JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN

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JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
M I T T E I L U N G S B L AT T D E S L A N D E S V E R B A N D E S I S R A E L I T I S C H E R K U LT U S G E M E I N D E N I N B AY E R N

37. JAHRGANG / NR. 147                                      á“ôùú çñô                                                          12. APRIL 2022

                                                                                                      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022   1
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Haggada
                                                                              Dies ist die erste Egalitäre Haggada im deutsch-
                                                                              sprachigen Raum. „Egalitär“ bedeutet, dass jüdische
                                                                              Frauen und Männer, Jungen und Mädchen gleichbe-
                                                                              rechtigt an den jüdischen Ritualen teilnehmen. Seit
                                                                              den 1990er Jahren feiert der Egalitäre Minjan in der
                                                                              Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main alljährlich
                                                                              den Seder mit viel Kreativität und Beteiligung seiner
                                                                              Mitglieder. Neben dem Lesen der Haggada und dem
                                                                              Singen der Pessach-Lieder spielen gerade auch Dis-
                                                                              kussionen über einzelne politische, religiöse, histori-
                                                                              sche oder spirituelle Aspekte der Haggada sowie die
                                                                              heutige Bedeutung des Auszugs aus der Sklaverei
                                                                              eine zentrale Rolle. Diese langjährige Praxis ist in
                                                                              dieser Egalitären Haggada zusammengetragen. Zu-
                                                                              sätzlich zu einer geschlechtersensiblen Übersetzung
                                                                              des hebräischen Textes bietet sie eine umfassende
                                                                              Transliteration, Noten zu den Liedern sowie eine Fül-
                                                                              le von Kommentaren und Alternativmöglichkeiten.
                                                                              In den Illustrationen spiegelt sich die Diversität heu-
                                                                              tigen jüdischen Lebens – auch am Sedertisch.

                                                                              Herausgegeben von Rabbinerin Elisa Klapheck mit
                                                                              Chasan Daniel Kempin und dem Egalitären Minjan
                                                                              in Frankfurt. Illustrationen von Simon Schwartz.
                                                                              Elisa Klapheck ist liberale Rabbinerin in der Jüdi-
                                                                              schen Gemeinde Frankfurt, promovierte Philosophin
                                                                              und Professorin für Jüdische Studien am Zentrum
                                                                              für Komparative Theologie in Paderborn. Sie enga-
                                                                              giert sich für eine religiöse Erneuerung des Juden-
                                                                              tums und bezieht dabei die gesellschaftlichen, poli-
                                                                              tischen und wirtschaftsethischen Herausforderun-
                                                                              gen der Gegenwart mit ein.

                                                                              Elisa Klapheck (Hg.): Egalitäre Pessach Haggada, He-
                                                                              bräisch/Deutsch, 176 S., Hentrich & Hentrich Verlag,
                                                                              Berlin Leipzig 2022, www.hentrichhentrich.de.

                                            ST OL PE R ST E I N E W Ü R Z BU RG
                                                   In der Ludwigstraße wohnten

                                                           HEDWIG REIN                                  LINA LEIB
            MARIANNE REIN
                                                        GEB. SCHWABACHER                            GEB. OTTENSOSER
                JG. 1911
                                                              JG. 1882                                   JG. 1882
            DEPORTIERT 1941
                                                         DEPORTIERT 1941                            DEPORTIERT 1941
                 RIGA
                                                               RIGA                                       RIGA
              ERMORDET
                                                            ERMORDET                                   ERMORDET

Unser Titelblatt: Die Rabbi Carlebach-Haggada, siehe dazu auch den Beitrag auf Seite 5.

Bilder Rückseite: Nr. 1 und 2: Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille in Osnabrück. Siehe dazu auch den Beitrag auf Seite 11.
Nr. 3, 5 und 6: Kindergruppen in den Gemeinden Regensburg und Würzburg. Siehe dazu auch die Gemeinde-Beiträge ab Seite 25.
Nr. 4: Marianne-Rein-Straße in Würzburg. Siehe dazu den Beitrag auf Seite 6. Nr. 7: Konzert in der Gemeinde Regensburg.

2      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
EDITOR I A L

Liebe Leserinnen, liebe Leser,                                                                                              ken. Er hinterließ uns sein wertvolles Ar-
                                                                                                                            chiv. Es steht seitdem im Johanna-Stahl-
Wenn wir in diesen Pessach-Tagen an die                                                                                     Zentrum der historischen Forschung zur
Befreiung aus ägyptischer Versklavung                                                                                       Verfügung. Die Ausstellung „Der Spuren-
erinnern, ist unsere Stimmung leider                                                                                        finder“ über Michael Schneeberger zeigte
nicht ungetrübt. Denn die biblischen Er-                                                                                    das Zentrum Ende 2019.
eignisse, an die wir an den Seder-Aben-                                                                                     Zu verdanken haben wir diese Arbeiten
den erinnern, werden durch den Krieg                                                                                        seit über zehn Jahren der Historikerin
gegen die Ukraine überdeckt. Auch die                                                                                       Dr. Rotraud Ries. Sie übernahm 2009 die
Juden dort werden kaum Pessach feiern                                                                                       Leitung des Zentrums für die Geschichte
können.                                                                                                                     und Kultur in Unterfranken, und gleich
                                                                                                                            zu Beginn ihrer Arbeit in Würzburg setzte
Das Leid, das derzeit die Menschen in der                                                                                   sie ein deutliches Zeichen. Sie schlug die
Ukraine erleben müssen, ist unerträglich.                                                                                   Umbenennung ihres Instituts vor und seit
Wir alle sind in diesen Wochen erschüt-                                                                                     2011 heißt es „Johanna-Stahl-Zentrum“.
tert über die unvorstellbare Zerstörung                                                                                     Auch hier wird wieder der Fokus auf jüdi-
und Gewalt, die der russische Angriffs-                                                                                     sche Familiengeschichte deutlich.
krieg in der Ukraine verursacht. Ange-                                                                                      Ich möchte mich heute bei Dr. Ries für
sichts des russischen Einmarsches er-                                                                                       ihre langjährige Tätigkeit in Würzburg
leichtert die Bundesregierung nach Ge-                                                                                      bedanken, auch für die vielen neuen
sprächen mit dem Zentralrat der Juden                                                                                       Akzente, die sie für die Erinnerungskul-
die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen                                                                                     tur gesetzt hat. Sie geht jetzt in den ver-
und alle unseren Gemeinden sind dabei                                                                                       dienten Ruhestand, will aber weiter be-
behilflich, ebenso die ZWST. Es freut                                                                                       ruflich in ihrem Fach, der historischen
mich ganz besonders, dass die jüdische                                                                                      Forschung, tätig bleiben. Dazu wünsche
Gemeinschaft in dieser sehr schwierigen                                                                                     ich ihr viel Erfolg, eine gute Gesundheit
Lage zusammensteht.                                            Mit dem Johanna-Stahl-Zentrum bin ich                        und alles Beste.
Gut 40 Prozent der Mitglieder unserer                          eng verbunden. Es ist seit 2006 nicht
Gemeinden haben ihre Wurzeln in der                            nur im Würzburger Gemeinde-Zentrum                           Bleiben Sie gesund und achten Sie auf
Ukraine. Sie fühlen aufgrund der fami-                         Shalom Europa untergebracht, es hat seit                     sich, auf Ihre Familie und auf alle Men-
liären Verbindungen mit den Menschen                           über 10 Jahren auch zahlreiche jüdische                      schen in Ihrer Umgebung.
dort. Unter diesen Umständen freut es                          Familiengeschichten aus Würzburg und
mich auch, dass dies keinen Keil in die                        Unterfranken aufgearbeitet und sie der                             CHAG PESSACH SAMEACH
jüdische Gemeinschaft treibt, zwischen                         Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ich
Menschen, die aus der Ukraine und aus                          denke zum Beispiel an die Familie Seligs-                    Ihr
Russland stammen. Auch in diesen Pes-                          berger und an die Ausstellung 2016. Ich                              Dr. Josef Schuster
sach-Tagen bleiben unsere Gedanken bei                         denke aber auch an den verstorbenen                                            Präsident
den bedrängten Menschen in der Ukra-                           Michael Schneeberger, den Chronisten                         des Zentralrats der Juden in Deutschland und
ine.                                                           der jüdischen Geschichte von Unterfran-                         des Landesverbandes der IKG in Bayern

  Pessach 5782                                                 Ukraine-Hilfe                                                IMPRESSUM
  Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger . . 4                     Ukrainische Stipendiaten . . . . . . . . . . 17              JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
                                                                                                                            authentisch bayerisch jüdisch
  Rabbi Schlomo Carlebach
  zum Pessachfest                                              Nachrichten aus Frankreich                                   Redaktionsleitung: Benno Reicher,
  Von Yizhak Ahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5                                                                    Vorländerweg 25, 48151 Münster,
                                                               Kandidat Zemmour
                                                                                                                            Telefon 0251-7475546
                                                               Von Gaby Pagener-Neu . . . . . . . . . . . . 18
                                                                                                                            www.bayerisch-jüdisch.de
  Kultur                                                                                                                    redaktion@berejournal.de
  Drei jüdische Schriftsteller                                 Bayern
                                                                                                                            Wir erscheinen im April zu Pessach,
  aus Würzburg                                                 Rabbiner Henry G. Brandt                                     im September zu Rosch Haschana und
  Von Ina Karg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6   1927–2022 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22     im Dezember zu Chanukka
  Neues Brenner-Projekt . . . . . . . . . . . . . 9            Höchste Auszeichnung                                         In dieser Ausgabe mit Beiträgen von
                                                               für Prof. Dr. Manfred Treml . . . . . . . . 23               Rab. J. Berger, Yizhak Ahren, Angela
  Buber-Rosenzweig-Medaille . . . . . . . . 11
                                                               DenkOrt Würzburg . . . . . . . . . . . . . . . 23            Genger, Daniel Hoffmann, Ina Karg, Regina
  Carmen Reichert                                                                                                           Kon, Gaby Pagener-Neu, Benno Reicher,
  neue Museumschefin . . . . . . . . . . . . . . 13                                                                         Rotraud Ries und Julia Schneidawind
                                                               Aus den jüdischen Gemeinden
  Heidi in München . . . . . . . . . . . . . . . . 13          in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25   Herausgeber: Landsverband Israelitischer
                                                                                                                            Kultusgemeinden in Bayern
  Jüdisches Museum Fürth . . . . . . . . . . 14
                                                               Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . 32               Gesamtherstellung: Druckerei Höhn,
  Dr. Ries geht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15                                                                Inh. Martin Höhn, Gottlieb-Daimler-Str. 14,
  Das Würzburger Memorbuch . . . . . . . 15                    Russischer Beitrag . . . . . . . . . . . . . 39              69514 Laudenbach

                                                                                                                                   Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022   3
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
P E S S A C H 57 8 2

                                                             PESSACH
                                                  Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger

                                                  schen den zwei Auffassungen zu verdeut-      mit dem Mastochs zusammen, – und ein
                                                  lichen: Die „messianische Zeit“ sei eine     kleiner Junge weidet sie ...“ (Jes. 11:6–9)
                                                  prophetische Hoffnung für das Ende der       Es ist nicht weiter verwunderlich, dass
                                                  Tage, wenn die Freiheit und moralische       auch Tiere in diese endzeitliche Harmo-
                                                  Vollkommenheit wie auch das irdische         nie miteinbezogen werden. Es bedeutet,
                                                  Glück sowohl für die Israeliten in ihrem     dass auch die Entfremdung zwischen
                                                  Land wie auch für die ganze Menschheit       Natur und Mensch überwunden werden
                                                  einkehren werden. Der Glaube an die          soll. Der Maschiach ist nicht nur der Er-
                                                  „Person des Maschiach“ sei eine andere       löser Israels. Seine Botschaft über die so-
                                                  prophetische Hoffnung, für das Ende der      ziale Gerechtigkeit und den Frieden wird
                                                  Tage. Dabei soll der mächtige Erlöser        sich an alle Menschen wenden. Der Glaube
                                                  eben durch seine Macht und seinen Geist      an das Kommen des Maschiach projiziert
                                                  die Erlösung bringen.                        eher die globale Hoffnung für die Zu-
                                                                                               kunft aller Menschen in dieser Welt.
                                                  Die späteren biblischen Propheten wie
                                                  Joel, Nachum, Habakuk, Zefania und           Leo Baeck, bedeutendster Vertreter des
                                                  auch Maleachi ließen keine irdische Per-     deutschen liberalen Judentums sowie
                                                  son als Maschiach gelten. Für sie war        jahrelang unbestrittene Führungsfigur
                                                  Gott der Erlöser. Chaggai und Zecharja       und Repräsentant der deutschen Juden-
            Rabbiner Joel Berger                  votierten wiederum für eine reale Person     heit vor der Shoa, bezeichnete den „Mes-
                                                  als Maschiach aus dem Hause des Königs       sianismus der jüdischen Bibel“ horizontal,
An einer Stelle des Talmuds lesen wir             David. Es herrschte also im Tenach Plura-    d.h. an das Zeitenende „verlagert“, jedoch
folgende Lehrmeinung das Pessach-Fest             lismus, auch unter den Propheten, was        noch in dieser Welt. Dagegen sei das Bild
betreffend: „Im Monat Nissan (im Monat            den Erlöser betrifft.                        des Messianismus der Apokryphen, der in
des Pessachfestes) wurden unsere Vor-                                                          unsere Bibel nicht aufgenommenen Wer-
fahren erlöst, als sie von Gott aus der           Jedoch das Herausragende in allen messi-     ke, eher vertikal. Die messianische Hoff-
Knechtschaft Ägyptens geführt wurden.             anischen Vorstellungen über die Zukunft      nung wird hier ins Jenseits verlegt und
Und eines Tages werden wir ebenso im              der Erlösung ist der Begriff des „Scha-      nicht mehr innerweltlich verstanden.
Monat Nissan erlöst werden.“ Es wird bei          lom“, des Friedens.
näherer Betrachtung dieser Aussage klar,                                                       Das Pessachfest ist die älteste Geschichte
dass der Talmud einerseits die physische          Der Prophet Jesaja kündet die Sünden-        der Hoffnung, die je erzählt wurde. Sie
Befreiung aus der Sklaverei bereits als           vergebung durch den Herrn an und fügt        erzählt, wie eine ansonsten unauffällige
eine Vorstufe der Erlösung betrachtet,            hinzu: „Kehre zu mir zurück und Ich habe     Gruppe von Sklaven ihren Weg in die
andererseits sein Augenmerk auf eine              dich bereits erlöst.“ (Jes. 44:22) Wenn      Freiheit vom größten und langlebigsten
endzeitliche und „vollkommene“ Erlö-              dieses Wort den vollen Umfang der Er-        Reich ihrer Zeit, ja aller Zeiten, fand. Sie
sung als Hoffnung des Menschen richtet.           lösung beinhaltet, welche Aufgaben, wel-     erzählt die revolutionäre Geschichte, wie
Häufig werden wir gefragt, auf welchen            che Verheißungen könnte der Erlöser, der     die höchste Macht, Gott, in die Geschichte
„Erlöser“ oder welche „Erlösung“ wir noch         von Gott Gesalbte, der Messias, noch voll-   eingreift, um die absolut Machtlosen zu
warten?                                           enden? Ich meine, dass Jesaja uns in         befreien. Es ist eine Geschichte über den
                                                  seiner prophetischen Weissagung die Er-      Sieg der Wahrscheinlichkeit über die
Die Propheten Israels betrachteten den            lösung als einen „Mehrstufenheilsplan“       Kraft der Möglichkeit. Sie definiert, was
Maschiach, den Erlöser, als einen Heils-          Gottes darstellen will. Der Geist Gottes     es heißt, ein Jude zu sein: ein lebendiges
bringer, der imstande wäre, die Men-              ergießt sich zunächst über das Volk und      Symbol der Hoffnung.
schen Gott näherzubringen und auch                bewirkt dessen innere Erneuerung. (Jes.
jedwede Knechtschaft abzuschaffen. In             44:3) Dann erst vollzieht sich die Heim-     Pessach lässt uns die Wahl schmecken:
jenen Zeiten dachte man sowohl an eine            kehr der Vertriebenen aus dem Exil, von      auf der einen Seite das Brot des Elends
reale Person, wenn man über den Ma-               der Stätte ihrer Verbannung unter größ-      und die bitteren Kräuter der Sklaverei,
schiach sprach, wie auch an solche epo-           tem Jubel.                                   auf der anderen Seite vier Becher Wein,
chalen Ereignisse in der Welt, die die                                                         die jeweils eine Etappe auf dem langen
messianische Zeit, die Erlösung, einläu-          Die poetisch durchdrungene Vorstellung       Weg zur Freiheit markieren.
ten. Rabbi Mosche ben Maimon, den wir             Jesajas lässt bei dieser Heilstat Gottes
als Rambam kennen, der große mittel-              Himmel und Erde jauchzen: „Wildnis,          Jedwede messianischen Hoffnungen und
alterliche jüdische Philosoph, verkündete         dürre Heide und Steppe frohlocken und        Erwartungen sind geeignet, dem Menschen
zwar in seinem Glaubensbekenntnis das             blühen herrlich auf, wenn Gott die Ver-      Zuversicht einzuflößen, seine Kräfte zu
uneingeschränkte Vertrauen auf das Kom-           bannten Seines Volkes nach Zion zurück-      stärken, um ausharren zu können, bis jene
men des Erlösers. Es gibt aber Gelehrte,          führt.“ (Jes. 44: 23) Der Gesalbte Gottes    messianische Zeit wahrhaftig und für alle
die den „Maschiach als Person“ ablehnen.          würde demnach erst jetzt erscheinen.         Menschen spürbar anbrechen wird. Wann
Joseph Klausner, ein früherer Professor           Jesaja schildert die Erlösung so: „Dann      dies eintrifft, kann heute gewiss niemand
der Hebräischen Universität in Jerusa-            wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther        von uns sagen. Wir warten täglich auf ihr
lem, bemühte sich den Unterschied zwi-            lagert beim Böcklein; Kalb und Junglöwe      Eintreffen.

4      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Rabbi Schlomo Carlebach zum Pessach-Fest
Berühmt wurde Rabbi Schlomo Carle-           bach Haggadah. Seder Night with Reb         eigene Erlebnisse, zum Beispiel wie sein
bach (1926–1994) als Komponist volks-        Shlomo“ in englischer Sprache heraus-       Vater jedes der anwesenden Kinder in der
tümlicher Lieder wie „Od Avinu Chai“,        gebracht. Diese Haggada-Ausgabe macht       Seder-Nacht die Ma Nishtana aufsagen
„Mimekomcha Malkenu“ aus der Kedu-           deutlich, dass Carlebach aus den Quellen    ließ und dann die Knaben und Mädchen
scha und „Schomrim Hafked“ aus der           des Chassidismus geschöpft hat. Referiert   herzlich umarmte.
Haggada, der in der ganzen Welt als Sän-     werden nämlich kurze Geschichten über
ger auftrat und viele junge und auch         mehr als zwei Dutzend Meister der chas-     Ein hebräisches Wort, das in Zivans Buch
ältere Menschen begeistert hatte. Sein       sidischen Erneuerungsbewegung. Wer          auffallend oft vorkommt, lautet: „amock“,
musikalisches Werk ist nicht in Verges-      Martin Bubers „Erzählungen der Chassi-      ins Deutsche übersetzt: „tief“. Es geht
senheit geraten; in vielen Synagogen und     dim“ und ähnliche Anthologien schätzt,      Carlebach, wie er immer wieder betont,
Betstuben singt man regelmäßig und           der wird gewiss auch Carlebachs Hagga-      um tiefschürfende Erklärungen religiöser
gerne seine beliebten Songs.                 da lieben.                                  Texte. Hier sei nur ein Beispiel erwähnt.
                                                                                         Bekanntlich ist in der Haggada von vier
Aber Carlebach war nicht nur ein erfolg-     Auf jeder Seite dieser Haggada spürt der    Arten von Kindern die Rede: 1. das kluge,
reicher Künstler. Er wirkte stets als ein    Leser, dass Carlebach ein tiefgläubiger     2. das böse, 3. das einfältige und 4. das
Missionar, ein moderner Wanderpredi-         Mensch war. Er glaubte auch an die Mög-     Kind, das nicht zu fragen versteht. Ge-
ger, der fromme Geschichten erzählte         lichkeit einer Verbesserung unserer Welt.   wöhnlich erklärt man, dass das kluge
und Tora-Auslegungen vortrug. Viele sei-     Neben Geschichten von wundersamen           Kind das beste sei, das böse wirklich
ner Lehrvorträge haben Anhänger auf          Begebenheiten, findet man in seinem         schlecht, das einfältige minderbegabt
Tonband festgehalten, um sie später noch     Kommentar Beobachtungen des Allzu-          und das Kind, das nicht fragen kann, sei
einmal zu hören oder um sie einem an-        menschlichen und kurze Betrachtungen        hoffnungslos. Carlebach hält diese Wer-
deren Kreis zugänglich zu machen. Aus        zu etlichen Punkten, die für das jüdisch-   tung für ganz falsch! Er vertritt die
diesem reichhaltigen Material haben          religiöse Leben charakteristisch sind.      These, dass wir in der Auflistung der
tüchtige Herausgeber inzwischen eine                                                     Kinder höher steigen: Das kluge Kind sei
Reihe von Publikationen hergestellt und      Shmuel Zivan hat Carlebachs Lehrvor-        gut, das böse Kind kennzeichne mehr
auf den internationalen Büchermarkt ge-      träge über Pessach ins Hebräische über-     Tiefe, das einfältige stehe höher im Rang
bracht.                                      setzt, nach Themen geordnet und an          und das vierte Kind habe die höchste
                                             manchen Stellen mit kurzen Anmerkun-        Stufe erreicht.
An dieser Stelle möchte ich nur auf zwei     gen versehen. Auf mehr als vierhundert
Bände hinweisen, die Carlebachs Bemer-       Seiten werden Tora-Gedanken der unter-      Man lernt die ganze Passage in der Hag-
kungen zum Pessach-Fest leserfreundlich      schiedlichsten Art erörtert. Carlebach      gada aus einer neuen Perspektive ken-
aufbereitet haben. Vor mehr als zwanzig      lässt zahlreiche chassidische Meister zu    nen. Wie Carlebach seine Sicht der Rang-
Jahren hat Chaim Stefansky „The Carle-       Wort kommen. Er schildert aber auch         ordnung zu begründen sucht, ist originell;
                                                                                         die vorgeschlagene Interpretation wird
                                                                                         vielleicht nicht jedem gefallen. So meint
                                                                                         er zur Äußerung des bösen Kindes: „Was
                                                                                         soll euch dieser Dienst?“, dass er oder sie
                                                                                         deshalb so pietätlos frage, weil er oder sie
                                                                                         Gottes Nähe nicht verspürt und daher
                                                                                         den Sinn der religiösen Praxis nicht be-
                                                                                         greifen kann. Die Antwort der Haggada
                                                                                         auf die rhetorische Frage des bösen Kin-
                                                                                         des ist nach Carlebach wie folgt zu verste-
                                                                                         hen: „Es ist richtig, dass Gott sich vor dir
                                                                                         versteckt - aber auch du hast dich vor ihm
                                                                                         versteckt. Du hast die Tora nur sehr ober-
                                                                                         flächlich studiert und konntest sie des-
                                                                                         halb nicht verinnerlichen!“

                                                                                         Philosophen und Künstler haben schon
                                                                                         oft und ernsthaft die wichtige Frage dis-
                                                                                         kutiert, ob und wie man die jüdische Reli-
                                                                                         gion mehr oder weniger assimilierten
                                                                                         Juden nahebringen kann. Rabbiner Schlo-
                                                                                         mo Carlebach war überzeugt, dass gängi-
                                                                                         ge antireligiöse Vorurteile zu bekämpfen
                                                                                         sind, indem man die Tiefe und Schönheit
                                                                                         des Judentums bei jeder passenden Gele-
                                                                                         genheit sichtbar macht. Dieses Programm
                                                                                         hat der Wanderprediger mit der Gitarre
                                                                                         unentwegt durch seine Musik, seine Ge-
                                                                                         schichten und seine Tora-Interpretatio-
                                                                                         nen zu realisieren gesucht.
Seder-Teller, Joint Employment Board 1947.                © Jüdisches Museum München                                  Yizhak Ahren

                                                                                                Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022   5
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
K U LT U R

                                 Drei jüdische Schriftsteller aus Würzburg
                                                  Eine literarische Betrachtung von Ina Karg

       Max Mohr 1891–1937                                                                           gleichförmig. Mohr variiert vor allem in
                                                                                                    den Terzetten die Reime und schafft
Als drittes Kind des jüdischen Malzfabri-                                                           dadurch die Möglichkeit für den Leser
kanten Leon Mohr und seiner Frau Johan-                                                             oder Hörer, vielfältige Beziehungen herzu-
na wird Max Ludwig Mohr am 17. Oktober                                                              stellen. In einem Fall schreibt er ein so ge-
1891 in Würzburg geboren. Er besucht                                                                nanntes „englisches“ Sonett mit 12 Zeilen
dort das Königliche Neue Gymnasium, ein                                                             und einem Reimpaar am Ende. Nur „Mond-
humanistisches Gymnasium, und unter-                                                                vogel“, offenbar ebenfalls D. H. Lawrence
nimmt bereits als Schüler eine nicht ganz                                                           gewidmet, ist kein Sonett.
ungefährliche Bergtour. Nach der Schule                                                             In den Gedichten geht es Max Mohr im-
beginnt er ein Medizinstudium, wird im                                                              mer wieder um seine persönlichen Erfah-
Ersten Weltkrieg Sanitätsunteroffizier und                                                          rungen als Kriegsteilnehmer. In einer
gerät in Flandern in englische Gefangen-                                                            Gruppe von Texten rücken geradezu his-
schaft. Nach seiner Freilassung schließt                                                            torisch nachvollziehbar („Ailly-Wald“, „Fort
er sein Studium ab und arbeitet in Mün-                                                             Vaux“), vor allem aber drastisch und kon-
chen als Arzt. Er heiratet, lässt sich auf                                                          kret Ereignisse des Frankreich-Feldzuges,
einem Anwesen am Tegernsee nieder, ver-                                                             wie er sie erlebt, in den Blick. In einer
lässt aber 1934 seine Familie und siedelt             Max Mohr                © Nicolas Humbert     anderen Reihe von Sonetten wird an be-
nach Shanghai über, wo er erneut als Arzt                                                           kannte Größen aus Philosophie und Lite-
arbeitet und am 13. November 1937 stirbt.             diesem Roman und ehrte Max Mohr mit           raturgeschichte erinnert und jeweils ein
Max Mohr ist in der Zeit der Weimarer                 einer Reihe von weiteren Veranstaltun-        Text einer Persönlichkeit (Spinoza, Schel-
Republik vor allem durch seine Theater-               gen. Trotz der Liebe zum Gebirge zieht es     ling, Lord Byron, Schiller, Jean Paul) ge-
stücke bekannt geworden. Daneben um-                  Mohr jedoch immer wieder auch nach            widmet. Es sieht so aus, als könne inmit-
fasst sein literarisches Œuvre Romane,                Berlin. In seinem humoristischen Groß-        ten des Grauens eines Krieges das geistige
kleinere Erzählungen und Lyrik. Viele                 stadtroman „Venus in den Fischen“ von         Erbe dem Soldaten im Unterstand Kraft
seiner Texte haben deutlich erkennbare                1927 portraitiert er die 1920er Jahre und     verleihen. Mit der Figur des Noah und
biographische Bezüge, was an den ge-                  mit einem Arzt als Protagonisten viel-        dem Leitmotiv der Arche greift Mohr die
wählten Themen, den Protagonisten oder                leicht auch sich selbst.                      bekannte biblische Geschichte auf. Dass
auch den Orten des Geschehens festzu-                 Für seine lyrischen Texte nutzt Max Mohr      er sieben Sonette in der Gruppe „Der
machen ist.                                           nahezu ausschließlich die Sonettform.         neue Noah“ verfasst, dürfte keine zufäl-
So wählt er für seinen Roman „Freund-                 Mit ihrer in zwei Vierzeiler und zwei Drei-   lige Anlehnung an die sieben noachidi-
schaft in Ladiz“ als Schauplatz das Kar-              zeiler gegliederten Struktur ermöglicht sie   schen Gesetze sein.
wendelgebirge: Erzählt wird von heraus-               – verlangt aber auch – eine sehr klare,
fordernden Bergtouren, der Suche nach                 stringente und geradezu rational ange-                  Nur der Dame
Schätzen unter der Erde, einem Lawinen-               legte Gedankenführung. Doch sind die           vorm Bäckerfenster schielte er
unglück, bei dem eine junge Frau um-                  einzelnen Gedichte deswegen nicht ein-
kommt, und schließlich – entscheidend –
                                                                                                      in die geöffnete Handtasche
                                                      tönig und das Corpus insgesamt nicht
von einer gemeinsamen Tour mit einem                                                                                 Max Mohr
Freund. Nicht unerheblichen Einfluss hat-
te bei der Gestaltung dieser epischen Welt                                                          Neben den Veranstaltungen im Rahmen
die Freundschaft Max Mohrs mit dem                                                                  der Kulturaktion „Würzburg liest ein
englischen Schriftsteller D. H. Lawrence                                                            Buch“ im letzten Jahr hat Max Mohr eine
(1885–1930), der ihn 1929 besuchte. Eine                                                            weitere Würdigung in seiner Heimatstadt
Widmung für ihn ist zu Beginn des Bu-                                                               erfahren, insofern man einem Straßenab-
ches abgedruckt.                                                                                    schnitt seinen Namen gegeben hat.
Auch das Geschehen des Romans „Frau
ohne Reue“ spielt über weite Teile in                                                                    Marianne Rein 1911–1942
einem alpenländischen Ambiente, wenn
die Protagonistin ihren wohlsituierten                                                              Marianne Dora Rein wird am 2. Januar
Ehemann und das gemeinsame Kind zu-                                                                 1911 als Tochter des jüdischen Kaufmanns
gunsten eines völlig unbekannten Mannes                                                             Gustav Rein und seiner Ehefrau Hedwig,
verlässt und in ein abgelegenes Dorf im                                                             geb. Schwabacher, in Genua geboren. Die
Gebirge zieht. Sie holt in einer Gewalt-                                                            Familie muss im Ersten Weltkrieg Italien
aktion ihr Kind zu sich, geht wechselnde                                                            verlassen und zieht nach Lugano. Nach
Beziehungen ein und wird, als sie sich                                                              dem Tod des Vaters 1917 siedeln Mutter
entschließt, zu ihrem Ehemann und Vater                                                             und Tochter nach Würzburg über, wo sie
des Kindes zurückzukehren, von einem                                                                Verwandte haben und wo Marianne zu-
geistig verwirrten Menschen erschossen.                                                             nächst die jüdische Volksschule und dann
Das Literaturfestival „Würzburg liest ein                                                           ein Mädchenlyzeum besucht. Von einer
Buch“ widmete sich schwerpunktmäßig                                                                 Ausbildung oder Berufstätigkeit ist nichts

6      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
bekannt. Früh interessiert sie sich für                                                    dieser Gang seinen Blick auf sein Leben
Literatur und liest viel und gerne.                                                        und das Zusammenleben mit seiner Frau,
Einen umfangreichen und intensiven                                                         für das er plötzlich große Dankbarkeit
Briefwechsel führt sie mit dem fast 30                                                     empfindet. Anhand des Weges, den der
Jahre älteren Juristen und Schriftsteller                                                  Protagonist zurücklegt, wird spannungs-
Jakob Picard, der 1940 (noch!) über ver-                                                   reich dessen innere Bewegung erzählt.
schiedene Stationen in die USA emigrie-                                                    In ihrer Ausgabe Nr. 25 vom 23. Juni 1938,
ren kann und nach Kriegsende nach                                                          Beiblatt, S. 5, druckt die Zeitung des Cen-
Deutschland zurückkehrt. Die Briefe ge-                                                    tral-Vereins Antworten ab, die auf die
ben der jungen Frau Halt, erzählen von                                                     Frage „Was haben Sie zum Thema Frau zu
den zunehmenden Restriktionen des All-                                                     sagen?“ eingegangen sind. Marianne Rein
tags in Würzburg und sind vor allem auch                                                   gibt ihrem Beitrag den Titel „Ein Märchen
Zeugnis davon, wie sie über Jahre hinweg                                                   als Antwort“. Sie rechnet mit einem kun-
zwischen Hoffnung und Verzweiflung                                                         digen Leser, insofern sie die bekannte Ge-
schwankt, sowohl was eine persönliche                                                      schichte von Adam und Eva, vom Genuss
Begegnung mit Picard als auch was ihre                                                     der verbotenen Frucht und der anschlie-
Emigration betrifft. Beides gelingt am                                                     ßenden Vertreibung erzählt. Allerdings
Ende nicht. Der letzte Brief aus Würzburg     Marianne Rein                     © privat   empfindet das Paar bei ihr seine neue
an Picard ist auf den 7. Oktober 1941 da-                                                  Situation nicht als Strafe, sondern als
tiert. Darin bittet sie ihn inständig, ihr    Die kreative Rezeption von Texten und        Chance, der als langweilig empfundenen
doch häufiger zu schreiben.                   Autoren der Literaturgeschichte – explizit   paradiesischen Situation entkommen zu
Mitte der 1930er Jahre beginnt Marianne       und subtil – verleihen dem lyrischen Werk    sein. Die Themen dieser beiden Erzähl-
Rein insbesondere Gedichte, aber auch         der Autorin eine traditionsbasierte ästhe-   texte finden sich auch lyrisch bearbeitet
kleine Prosatexte zu verfassen, die sie bis   tische Innovationskraft. Wenn die Zeitung    in den Gedichten „Eva“, „Erkenntnis“ und
Oktober 1938 in der jüdischen Monats-         des Central-Vereins vom 8. 9. 1938 ange-     „Romanze“.
schrift „Der Morgen“ und in der Zeitung       sichts der Veröffentlichung einiger ihrer
des „Central-Vereins deutscher Staatsbür-     Gedichte in der Zeitschrift „Der Morgen“             Von Angst erlöst,
ger jüdischen Glaubens“ publizieren kann.     schreibt, man dürfe sich über „ein neues        auf Sicherheit verzichtend,
Doch müssen die Zeitschriften 1938 ihr        und echtes lyrisches Talent“ freuen, so
                                                                                               Frei erst, da jetzt der Tod
Erscheinen einstellen, und ebenso abrupt      meint man die Brutalität, mit der sie den
endet das Leben Marianne Reins wenige         Tod erlitten hat, unmittelbar zu spüren.             sich zu mir biegt.
Jahre später. Nach mehrfach erzwunge-         Doch Marianne Rein schreibt nicht nur                        Marianne Rein
nem Wohnungswechsel und Zwangs-               Gedichte. Die Erzählung „Joskel zwischen
arbeit in einem Altenheim in Würzburg,        Tod und Leben“, veröffentlicht in der Zei-   Würzburg hat in Erinnerung an die Auto-
wird sie zusammen mit ihrer Mutter am         tung des Central-Vereins vom 3. 11. 1938,    rin eine Straße nach ihr benannt, und die
27. November 1941 mit dem ersten der          beginnt mit einer großen Aufregung in        Gesellschaft für christlich-jüdische Zu-
systematisch durchgeführten Transporte        einem Dorf, als Kinder am Flussufer eine     sammenarbeit in Würzburg widmet Ma-
von Würzburg nach Riga-Jungfernhof ge-        tote junge Frau finden, die offenbar mit     rianne Rein einen Beitrag auf ihrer Web-
bracht und dort ermordet.                     ihrer Schwangerschaft nicht klargekom-       seite. Rosa Grimm hat in bewunderns-
Für die kurze Zeitspanne von nur weni-        men ist und Suizid begangen hat. Joskel,     werter Recherchearbeit in Zeitschriften
gen Jahren, in denen Marianne Rein            der erst kurz im Ort wohnt, hilft sie zu     und Briefen Jakob Picards Texte von Mari-
schreiben und veröffentlichen konnte, ist     bergen. Ein Vogel, den er aus den Haaren     anne Rein gesammelt, herausgegeben und
ihr literarisches Œuvre beachtlich. Sehr      der Toten rettet, wo er sich verfangen       sich damit um das Erbe und die Rezeption
gekonnt verwendet sie zur Unterstützung       hatte, wird ihm zum zukunftsweisenden        der Schriftstellerin äußerst verdient ge-
und Akzentuierung ihrer Aussageabsich-        Symbol. Denn als er sich erneut, und         macht. Einige Texte wurden auch vertont.
ten und Stimmungslagen traditionelle          diesmal alleine, zum Fundort der Leiche
lyrische Formen, rhetorische Mittel sowie     und zurück nach Hause begibt, verändert         Yehuda Amichai 1924–2000
eine reiche Metaphorik. Die Themen ih-
rer Lyrik lassen deutlich ihre Naturver-                                                   Ludwig Pfeuffer wird am 3. Mai 1924 als
bundenheit erkennen, ohne jedoch „nur“                                                     Sohn von Friedrich Moritz Pfeuffer und
Naturgedichte zu sein.                                                                     seiner Ehefrau Frieda, geb. Wahlhaus, in
Sie schreibt über Räume, Vegetation und                                                    eine jüdisch-orthodoxe Kaufmannsfamilie
Wetter, über Tiere, Jahres- und Tageszei-                                                  in Würzburg hinein geboren. Als Yehuda
ten und nutzt dabei die Möglichkeit,                                                       Amichai stirbt er am 22. September 2000
Motive als Symbole einzusetzen und als                                                     in Jerusalem. Dazwischen liegt ein beweg-
genuin lyrisches Sprechen wirken zu las-                                                   tes Leben. Sieht es zunächst nach glück-
sen, das einen Leser oder Hörer zu eige-                                                   licher Kindheit aus, wenn er in Würzburg
nen Gedanken und Sinnbezügen anregt.                                                       die jüdische Schule besucht und Hebräisch
Daneben greift die Autorin auch Figuren                                                    lernt, so ändert sich dies, als er 12 Jahre
und Ereignisse aus Geschichte und Mytho-                                                   alt ist. Die Eltern erkennen die Gefahr des
logie auf und befasst sich nicht unkritisch                                                nationalsozialistischen Deutschlands und
mit ihrer jüdischen Religion. Wenn einige                                                  fliehen nach Palästina. Als Erwachsener
ihrer Gedichte über Vergänglichkeit und                                                    nimmt er in der jüdischen Brigade der
Tod in der Natur und beim Menschen                                                         britischen Armee am Zweiten Weltkrieg
Traurigkeit vermitteln, so werden sie doch                                                 sowie an den weiteren bewaffneten israe-
auch von tröstlichen, hoffnungsvollen und                                                  lisch-arabischen Auseinandersetzungen
optimistisch klingenden Versen abgelöst.                                                   der Folgezeit teil.

                                                                                                  Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022   7
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Er studiert hebräische Literatur und Bi-                                                        in die deutsche Stadt seiner Herkunft,
belwissenschaft, arbeitet als Lehrer und                                                        „Weinburg“ genannt. Mit diesem Gestal-
Hochschullehrer und avanciert zu einem                                                          tungsprinzip werden Gegenwart, Vergan-
äußerst gefragten Schriftsteller interna-                                                       genheit, Wirklichkeit, Imagination und
tionaler Reputation. Die Familie ändert                                                         Traum miteinander verbunden und der
nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Namen                                                          Leser aufgefordert, immer wieder und
in Amichai, er selbst nennt sich Yehuda                                                         immer neu Sinnbezüge zwischen Figuren,
und sagt damit: „Mein Volk lebt“. Israel                                                        Umgebungen und Gesellschaften in Israel
würdigt ihn mit der höchsten Literatur-                                                         und der Bundesrepublik Deutschland der
auszeichnung des Landes. Weitere natio-                                                         späten 1950er Jahre herzustellen.
nale und internationale Ehrungen folgen.                                                        Das Buch ist autobiographisch, wobei es
Würzburg verleiht ihm 1981 den Kultur-                                                          sich Yehuda Amichai nicht nehmen lässt,
preis der Stadt, nennt im Jahr 2005 einen                                                       das historisch verbürgte Geschehen mit
Straßenabschnitt nach ihm und widmet                                                            Details zu ergänzen, die sich sachlich und
ihm im Jahr 2018 eine Veranstaltung in                                                          logisch einfügen, auch wenn sie Wirklich-
der Reihe „Würzburg liest ein Buch“. Auch                                                       keit und Imagination in der Schwebe hal-
das Johanna-Stahl-Zentrum organisiert                                                           ten. Beispielsweise ist die Geschichte der
2018 und 2019 Lesungen. Amichais litera-                                                        „Kleinen Ruth“ – ihr Schicksal zu rächen
risches Schaffen umfasst verschiedene                                                           scheint Motivation für die Reise des Er-
Genres, insbesondere Gedichte, und einen                                                        zählers zu sein – nicht etwa (nur) ein tra-
Roman. Er schreibt in neuhebräischer                                                            gischer Unfall, sondern wird durch die
Sprache, die gerade durch sein Werk einen                                                       absichtsvolle Boshaftigkeit eines Nazi-
entscheidenden Entwicklungsimpuls be-                                                           Jungen verursacht. Erschütternd ist die
kommt.                                                                                          Suche des Erzählers nach Ruths Holzbein.
                                                   tation der jüdischen Bürger ist ein geöff-   Als er auf den amerikanischen Offizier
          So viele Grabsteine                      neter Koffer mit einem Textausschnitt aus    trifft, der für das Bombardement der Stadt
    liegen über die Vergangenheit                  Amichais Gedicht „Kleine Ruth“. Mehrere      in der Endphase des Zweiten Weltkrieges
       meines Lebens verstreut                     lyrische Texte sind der Freundin gewid-      verantwortlich war und nun einen Film
                                                   met. In einem Fall bezieht sich Amichai      dreht, begegnen sich beide in ihren Rache-
             Jehuda Amichai,
       übersetzt von Amadé H. Esper
                                                   auf ein Foto der Kinder Ruth und Ludwig      gefühlen gegen Nazi-Deutschland.
                                                   vor der Emigration der Familie Pfeuffer.
Formal wie inhaltlich ist seine Lyrik sehr         Auf einen Leser, der das Bild kennt und um   Die Gesellschaft für christlich-jüdische Zu-
vielfältig. Auf den ersten Blick mag der           das Schicksal der Personen weiß, verfehlt    sammenarbeit in Würzburg ist den Schrift-
Leser kaum traditionelle Reimformen oder           der Text seine emotionale Wirkung nicht.     stellern sehr verbunden und gibt gerne
Strophenarrangements erkennen. Doch                Ästhetisch interessant ist Amichais Ro-      weitere Hinweise. Auf der Webseite www.
bei genauerem Hinsehen sind sehr wohl              man „Nicht von jetzt, nicht von hier“, in-   christlich-juedische-wuerzburg.de steht auch
bestimmte poetische Verfahren zu entde-            sofern als er aus zwei Handlungs- und        ein Vortrag unserer Autorin Professor Ina
cken, die behutsam und gekonnt einge-              Ereignissträngen besteht, die zwei ver-      Karg über Marianne Rein.
setzt, für den Leser Impulse sind, selbst          schiedene Orte mit jeweils unterschied-
Verbindungen herzustellen und gedank-              licher Erzählperspektive thematisieren.               Literaturauswahl
liche und emotionale Wirkungen zuzu-               Von Joel in Jerusalem wird in der dritten
lassen. Nicht wenige Gedichte handeln              Person erzählt, und ein Ich-Erzähler          Max Mohr: Die Freundschaft von Ladiz,
von Kriegserfahrungen. Aber auch Jeru-             nimmt uns mit auf eine imaginierte Reise      Roman aus den Bergen, Deutsche Buch-
salem, die Eltern und frühere Generatio-                                                         Gemeinschaft, Berlin 1931.
nen, der jüdische Glaube und die jüdische                                                        Max Mohr: Frau ohne Reue, Roman,
Geschichte sowie menschliche Beziehun-                                                           Weidle Verlag, Bonn 2020.
gen werden thematisiert.                                                                         Max Mohr: Es sei denn regenbogenwärts,
An vielen Stellen sind offen oder verhalten                                                      Gedichte, herausgegeben und kommen-
Tora, Sprüche, Psalmen, Gebete und jüdi-                                                         tiert von Hans D. Amadé Esperer, Spur-
sches Brauchtum in die Texte eingefloch-                                                         buchverlag, Baunach 2020.
ten. Der Holocaust ist in Andeutungen prä-                                                       Max Mohr: Venus in den Fischen, Ro-
sent („die 6 Millionen“). Erwähnenswert                                                          man, Weidle Verlag, Bonn 1993.
ist auch ein fiktiver Dialog zwischen zwei                                                       Marianne Dora Rein: Das Werk, 2 Bän-
Würzburger Bürgern, die die Emigration                                                           de, herausgegeben von Rosa Grimm,
der Familie Pfeuffer bagatellisieren. Bio-                                                       Ergon Verlag, Würzburg 2011.
grafisch wie literarisch bedeutsam für den
                                                                                                 Jehuda Amichai: Zwischen Würzburg
Autor ist die „Kleine Ruth“, Tochter des                                                         und Jerusalem, Texte, herausgegeben
ehemaligen Würzburger Rabbiners Hano-                                                            und übersetzt von Hans D. Amadé Es-
ver. Durch einen Unfall verlor sie ein Bein,                                                     perer. Echter Verlag, Würzburg 2018.
bekam eine Prothese aus Holz, und anders
                                                                                                 Jehuda Amichai: Offen Verschlossen Of-
als Yehuda ist Ruth dem Holocaust nicht
                                                                                                 fen, Gedichte, aus dem Hebräischen
entkommen.
                                                                                                 übersetzt von Anne Birkenhauer, Jüdi-
Doch in der Erinnerung begleitet sie ihn
                                                                                                 scher Verlag/Suhrkamp, Berlin 2020.
stets und wird stellvertretend für alle
Opfer zur Symbolfigur. Ein Element des                                                           Jehuda Amichai: Nicht von jetzt, nicht
am Bahnhof in Würzburg am 17. Juni                                                               von hier, Roman, Verlag Königshausen
                                                                                                 und Neumann, Würzburg 2017.
2020 eröffneten Mahnmals für die Depor-

8       Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Neues Brenner-Projekt
                           Bayerische Akademie der Wissenschaften und jüdisches Leben

MÜNCHEN. Zum Thema „Jüdisches Le-             auch daran sehe man, dass die unter-          Schließlich war es auch das Bayern der
ben in Bayern. Ein Generationendialog“        schiedlichen Generationen weit mehr ver-      amerikanischen Besatzungszone, wo sich
diskutierten Anfang Februar an der Baye-      binde als trenne. Die Politik ermahnte die    die größte Zahl der jüdischen Überleben-
rischen Akademie der Wissenschaften           Präsidentin der Jüdischen Gemeinde            den der Shoa in den sogenannten DP-
(BAdW) jüdische Vertreter aus unter-          München, dass diese noch aktiver und          Camps sammelten und auf ihre Ausreise-
schiedlichen Generationen. Die Veranstal-     vehementer gegen Antisemitismus vor-          möglichkeit nach Palästina, die USA oder
tung war der Auftakt des von LMU-Profes-      gehen müsse, damit jüdisches Leben in         Australien warteten.
sor Michael Brenner geleiteten Projektes      Zukunft in Deutschland sicherer würde.        Aber auch schon im 19. Jahrhundert ha-
„Judentum in Bayern in Geschichte und                                                       ben sich zahlreiche bayerische Juden über
Gegenwart“, das im Rahmen einer Ad-               Jüdisches Leben in Bayern                 die Grenzen des Freistaats hinaus einen
hoc-Arbeitsgruppe an der Akademie in                   sichtbar machen                      Namen gemacht. So waren es Levi Strauss,
München bereits im letzten Jahr startete.                                                   der mit seiner Erfindung der Levi’s Jeans
Nach der Begrüßung durch den Akade-           Gerade der Facettenreichtum jüdischen         in Amerika den bis heute ungebrochenen
mie-Präsidenten Thomas O. Höllmann und        Lebens, der im Podium zum Ausdruck            Modetrend erfand, oder die Münchner
den Grußworten von Josef Schuster und         kam, soll auch im Rahmen des interdis-        Bierbrauer-Familie Schülein, deren Mün-
Ludwig Spaenle diskutierte Ilanit Spinner     ziplinären Projektes im Fokus stehen. Wie     chener Brauerei Unionsbrauerei Schülein
vom Bayerischen Rundfunk mit Michael          Michael Brenner am Abend, aber auch in        & Cie. später in dem berühmten Unterneh-
Brenner, Charlotte Knobloch, Lena Pry-        einer Vielzahl seiner Publikationen zum       men Löwenbräu aufging. Nach der Flucht
tula, Vorsitzende der Jüdischen Studie-       Thema vermittelte, kam mit Blick auf die      Hermann Schüleins nach Amerika vor den
rendenunion, und der Schriftstellerin         jüdische Geschichte Bayern häufiger eine      Nationalsozialisten arbeitete dieser für
Lena Gorelik. Die einleitende Frage „Was      besondere Rolle zu: Ende des 19. Jahr-        das New Yorker Brauunternehmen Lieb-
bedeutet Judentum für Sie?“ griff nicht       hunderts war es Theodor Herzl, der den        mann, welches bereits Mitte des 19. Jahr-
nur gleich die Vielfalt jüdischer Identitä-   ersten Zionistenkongress ursprünglich         hunderts von der aus dem württembergi-
ten auf, sondern in den Antworten kamen       nicht in Basel, sondern in München ab-        schen Aufhausen stammenden jüdischen
vier unterschiedliche Generationen zum        halten wollte. Am Ende war es der Wider-      Familie begründet wurde.
Ausdruck: „Religion, Tradition, Gemein-       stand der jüdischen Gemeinde der Stadt,       Aber auch bis in die Gegenwart sind diese
schaft, Stolz, Lehre, Studium, Lebens-        innerhalb welcher sich die wenigsten für      historischen Bezüge bayerischen jüdi-
freude, Pluralität …“ all das stehe für       die zionistische Idee begeisterten, da sie    schen Lebens sichtbar: Der Vater der aktu-
jüdisches Leben, so das Podium. Lena          ihre Zukunft in der geliebten bayerischen     ellen US-Amerikanischen Botschafterin in
Gorelik verwies darauf, dass es doch ge-      Heimat und nicht in Palästina sahen.          Berlin, Amy Gutmann, entstammte dem
rade diese Vielschichtigkeit sei, die das     1918 rief Kurt Eisner den Bayerischen         fränkischen Feuchtwangen. Gerade die
Judentum ausmache.                            Freistaat aus und wurde damit bis zu sei-     bisher unbekannteren Aspekte der jüdi-
Die an die jüngste Podiumsteilnehmerin        ner Ermordung der erste jüdische Minis-       schen Geschichte und Gegenwart Bayerns
Lena Prytula gerichtete Frage nach den        terpräsident der deutschen Geschichte.        soll das Forschungsprojekt hervorheben,
Werten und Themen, die für ihre jüngere       Zu den tragischen Kapiteln zählt die Rolle,   so Brenner. Um dabei eine möglichst weite
Generation der jüdischen Gemeinschaft         die gerade Bayern beim Aufstieg der Na-       Perspektive zu schaffen, ist das Vorhaben
im Vordergrund stehen, beantwortete sie       tionalsozialistischen Bewegung spielte.       in zwei Teilprojekte gegliedert:
mit der großen Motivation, mit der sie
sich mit vielen anderen jungen Menschen
für die Schaffung einer von Normalität
geprägten Gegenwart und Zukunft jüdi-
schen Lebens in Deutschland einsetze.
Gerade über Themen, die eine Vielzahl
von jungen Menschen ansprächen, wie
etwa Nachhaltigkeit oder „Fridays for
Future“, könne man in Schulen und Uni-
versitäten auch zeigen, dass Juden nor-
male Mitglieder der Gesellschaft sind, wie
alle anderen auch. Das sei es, was sich
Juden aller Generationen in Deutschland
wünschten: Normalität, so Prytula.
Ereignisse wie in Halle oder Hanau seien
es, die dann immer wieder Existenzangst
auslösten. Aber auch gegen Antisemitis-
mus setzt sich Lena Prytula ein. Gerade
in ihrer Rolle als angehende Lehrerin
wünscht sie sich jedoch bei der Ausbil-
dung von Pädagogen deutlich mehr Raum
für Themen wie Ausgrenzung, Antisemi-
tismus und Rassismus. Besonders Char-
lotte Knobloch zeigte sich erfreut darüber,   Podiumsdiskussion in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften mit (von links) Lena
wie die jüngere jüdische Generation sich      Prytula, Ilanit Spinner (BR), Lena Gorelik, Michael Brenner und Charlotte Knobloch.
mit Elan für die Gesellschaft einsetze,                                                                         Foto: BAdW/ Kai Neunert

                                                                                                   Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022   9
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Im Rahmen des ersten Teilprojekts „Spu-             nimmt die jüngere Vergangenheit und          ten Wissenschaftlern, sollen über die drei-
rensuche – Das Landjudentum im vor-                 Gegenwart in den Fokus. Hier werden vor      jährige Laufzeit des Projekts nicht nur
industriellen Bayern“ stehen vor allem              allem die Entwicklungen seit Begrün-         eine Reihe an Veranstaltungen und Publi-
Überreste frühneuzeitlichen jüdischen               dung des Landesverbands der Israeliti-       kationen entstehen, sondern gemeinsam
Lebens in Bayern im Fokus. Diese sollen             schen Kultusgemeinden und der 13 baye-       mit dem Bayerischen Rundfunk auch Pod-
über die Methoden der Bauforschung und              rischen Jüdischen Gemeinden beleuchtet,      casts und eine virtuelle Karte, die sich an
Archäologie bisher weniger bekannte Orte            aber auch Themen wie der Antisemitis-        eine breite Öffentlichkeit richten und das
jüdischen Lebens als Erinnerungsorte                mus der Nachkriegsjahre werden syste-        jüdische Leben in Bayern dadurch in sei-
kenntlich und einer breiten Öffentlichkeit          matisch untersucht.                          ner Vielfalt sichtbar machen sollen.
bekannt machen.                                     Unter der Mitarbeit von Bernd Päffgen        Einzelheiten zum Projekt und ein Video
Das zweite Teilprojekt „Neuanfang – Jüdi-           (Extra-Ordinarius für Vor- und Frühge-       der Podiumsdiskussion: https://judentum-
sches Leben in Bayern von 1945 bis heute“           schichte, LMU) und weiteren renommier-       in-bayern.badw.de Julia Schneidawind

            Grußwort des Zentralratspräsidenten Dr. Josef Schuster
            am 10. Februar 2022 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zur Veranstaltung
                             „Jüdisches Leben in Bayern. Ein Generationendialog“

Vor genau zwei Wochen wurde der Inter-              verordnen“ lässt. Sie sagte – ich zitiere:   der modernen Medien bedienen: Podcasts,
nationale Holocaust-Gedenktag began-                „Unsere von vielen geachtete Gedenkkul-      Videos und interaktive Karten sind geplant.
gen. Ich war zu Gast bei der Gedenkstun-            tur bleibt nur lebendig, wenn wir immer      Warum erwähne ich das so ausführlich?
de im Bundestag, wo Inge Auerbacher,                wieder von Neuem Fragen an die Ge-           Ich glaube, dass wir uns in einer Umbruch-
die als Kind das KZ Theresienstadt über-            schichte stellen und nach Antworten          situation befinden, was die Wissensver-
lebt hat, eine bewegende Rede hielt. Sie,           suchen. Das gilt gerade für junge Men-       mittlung angeht. Schon heute 35-Jährige
sehr geehrte Frau Knobloch, hatten im               schen. Es bedeutet auch, andere Blick-       sind selbstverständlich mit dem Internet
Jahr zuvor ebenfalls sehr beeindruckend             winkel zuzulassen (…).“                      aufgewachsen und beziehen daraus ihre
in der Gedenkstunde gesprochen.                     In dieser Debatte rücken immer stärker       Informationen. Für noch Jüngere ist es
Es sind nicht mehr viele Shoa-Überleben-            die modernen Medien in den Fokus: Ge-        normal, dass alle Informationen nicht nur
de unter uns, die rüstig genug sind für             denkstätten präsentieren sich jetzt in       jederzeit, sondern an jedem Ort abrufbar
solche Auftritte. So ist es für jeden ein           Kurz-Videos auf TikTok, die Gedenkstätte     sind. Kanäle wie Instagram oder TikTok
wertvolles Geschenk, der einem Shoa-                Dachau – um ein weiteres Beispiel zu         haben für sie eine größere Bedeutung als
Überlebenden zuhören darf.                          nennen – bot im vergangenen Jahr ins-        das Fernsehen. Von Zeitungen oder Bü-
Zugleich begleitet uns mit zunehmender              gesamt 31 Facebook-Live-Rundgänge an.        chern will ich gar nicht mehr sprechen.
Intensität die Frage, wie wir trotz wach-           Die Arolsen-Archive haben vor zwei Jah-      Bildungsinstitutionen stehen damit heut-
sendem zeitlichen Abstands die Erinne-              ren das Projekt „Every name counts“, also    zutage vor einer großen Herausforderung:
rung aufrechterhalten können, wie wir               „Jeder Name zählt“ gestartet. Dabei kann     Sie sollen fundiertes Wissen vermitteln,
Wissen über die Shoa vermitteln, mit wel-           sich jeder daran beteiligen, die Daten von   was sich nicht unbedingt auf TikTok fin-
chen Mitteln.                                       Shoa-Opfern zu digitalisieren. Und ich       det, aber zugleich stehen sie sozusagen in
Die neue Bundestagspräsidentin Bärbel               könnte viele Beispiele hinzufügen.           Konkurrenz zu all den sozialen Netzwer-
Bas hat in ihrer Rede in der Gedenkstunde           Und auch die neue Ad-hoc-Arbeitsgruppe       ken.
am 27. Januar darauf hingewiesen, dass              der Bayerischen Akademie der Wissen-         Wenn es um die Vermittlung von Wissen
sich Erinnerungskultur „nicht von oben              schaften zu Judentum in Bayern wird sich     über das Judentum geht, kommt ein zwei-
                                                                                                 ter Spagat hinzu: Die richtige Balance zwi-
                                                                                                 schen Erinnerung und Gegenwart.
                                                                                                 Junge Juden haben dieses Jahr anlässlich
                                                                                                 des Holocaust-Gedenktages zu Recht die
                                                                                                 Frage aufgeworfen, was eigentlich an
                                                                                                 allen anderen Tagen geschehe. Reduziert
                                                                                                 sich das Interesse der allgemeinen Be-
                                                                                                 völkerung am Judentum auf einen Tag?
                                                                                                 Vielleicht noch ein zweites Mal, am 9. No-
                                                                                                 vember?
                                                                                                 Das ist sicherlich überspitzt, doch manch-
                                                                                                 mal ist Provokation gut, um Debatten an-
                                                                                                 zuregen. Denn für unser Zusammenleben,
                                                                                                 für den Zusammenhalt unserer Gesell-
                                                                                                 schaft, ja, ich wage zu behaupten, für
                                                                                                 unsere Demokratie ist es von essenziel-
                                                                                                 ler Bedeutung, dass sich die Mehrheits-
                                                                                                 bevölkerung sowohl der Tatsache bewusst
                                                                                                 ist, dass auch heute Juden in Deutschland
                                                                                                 leben, als auch, dass wir Juden Bestand-
                                                                                                 teil dieser Gesellschaft sind.
                                                                                                 Unsere Gesellschaft muss wegkommen
                                                                                                 von dieser Teilung „Juden und Deutsche“,
Dr. Josef Schuster                                                       © BAdW/Kai Neunert      wegkommen vom „Wir“ und „die“! Daher

10       Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022
war und ist das jetzt verlängerte Festjahr    tion und Kultur zur deutsch-jüdischen         manchen Fällen überhaupt erst zu schaffen.
„1700 Jahre jüdisches Leben in Deutsch-       Geschichte, mit ihren Blütezeiten und ih-     Ein besseres Verständnis für das Judentum
land“ wirklich ein Gewinn.                    ren Abgründen.                                in Deutschland, im besten Fall einen Ab-
Und daher begrüße ich ganz ausdrück-          Im Zentralrat der Juden haben wir längst      bau von Antisemitismus erreichen wir nicht
lich die neue Ad-hoc-Arbeitsgruppe der        den Schwerpunkt unserer Arbeit verlagert      durch eine Abkehr von unserer Erinne-
Akademie, die den weiten Bogen der jüdi-      auf die Stärkung der heute existierenden      rungskultur. Wir erreichen das aber eben-
schen Geschichte in Bayern bis zur Ge-        Gemeinden, den Dialog mit anderen Grup-       so wenig, wenn Juden nur als Opfer wahr-
genwart spannt, sowie den heutigen            pen und auf die Schulen.                      genommen werden. Zuerst den Menschen
Abend, der mehrere Generationen zu-           So wichtig das Shoa-Gedenken ist – ich        zu sehen und erst danach die Konfession
sammenbringt.                                 möchte hier nicht missverstanden werden       oder Herkunft – das muss die Haltung in
Denn das kommt in den Schulen leider          – so wichtig ist es auch, die Verbindungen    unserem Land sein. In diesem Sinne freue
häufig zu kurz: Eine Brücke zu schlagen       zwischen Mehrheitsgesellschaft und jüdi-      ich mich sehr auf den Output der Arbeits-
zwischen der jüdischen Religion, Tradi-       scher Gemeinschaft zu stärken oder in         gruppe und wünsche ihr viel Erfolg!

                                       Buber-Rosenzweig-Medaille
OSNABRÜCK. Mit einem Festakt wurde            Beide Preisträger setzen sich seit vielen     1952 veranstaltet der Deutsche Koordi-
am 6. März in Osnabrück die Woche             Jahren ebenso engagiert wie entschlos-        nierungsrat (DKR) der Gesellschaften für
der Brüderlichkeit 2022 eröffnet, die         sen gegen Antisemitismus und Rassismus        Christlich-Jüdische Zusammenarbeit im
unter dem Motto des diesjährigen              ein und nutzen den Sport zum Brücken-         März eines jeden Jahres die Woche der
Jahresthemas „Fair Play – jeder Mensch        bauen zwischen Menschen unterschied-          Brüderlichkeit. Überall werden aus diesem
zählt“ steht. Höhepunkt der Eröffnungs-       licher Herkunft und Religion. Die Lauda-      Anlass Veranstaltungen durchgeführt,
feier war die Verleihung der Buber-           tio hielt die Journalistin Esther Schapira,   um auf die Zielsetzung der Gesellschaf-
Rosenzweig-Medaille an Peter Fischer,         selbst Preisträgerin der Buber-Rosenzweig-    ten und auf ihr jeweiliges Jahresthema
Präsident von Eintracht Frankfurt, so-        Medaille 2007. Pandemiebedingt fand die       hinzuweisen.
wie MAKKABI Deutschland e.V., vertre-         Feier erneut in kleinem Rahmen statt,         Wir dokumentieren nachfolgend die Lau-
ten durch deren Präsident Alon Meyer.         wurde aber live vom ZDF gestreamt. Seit       datio von Esther Schapira.           bere.

                      Laudatio von Esther Schapira anlässlich der Verleihung
                        der Buber-Rosenzweig-Medaille 2022 in Osnabrück
Eine Preisverleihung ist ein freudiges Er-    ser Stelle: auch ich gehöre inzwischen        unmittelbar nach dem Krieg die Neu-
eignis. Eigentlich. Aber jede Freude bleibt   deshalb dazu und eben nicht nur, weil ich     gründung des Vereins beantragte. Ein
derzeit im Hals stecken angesichts der        seit Jahrzehnten den Adlern die Daumen        solcher Verein kann keinen Ehrenpräsi-
schrecklichen Bilder aus der Ukraine. Im      drücke, den „Juddebube“ vom Main, wie         denten Rudolf Gramlich haben, der Mit-
Vergleich zum Krieg wird plötzlich alles      Eintracht Frankfurt in den 30er Jahren        glied der NSDAP und der Waffen-SS war.
nebensächlich. Auch die „wichtigste Ne-       genannt wurde.                                Peter Fischer hat diesen Skandal beendet
bensache“ der Welt, der Sport im All-         Juden spielten von Anfang an eine ent-        und so dafür gesorgt, dass der Shoa-
gemeinen, der Fußball im Besonderen.          scheidende Rolle in der Vereinsgeschichte.    Überlebende Helmut „Sonny“ Sonneberg
Der russische Angriffskrieg auf den de-       Und so war es auch der Jude und KZ-           sich in seiner Eintracht-Familie wieder
mokratischen Nachbarn Ukraine zwingt          Überlebende Emanuel Rothschild, der           zuhause fühlen kann.
selbst FIFA und IOC anzuerkennen, was                                                       Für den heutigen Präsidenten Peter Fischer
sie sonst gern leugnen: Der Sport ist im-                                                   sind die jüdischen Wurzeln seiner Ein-
mer auch Politik. Die Legende vom un-                                                       tracht ein Handlungsauftrag. Er hat aus
politischen Sport, wie ein Mantra vom                                                       der Mitgliedschaft bei seinem Verein ein
deutschen IOC-Präsidenten Thomas Bach                                                       politisches Statement gemacht. Das gleiche
gerade erst wieder bei der Olympiade in                                                     gilt für die Mitglieder des Sportvereins
China vorgetragen, sie hat nie gestimmt.                                                    Makkabi. Unter der Leitung seines Präsi-
Wer Diktatoren als bunte Propaganda-                                                        denten Alon Meyer ist aus Makkabi sehr
Kulisse dient, macht sich mitschuldig. Und                                                  viel mehr geworden als der kleine jüdi-
wer eine Stimme hat, die gehört wird, und                                                   sche Sportverein, in dem ich als Jugend-
schweigt, ebenfalls. Für diese Einmischung                                                  liche Tischtennis gespielt habe.
stehen die Preisträger der Buber-Rosen-                                                     Rund zweieinhalbtausend Mitglieder hat
zweig-Medaille 2022.                                                                        Makkabi inzwischen und jede und jeder
Mit 99 Prozent haben die Mitglieder von                                                     einzelne von ihnen weiß, dass es gefähr-
Eintracht Frankfurt ihren Präsidenten                                                       lich werden kann, sich mit dem T-Shirt
Peter Fischer wiedergewählt, weil er seine                                                  ihres Vereins zu zeigen, weil darauf der
Stimme undiplomatisch und unüberhör-                                                        Davidstern und hebräische Schriftzeichen
bar erhoben hat gegen Rassismus, gegen                                                      zu lesen sind. Und trotzdem bekennen sie
Homophobie und gegen Antisemitismus                                                         sich zu Makkabi und sehr viele nicht nur
und für Weltoffenheit und Toleranz.                                                         trotzdem, sondern deswegen. Das ist auch
Für seine klare Haltung erhielt Peter                                                       deshalb bemerkenswert und ermutigend,
Fischer Drohungen und Hass – aber auch                                                      weil dreiviertel der Mitglieder nicht jü-
viel Zuspruch und rund 17.000 neue Ver-       Die Laudatorin Esther Schapira, Journalis-    disch sind, unter ihnen viele Christen und
einsmitglieder. Und ich oute mich an die-     tin und frühere Preisträgerin.                Muslime.

                                                                                                  Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022   11
Dass es Mut braucht, den Davidstern in                                                           Wer dopt, wird disqualifiziert. Doch als
Deutschland offen zu zeigen und dass der                                                         der Iran jetzt nach der Olympiade in Tokio
jüdische Sportverein immer wieder Poli-                                                          alle Länder erneut aufrief, es ihm gleich-
zeischutz braucht – das ist ein Skandal,                                                         zutun und nicht gegen israelische Sport-
den die Preisträger nicht tatenlos hinneh-                                                       ler anzutreten, löste das kaum Reaktio-
men. Das ist die Grundlage ihrer Freund-                                                         nen aus. Judenhass aber ist wie poli-
schaft und ihrer gemeinsamen Arbeit, für                                                         tisches Doping, nein schlimmer, weil so
die Peter Fischer und Makkabi Deutsch-                                                           offen und so folgenlos.
land mit dem Präsidenten Alon Meyer                                                              Sport verbindet, heißt es aus den VIP-Eta-
heute ausgezeichnet werden.                                                                      gen der Sportfunktionäre immer, und ge-
Beide kenne ich persönlich. Und ich freue                                                        nau deshalb dürfe er sich nicht verein-
mich auch als Trägerin der Buber-Rosen-                                                          nahmen lassen. Und doch tut er es jedes
zweig Medaille – gemeinsam mit Georg                                                             Mal wieder. Die Olympiade in China, die
M. Hafner – darüber, diese Laudatio halten                                                       Fußballweltmeisterschaft in Katar – zwei
zu dürfen. Auszeichnungen nämlich ma-                                                            sportliche Großereignisse in Ländern, die
chen sich nicht nur gut im Lebenslauf, son-                                                      Menschenrechte mit Füßen treten, zwei
dern sie sind eine Bestärkung und eine                                                           beschämende Beispiele allein in diesem
Verpflichtung. Diese ganz besonders.                                                             Jahr für die korrupte Kumpanei zwischen
1968 wurde die Buber-Rosenzweig-Me-                                                              Politik und Sport.
daille zum ersten Mal verliehen. 54 Jahre                                                        Sport aber kann tatsächlich verbinden,
später ist der Kampf gegen Antisemitis-            Rabbiner Andreas Nachama eröffnete die        nämlich die Demokraten weltweit, Men-
mus und für Toleranz und Verständigung             Woche der Brüderlichkeit 2022.                schen, die sich solidarisch für die Freiheit
noch genau so wichtig und noch immer                                                             und die Achtung der Menschenwürde
zäh und mühsam. Wer ihn führt, braucht             Diese zynische Täter/Opfer-Umkehr ist         einsetzen – ohne Ausgrenzung wegen
einen langen Atem, eine hohe Frustra-              übrigens für den jüdischen Staat eine         Religion, Hautfarbe, Geschlecht, Natio-
tionstoleranz – und zuweilen eben auch             ständige Erfahrung auf allen Ebenen.          nalität.
Ermutigung. Deshalb ist diese Medaille             Auch im Sport.                                Erstmals beziehen nun also auch die gro-
so wichtig.                                        Gestatten Sie mir an dieser Stelle einen      ßen Sportverbände klar Position. Denn:
Liebe Preisträger, ich bin sicher, auch Sie        kurzen Blick fünfzig Jahre zurück.            Der 24. Februar 2022 hat die Welt verän-
kennen diese Situation, in denen Ihnen             Peter Fischer war gerade 16 Jahre alt.        dert und damit auch die Sportwelt. Sie ist
die verzweifelte Frage durch den Kopf              Alon Meyer noch nicht geboren: 1972.          nicht mehr heil. Nichts ist mehr heil und
schießt, ob dieser Kampf sich überhaupt            Erstmals durften die Olympischen Spiele       jede Katastrophe ist denkbar. Die „Frie-
lohnt angesichts der Zunahme der Roh-              wieder nach Deutschland. Doch die Olym-       densdividende“ ist aufgebraucht noch be-
heit, der Dummheit, des Hasses. Im Netz,           piade in München endete in einer Kata-        vor die letzten Überlebenden des zweiten
auf der Straße und auch auf dem Fußball-           strophe – einem palästinensischen Terror-     Weltkrieges gestorben sind.
feld.                                              anschlag auf die israelische Olympia-         Peter Fischer wurde nur ein Jahrzehnt
Eben überall in der Gesellschaft. Und das          mannschaft mitten in Deutschland mit          danach geboren. Die Erinnerung an die
leider weltweit.                                   17 Toten. Jahrzehntelang kämpften die         Gräuel des Krieges waren in seiner Kind-
Selbst ein Krieg, wie wir ihn gerade mit-          Angehörigen der Opfer darum, dass die         heit noch frisch und spürbar, auch wenn
ten in Europa erleben, ist wieder möglich,         olympische Welt ihrer Liebsten wenig-         so viele Deutsche lieber von der „Stunde
weil die Lüge zur Wahrheit erklärt wird.           stens einen kurzen Moment lang geden-         Null“ faselten.
Der jüdische Präsident der Ukraine wird            ken möge.                                     Alon Meyer ist fast zwanzig Jahre jünger,
vom russischen Präsidenten als „Nazi“              „Fair Play – Jeder Mensch zählt!“ Fair        aber in jüdischen Familien gilt eine ande-
angegriffen.                                       Play?                                         re Zeitrechnung. Der Kampf ums Weiter-
                                                                                                 leben nach dem Überleben überdauert
                                                                                                 die Generationen. Beiden ist das Engage-
                                                                                                 ment gegen Antisemitismus eine persön-
                                                                                                 liche Verpflichtung, die aus der eigenen
                                                                                                 Lebensgeschichte folgt. Beide wissen, dass
                                                                                                 Demokratie keine Selbstverständlichkeit
                                                                                                 ist, sondern täglich neu erkämpft werden
                                                                                                 muss und dass es dabei auf jede Stimme
                                                                                                 ankommt und jede Gelegenheit.
                                                                                                 Makkabi Deutschland und Peter Fischer
                                                                                                 nutzen die Möglichkeiten, die der Sport
                                                                                                 bietet, um vor allem junge Menschen von
                                                                                                 gesellschaftlichem Fair Play zu überzeu-
                                                                                                 gen. Aufstehen, reden, sich einmischen –
                                                                                                 mehr können wir nicht tun. Weniger dür-
                                                                                                 fen wir nicht tun.
                                                                                                 Und wenn diese Momente kommen, in
                                                                                                 denen die Kraft schwindet und die Zuver-
                                                                                                 sicht, dass Worte sich noch lohnen – dann
                                                                                                 schauen Sie in Zukunft einfach auf Ihre
                                                                                                 Buber-Rosenzweig-Medaille. Ja, es lohnt
                                                                                                 sich! Bitte erheben Sie Ihre Stimme unver-
Die Preisträger Peter Fischer und Alon Meyer.                    Fotos (3) Jacqueline Wardeski   drossen weiter.

12      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022
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