernen der eige-                          bildes. In dieser Tradition spielt die Befassung mit     Werbung benutzt Emotionen so absichtsvoll wie
                bewesen auszumachen. Das stimmt zwar bis zu ei-         nen Gefühlswelten und die Einübung des Umgangs                           den Gefühlswelten auch bei den stiftungseigenen          kein anderer Wirtschaftszweig zur Erlangung der ei-
                nem gewissen Grad, aber es kann gleichzeitig leicht     mit den persönlichen wie den Empfindungen ande-                                                                                   genen Ziele. Bei der Werbung, die als solche gekenn-
                darüber hinwegtäuschen, dass die menschliche Ver-       rer zu den substanziellen Voraussetzungen für eine                                                                                zeichnet ist, sei es im Fernsehen, in Printmedien
                nunftbegabung in einem engen Wechselverhältnis          gelingende Lebensgestaltung. Und gerade weil es         Bei genauerem Hinsehen und Hineinlesen in das Pro-                        oder am Straßenrand, ist das hinreichend bekannt,
                zu unserer komplexen Gefühlswelt steht. Und sie,        sich hier gleichsam um anthropologische Urgewal-        gramm wird deutlich, dass damit das gemeint ist, was                      oft auch leicht ersichtlich und bisweilen bis in die
                die Gefühle, sind das eigentlich prägende Element       ten handelt, die nur schwer unter Kontrolle zu brin-    für die Pietisten des 18. Jahrhunderts bereits selbstver-                 Lächerlichkeit überzeichnet. Aber Werbung ist im
                unseres Lebens und unserer Persönlichkeit. Liebe,       gen sind, ist die systematische Befassung damit so      ständlich war: nämlich die Affekte, eine frühneuzeitliche                 Lauf der Zeit immer subtiler geworden, ist auch
                Leidenschaft und Hoffnung, aber ebenso Angst,           wichtig.                                                Bezeichnung für Emotionen und Gefühle, als Bestandteil                    dank des Internets in neue Sphären vorgedrun-
                Groll und viele andere Regungen bestimmen unser         Der Pietismus gilt als eine Glaubensströmung, die                                                                                 gen und hat so auch das Geschäftsmodell der so-
                                                                                                                                eines ganzheitlichen Menschenbildes.
                Handeln und unsere Entscheidungen in erheblich          den Gefühlen großen Wert beimaß. Schaut man                                                                                       genannten sozialen Medien hervorgebracht. Platt-
                stärkerem Maße als unser Verstand. Es hat wohl sei-     auf die pädagogischen Konzepte August Hermann                                                                                     formen wie Facebook, Tik Tok und Co sind nichts
                nen Grund, warum Gefühle oft mit Naturgewalten          Franckes, stellt man fest, dass er den Bildungskanon                     Bildungsangeboten eine besondere Rolle, insbeson­        anderes als mehr oder weniger gut getarnte Werbe-
                verglichen werden, warum von einem Gefühlsaus-          grob in drei Kategorien einteilte. An erster Stelle                      dere bei denen für Heranwachsende, wie etwa im           kanäle, die dann wirtschaftlich am erfolgreichsten
                bruch, einer emotionalen Welle, von einem Auf und       stand die christliche Glaubensbildung und Erzie-                         Projekt Treff im Quartier mitten in den Stiftungen.      sind, wenn sie ihre User so stark wie möglich emo-
                Ab der Regungen die Rede ist. Emotionen sind uns        hung zur Gottgefälligkeit. An zweiter Stelle kam                         An diese Zielgruppe richtet sich auch die Jahresaus-     tional aufladen – egal womit und zu welchem zwi-
                biologisch eingeschrieben, gehören unauflöslich zu      die Vermittlung von fachlichem Wissen unter He-                          stellung, die ab März für fast ein Jahr lang im His-     schenmenschlichen Preis. Diese Geschäftsmodelle
                uns, und wir werden sie nicht los. Aber genau des-      ranziehung und mittels Heranbildung des mensch-                          torischen Waisenhaus gezeigt wird. Unter dem Titel       führen zu eben jener emotionalen Entgrenzung, die
                wegen verdienen sie unsere besondere Aufmerk-           lichen Verstandes, und als dritte Kategorie galt ihm                     »Die Macht Emotionen« hat die Sozialpädagogin            wir derzeit erleben, zur verbalen Verrohung bis hin
                samkeit.                                                die Sittenlehre. Diese zielte auf die Schulung sozia­                    und langjährige Leiterin des Krokoseums Susanna          zu Hassreden, zu Morddrohungen und mehr. Inso-
                                                                        ler Kompetenzen und ging einher mit der Beherr-                          Kovács eine Ausstellung konzipiert, die Jugendli-        fern könnte das Jahresthema kaum aktueller gewählt
                                                                        schung der eigenen Gefühle. Hierin spiegelt sich                         chen das breite Spektrum der Gefühlswelten eröff-        sein, denn es ist höchste Zeit, sich mit der offen-
Es hat wohl seinen Grund, warum Gefühle oft mit                         Franckes Ansatz von einer ganzheitlichen Bildung                         nen soll und auf spielerische Weise dazu anleiten        sichtlichen ebenso wie mit der verborgenen Macht
­Naturgewalten verglichen werden, warum von einem                       wider, bei der es darum ging, jeden einzelnen Men-                       möchte, Chancen und Grenzen im Umgang mit der            der Emotionen, mit den eigenen Gefühlshaushalten
 Gefühlsausbruch, einer emotionalen Welle, von einem                    schen mit all seinen Talenten und Eigenheiten in                         Macht der Emotionen zu ergründen.                        und den Gefühlswelten anderer zu befassen und die
 Auf und Ab der Regungen die Rede ist.                                  den Blick zu nehmen und entsprechend seiner Fä-                          Aber die Ausstellung soll auch Erwachsene errei-         Diskussion über das richtige Maß im Umgang mit
                                                                        higkeiten in fachlicher aber auch sozialer Hinsicht                      chen und sie dazu bewegen, sich mit dem Thema            dieser Macht zu führen.
                                                                        auszubilden. Seine Zöglinge sollten nicht nur eine                       auseinanderzusetzen. Denn wir alle sind tagtäglich       Dazu gibt es ein ganzjähriges Veranstaltungspro-
                Es ist vielleicht ein nachhaltiges Resultat der Auf-    gute berufliche Qualifizierung erlangen, sondern                         gefordert, mit unseren Emotionen angemessen              gramm, das auf vielfältige Weise das Jahresthema
                klärung, auf die wir uns in den westlichen Gesell-      ebenso gesellschaftlich bestehen können. Und dazu                        umzugehen, sie dort zuzulassen, wo sie gebraucht         aufgreift und aus unterschiedlicher Richtung be-
                schaften so gerne beziehen, dass wir der Vernunft       gehörte auch der richtige Umgang mit den Affekten.                       werden, etwa beim leidenschaftlichen Engagement          leuchtet. Lesen Sie zu den Höhepunkten im Maga-
                und der Rationalität mehr Bedeutung zumessen als        Zu wenige Gefühle galten ihm als tot und leer, zu                        für ein wichtiges gesellschaftliches Anliegen, bei       zin weiter nach und freuen Sie sich mit uns auf ein
                den Emotionen. Bis heute stehen im schulischen          viele davon als zügellos und unsittlich. Aber grund-                     der Hingabe für unsere Mitmenschen oder bei der          prall gefülltes und abwechslungsreiches Jahrespro-
                Bildungswesen die Vermittlung von Fachwissen            sätzlich wurden sie als ein unbestreitbarer Bestand-                     Empathie im Beruf. Andererseits gilt es mit den          gramm, das sich übrigens nahtlos in das stadtweite
                und die Schärfung des Verstandes im Vordergrund.        teil des menschlichen Wesens angesehen.                                  eigenen Emotionen umsichtig zu haushalten und            kulturelle Themenjahr einbettet.
                Der Umgang mit unserer Gefühlswelt ist dagegen          Daran möchte das Jahresprogramm der Francke-                             sie nicht zügellos walten zu lassen. Es ist hilfreich
                nicht im Lehrplan verankert, wird allenfalls indirekt   schen Stiftungen im Jahr 2022 anknüpfen, und                             sich klarzumachen, dass im Grunde jede Art von

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Franckesche Stiftungen Magazin 2022
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Franckesche Stiftungen Magazin 2022
Jahresthema 2022

     Ohne ­Empörung
                                                                                                                                  Authentizität und Individualität von Gefühlen. Die-       Warum wurden Gefühle in der Geschichts­
                                                                                                                                  se Mythen kamen und kommen gut an in einer Zeit,          schreibung eigentlich so lange marginali­
                                                                                                                                  in der Autonomie und Eigenbewusstsein großge-             siert? Welchen Mehrwert können wir aus dem
                                                                                                                                  schrieben werden.                                         Geschichts­wissen, aus Ihren Forschungen für

     und ­Widerspruch
                                                                                                                                                                                            unseren Umgang mit Gefühlen gewinnen?
                                                                                                                                  Eine der zentralen Thesen zur Geschichte der              Gefühle galten Historikern als unwichtiges Bei-
                                                                                                                                  Gefühle lautet, Gefühle seien nicht nur indivi­           werk, als eine Art Hintergrundrauschen, das sie
                                                                                                                                  duell, sondern auch kulturell geformt und sozial          gut und gern außer Acht lassen konnten. Man ver-

     wäre die
                                                                                                                                  erlernt. Sind Gefühle also nicht zeitlos und uni­         stand erstens nicht, wie geschichtsmächtig Gefühle
                                                                                                                                  versell?                                                  sind, indem sie Menschen dazu motivieren, etwas
                                                                                                                                  Ebenso wenig wie es »den Menschen« unabhängig             zu tun oder zu lassen, aufzubegehren oder stillzu-
                                                                                                                                  von Zeit und Raum gibt, gibt es auch nicht »das Ge-       halten. Und man hatte zweitens keine Vorstellung

     ­Geschichte ­anders
                                                                                                                                  fühl« oder »die Gefühle«, zeitlos und universell, wie     davon, dass Gefühle selber historisch sind, dass
                                                                                                                                  Sie sagen. Anthropologinnen berichten über sehr           sie sich wandeln, in ihrer Empfindung, ihrem Aus-
                                                                                                                                  unterschiedliche Gefühle in diversen Regionen der         druck, ihrer Bewertung. Was den Erkenntnisgewinn
                                                                                                                                  Welt, und Historikerinnen zeigen, wie sich Gefüh-         einer Geschichte der Gefühle betrifft – auch diese

      ­verlaufen
                                                                                                                                                                                            Geschichte ist und betreibt Aufklärung. Um beim
                                                                                                                                                                                            Beispiel der Vaterlandsliebe zu bleiben: Wer etwas
                                                                                                                  Ebenso wenig wie es »den Menschen« unabhängig von                         darüber erfährt, wie dieses Gefühl erzeugt und ge-
                                                                                                                  Zeit und Raum gibt, gibt es auch nicht »das Gefühl« oder                  managt wurde, wird denjenigen, die heute wieder
                                                                                                                  »die Gefühle«.                                                            »aus Liebe zu Deutschland« rechtsextreme Politik
                                                                                                                                                                                            machen, skeptisch begegnen.

                                                                                                                                  le in und mit der Zeit wandelten. Es ist höchst un-       Welche Gefühle sind aus Ihrer Sicht für unsere
     Im Gespräch mit der Historikerin                                                                                             wahrscheinlich, dass der Ötzi die gleichen Gefühle        heutige Gesellschaft besonders bestimmend?
                                                                                                                                  empfand wie heutige Bewohner und Bewohnerin-              Hass und Ressentiment spielen eine deutlich größe-
     Prof. Dr. Ute Frevert                                                                                                        nen Südtirols. Ebenso unwahrscheinlich ist, dass er       re Rolle als vor dreißig oder vierzig Jahren. Aber sie
                                                                                                                                  seine Gefühle in denen anderer, zeitgleich lebender       dominieren nicht, finden Gegenkräfte in Gefühlen
                                                                                                                                  Menschen aus Ägypten oder China wiedererkannt             der Empathie und Solidarität. Den Hassenden und
                                                                                                                                  hätte (im – wiederum – unwahrscheinlichen Fall,           Grollenden, die sich im Internet tummeln und mit
                                                                                                                                  dass sie einander begegnet wären). Gefühle sind ab-       geballten Fäusten und Gebrüll auf die Straße gehen,
                                                                                                                                  hängig von ihrer kulturellen und gesellschaftlichen       stehen diejenigen gegenüber, die sich für die Opfer
                                                                                                                                  Rahmung. Selbstverständlich werden sie von Ein-           der Flutkatastrophe engagieren, Geflüchteten Hil-
                                                                                                                                  zelnen empfunden, ein Kollektiv kann nicht fühlen.        fe anbieten, Nachbarkinder bei den Schulaufgaben
                                                                                                                                  Aber was und wie diese Einzelnen fühlen, unterliegt       unterstützen. Und das sind viel mehr. Allerdings
                                                                                                                                  äußeren Einflüssen, die nicht nur sie selber betreffen.   sind sie leiser als die anderen und werden deshalb
                                                                                                                                                                                            leicht übersehen.
                                                                                                                                  Könnten Sie ein Beispiel skizzieren, an dem sich
                                                                                                                                  gut veranschaulichen lässt, wie sich Gefühle im           Die Corona-Pandemie ist gesellschaftlich und
     Gefühle machen Geschichte. Sie prägen und steuern    Gegenwärtig erleben wir einen hohen Emotio­                             Laufe der Geschichte verändert haben? Welche              emotional eine der größten ­Herausforderungen.
     nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Gesell­   nalisierungsgrad, der in viele ­gesellschaftliche                       Quellen geben Aufschluss?                                 Die Nationale Akademie der Wissenschaften
     schaften – so die These von Prof. Dr. Ute Frevert.   Bereiche hineingreift, in Politik und Medien,                           Die Quellen sprudeln reichlich. Nehmen wir das            Leo­poldina hat mehrere Stellungnahmen zur
     Wir sprechen mit ihr darüber, was wir fühlen und     aber auch ins Alltagsleben. Wie konnte es denn                          Beispiel der Vaterlandsliebe oder auch der Liebe          Pandemiebekämpfung veröffentlicht. Auch Sie
     warum, welche Bedeutung Emotionen für gesell­        dazu kommen, dass die Emotionen so ins Zen­                             zum Sozialismus, wie sie das DDR-Regime predig-           haben an diesen Empfehlungen ­mitgewirkt. Wel­
     schaftliche Entwicklungen haben und welche Rol­      trum unserer Kultur gerückt sind?                                       te. Diese Gefühle hatten in Deutschland ihre Zeit,        che Themen waren Ihnen besonders ­wichtig?
     le sie gegenwärtig in Politik und Medien, in unse­   Ob wir heute tatsächlich emotionaler sind und                           man pfiff sie sozusagen von den Dächern. Es gab           Ein wichtiges Thema ist das Angstmanagement. Die
     ren Alltagswelten sowie in Bildung und Erziehung     handeln als früher, ist noch nicht ausgemacht. Fest                     Gedichte darüber, gemeinsam gesungene Lieder,             Leopoldina will ja, anders als manche Politiker, nicht
     spielen.                                             steht jedoch, dass wir viel über Gefühle sprechen,                      Embleme. Viele Menschen führten diese Liebe im            als Angstunternehmer auftreten – also als jemand,
                                                          Ausstellungen dazu veranstalten, Bücher schreiben                       Munde, und nicht wenige empfanden sie in ihren            der Ängste schürt, um sich dann als Retter aufzu-
     Mal vorneweg: Sind Sie ein emotionaler               und sie in vielen verschiedenen Disziplinen erfor-                      Herzen (behaupteten sie). Sie waren damit aufge-          spielen. Angst ist nur bis zu einem gewissen Punkt
     Mensch? Gibt es Situationen oder bestimmte           schen. Dahinter steht die Erkenntnis, wie wichtig                       wachsen, man hatte sie ihnen von klein auf »einge-        ein guter Ratgeber, sie kann auch lähmen. Wer Po-
     Erlebnisse, die Sie besonders berühren?              und handlungsmächtig Gefühle sind. Und wie we-                          trichtert« und schmackhaft gemacht. Heute reser-          litik aus wissenschaftlicher Sicht beraten will, muss
     Ich fahre rasch aus der Haut – und vieles geht mir   nig es hilft, sie zu verteufeln, zu verachten oder an                   vieren wir Liebe für menschliche Primärbeziehun-          einerseits Dampf herausnehmen und Panik vermei-
     unter die Haut, die anscheinend immer dünner wird.   den Rand des Sagbaren zu schieben. Die Psycho-                          gen und sind eher abgeneigt, sie auf Großgruppen          den. Er oder sie muss mehrere Pro­blemlösungen in
     Ich lasse mich anrühren, sogar von Kitsch. Und das   welle seit den 1970er Jahren hat diese Erkenntnis                       oder Institutionen zu übertragen. Wir haben aus der       ihren Voraussetzungen und wahrscheinlichen Fol-
     wird im Alter eher schlimmer…                        »in die Mitte der Gesellschaft« getragen, verbun-                       Geschichte gelernt – aus der Geschichte solcher           gen vorlegen und abschätzen – und dann der Politik
                                                          den mit zahlreichen Mythen über die angebliche                          Gefühle und deren politischer Instrumentalisierung.       die Entscheidung überlassen. Andererseits gab es

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Franckesche Stiftungen Magazin 2022
Jahresthema 2022

                 Situationen, in denen die Regierung handlungsun-         Empfindlichkeiten geändert. Schauen Sie sich die                        Meinungen und Gefühle anderer. Wütende müssen            Unsere Jahresausstellung widmet sich der
                 fähig oder -unwillig schien, aus Rücksicht auf ein-      berühmte Szene aus dem Bundestag von 1983 an,                           sich dem gesellschaftlichen Dialog stellen und sich      Macht der Emotionen. Was meinen Sie: Wie kön­
                 zelne Lobbys oder wahltaktischen Manövern. Hier          als die Grünen-Abgeordnete Waltraud Schoppe da-                         an gewisse Spielregeln halten. Das schließt begrenz-     nen wir mit dem Wissen um diese Macht im Mit­
                 hat die Leopoldina eindrücklich an den »Ernst der        für plädierte, Vergewaltigung in der Ehe strafbar zu                    te Regelverletzungen ein, wie sie 1968 die Studen-       einander konstruktiv umgehen?
                 Lage« erinnert und rasche Maßnahmen empfohlen –          machen (was 1997 dann ja auch geschah). Die Re-                         tenbewegung und heute Fridays for Future auspro-         Wir sollten diese Macht erst einmal beschreiben
                 und ist damit auch gehört worden.                        aktion der männlichen Abgeordneten – parteiüber-                        biert haben.                                             und reflektieren. Dazu gehört, sich die positiven,
                                                                          greifend – war garantiert nicht respektvoll. Heute                                                                               ermöglichenden Dimensionen von Gefühlen eben-
                 Gibt es kollektive Gefühle? Und wenn ja, wo­             nehmen viele an diesem Mangel an Respekt Anstoß.                        Der Zusammenhalt in einer Gesellschaft beruht            so wie deren negative, verhindernde Aspekte klarzu-
                  durch entstehen sie und gibt es im Gegen­               Damals waren es nur sehr wenige. Auch das spricht                       wesentlich auf Empathie, Sympathie und Soli­             machen. Zuviel Gefühlsemphase, das wusste schon
                 zug auch eine kollektive Vernunft? Welche                für einen Wandel der Gefühle und Sensibilitäten.                        darität. Kann man Solidarität verordnen? Kann            Adam Smith im 18. Jahrhundert, unterbindet An-
                 ­Mischung braucht eine Gesellschaft zwischen                                                                                     man Gefühle verordnen?                                   schlusskommunikation, emotionale Überwältigung
                 Gefühl und Rationalität, um gut zu funktionieren         Stichwort Unzufriedenheit als Gemeinschafts­                            Gefühle lassen sich nicht verordnen. Aber es gibt        tut selten gut. Wir sollten auch aufhören, unsere an-
                  und alle mitzunehmen?                                   gefühl: Wie passt das zusammen? Den Men­                                andere Mittel, sie zu beeinflussen, auf sie einzuwir-    geblich so individuellen, singulären Gefühle wie ei-
                 Ich spreche lieber von geteilten als von kollektiven     schen in Deutschland, zumindest der immer                               ken, sie zu erzeugen. Adolf Hitler war ein Meister       nen Popanz vor uns herzutragen und von anderen
                 Gefühlen, denn, wie gesagt, ein Kollektiv kann gar       noch großen Bevölkerungsgruppe der Mittel­                              des politischen Gefühlsmanagements und hat alle          zu erwarten, sich vor ihnen zu verbeugen und sie
                 nicht fühlen. Geteilt werden Gefühle durch Mittei-       schicht, geht es doch relativ gut? Die Arbeits­                         Instrumente – Ton, Bild, Sprache, Körper, Licht          auf keinen Fall zu verletzen. Gefühle sind Verhand-
                                                                          losigkeit ist niedrig, es ist Geld zum Konsumie­                        und Dunkelheit, Architektur – dafür genutzt. Heu-        lungssache und relational, auf Beziehungen geeicht.
                                                                          ren da ...                                                              te arbeiten Coaches, Spindoktoren und Werbeleu-          Wir können lernen, über sie Auskunft zu erteilen
Wir sollten die krasse Entgegensetzung von Vernunft                       Ganz so negativ ist die allgemeine Gefühlslage ja                       te daran, Gefühle zu steuern und in eine bestimm-        und sie zu begründen. Aber wir können uns auch
und Gefühl ad acta legen. Gefühle sind nichts Irrationales.                nicht: Auf der Skala der Lebenszufriedenheit liegt                     te, zielführende Richtung zu lenken. Je subkutaner,      überzeugen lassen, dass sie vielleicht ungerechtfer-
                                                                          Deutschland über dem OECD-Durchschnitt. Die                             desto erfolgreicher. Bürgerinnen und Bürger, Kun-        tigt, unangemessen und schlicht kontraproduktiv
                                                                           meisten Menschen sind mit ihrer persönlichen Si-                       den und Konsumentinnen sind vorsichtiger gewor-          sind. Und sie dann entsprechend verändern.
                 lung, durch Kommunikation. Schließen Sie sich ei-         tuation durchaus zufrieden, vor allem dann, wenn                       den, sie misstrauen der emotionalen ­Überwältigung.
                 ner Demonstration an, und Sie merken rasch, wie            sie sich mit der Elterngeneration vergleichen.                        Wer als Politiker immerzu von Vertrauen redet,           Interview: Andrea Klapperstück
                 stark hier Gefühle mitgeteilt, aufgenommen, weiter-      Aber sie befürchten, dass es der nachfolgenden                          macht sich verdächtig. Auch Appelle an Solidarität
                 gegeben werden. Ähnliches passiert im Fußballsta-        ­Generation nicht besser, sondern schlechter gehen                      erreichen oft das Gegenteil. Hier hilft eher das prak-
                 dion oder während eines Pop-Konzerts. Das heißt          wird. Und das ist durchaus realistisch gedacht und                      tische Beispiel, das zur Nachahmung einlädt.
                 jedoch nicht, dass sich der Verstand ausschaltet.         ­gefühlt. Denn wir Älteren hinterlassen den Jünge-                                                                              Prof. Dr. Ute Frevert zählt zu den wichtigsten
                 Auch Gefühle kennen eine Logik und Rationalität.          ren eine stattliche Reihe von Problemen, die wir mit                   Wer hat eigentlich Zugriff auf unsere G
                                                                                                                                                                                        ­ efühle?          deutschen Historikerinnen. Seit 2008 leitet sie
                 Sie folgen einem Script, das alles andere als erra-        einer expansiven Wirtschafts- und Lebensweise ver-                    Was bedeutet das als Auftrag für Erziehung und           den interdisziplinären Forschungsbereich »Ge-
                 tisch ist. Jeder fühlende Mensch kann über sich und       ursacht haben. Die durch exorbitantes Wachstum                         Bildung? Und wo genau erlernen wir grundle­              schichte der Gefühle« am Max-Planck-Institut
                 seine Gefühle reflektieren und tut das meist auch.         erreichte Zufriedenheit generiert Kosten, die unse-                   gendes Emotionswissen?                                   für Bildungsforschung in Berlin. Sie wurde mit
                 Und er weiß aus Erfahrung, dass bestimmte Ge-             re Kinder und Kindeskinder werden tragen müssen.                       Schon im 19. Jahrhundert hat man die Familie als         zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Gott-
                 fühle zu bestimmten Orten passen. In der Kirche                                                                                  »Schule der Gefühle« bezeichnet. Aber sie ist nicht      fried-Wilhelm-Leibniz-Preis und 2020 mit dem
                 fühlt man anders und anderes als in der Badewan-         Die Zunahme von Wut, Hass, Angst oder auch                              die einzige Institution, in der Gefühle gebildet, aus-   Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Pro-
                 ne. Jeder Ort, jede gesellschaftliche Institution hat    Neid wird vielfach diskutiert. Ist Wut nur de­                          probiert, verhandelt, bearbeitet werden. Jede gesell-    sa. Ihr neuestes Buch Mächtige Gefühle. Von A wie
                 eine eigene, historisch generierte emotionale Signa-     struktiv, oder auch für etwas gut? Wie nah, oder                                                                                 Angst bis Z wie Zuneigung – Deutsche Geschichte
                 tur. Dahinter steckt eine Menge Vernunft und Ver-        auch nicht, stehen sich sogenannte Wutbürger­                                                                                    seit 1900 schließt an die Wander­ausstellung »Die
                 stand. Kurzum: Wir sollten die krasse Entgegenset-       Innen, Black lives matter-AnhängerInnen auf der         Wut ist ein Signal an die Herrschenden, dass sich etwas                  Macht der Gefühle. Deutschland 19 /19 « an, die
                 zung von Vernunft und Gefühl ad acta legen. Ge-          ganzen Welt und etwa die globale junge Klima­           ändern muss und soll. Demokratien zeichnen sich                          am 6. Oktober 2022 in den Franckeschen Stif-
                 fühle sind nichts Irrationales.                          schutzbewegung?                                         dadurch aus, dass sie solche Wut zulassen und ihr Raum                   tungen gemeinsam mit Ute Frevert eröffnet wird.
                                                                          Wut ist durchaus für etwas gut. Ohne Empörung           geben.
                 Die Demokratie lebt auch vom Streit um die bes­          und Widerspruch wäre die Geschichte anders –
                 ten Lösungen. Schon Helmut Schmidt stellte               und nicht unbedingt besser – verlaufen. Hinter je-
                 fest: »Eine Demokratie, in der nicht gestritten          der Revolution stand die Empörung derer, die sich                       schaftliche Einrichtung tut das, Kirchen ebenso
                 wird, ist keine«. Kann man seine Meinung noch            an den gegebenen Verhältnissen rieben. Wut ist ein                      wie Betriebe, Kindergärten, Sportvereine, das Mi-
                 öffentlich äußern, ohne fürchten zu müssen, Op­          Signal an die Herrschenden, dass sich etwas ändern                      litär. Sie alle – und natürlich die Medien – vermit-
                 fer von Hatespeech-Attacken und Shitstorms in            muss und soll. Und die Herrschenden tun gut dar-                        teln uns ein Wissen darüber, welche Gefühle an wel-
                 sozialen Medien zu werden? Haben wir verlernt,           an, dieses Signal nicht zu übersehen. Demokratien                       cher Stelle angemessen und gefragt sind, und wel-
                 uns respektvoll zu streiten?                             zeichnen sich dadurch aus, dass sie solche Wut zu-                      che nicht. Im besten Fall regen sie uns dazu an, über
                 Es kommt darauf an, wie gestritten wird. Nimmt man       lassen und ihr Raum geben. Die Stuttgarter Wut-                         unsere Gefühle nachzudenken und sie auf eine Wei-
                 den anderen als Gegner wahr oder als Feind? Will         bürger sind ausgiebig zu Wort gekommen, und über                        se zum Ausdruck zu bringen, dass sie das gewünsch-
                 man überzeugen oder vernichten? Ich habe manch-          ihr Anliegen wurde demokratisch verhandelt und                          te Ergebnis zeitigen: der Liebende will schließlich
                 mal den Eindruck, dass der Ton der Auseinanderset-       abgestimmt. Auch die Empörung über Rassismus                            wiedergeliebt werden, die Wütende die Welt verän-
                 zung – ob im Straßenverkehr oder in der politischen      und Klimawandel hat ihren legitimen Platz – und                         dern. Kluge Eltern bringen das bereits ihren Kin-
                 Debatte – rauer geworden ist, destruktiver. Aber viel-   wird hoffentlich etwas bewirken. Aber auch hier gilt,                   dern bei, kluge Lehrerinnen ihren Schülerinnen.
                 leicht haben sich auch nur unsere Erwartungen und        dass Wut nicht blind und taub machen darf für die

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                Die Macht der
                                                                                                                                                Emotion erfüllt hierbei eine wichtige Funktion. Da-     Wandel wird deutlich, wie emotionsgeladen die ak-
                                                                                                                                                bei fällt es uns oft gar nicht leicht, unsere Emotio­   tuellen Debatten sind, was Emotionen auf der Welt-
                                                                                                                                                nen und Gefühle klar zu benennen, geschweige            bühne bewirken und dass (nicht nur positive) Ge-
                                                                                                                                                                                                        fühle kraftvolle Motoren für Veränderung sein kön-

                Emotionen
                                                                                                                                                                                                        nen.
                                                                                                                               Face of Emotion – Mut: Ich bin viele! Malala Yousafzai,                  Strategien und Methoden zum konstruktiven
                                                                                                                               24, kämpft international für Bildung für alle.                           Umgang mit Emotionen vermittelt ein Emotions­
                                                                                                                                                                                                        coaching. In unterschiedlichen Alltagskontexten

                Einblicke in die
                                                                                                                                                                                                        erleben und bewerten wir Emotionen sehr unter-
                                                                                                                                                denn, ihren Ursprung, Grund oder Auslöser zu er-        schiedlich. Für viele von uns ist es immer wieder
                                                                                                                                                kennen. Licht ins Dunkel möchte die Jahresausstel-      eine Gratwanderung, hier das Gleichgewicht zu be-
                                                                                                                                                lung bringen. Sie beschäftigt sich mit der Macht der    wahren. Nicht immer können wir unseren Gefüh-

                Jahresausstellung
                                                                                                                                                Emotionen als »Sei(n)smografen« in unserem Le-          len freien Lauf lassen, doch können unterdrückte
                                                                                                                                                ben und verhandelt die Frage, wie wir mit dem Wis-      Gefühle uns auch krank machen. In der Soulkitchen
                                                                                                                                                sen um diese Macht miteinander leben wollen.            findet sich Gelegenheit, den konstruktiven Umgang
                                                                                                                                                Die Ausstellung, die sich vor allem an ­Jugendliche     mit Gefühlen auszuprobieren.

                2022
                                                                                                                                                und junge Erwachsene richtet, ist als interaktiver      Am Ende der Ausstellung stehen die Handlungs-
                                                                                                                                                Gefühls-Parcours angelegt. Sie lädt ein zum Mit-        spielräume und Chancen, die sich aus dem Wissen
                                                                                                                                                denken, Mitfühlen und Mitreden und möchte eine          um die Macht der Emotionen ergeben, im Mittel-
                                                                                                                                                grundlegende Orientierung im »Dschungel der             punkt, aber auch die Herausforderungen und die
                                                                                                                                                Emotionen« bieten. Dafür bündelt die Ausstellung        Verantwortung für unser gesellschaftliches Mitein­
                                                                                                                                                aktuelles Emotionswissen und verknüpft dieses mit       ander. Eine Soundinstallation lädt zur Reflexion
                                                                                                                                                Alltagserfahrungen aus unterschiedlichsten Berei-       und zum Weiterdenken ein. Im Manifest der Emotio­
                                                                                                                                                chen des Lebens. In sieben Themenräumen erleben         nen können alle Besucherinnen und Besucher ihre
                                                                                                                                                die Besucherinnen und Besucher, welchem Zweck           Zukunftsvisionen formulieren und veröffentlichen.
                                                                                                                                                Emotionen dienen, was sie bewirken, wie sie uns
                                                                                                                                                beeinflussen, warum wir sie brauchen und wie wir        Susanna Kovacs, Kuratorin
                                                                                                                                                lernen können, mit ihnen umzugehen.

                                                                                                                                Face of Emotion – Neugier: Was ein Land betrifft,
                                                                                                                                betrifft alle. Olivia Hallisey, 23, hat Menschenleben                   Die Jahresausstellung wird vom 19. März bis 5. Feb-
                                                                                                                               ­gerettet durch die Entwicklung eines Schnelltests für                   ruar 2023 im Historischen Waisenhaus gezeigt. Ein
                                                                                                                                den ­Ebola-Virus.                                                       umfangreiches Vermittlungsprogramm des LeoLab
                                                                                                                                                                                                        richtet sich an Schülerinnen und Schüler der Klas-
                                                                                                                                                                                                        senstufen 5–12. Es umfasst interaktive Führungen
                                                                                                                                                Die Ausstellung startet mit einem Emotionsexpe-         und Workshops, die fächerübergreifend konzipiert
                                                                                                                                                riment: Auf dem Rummelplatz der Gefühle warten          sind. Für das Vermittlungsprogramm ist eine An-
                                                                                                                                                vielfältige Verlockungen, Überraschungen und auch       meldung im Infozentrum erforderlich.
                Wer kennt es nicht? Wir sind gelähmt vor Angst,         an diejenigen Ereignisse, die mit starken Gefüh-                        Herausforderungen. Wie funktionieren wir unter
                erröten vor Scham, machen Luftsprünge vor Freude,       len verbunden sind. Keine unserer Entscheidungen                        Stress, was motiviert uns, woher kommt die Lust
                sind blind vor Ärger: Gefühlschaos, Gänsehautmo-        ­erfolgt ohne Emotion – das geschieht in der Regel                      am Thrill? Hier werden Emotionen ausgelöst, erleb-
                mente, Wut oder Schmetterlinge im Bauch.                 unbewusst. Ein Leben ohne Emotionen ist schlicht-                      bar und sichtbar gemacht, gemessen und erforscht.
                Sind wir in erster Linie nicht rationale, sondern       weg nicht vorstellbar. Sie lassen uns mit allen Sin-                    Dieses Wechselbad der Gefühle, eingefangen in ei-
                emotionale Wesen? Fakt ist: Emotionen bedingen           nen im Leben sein, befeuern unsere Kreativität, un-                    nem interaktiven Stimmungsbarometer, ergänzen
                maßgeblich unser Sein. Mal sind sie stärker aus-        sere Lebensfreude und unser Selbstbewusstsein.                          pointierte Hintergrundinformationen, die uns un-
                geprägt, mal weniger, aber emotionsfreie Zustände       Doch Emotionen sind nicht immer nur willkomme-                          ser Emotionserleben verstehen und einordnen las-
                                                                         ner Bestandteil unseres Lebens. Manchmal schei-                        sen. Geklärt wird unter anderem: Was sind Emotio­
                                                                         nen wir ihnen machtlos gegenüberzustehen. Und                          nen? Wie entstehen sie? Woran erkennen wir sie?
Face of Emotion – Wut: How dare you!                                     doch, auch wenn das zunächst paradox e­ rscheint:                      Was sind ihre Auslöser? Und nicht zuletzt: Was pas-
Greta Thunberg, 18, hat die größte Klimaschutz­                         Ohne sie wäre unser Leben viel komplizierter, denn                      siert in unserem Körper, wenn wir Emotionen er-
bewegung seit Jahrzehnten angestoßen.                                   sie sind Mitteilungen an unser Gegenüber, steuern                       leben?
                                                                         unser Verhalten und sind Mitgestalter unserer Be-                      In der Installation Faces of Emotion werden jun-
                                                                         ziehungen, von Gesellschaft und Umwelt.                                ge ProtagonistInnen der Zeitgeschichte vorgestellt,
                gibt es nicht. Wir investieren viel Zeit und Energie,   Gefühle und Emotionen sind also wirkmächtige                            darunter etwa die Klimaaktivistin Greta Thunberg.
                um bestimmte Gefühle zu vermeiden und andere            Kräfte, mit denen wir unser Leben gestalten kön-                        An den Beispielen dieser Vordenker- bzw. Gestal-
                möglichst oft zu erfahren. Wir erinnern uns besser       nen. Wut, Angst, Freude, Trauer oder Scham – jede                      terInnen von gesellschaftlichem und politischem

18                                                                                                                                                                                                                                                      19
Jahresthema 2022

              21
Jahresthema 2022

     Das hat mich bewegt!                                                                                                                                                                 man sich eigentlich noch erfüllen möchte. Da sagte
                                                                                                                                                                                          ich, naja, eigentlich würde ich gerne Reiten lernen
                                                                                                                                                                                          und kurioserweise hatte er den gleichen Wunsch.
                                                                                                                                                                                          Damit war die richtige Gelegenheit plötzlich da, um
                                                                                                                                                                                          den Kindheitstraum Wirklichkeit werden zu lassen.
     Dinge oder Erlebnisse, die uns tief berühren,                                                                                                                                        Eigentlich ist die Erfüllung eines lang gehegten
                                                                                                                                                                                          Wunsches großartig, und doch gibt es ­unerwartete
     sind oft mit Höhen und Tiefen, mit Ängsten                                                                                                                                           Konsequenzen, über die ich mir bis zu dem Zeit-
                                                                                                                                                                                          punkt, als ich anfing, reiten zu lernen, noch gar nicht
     oder Hoffnungen, mit Freude oder Trauer, mit                                                                                                                                         so viele Gedanken gemacht hatte. Denn der Punkt
                                                                                                                                                                                          ist: Egal, wie gut oder schlecht die Erfüllung dieses
     Zuversicht oder auch dem Einssein mit der                                                                                                                                            Wunsches ausgeht, er geht verloren, weil er plötz-
                                                                                                                                                                                          lich ganz real wird. Wie kann man mit diesem Ver-
     Welt verbunden. Fünf Menschen lassen uns                                                                                                                                             lust umgehen, vor allem, wenn die Realität anders
                                                                                                                                                                                          aussieht als der Wunsch? Ein imaginärer Rückzugs-
     teilhaben an ihren Geschichten, die etwas in                                                                                                                                         raum, den man im Leben ja durchaus auch mal ge-
                                                                                                                                                                                          brauchen kann, ist nicht mehr da. Denn das Tolle an
     ihnen in Bewegung gebracht haben und sie                                                                                                                                             Träumen und Wünschen ist ja, dass man sie sich so
                                                                                                                                                                                          wunderbar frei ausgestalten kann und sie ein Eigen-
     bis heute begleiten.                                                                                                                                                                 leben entwickeln, in dem man zumeist alles kann,
                                                                                                                                                                                          mutig ist und stark.
                                                                                                                                                                                          Diese Angst vor der eigenen Courage, sich einen
                                                                                                                                 erwacht. Wir singen um die Wette. Spielen uns in         Traum zu erfüllen und damit auch zu verlieren, kam
                                                                                                                                 Ekstase. Ich will nie wieder aufhören.                   bei mir glücklicherweise erst etwas später, und da
                                                                                                                                 Ich spiele zunächst einige Werke der jungen ­Clara       dachte ich, wow, was hast du für ein Glück gehabt,
                                                                                                                                 Schumann, danach stehen die beiden ­Rhapsodien op.       weil dir das Reiten viel Freude bereitet. Seitdem
                                                                                                                                 79 von Johannes Brahms auf dem ­Programm. Sehr           aber beschäftigt mich diese Frage: Was würde mit
                                                                                                                                                                                          mir passieren, wenn sich die Erfüllung eines großen
                                                                                                                                                                                          Wunsches nicht so darstellt, wie ich es mir vorge-
                                                                                                                Ich streichle sanft die von Clara persönlich ­eingespielten               stellt hatte? Momentan habe ich im Kopf ja wieder
                                                                                                                Tasten. Und da geschieht etwas. Der Flügel antwortet.                     Platz für neue Wünsche, die sich langsam aufbauen,
                                                                                                                Fängt an, ganz leise zu singen.                                           aber bei denen ich mir jetzt viel genauer überlege,
                                                                                                                                                                                          ob ich sie mir erfülle oder ob ich noch ein wenig
                                                                                                                                                                                          weiter träume.«
                                                                                                                                 wahrscheinlich, dass der Meister selbst diese Stü-
                                                                                                                                 cke auf diesem Flügel in dieser Stadt gespielt hat.
                                                                                                                                 Bei den ersten Tönen fühle ich: So sollte das klingen.
                                                                                                                                 Diese Tiefe, diese Fülle, diesen Klang habe ich noch
                                                                                                                                 nie auf einem modernen Instrument erlebt. Ich ge-
     Mit allen Sinnen von Sinnen                                                                                                 rate in eine Art Trancezustand. Weiß nicht mehr, ob
       Mit ihren Interpretationen genießt die Pianistin   So weit, so spannend. Beim Einspielen stelle ich                       ich selbst spiele oder nur Gast bin bei einem extre-
     ­Ragna Schirmer höchste Anerkennung über die deut­   fest, dass dieses Instrument seit Jahren nicht zum                     men Erleben. Der Raum hält den Atem an.
       schen Grenzen hinaus. Seit 2009 widmet sie sich    Klingen gebracht wurde, der Flügel klingt ­muffig,                     Als ich vom Klavier aufstehe, kämpfe ich mit den
       auch der Nachwuchsförderung am Musikzweig der      nach Staub und zwei überstandenen Weltkriegen.                         Tränen. Und während ich dies schreibe, kullern sie.«
      ­Latina.                                            Während der ersten Takte des Konzertes entschlie-
                                                          ße ich mich, den Flügel entscheiden zu lassen, was
     »Im Jahr 2011 wurde ich eingeladen, in Frankfurt     passieren wird. Ich lasse los, entspanne und gebe                      Das Eigenleben eines Kindheitstraums
      am Main ein Konzert zu geben. Das Besondere:        mich hin. Spiele zart, lote die Grenze des Leisen                      Seit 2007 ist Metta Scholz Leiterin des Verlags der
     Im Saal befand sich anlässlich einer Ausstellung     aus. Hingehauchte Töne. Ich streichle sanft die von                    Franckeschen Stiftungen. Vor zwei Jahren hat sie sich
      der Original-Flügel von Clara Schumann. Genau       Clara persönlich eingespielten Tasten. Und da ge-                      einen lange gehegten Wunsch erfüllt. Das hat mehr
      dieses Instrument hatte von 1879 bis 1896 in der    schieht etwas. Der Flügel antwortet. Fängt an, ganz                    Konsequenzen als gedacht.
     Frankfurter Wohnung der damals am Konservatori-      leise zu singen. Zeigt mir Farben, die ich noch gar
      um beschäftigten Meisterin gestanden. Da sie sich   nicht kannte. Durch eine graue Klang-Patina schim-                     »Seit meiner Kindheit wollte ich reiten. Anfangs gab
     in Frankfurt mehrfach mit Johannes Brahms getrof-    mern Pastell-Töne in bis dato ungekanntem Facet-                       es Gründe, die dagegen sprachen, später hat sich nie
      fen hatte, kann man mit großer Wahrscheinlichkeit   tenreichtum. Wir entdecken uns … Nun probiere                          die richtige Gelegenheit ergeben. Bis ich ein Knei-
     ­annehmen, dass auf diesem Instrument einige sei-    ich die kräftigeren Klänge. Das Holz beginnt zu                        pengespräch mit einem langjährigen Freund hat-
      ner Kompositionen zum ersten Mal Gehör fanden.      schwingen, als wäre es aus dem Dornröschenschlaf                       te und wir uns die Frage stellten, welche Wünsche

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Jahresthema 2022

                 Hoffnung besserer Zeiten                                 Meine Kindheit verbrachte ich auf dem Dorf. Von                         musste ich beides in Einklang bringen, um meinen        wegen Corona schwierig, aber ich versuche seitdem,
                 Nach der Flucht aus Syrien hat Fekrat Alhamoud           meinen Eltern habe ich ein großes Stück Land ge-                        Aufenthalt zu finanzieren, aber ich bin dankbar und     jedes Jahr nach Kolumbien zu fliegen.«
                 mit seiner Familie in Halle eine neue Heimat gefun­      erbt mit vielen Tieren und auch drei Hunden. Es                         stolz, dass ich mich durchgekämpft und alles ge-
                 den. Ein Glücksfall ist für ihn auch die Arbeit in der   gab einen Traktor, es gab Tomaten, Trauben, Obst-                       schafft habe. Als dann mein Job in den Stiftungen
                 Natur auf dem Stiftsgut Stichelsdorf.                    bäume, Getreide, Hirse und Mais. Nach der Arbeit                        entfristet wurde, war das ein unglaublich wichtiger     Wir sind nur jetzt!
                                                                          am Wochenende war ich immer draußen. Das tut                            Moment und ein sehr erleichterndes Gefühl. Ich          Zoe Warmbrunn hat nach dem Abitur erst als Prak­
                                                                          mir gut. Jetzt kümmere ich mich um die Gewächs-                         lief mit meiner unbefristeten Aufenthaltserlaubnis      tikantin, dann ehrenamtlich an der Ausstellung zur
                                                                          häuser, Beete und Bäume in Stichelsdorf. Ich würde                                                                              »Macht der Emotionen« mitgearbeitet. Vor dem Stu­
                                                                          mir noch Tiere wie in Syrien wünschen. ­Schafe oder                                                                             dium möchte sie noch reisen und ist zurzeit für einen
                                                                          Ziegen, dann gäbe es auch Milch und Käse. Oder          Uns wurde bewusst, dass dies seit langem unser erstes                   Work&Travel-Aufenthalt in Ägypten.
                                                                          Hunde.                                                  Treffen im Freundeskreis war und wir uns lange nicht
                                                                          Deutschland ist zu meiner Heimat geworden, hier         mehr so frei, so leicht, so nah und verbunden gefühlt                   »Das war im Mai letzten Jahres. Genau an dem Tag,
                                                                          gibt es Regeln und alle Menschen sind vor dem Ge-       haben.                                                                  an dem die Coronabeschränkungen gelockert wur-
                                                                          setz gleich. Ich habe kein Heimweh nach einer Dik-                                                                              den, hatte ein Freund Geburtstag. Wir wollten ei-
                                                                          tatur.«                                                                                                                         gentlich mit ihm feiern, aber ihm ging es nicht gut,
                                                                                                                                                  von der ­Ausländerbehörde Richtung Straßenbahn          er war gar nicht in Feierlaune und hat vielleicht
                                                                                                                                                  und atmete tief durch: endlich! Meine 20 Jahre in       auch ein bisschen den Druck gespürt, etwas organi-
                                                                          Die Lücke der letzten Gelegenheit                                       Deutschland habe ich übrigens zusammen mit dem          sieren zu müssen. Dass man an Geburtstagen weh-
                                                                          Der Designer und Pädagoge Santiago Correa gehört                        20. Jubiläum des Hortes feiern können.                  mütig wird und hinterfragt, wo man gerade so steht
                                                                          zum Team im Hort August Hermann Francke und                             Wenn ich in Kolumbien bin, habe ich manchmal            im Leben, kenne ich auch.
                                                                          feiert ein Jubiläum: Vor 20 Jahren kam er aus Ko­                       Sehnsucht nach Halle. Ich bin hier angekommen.          Wir haben uns trotzdem vor seinem Haus auf die
                                                                          lumbien nach Deutschland.                                               Schmerzlich erinnere ich mich jedoch an die Zeit,       Bänke gesetzt, auf ihn angestoßen und ihn einge-
                                                                                                                                                  als mein Vater unerwartet gestorben ist. Er hatte       laden, dazuzukommen. Er war ganz gerührt, kam
                                                                          »Die Entscheidung nach Deutschland zu k­ ommen                          Leukämie und das Monate lang vor der Familie ver-       dann tatsächlich dazu und später sind wir zu ihm in
                                                                          und hier zu bleiben, war für mich gar nicht so                          steckt, er war selbst Arzt. Ich steckte gerade in den   die WG und haben getanzt und das Zusammensein
                                                                          schwierig. Klar, man ist weit weg von seiner Familie,                   Abschlussprüfungen an der Uni. Aber es gab g­ roßes     genossen. Der Freund hat den ganzen Abend nur
                                                                          aber meine hat das unterstützt und sogar die Grund-                     Verständnis für meine Situation und ich konnte          noch gestrahlt, wir waren einfach alle da. Als wir zu
                                                                          lage geschaffen, denn ich war in Kolumbien auf ei-                      kurzfristig alles verschieben. Doch als ich in Kolum-   einem Lied tanzten, in dem es heißt: »Wir sind nur
                »In Syrien war ich Polizist. Als die Regierung unter      ner deutschen Schule und konnte die Sprache ler-                        bien ankam, war mein Vater schon verstorben. Es         jetzt!«, wurde uns bewusst, dass dies seit langem un-
                Assad erwartet hat, dass wir mit Waffen gegen die         nen.                                                                    gab keine letzte Gelegenheit, sich noch einmal zu       ser erstes Treffen im Freundeskreis war und wir uns
                eigene Bevölkerung vorgehen sollen, die sich dem          Mein Aufenthalt in Deutschland war immer von                            sehen. Das hat mich lange beschäftigt. Zurzeit ist es   lange nicht mehr so frei, so leicht, so nah und ver-
                Regime wiedersetzt, habe ich mich geweigert. Da­          meiner Qualifikation abhängig. Ursprünglich kam                                                                                 bunden gefühlt haben.
                rauf folgten neun Monate Haft und Folter. Das Ge-         ich zum Designstudium nach Halle, aber dann                                                                                     Durch die Einsamkeit im Lockdown haben wir ge-
                fängnis bei Damaskus, in dem ich untergebracht            wollte ich noch Erziehungswissenschaften studie-                                                                                merkt, was wirklich zählt. Ich habe ehrenamtlich
                war, galt schon vorher als berüchtigt und besonders       ren. Ich durfte allerdings nur bleiben, wenn ich                                                                                in einem Impfzentrum gearbeitet und auch meine
                                                                          Studium oder Job nachweisen konnte. Manchmal                                                                                    Freunde haben sich dort angemeldet. So konnten
                                                                                                                                                                                                          wir uns sehen und uns mitwirkender fühlen, als nur
Ich lief mit meiner unbefristeten Aufenthaltserlaubnis                                                                                                                                                    hilflos zuzuschauen und nichts zu tun.
von der Ausländerbehörde Richtung Straßenbahn und                                                                                                                                                         Freundschaft bedeutet für mich vor allem, dabei
atmete tief durch: endlich!                                                                                                                                                                               zu bleiben. Das war im Lockdown gar nicht so
                                                                                                                                                                                                          leicht. Aber auch unabhängig davon verliert man
                                                                                                                                                                                                          sich manchmal aus den Augen, es gibt Liebesbe-
                gefürchtet. 150 Menschen in einem Raum, nur eine                                                                                                                                          ziehungen dazwischen und alles ist so ein bisschen
                Toilette, keine Dusche, keine Kleidung zum Wech-                                                                                                                                          verstrickt. In meinem Alter, wo man ganz viel aus-
                seln, dazu die Folter… Ich hatte den Tod vor Augen.                                                                                                                                       probieren möchte und Freundschaften oft noch in-
                Allen bei der Polizei und auch der Armee drohte bei                                                                                                                                       stabil sind, weil alles in Bewegung ist, ist es umso
                Befehlsverweigerung die Todesstrafe, bis heute.                                                                                                                                           wichtiger, Zeit miteinander zu verbringen. Um Ver-
                Gleichzeitig ist meine einzige Hoffnung das kor-                                                                                                                                          änderungen zulassen zu können und gegenseitig zu
                rupte System gewesen. Mein Bruder war ein ange-                                                                                                                                           schauen, was trotzdem die Gemeinsamkeiten sind.
                sehener Geschäftsmann und gut vernetzt bis in die                                                                                                                                         Damit Vertrauen wachsen kann, wenn so Dinge pas-
                staatlichen Kreise. Er hat mit dem Richter für drei                                                                                                                                       sieren, man aber trotzdem füreinander da ist. Und
                Millionen Lire, das sind umgerechnet 35.000 Euro,                                                                                                                                         um dann gestärkt wieder auseinanderzugehen.«
                meine Flucht ausgehandelt. Diese Hoffnung hat
                mich durch die quälende Zeit der Haft getragen. Zu
                Fuß bin ich dann mit meiner Familie über die Tür-
                kei nach Deutschland gekommen. Für die Flucht
                haben wir unser ganzes Hab und Gut verkauft.

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Jahresthema 2022

     »Wie bringen wir den                                                         »Wie bringen wir den Glauben vom Kopf ins Herz?«
                                                                                  Das fragte sich der Theologe Philipp ­Jakob Spe-
                                                                                   ner (1635–1705), der als wichtigster geistiger Men-
                                                                                                                                            Trotzdem überkommt uns die Schamesröte unmit-
                                                                                                                                            telbar und ist, so sehr wir uns das auch gelegentlich
                                                                                                                                            wünschen würden, nicht zu vermeiden. Sie zeigt uns
     Glauben vom Kopf ins Herz?«                                                   tor August Hermann Franckes und vor allem als
                                                                                  ­Begründer des (kirchlich-lutherischen) ­Pietismus
                                                                                                                                            und unserem Umfeld gleichzeitig an: Achtung, hin-
                                                                                                                                            ter diesem roten Gesicht verbirgt sich eine starke
     Affekt und Gefühl im                                                          in die Geschichte einging. Heute wird der Pietis-
                                                                                   mus in der Forschung zuweilen als Gefühlsreligion
                                                                                                                                            Emotion.

     Halleschen Pietismus                                                          bezeichnet. Ist Speners Frage also schon längst be-
                                                                                   antwortet? Nicht ganz. Die Art und Weise, wie wir
                                                                                   Emotionen begreifen und besprechen, ist mit dem
                                                                                                                                            Zu den Affekten zählen nach den Definitionen des
                                                                                                                                            18. Jahrhunderts zum Beispiel Liebe, Zorn, Hass,
                                                                                                                                            Freude, Mitleid, Neid, Wollust, Habgier und Ehr-
                                                                                   Gefühlswortschatz Speners und Franckes kaum zu           geiz. Zwar unterteilte man in gute und böse Affekte,
                                                                                   vergleichen. Gefühle sind abstrakt, im Moment des        für die Pietisten war jedoch klar: Das angestrebte
                                                                                  Aufschreibens oft schon längst wieder verflogen           Ideal sollte immer die Ruhe des Gemüts sein. Auch
                                                                                                                                            zu viel des Guten, wie etwa eine überschwängliche
                                                                                                                                            Liebe, kann das Gemüt in Unruhe bringen und
                                                                 Oft wissen wir nicht, wie Menschen (sich) früher                           den Menschen somit krank machen. So versuchte
                                                                 ­›wirklich‹ gefühlt haben, sondern lediglich, wie sie (sich)               die pietistische Medizin, Maßnahmen zur Affekt­
                                                                  fühlen sollten.                                                           regulierung zu finden. Die Aufgabe der Ärzte war
                                                                                                                                            es, Ruhe und Ordnung in das Zusammenspiel von
                                                                                                                                            Leib und Seele zu bringen. Im Sinne der von August
                                                                                   und das Sprechen und Schreiben über sie ist immer        Hermann Francke angestrebten Weltveränderung
                                                                                   den jeweiligen Normen und Konventionen der Zeit          durch Menschenveränderung war das unter Kon-
                                                                                   unterworfen. Oft wissen wir daher nicht, wie Men-        trolle Halten der Affekte jedes und jeder ­Einzelnen
                                                                                   schen (sich) früher ›wirklich‹ gefühlt haben, son-       Grundlage für eine funktionierende Gesellschaft, in
                                                                                   dern lediglich, wie sie (sich) fühlen sollten. Uns       der das Individuum nicht zu stark gegenüber der
                                                                                   bleiben nur jahrhundertealte Schriftstücke, mit de-      Allmacht Gottes hervortrat. Denn die Medizin des
                                                                                   nen wir versuchen können, in eine fremde Zeit mit        Pietismus betrachtete den Menschen stets als in der
                                                                                   zum Teil undurchschaubarem Gefühlshaushalt ein-          Pflicht, den gesamten Organismus gesund zu halten,
                                                                                   zutauchen. Um den Gefühlen im Pietismus näher-           um als gut funktionierendes Werkzeug Gottes Wil-
                                                                                   zukommen, ist also ein kurzer Blick auf die damals       len auf Erden ausführen zu können. Nur durch stän-
                                                                                   verwendeten Begriffe notwendig.                          diges Prüfen des eigenen Innenlebens und Unter-
                                                                                                                                            drücken der sogenannten bösen Affekte konnte sich
                                                                                  Während das 18. Jahrhundert schon von Passion,            die Liebe zu Gott richtig entfalten und das Kind der
                                                                                  Leidenschaft und Gefühl spricht, ist uns vor allem        Welt bekehrt und zum Kind Gottes wiedergeboren
                                                                                  der für die damalige Zeit zentrale Begriff der ­Affekte   werden. In seinen Lebensregeln von 1695 schreibt
                                                                                  fremd geworden. Wie ein Affekt zu definieren ist,         Francke: »Allezeit / und bei aller Gesellschaft hüte
                                                                                  wie viele und welche Affekte es gibt, war damals          dich vor allen unanständigen Minen / Hand-Ge-
                                                                                  Gegenstand der Diskussion unterschiedlicher Dis-          behrden und unordentlicher Stellung des Leibes.
                                                                                  ziplinen. Zusammengefasst lässt der Affekt sich als       Es bezeugt Unordnung im Gemüth / und verraten
                                                                                  eine innere Gefühlsreaktion auf einen äußeren Reiz        sich dadurch deine heimlichsten Gemüths-Bewe-
                                                                                  beschreiben, auf die wiederum eine sicht- und spür-       gungen.« Damit meinte Francke im konkreten All-
                                                                                  bare körperliche Bewegung folgen kann. Diese Be-          tag allerdings kein heuchlerisches »fake it till you
                                                                                  wegung entsteht, so erklärte es der Waisenhausarzt        make it« der Gefühle, sondern vielmehr ein im-
                                                                                  Christian Friedrich Richter (1676–1711), nicht wie        mer wachsames Auge und ein gut funktionierendes
                                                                                                                                            Kontrollsystem.

                                                                 Zwar unterteilte man in gute und böse Affekte, für die                     Ganz ohne Affekte ging es dabei allerdings nicht.
                                                                 Pietisten war jedoch klar: Das angestrebte Ideal sollte                    Richter räumte in seinen medizinischen Schriften
                                                                 immer die Ruhe des Gemüts sein.                                            ein: »Wenn keine Liebe wäre, so wäre keine Geduld
                                                                                                                                            und kein Wille, das Widerwärtige zu tragen: wenn
                                                                                                                                            kein Eifer wäre, so würde das Schädliche nicht ab-
                                                                                   bei den Reflexen aus einer Notwendigkeit heraus,         getrieben, wäre keine Furcht, so wäre keine Fürch-
                                                                                   sondern einzig und allein »aus dem ungestümen            tigkeit: also wären keine Affecten, so wäre kein Le-
                                                                                   Triebe«. Wenn wir beispielsweise vor Scham errö-         ben.«
     Der Kupferstich aus Himmlischer Liebeskuß von 1745 wird                       ten, ist das keinesfalls eine Gefahren eindämmende
     auch in der Kabinettausstellung »Fromme Gefühle« gezeigt.                     oder gar lebenserhaltende Maßnahme, wie das Zu-          Maria Junker
                                                                                   rückziehen der Hand von einer heißen Herdplatte.

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Jahresthema 2022

                Wider alle »Unruhe des Herzens«                                                                                                                                         Erste Seite aus dem Tagebuch August
                                                                                                                                                                                        Hermann Franckes von 1717

                Tagebuchschreiben als fromme,
                emotionale Praxis am Halleschen
                Waisenhaus

               »… alle Traurigkeit und unruhe des hertzens ward       auch Franckes von 1714 bis 1726 verfasste Tagebü-                                                                 zu studiren eine gesetzte und systematische Ord-
               auff einmahl weggenommen, hingegen ward ich als        cher, die in nüchterner, stichwortartiger Form sein                                                               nung, (alles zur rechten und besten Zeit zu thun)
               mit einem Strom der Freuden plötzlich überschüt-       Tagewerk eher auflisten denn beschreiben. Für Ge-                                                                 in ihr Gemüth introduciren, woraus auf die gantze
               tet« – diese berühmt gewordenen Zeilen August          fühle ist hier so gut wie kein Platz vorgesehen. Den-                                                             Lebenszeit unglaublich viele Vortheile entspringen
               Hermann Franckes über sein Bekehrungs- und Er-         noch nehmen die Tagebücher in der Geschichte der                                                                  müßten.«
               weckungserlebnis stammen aus seinem Lebenslauf,        Gefühle am Halleschen Waisenhaus eine zentrale                                                                    Auch wenn Francke die Methode des Tagebuch-
               seiner religiösen Autobiographie, und vereinen wie     Funktion ein.                                                                                                     schreibens nicht vorschreiben wollte, wurde sei-
               unter einem Brennglas die religiösen Gefühle, die      Francke maß dem regelmäßigen Tagebuchschreiben                                                                    ne Forderung, regelmäßig eine Art Protokoll über
               im hallischen Pietismus (und nicht nur dort) zen-      eine eminent wichtige Bedeutung zu und erteilte in                                                                die geleistete Arbeit zu führen, von Milde als »ver-
               tral waren: Freude und Traurigkeit. Traurigkeit wird   seinen lectiones paraenticae Studenten Ratschläge                                                                 bindliches Gesetz«, als Norm verstanden. Die kon-
               in dem Zitat nicht von ungefähr mit der »unruhe        zur Abfassung eines Tagebuchs: »Ich pflege zwar al-                                                               tinuierlich ausgeübte Praxis wirkte nach Steinmetz
               des hertzens« kombiniert, ein Seelenzustand, der       lemal den Rath zu geben, man solle es nicht zu weit-                                                              langfristig auf dessen »Gemüth«. Beim Tagebuch-
               unerwünscht war und als Gottesferne interpretiert      läuftig anfangen, damit es nicht ins stecken kom-                                                                 schreiben Franckes und Mildes ging es also um die
               wurde.                                                 me, sondern man soll es in der Kürtze fassen [...].     von Johann Adam Steinmetz (1689–1762), Abt des            Einübung einer Praxis zur Generierung einer inne-
                                                                      Man darf dazu nicht grosse Künste gebrauchen. Es        Klosters Berge bei Magdeburg: »Es hatte der selige        ren Haltung, eines inneren seelischen Zustands, der
                                                                      kan sich einer ein Büchlein dazu machen, oder er        [Milde, d. Vf.] die damals von dem Hn. Prof. Fran-        Ausdruck einer gottgefälligen Lebensführung war.
Der Umgang mit der Zeit und die Einhaltung der                        kan nur Papier zusammenlegen, und kan etwa des          cken in collegiis paraeneticis vielfältig und hertzlich   Das Ideal war ein stabiler Seelenzustand, während
Ordnung beim Schreiben des Tagebuchs sind als                         Abends nach der Mahlzeit darein schreiben: Num.         recommendirte Gewohnheit, daß er sich in jedem            emotionale Schwankungen unerwünscht waren.
gelebte Frömmigkeitspraxis zu verstehen.                              1. 2. 3. nach einander, was an dem Tage vorgegangen     halben Jahr einen Catalogum seiner Beschäftigun-          Der Umgang mit der Zeit und die Einhaltung der
                                                                      ist.« Francke hat sich selbst daran orientiert und ab   gen auf alle Stunden des Tages für die gantze Woche       Ordnung beim Schreiben des Tagebuchs sind als ge-
                                                                      1716 die Vorkommnisse des Tages in Abschnitten          aufsetzte, und sich nach dieser regelmäßigen Vor-         lebte Frömmigkeitspraxis zu verstehen, und ermög-
                Sucht man nach vergleichbaren Quellen im Archiv       durchnummeriert in seinem Tagebuch aufgeschrie-         schrifft als nach einem verbindlichen Gesetze rich-       lichten dem Schreibenden, sich dem Ideal pietisti-
                der Franckeschen Stiftungen, wird man indessen        ben.                                                    tete, um alle confusion in der Arbeit zu verhüten,        scher Frömmigkeit, der Seelen- oder Gemütsruhe,
                enttäuscht. Bekehrungsberichte mit der Expression     Wie aber ist sein Ratschlag bei den Studenten an-       und nichts zur Unzeit zu thun […].« Steinmetz gibt        anzunähern. Insofern diente das Tagebuchschrei-
                frommer Gefühle sind in nur geringer Zahl vorhan-     gekommen? Im Archiv sind Tagebücher von Stu-            stellvertretend eine Seite in lateinischer Sprache        ben der Gefühlsregulation und -kontrolle. Zugleich
                den, wohingegen amtlich geführte Tagebücher der       denten nicht überliefert. Auskunft darüber bietet       aus dem Tagebuch Mildes wieder und interpretiert          wurde die Niederschrift selbst zum äußeren Zei-
                Missionare aus Indien oder der Pastoren aus Nord-     immerhin die posthume Lebensbeschreibung von            Francke, wenn er weiter schreibt: »Was noch am            chen dieser gelebten frommen emotionalen Praxis.
                amerika den größten Teil der Überlieferung aus-       Heinrich Milde (1676–1739), einem engen Mit-            meisten zu achten: sie [die Studenten, d. Vf.] wür-
                machen. Aus der täglichen Arbeit erwachsen sind       arbeiter August Hermann Franckes, aus der Feder         den durch eine so geordnete und regelmäßige Art           Dr. Brigitte Klosterberg

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