JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
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JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN M I T T E I L U N G S B L AT T D E S L A N D E S V E R B A N D E S I S R A E L I T I S C H E R K U LT U S G E M E I N D E N I N B AY E R N 37. JAHRGANG / NR. 147 á“ôùú çñô 12. APRIL 2022 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022 1
Haggada Dies ist die erste Egalitäre Haggada im deutsch- sprachigen Raum. „Egalitär“ bedeutet, dass jüdische Frauen und Männer, Jungen und Mädchen gleichbe- rechtigt an den jüdischen Ritualen teilnehmen. Seit den 1990er Jahren feiert der Egalitäre Minjan in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main alljährlich den Seder mit viel Kreativität und Beteiligung seiner Mitglieder. Neben dem Lesen der Haggada und dem Singen der Pessach-Lieder spielen gerade auch Dis- kussionen über einzelne politische, religiöse, histori- sche oder spirituelle Aspekte der Haggada sowie die heutige Bedeutung des Auszugs aus der Sklaverei eine zentrale Rolle. Diese langjährige Praxis ist in dieser Egalitären Haggada zusammengetragen. Zu- sätzlich zu einer geschlechtersensiblen Übersetzung des hebräischen Textes bietet sie eine umfassende Transliteration, Noten zu den Liedern sowie eine Fül- le von Kommentaren und Alternativmöglichkeiten. In den Illustrationen spiegelt sich die Diversität heu- tigen jüdischen Lebens – auch am Sedertisch. Herausgegeben von Rabbinerin Elisa Klapheck mit Chasan Daniel Kempin und dem Egalitären Minjan in Frankfurt. Illustrationen von Simon Schwartz. Elisa Klapheck ist liberale Rabbinerin in der Jüdi- schen Gemeinde Frankfurt, promovierte Philosophin und Professorin für Jüdische Studien am Zentrum für Komparative Theologie in Paderborn. Sie enga- giert sich für eine religiöse Erneuerung des Juden- tums und bezieht dabei die gesellschaftlichen, poli- tischen und wirtschaftsethischen Herausforderun- gen der Gegenwart mit ein. Elisa Klapheck (Hg.): Egalitäre Pessach Haggada, He- bräisch/Deutsch, 176 S., Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin Leipzig 2022, www.hentrichhentrich.de. ST OL PE R ST E I N E W Ü R Z BU RG In der Ludwigstraße wohnten HEDWIG REIN LINA LEIB MARIANNE REIN GEB. SCHWABACHER GEB. OTTENSOSER JG. 1911 JG. 1882 JG. 1882 DEPORTIERT 1941 DEPORTIERT 1941 DEPORTIERT 1941 RIGA RIGA RIGA ERMORDET ERMORDET ERMORDET Unser Titelblatt: Die Rabbi Carlebach-Haggada, siehe dazu auch den Beitrag auf Seite 5. Bilder Rückseite: Nr. 1 und 2: Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille in Osnabrück. Siehe dazu auch den Beitrag auf Seite 11. Nr. 3, 5 und 6: Kindergruppen in den Gemeinden Regensburg und Würzburg. Siehe dazu auch die Gemeinde-Beiträge ab Seite 25. Nr. 4: Marianne-Rein-Straße in Würzburg. Siehe dazu den Beitrag auf Seite 6. Nr. 7: Konzert in der Gemeinde Regensburg. 2 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022
EDITOR I A L Liebe Leserinnen, liebe Leser, ken. Er hinterließ uns sein wertvolles Ar- chiv. Es steht seitdem im Johanna-Stahl- Wenn wir in diesen Pessach-Tagen an die Zentrum der historischen Forschung zur Befreiung aus ägyptischer Versklavung Verfügung. Die Ausstellung „Der Spuren- erinnern, ist unsere Stimmung leider finder“ über Michael Schneeberger zeigte nicht ungetrübt. Denn die biblischen Er- das Zentrum Ende 2019. eignisse, an die wir an den Seder-Aben- Zu verdanken haben wir diese Arbeiten den erinnern, werden durch den Krieg seit über zehn Jahren der Historikerin gegen die Ukraine überdeckt. Auch die Dr. Rotraud Ries. Sie übernahm 2009 die Juden dort werden kaum Pessach feiern Leitung des Zentrums für die Geschichte können. und Kultur in Unterfranken, und gleich zu Beginn ihrer Arbeit in Würzburg setzte Das Leid, das derzeit die Menschen in der sie ein deutliches Zeichen. Sie schlug die Ukraine erleben müssen, ist unerträglich. Umbenennung ihres Instituts vor und seit Wir alle sind in diesen Wochen erschüt- 2011 heißt es „Johanna-Stahl-Zentrum“. tert über die unvorstellbare Zerstörung Auch hier wird wieder der Fokus auf jüdi- und Gewalt, die der russische Angriffs- sche Familiengeschichte deutlich. krieg in der Ukraine verursacht. Ange- Ich möchte mich heute bei Dr. Ries für sichts des russischen Einmarsches er- ihre langjährige Tätigkeit in Würzburg leichtert die Bundesregierung nach Ge- bedanken, auch für die vielen neuen sprächen mit dem Zentralrat der Juden Akzente, die sie für die Erinnerungskul- die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen tur gesetzt hat. Sie geht jetzt in den ver- und alle unseren Gemeinden sind dabei dienten Ruhestand, will aber weiter be- behilflich, ebenso die ZWST. Es freut ruflich in ihrem Fach, der historischen mich ganz besonders, dass die jüdische Forschung, tätig bleiben. Dazu wünsche Gemeinschaft in dieser sehr schwierigen ich ihr viel Erfolg, eine gute Gesundheit Lage zusammensteht. Mit dem Johanna-Stahl-Zentrum bin ich und alles Beste. Gut 40 Prozent der Mitglieder unserer eng verbunden. Es ist seit 2006 nicht Gemeinden haben ihre Wurzeln in der nur im Würzburger Gemeinde-Zentrum Bleiben Sie gesund und achten Sie auf Ukraine. Sie fühlen aufgrund der fami- Shalom Europa untergebracht, es hat seit sich, auf Ihre Familie und auf alle Men- liären Verbindungen mit den Menschen über 10 Jahren auch zahlreiche jüdische schen in Ihrer Umgebung. dort. Unter diesen Umständen freut es Familiengeschichten aus Würzburg und mich auch, dass dies keinen Keil in die Unterfranken aufgearbeitet und sie der CHAG PESSACH SAMEACH jüdische Gemeinschaft treibt, zwischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ich Menschen, die aus der Ukraine und aus denke zum Beispiel an die Familie Seligs- Ihr Russland stammen. Auch in diesen Pes- berger und an die Ausstellung 2016. Ich Dr. Josef Schuster sach-Tagen bleiben unsere Gedanken bei denke aber auch an den verstorbenen Präsident den bedrängten Menschen in der Ukra- Michael Schneeberger, den Chronisten des Zentralrats der Juden in Deutschland und ine. der jüdischen Geschichte von Unterfran- des Landesverbandes der IKG in Bayern Pessach 5782 Ukraine-Hilfe IMPRESSUM Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger . . 4 Ukrainische Stipendiaten . . . . . . . . . . 17 JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN authentisch bayerisch jüdisch Rabbi Schlomo Carlebach zum Pessachfest Nachrichten aus Frankreich Redaktionsleitung: Benno Reicher, Von Yizhak Ahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Vorländerweg 25, 48151 Münster, Kandidat Zemmour Telefon 0251-7475546 Von Gaby Pagener-Neu . . . . . . . . . . . . 18 www.bayerisch-jüdisch.de Kultur redaktion@berejournal.de Drei jüdische Schriftsteller Bayern Wir erscheinen im April zu Pessach, aus Würzburg Rabbiner Henry G. Brandt im September zu Rosch Haschana und Von Ina Karg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1927–2022 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 im Dezember zu Chanukka Neues Brenner-Projekt . . . . . . . . . . . . . 9 Höchste Auszeichnung In dieser Ausgabe mit Beiträgen von für Prof. Dr. Manfred Treml . . . . . . . . 23 Rab. J. Berger, Yizhak Ahren, Angela Buber-Rosenzweig-Medaille . . . . . . . . 11 DenkOrt Würzburg . . . . . . . . . . . . . . . 23 Genger, Daniel Hoffmann, Ina Karg, Regina Carmen Reichert Kon, Gaby Pagener-Neu, Benno Reicher, neue Museumschefin . . . . . . . . . . . . . . 13 Rotraud Ries und Julia Schneidawind Aus den jüdischen Gemeinden Heidi in München . . . . . . . . . . . . . . . . 13 in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Herausgeber: Landsverband Israelitischer Kultusgemeinden in Bayern Jüdisches Museum Fürth . . . . . . . . . . 14 Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . 32 Gesamtherstellung: Druckerei Höhn, Dr. Ries geht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Inh. Martin Höhn, Gottlieb-Daimler-Str. 14, Das Würzburger Memorbuch . . . . . . . 15 Russischer Beitrag . . . . . . . . . . . . . 39 69514 Laudenbach Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022 3
P E S S A C H 57 8 2 PESSACH Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger schen den zwei Auffassungen zu verdeut- mit dem Mastochs zusammen, – und ein lichen: Die „messianische Zeit“ sei eine kleiner Junge weidet sie ...“ (Jes. 11:6–9) prophetische Hoffnung für das Ende der Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Tage, wenn die Freiheit und moralische auch Tiere in diese endzeitliche Harmo- Vollkommenheit wie auch das irdische nie miteinbezogen werden. Es bedeutet, Glück sowohl für die Israeliten in ihrem dass auch die Entfremdung zwischen Land wie auch für die ganze Menschheit Natur und Mensch überwunden werden einkehren werden. Der Glaube an die soll. Der Maschiach ist nicht nur der Er- „Person des Maschiach“ sei eine andere löser Israels. Seine Botschaft über die so- prophetische Hoffnung, für das Ende der ziale Gerechtigkeit und den Frieden wird Tage. Dabei soll der mächtige Erlöser sich an alle Menschen wenden. Der Glaube eben durch seine Macht und seinen Geist an das Kommen des Maschiach projiziert die Erlösung bringen. eher die globale Hoffnung für die Zu- kunft aller Menschen in dieser Welt. Die späteren biblischen Propheten wie Joel, Nachum, Habakuk, Zefania und Leo Baeck, bedeutendster Vertreter des auch Maleachi ließen keine irdische Per- deutschen liberalen Judentums sowie son als Maschiach gelten. Für sie war jahrelang unbestrittene Führungsfigur Gott der Erlöser. Chaggai und Zecharja und Repräsentant der deutschen Juden- Rabbiner Joel Berger votierten wiederum für eine reale Person heit vor der Shoa, bezeichnete den „Mes- als Maschiach aus dem Hause des Königs sianismus der jüdischen Bibel“ horizontal, An einer Stelle des Talmuds lesen wir David. Es herrschte also im Tenach Plura- d.h. an das Zeitenende „verlagert“, jedoch folgende Lehrmeinung das Pessach-Fest lismus, auch unter den Propheten, was noch in dieser Welt. Dagegen sei das Bild betreffend: „Im Monat Nissan (im Monat den Erlöser betrifft. des Messianismus der Apokryphen, der in des Pessachfestes) wurden unsere Vor- unsere Bibel nicht aufgenommenen Wer- fahren erlöst, als sie von Gott aus der Jedoch das Herausragende in allen messi- ke, eher vertikal. Die messianische Hoff- Knechtschaft Ägyptens geführt wurden. anischen Vorstellungen über die Zukunft nung wird hier ins Jenseits verlegt und Und eines Tages werden wir ebenso im der Erlösung ist der Begriff des „Scha- nicht mehr innerweltlich verstanden. Monat Nissan erlöst werden.“ Es wird bei lom“, des Friedens. näherer Betrachtung dieser Aussage klar, Das Pessachfest ist die älteste Geschichte dass der Talmud einerseits die physische Der Prophet Jesaja kündet die Sünden- der Hoffnung, die je erzählt wurde. Sie Befreiung aus der Sklaverei bereits als vergebung durch den Herrn an und fügt erzählt, wie eine ansonsten unauffällige eine Vorstufe der Erlösung betrachtet, hinzu: „Kehre zu mir zurück und Ich habe Gruppe von Sklaven ihren Weg in die andererseits sein Augenmerk auf eine dich bereits erlöst.“ (Jes. 44:22) Wenn Freiheit vom größten und langlebigsten endzeitliche und „vollkommene“ Erlö- dieses Wort den vollen Umfang der Er- Reich ihrer Zeit, ja aller Zeiten, fand. Sie sung als Hoffnung des Menschen richtet. lösung beinhaltet, welche Aufgaben, wel- erzählt die revolutionäre Geschichte, wie Häufig werden wir gefragt, auf welchen che Verheißungen könnte der Erlöser, der die höchste Macht, Gott, in die Geschichte „Erlöser“ oder welche „Erlösung“ wir noch von Gott Gesalbte, der Messias, noch voll- eingreift, um die absolut Machtlosen zu warten? enden? Ich meine, dass Jesaja uns in befreien. Es ist eine Geschichte über den seiner prophetischen Weissagung die Er- Sieg der Wahrscheinlichkeit über die Die Propheten Israels betrachteten den lösung als einen „Mehrstufenheilsplan“ Kraft der Möglichkeit. Sie definiert, was Maschiach, den Erlöser, als einen Heils- Gottes darstellen will. Der Geist Gottes es heißt, ein Jude zu sein: ein lebendiges bringer, der imstande wäre, die Men- ergießt sich zunächst über das Volk und Symbol der Hoffnung. schen Gott näherzubringen und auch bewirkt dessen innere Erneuerung. (Jes. jedwede Knechtschaft abzuschaffen. In 44:3) Dann erst vollzieht sich die Heim- Pessach lässt uns die Wahl schmecken: jenen Zeiten dachte man sowohl an eine kehr der Vertriebenen aus dem Exil, von auf der einen Seite das Brot des Elends reale Person, wenn man über den Ma- der Stätte ihrer Verbannung unter größ- und die bitteren Kräuter der Sklaverei, schiach sprach, wie auch an solche epo- tem Jubel. auf der anderen Seite vier Becher Wein, chalen Ereignisse in der Welt, die die die jeweils eine Etappe auf dem langen messianische Zeit, die Erlösung, einläu- Die poetisch durchdrungene Vorstellung Weg zur Freiheit markieren. ten. Rabbi Mosche ben Maimon, den wir Jesajas lässt bei dieser Heilstat Gottes als Rambam kennen, der große mittel- Himmel und Erde jauchzen: „Wildnis, Jedwede messianischen Hoffnungen und alterliche jüdische Philosoph, verkündete dürre Heide und Steppe frohlocken und Erwartungen sind geeignet, dem Menschen zwar in seinem Glaubensbekenntnis das blühen herrlich auf, wenn Gott die Ver- Zuversicht einzuflößen, seine Kräfte zu uneingeschränkte Vertrauen auf das Kom- bannten Seines Volkes nach Zion zurück- stärken, um ausharren zu können, bis jene men des Erlösers. Es gibt aber Gelehrte, führt.“ (Jes. 44: 23) Der Gesalbte Gottes messianische Zeit wahrhaftig und für alle die den „Maschiach als Person“ ablehnen. würde demnach erst jetzt erscheinen. Menschen spürbar anbrechen wird. Wann Joseph Klausner, ein früherer Professor Jesaja schildert die Erlösung so: „Dann dies eintrifft, kann heute gewiss niemand der Hebräischen Universität in Jerusa- wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther von uns sagen. Wir warten täglich auf ihr lem, bemühte sich den Unterschied zwi- lagert beim Böcklein; Kalb und Junglöwe Eintreffen. 4 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022
Rabbi Schlomo Carlebach zum Pessach-Fest Berühmt wurde Rabbi Schlomo Carle- bach Haggadah. Seder Night with Reb eigene Erlebnisse, zum Beispiel wie sein bach (1926–1994) als Komponist volks- Shlomo“ in englischer Sprache heraus- Vater jedes der anwesenden Kinder in der tümlicher Lieder wie „Od Avinu Chai“, gebracht. Diese Haggada-Ausgabe macht Seder-Nacht die Ma Nishtana aufsagen „Mimekomcha Malkenu“ aus der Kedu- deutlich, dass Carlebach aus den Quellen ließ und dann die Knaben und Mädchen scha und „Schomrim Hafked“ aus der des Chassidismus geschöpft hat. Referiert herzlich umarmte. Haggada, der in der ganzen Welt als Sän- werden nämlich kurze Geschichten über ger auftrat und viele junge und auch mehr als zwei Dutzend Meister der chas- Ein hebräisches Wort, das in Zivans Buch ältere Menschen begeistert hatte. Sein sidischen Erneuerungsbewegung. Wer auffallend oft vorkommt, lautet: „amock“, musikalisches Werk ist nicht in Verges- Martin Bubers „Erzählungen der Chassi- ins Deutsche übersetzt: „tief“. Es geht senheit geraten; in vielen Synagogen und dim“ und ähnliche Anthologien schätzt, Carlebach, wie er immer wieder betont, Betstuben singt man regelmäßig und der wird gewiss auch Carlebachs Hagga- um tiefschürfende Erklärungen religiöser gerne seine beliebten Songs. da lieben. Texte. Hier sei nur ein Beispiel erwähnt. Bekanntlich ist in der Haggada von vier Aber Carlebach war nicht nur ein erfolg- Auf jeder Seite dieser Haggada spürt der Arten von Kindern die Rede: 1. das kluge, reicher Künstler. Er wirkte stets als ein Leser, dass Carlebach ein tiefgläubiger 2. das böse, 3. das einfältige und 4. das Missionar, ein moderner Wanderpredi- Mensch war. Er glaubte auch an die Mög- Kind, das nicht zu fragen versteht. Ge- ger, der fromme Geschichten erzählte lichkeit einer Verbesserung unserer Welt. wöhnlich erklärt man, dass das kluge und Tora-Auslegungen vortrug. Viele sei- Neben Geschichten von wundersamen Kind das beste sei, das böse wirklich ner Lehrvorträge haben Anhänger auf Begebenheiten, findet man in seinem schlecht, das einfältige minderbegabt Tonband festgehalten, um sie später noch Kommentar Beobachtungen des Allzu- und das Kind, das nicht fragen kann, sei einmal zu hören oder um sie einem an- menschlichen und kurze Betrachtungen hoffnungslos. Carlebach hält diese Wer- deren Kreis zugänglich zu machen. Aus zu etlichen Punkten, die für das jüdisch- tung für ganz falsch! Er vertritt die diesem reichhaltigen Material haben religiöse Leben charakteristisch sind. These, dass wir in der Auflistung der tüchtige Herausgeber inzwischen eine Kinder höher steigen: Das kluge Kind sei Reihe von Publikationen hergestellt und Shmuel Zivan hat Carlebachs Lehrvor- gut, das böse Kind kennzeichne mehr auf den internationalen Büchermarkt ge- träge über Pessach ins Hebräische über- Tiefe, das einfältige stehe höher im Rang bracht. setzt, nach Themen geordnet und an und das vierte Kind habe die höchste manchen Stellen mit kurzen Anmerkun- Stufe erreicht. An dieser Stelle möchte ich nur auf zwei gen versehen. Auf mehr als vierhundert Bände hinweisen, die Carlebachs Bemer- Seiten werden Tora-Gedanken der unter- Man lernt die ganze Passage in der Hag- kungen zum Pessach-Fest leserfreundlich schiedlichsten Art erörtert. Carlebach gada aus einer neuen Perspektive ken- aufbereitet haben. Vor mehr als zwanzig lässt zahlreiche chassidische Meister zu nen. Wie Carlebach seine Sicht der Rang- Jahren hat Chaim Stefansky „The Carle- Wort kommen. Er schildert aber auch ordnung zu begründen sucht, ist originell; die vorgeschlagene Interpretation wird vielleicht nicht jedem gefallen. So meint er zur Äußerung des bösen Kindes: „Was soll euch dieser Dienst?“, dass er oder sie deshalb so pietätlos frage, weil er oder sie Gottes Nähe nicht verspürt und daher den Sinn der religiösen Praxis nicht be- greifen kann. Die Antwort der Haggada auf die rhetorische Frage des bösen Kin- des ist nach Carlebach wie folgt zu verste- hen: „Es ist richtig, dass Gott sich vor dir versteckt - aber auch du hast dich vor ihm versteckt. Du hast die Tora nur sehr ober- flächlich studiert und konntest sie des- halb nicht verinnerlichen!“ Philosophen und Künstler haben schon oft und ernsthaft die wichtige Frage dis- kutiert, ob und wie man die jüdische Reli- gion mehr oder weniger assimilierten Juden nahebringen kann. Rabbiner Schlo- mo Carlebach war überzeugt, dass gängi- ge antireligiöse Vorurteile zu bekämpfen sind, indem man die Tiefe und Schönheit des Judentums bei jeder passenden Gele- genheit sichtbar macht. Dieses Programm hat der Wanderprediger mit der Gitarre unentwegt durch seine Musik, seine Ge- schichten und seine Tora-Interpretatio- nen zu realisieren gesucht. Seder-Teller, Joint Employment Board 1947. © Jüdisches Museum München Yizhak Ahren Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022 5
K U LT U R Drei jüdische Schriftsteller aus Würzburg Eine literarische Betrachtung von Ina Karg Max Mohr 1891–1937 gleichförmig. Mohr variiert vor allem in den Terzetten die Reime und schafft Als drittes Kind des jüdischen Malzfabri- dadurch die Möglichkeit für den Leser kanten Leon Mohr und seiner Frau Johan- oder Hörer, vielfältige Beziehungen herzu- na wird Max Ludwig Mohr am 17. Oktober stellen. In einem Fall schreibt er ein so ge- 1891 in Würzburg geboren. Er besucht nanntes „englisches“ Sonett mit 12 Zeilen dort das Königliche Neue Gymnasium, ein und einem Reimpaar am Ende. Nur „Mond- humanistisches Gymnasium, und unter- vogel“, offenbar ebenfalls D. H. Lawrence nimmt bereits als Schüler eine nicht ganz gewidmet, ist kein Sonett. ungefährliche Bergtour. Nach der Schule In den Gedichten geht es Max Mohr im- beginnt er ein Medizinstudium, wird im mer wieder um seine persönlichen Erfah- Ersten Weltkrieg Sanitätsunteroffizier und rungen als Kriegsteilnehmer. In einer gerät in Flandern in englische Gefangen- Gruppe von Texten rücken geradezu his- schaft. Nach seiner Freilassung schließt torisch nachvollziehbar („Ailly-Wald“, „Fort er sein Studium ab und arbeitet in Mün- Vaux“), vor allem aber drastisch und kon- chen als Arzt. Er heiratet, lässt sich auf kret Ereignisse des Frankreich-Feldzuges, einem Anwesen am Tegernsee nieder, ver- wie er sie erlebt, in den Blick. In einer lässt aber 1934 seine Familie und siedelt Max Mohr © Nicolas Humbert anderen Reihe von Sonetten wird an be- nach Shanghai über, wo er erneut als Arzt kannte Größen aus Philosophie und Lite- arbeitet und am 13. November 1937 stirbt. diesem Roman und ehrte Max Mohr mit raturgeschichte erinnert und jeweils ein Max Mohr ist in der Zeit der Weimarer einer Reihe von weiteren Veranstaltun- Text einer Persönlichkeit (Spinoza, Schel- Republik vor allem durch seine Theater- gen. Trotz der Liebe zum Gebirge zieht es ling, Lord Byron, Schiller, Jean Paul) ge- stücke bekannt geworden. Daneben um- Mohr jedoch immer wieder auch nach widmet. Es sieht so aus, als könne inmit- fasst sein literarisches Œuvre Romane, Berlin. In seinem humoristischen Groß- ten des Grauens eines Krieges das geistige kleinere Erzählungen und Lyrik. Viele stadtroman „Venus in den Fischen“ von Erbe dem Soldaten im Unterstand Kraft seiner Texte haben deutlich erkennbare 1927 portraitiert er die 1920er Jahre und verleihen. Mit der Figur des Noah und biographische Bezüge, was an den ge- mit einem Arzt als Protagonisten viel- dem Leitmotiv der Arche greift Mohr die wählten Themen, den Protagonisten oder leicht auch sich selbst. bekannte biblische Geschichte auf. Dass auch den Orten des Geschehens festzu- Für seine lyrischen Texte nutzt Max Mohr er sieben Sonette in der Gruppe „Der machen ist. nahezu ausschließlich die Sonettform. neue Noah“ verfasst, dürfte keine zufäl- So wählt er für seinen Roman „Freund- Mit ihrer in zwei Vierzeiler und zwei Drei- lige Anlehnung an die sieben noachidi- schaft in Ladiz“ als Schauplatz das Kar- zeiler gegliederten Struktur ermöglicht sie schen Gesetze sein. wendelgebirge: Erzählt wird von heraus- – verlangt aber auch – eine sehr klare, fordernden Bergtouren, der Suche nach stringente und geradezu rational ange- Nur der Dame Schätzen unter der Erde, einem Lawinen- legte Gedankenführung. Doch sind die vorm Bäckerfenster schielte er unglück, bei dem eine junge Frau um- einzelnen Gedichte deswegen nicht ein- kommt, und schließlich – entscheidend – in die geöffnete Handtasche tönig und das Corpus insgesamt nicht von einer gemeinsamen Tour mit einem Max Mohr Freund. Nicht unerheblichen Einfluss hat- te bei der Gestaltung dieser epischen Welt Neben den Veranstaltungen im Rahmen die Freundschaft Max Mohrs mit dem der Kulturaktion „Würzburg liest ein englischen Schriftsteller D. H. Lawrence Buch“ im letzten Jahr hat Max Mohr eine (1885–1930), der ihn 1929 besuchte. Eine weitere Würdigung in seiner Heimatstadt Widmung für ihn ist zu Beginn des Bu- erfahren, insofern man einem Straßenab- ches abgedruckt. schnitt seinen Namen gegeben hat. Auch das Geschehen des Romans „Frau ohne Reue“ spielt über weite Teile in Marianne Rein 1911–1942 einem alpenländischen Ambiente, wenn die Protagonistin ihren wohlsituierten Marianne Dora Rein wird am 2. Januar Ehemann und das gemeinsame Kind zu- 1911 als Tochter des jüdischen Kaufmanns gunsten eines völlig unbekannten Mannes Gustav Rein und seiner Ehefrau Hedwig, verlässt und in ein abgelegenes Dorf im geb. Schwabacher, in Genua geboren. Die Gebirge zieht. Sie holt in einer Gewalt- Familie muss im Ersten Weltkrieg Italien aktion ihr Kind zu sich, geht wechselnde verlassen und zieht nach Lugano. Nach Beziehungen ein und wird, als sie sich dem Tod des Vaters 1917 siedeln Mutter entschließt, zu ihrem Ehemann und Vater und Tochter nach Würzburg über, wo sie des Kindes zurückzukehren, von einem Verwandte haben und wo Marianne zu- geistig verwirrten Menschen erschossen. nächst die jüdische Volksschule und dann Das Literaturfestival „Würzburg liest ein ein Mädchenlyzeum besucht. Von einer Buch“ widmete sich schwerpunktmäßig Ausbildung oder Berufstätigkeit ist nichts 6 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022
bekannt. Früh interessiert sie sich für dieser Gang seinen Blick auf sein Leben Literatur und liest viel und gerne. und das Zusammenleben mit seiner Frau, Einen umfangreichen und intensiven für das er plötzlich große Dankbarkeit Briefwechsel führt sie mit dem fast 30 empfindet. Anhand des Weges, den der Jahre älteren Juristen und Schriftsteller Protagonist zurücklegt, wird spannungs- Jakob Picard, der 1940 (noch!) über ver- reich dessen innere Bewegung erzählt. schiedene Stationen in die USA emigrie- In ihrer Ausgabe Nr. 25 vom 23. Juni 1938, ren kann und nach Kriegsende nach Beiblatt, S. 5, druckt die Zeitung des Cen- Deutschland zurückkehrt. Die Briefe ge- tral-Vereins Antworten ab, die auf die ben der jungen Frau Halt, erzählen von Frage „Was haben Sie zum Thema Frau zu den zunehmenden Restriktionen des All- sagen?“ eingegangen sind. Marianne Rein tags in Würzburg und sind vor allem auch gibt ihrem Beitrag den Titel „Ein Märchen Zeugnis davon, wie sie über Jahre hinweg als Antwort“. Sie rechnet mit einem kun- zwischen Hoffnung und Verzweiflung digen Leser, insofern sie die bekannte Ge- schwankt, sowohl was eine persönliche schichte von Adam und Eva, vom Genuss Begegnung mit Picard als auch was ihre der verbotenen Frucht und der anschlie- Emigration betrifft. Beides gelingt am ßenden Vertreibung erzählt. Allerdings Ende nicht. Der letzte Brief aus Würzburg Marianne Rein © privat empfindet das Paar bei ihr seine neue an Picard ist auf den 7. Oktober 1941 da- Situation nicht als Strafe, sondern als tiert. Darin bittet sie ihn inständig, ihr Die kreative Rezeption von Texten und Chance, der als langweilig empfundenen doch häufiger zu schreiben. Autoren der Literaturgeschichte – explizit paradiesischen Situation entkommen zu Mitte der 1930er Jahre beginnt Marianne und subtil – verleihen dem lyrischen Werk sein. Die Themen dieser beiden Erzähl- Rein insbesondere Gedichte, aber auch der Autorin eine traditionsbasierte ästhe- texte finden sich auch lyrisch bearbeitet kleine Prosatexte zu verfassen, die sie bis tische Innovationskraft. Wenn die Zeitung in den Gedichten „Eva“, „Erkenntnis“ und Oktober 1938 in der jüdischen Monats- des Central-Vereins vom 8. 9. 1938 ange- „Romanze“. schrift „Der Morgen“ und in der Zeitung sichts der Veröffentlichung einiger ihrer des „Central-Vereins deutscher Staatsbür- Gedichte in der Zeitschrift „Der Morgen“ Von Angst erlöst, ger jüdischen Glaubens“ publizieren kann. schreibt, man dürfe sich über „ein neues auf Sicherheit verzichtend, Doch müssen die Zeitschriften 1938 ihr und echtes lyrisches Talent“ freuen, so Frei erst, da jetzt der Tod Erscheinen einstellen, und ebenso abrupt meint man die Brutalität, mit der sie den endet das Leben Marianne Reins wenige Tod erlitten hat, unmittelbar zu spüren. sich zu mir biegt. Jahre später. Nach mehrfach erzwunge- Doch Marianne Rein schreibt nicht nur Marianne Rein nem Wohnungswechsel und Zwangs- Gedichte. Die Erzählung „Joskel zwischen arbeit in einem Altenheim in Würzburg, Tod und Leben“, veröffentlicht in der Zei- Würzburg hat in Erinnerung an die Auto- wird sie zusammen mit ihrer Mutter am tung des Central-Vereins vom 3. 11. 1938, rin eine Straße nach ihr benannt, und die 27. November 1941 mit dem ersten der beginnt mit einer großen Aufregung in Gesellschaft für christlich-jüdische Zu- systematisch durchgeführten Transporte einem Dorf, als Kinder am Flussufer eine sammenarbeit in Würzburg widmet Ma- von Würzburg nach Riga-Jungfernhof ge- tote junge Frau finden, die offenbar mit rianne Rein einen Beitrag auf ihrer Web- bracht und dort ermordet. ihrer Schwangerschaft nicht klargekom- seite. Rosa Grimm hat in bewunderns- Für die kurze Zeitspanne von nur weni- men ist und Suizid begangen hat. Joskel, werter Recherchearbeit in Zeitschriften gen Jahren, in denen Marianne Rein der erst kurz im Ort wohnt, hilft sie zu und Briefen Jakob Picards Texte von Mari- schreiben und veröffentlichen konnte, ist bergen. Ein Vogel, den er aus den Haaren anne Rein gesammelt, herausgegeben und ihr literarisches Œuvre beachtlich. Sehr der Toten rettet, wo er sich verfangen sich damit um das Erbe und die Rezeption gekonnt verwendet sie zur Unterstützung hatte, wird ihm zum zukunftsweisenden der Schriftstellerin äußerst verdient ge- und Akzentuierung ihrer Aussageabsich- Symbol. Denn als er sich erneut, und macht. Einige Texte wurden auch vertont. ten und Stimmungslagen traditionelle diesmal alleine, zum Fundort der Leiche lyrische Formen, rhetorische Mittel sowie und zurück nach Hause begibt, verändert Yehuda Amichai 1924–2000 eine reiche Metaphorik. Die Themen ih- rer Lyrik lassen deutlich ihre Naturver- Ludwig Pfeuffer wird am 3. Mai 1924 als bundenheit erkennen, ohne jedoch „nur“ Sohn von Friedrich Moritz Pfeuffer und Naturgedichte zu sein. seiner Ehefrau Frieda, geb. Wahlhaus, in Sie schreibt über Räume, Vegetation und eine jüdisch-orthodoxe Kaufmannsfamilie Wetter, über Tiere, Jahres- und Tageszei- in Würzburg hinein geboren. Als Yehuda ten und nutzt dabei die Möglichkeit, Amichai stirbt er am 22. September 2000 Motive als Symbole einzusetzen und als in Jerusalem. Dazwischen liegt ein beweg- genuin lyrisches Sprechen wirken zu las- tes Leben. Sieht es zunächst nach glück- sen, das einen Leser oder Hörer zu eige- licher Kindheit aus, wenn er in Würzburg nen Gedanken und Sinnbezügen anregt. die jüdische Schule besucht und Hebräisch Daneben greift die Autorin auch Figuren lernt, so ändert sich dies, als er 12 Jahre und Ereignisse aus Geschichte und Mytho- alt ist. Die Eltern erkennen die Gefahr des logie auf und befasst sich nicht unkritisch nationalsozialistischen Deutschlands und mit ihrer jüdischen Religion. Wenn einige fliehen nach Palästina. Als Erwachsener ihrer Gedichte über Vergänglichkeit und nimmt er in der jüdischen Brigade der Tod in der Natur und beim Menschen britischen Armee am Zweiten Weltkrieg Traurigkeit vermitteln, so werden sie doch sowie an den weiteren bewaffneten israe- auch von tröstlichen, hoffnungsvollen und lisch-arabischen Auseinandersetzungen optimistisch klingenden Versen abgelöst. der Folgezeit teil. Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022 7
Er studiert hebräische Literatur und Bi- in die deutsche Stadt seiner Herkunft, belwissenschaft, arbeitet als Lehrer und „Weinburg“ genannt. Mit diesem Gestal- Hochschullehrer und avanciert zu einem tungsprinzip werden Gegenwart, Vergan- äußerst gefragten Schriftsteller interna- genheit, Wirklichkeit, Imagination und tionaler Reputation. Die Familie ändert Traum miteinander verbunden und der nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Namen Leser aufgefordert, immer wieder und in Amichai, er selbst nennt sich Yehuda immer neu Sinnbezüge zwischen Figuren, und sagt damit: „Mein Volk lebt“. Israel Umgebungen und Gesellschaften in Israel würdigt ihn mit der höchsten Literatur- und der Bundesrepublik Deutschland der auszeichnung des Landes. Weitere natio- späten 1950er Jahre herzustellen. nale und internationale Ehrungen folgen. Das Buch ist autobiographisch, wobei es Würzburg verleiht ihm 1981 den Kultur- sich Yehuda Amichai nicht nehmen lässt, preis der Stadt, nennt im Jahr 2005 einen das historisch verbürgte Geschehen mit Straßenabschnitt nach ihm und widmet Details zu ergänzen, die sich sachlich und ihm im Jahr 2018 eine Veranstaltung in logisch einfügen, auch wenn sie Wirklich- der Reihe „Würzburg liest ein Buch“. Auch keit und Imagination in der Schwebe hal- das Johanna-Stahl-Zentrum organisiert ten. Beispielsweise ist die Geschichte der 2018 und 2019 Lesungen. Amichais litera- „Kleinen Ruth“ – ihr Schicksal zu rächen risches Schaffen umfasst verschiedene scheint Motivation für die Reise des Er- Genres, insbesondere Gedichte, und einen zählers zu sein – nicht etwa (nur) ein tra- Roman. Er schreibt in neuhebräischer gischer Unfall, sondern wird durch die Sprache, die gerade durch sein Werk einen absichtsvolle Boshaftigkeit eines Nazi- entscheidenden Entwicklungsimpuls be- Jungen verursacht. Erschütternd ist die kommt. Suche des Erzählers nach Ruths Holzbein. tation der jüdischen Bürger ist ein geöff- Als er auf den amerikanischen Offizier So viele Grabsteine neter Koffer mit einem Textausschnitt aus trifft, der für das Bombardement der Stadt liegen über die Vergangenheit Amichais Gedicht „Kleine Ruth“. Mehrere in der Endphase des Zweiten Weltkrieges meines Lebens verstreut lyrische Texte sind der Freundin gewid- verantwortlich war und nun einen Film met. In einem Fall bezieht sich Amichai dreht, begegnen sich beide in ihren Rache- Jehuda Amichai, übersetzt von Amadé H. Esper auf ein Foto der Kinder Ruth und Ludwig gefühlen gegen Nazi-Deutschland. vor der Emigration der Familie Pfeuffer. Formal wie inhaltlich ist seine Lyrik sehr Auf einen Leser, der das Bild kennt und um Die Gesellschaft für christlich-jüdische Zu- vielfältig. Auf den ersten Blick mag der das Schicksal der Personen weiß, verfehlt sammenarbeit in Würzburg ist den Schrift- Leser kaum traditionelle Reimformen oder der Text seine emotionale Wirkung nicht. stellern sehr verbunden und gibt gerne Strophenarrangements erkennen. Doch Ästhetisch interessant ist Amichais Ro- weitere Hinweise. Auf der Webseite www. bei genauerem Hinsehen sind sehr wohl man „Nicht von jetzt, nicht von hier“, in- christlich-juedische-wuerzburg.de steht auch bestimmte poetische Verfahren zu entde- sofern als er aus zwei Handlungs- und ein Vortrag unserer Autorin Professor Ina cken, die behutsam und gekonnt einge- Ereignissträngen besteht, die zwei ver- Karg über Marianne Rein. setzt, für den Leser Impulse sind, selbst schiedene Orte mit jeweils unterschied- Verbindungen herzustellen und gedank- licher Erzählperspektive thematisieren. Literaturauswahl liche und emotionale Wirkungen zuzu- Von Joel in Jerusalem wird in der dritten lassen. Nicht wenige Gedichte handeln Person erzählt, und ein Ich-Erzähler Max Mohr: Die Freundschaft von Ladiz, von Kriegserfahrungen. Aber auch Jeru- nimmt uns mit auf eine imaginierte Reise Roman aus den Bergen, Deutsche Buch- salem, die Eltern und frühere Generatio- Gemeinschaft, Berlin 1931. nen, der jüdische Glaube und die jüdische Max Mohr: Frau ohne Reue, Roman, Geschichte sowie menschliche Beziehun- Weidle Verlag, Bonn 2020. gen werden thematisiert. Max Mohr: Es sei denn regenbogenwärts, An vielen Stellen sind offen oder verhalten Gedichte, herausgegeben und kommen- Tora, Sprüche, Psalmen, Gebete und jüdi- tiert von Hans D. Amadé Esperer, Spur- sches Brauchtum in die Texte eingefloch- buchverlag, Baunach 2020. ten. Der Holocaust ist in Andeutungen prä- Max Mohr: Venus in den Fischen, Ro- sent („die 6 Millionen“). Erwähnenswert man, Weidle Verlag, Bonn 1993. ist auch ein fiktiver Dialog zwischen zwei Marianne Dora Rein: Das Werk, 2 Bän- Würzburger Bürgern, die die Emigration de, herausgegeben von Rosa Grimm, der Familie Pfeuffer bagatellisieren. Bio- Ergon Verlag, Würzburg 2011. grafisch wie literarisch bedeutsam für den Jehuda Amichai: Zwischen Würzburg Autor ist die „Kleine Ruth“, Tochter des und Jerusalem, Texte, herausgegeben ehemaligen Würzburger Rabbiners Hano- und übersetzt von Hans D. Amadé Es- ver. Durch einen Unfall verlor sie ein Bein, perer. Echter Verlag, Würzburg 2018. bekam eine Prothese aus Holz, und anders Jehuda Amichai: Offen Verschlossen Of- als Yehuda ist Ruth dem Holocaust nicht fen, Gedichte, aus dem Hebräischen entkommen. übersetzt von Anne Birkenhauer, Jüdi- Doch in der Erinnerung begleitet sie ihn scher Verlag/Suhrkamp, Berlin 2020. stets und wird stellvertretend für alle Opfer zur Symbolfigur. Ein Element des Jehuda Amichai: Nicht von jetzt, nicht am Bahnhof in Würzburg am 17. Juni von hier, Roman, Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg 2017. 2020 eröffneten Mahnmals für die Depor- 8 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022
Neues Brenner-Projekt Bayerische Akademie der Wissenschaften und jüdisches Leben MÜNCHEN. Zum Thema „Jüdisches Le- auch daran sehe man, dass die unter- Schließlich war es auch das Bayern der ben in Bayern. Ein Generationendialog“ schiedlichen Generationen weit mehr ver- amerikanischen Besatzungszone, wo sich diskutierten Anfang Februar an der Baye- binde als trenne. Die Politik ermahnte die die größte Zahl der jüdischen Überleben- rischen Akademie der Wissenschaften Präsidentin der Jüdischen Gemeinde den der Shoa in den sogenannten DP- (BAdW) jüdische Vertreter aus unter- München, dass diese noch aktiver und Camps sammelten und auf ihre Ausreise- schiedlichen Generationen. Die Veranstal- vehementer gegen Antisemitismus vor- möglichkeit nach Palästina, die USA oder tung war der Auftakt des von LMU-Profes- gehen müsse, damit jüdisches Leben in Australien warteten. sor Michael Brenner geleiteten Projektes Zukunft in Deutschland sicherer würde. Aber auch schon im 19. Jahrhundert ha- „Judentum in Bayern in Geschichte und ben sich zahlreiche bayerische Juden über Gegenwart“, das im Rahmen einer Ad- Jüdisches Leben in Bayern die Grenzen des Freistaats hinaus einen hoc-Arbeitsgruppe an der Akademie in sichtbar machen Namen gemacht. So waren es Levi Strauss, München bereits im letzten Jahr startete. der mit seiner Erfindung der Levi’s Jeans Nach der Begrüßung durch den Akade- Gerade der Facettenreichtum jüdischen in Amerika den bis heute ungebrochenen mie-Präsidenten Thomas O. Höllmann und Lebens, der im Podium zum Ausdruck Modetrend erfand, oder die Münchner den Grußworten von Josef Schuster und kam, soll auch im Rahmen des interdis- Bierbrauer-Familie Schülein, deren Mün- Ludwig Spaenle diskutierte Ilanit Spinner ziplinären Projektes im Fokus stehen. Wie chener Brauerei Unionsbrauerei Schülein vom Bayerischen Rundfunk mit Michael Michael Brenner am Abend, aber auch in & Cie. später in dem berühmten Unterneh- Brenner, Charlotte Knobloch, Lena Pry- einer Vielzahl seiner Publikationen zum men Löwenbräu aufging. Nach der Flucht tula, Vorsitzende der Jüdischen Studie- Thema vermittelte, kam mit Blick auf die Hermann Schüleins nach Amerika vor den rendenunion, und der Schriftstellerin jüdische Geschichte Bayern häufiger eine Nationalsozialisten arbeitete dieser für Lena Gorelik. Die einleitende Frage „Was besondere Rolle zu: Ende des 19. Jahr- das New Yorker Brauunternehmen Lieb- bedeutet Judentum für Sie?“ griff nicht hunderts war es Theodor Herzl, der den mann, welches bereits Mitte des 19. Jahr- nur gleich die Vielfalt jüdischer Identitä- ersten Zionistenkongress ursprünglich hunderts von der aus dem württembergi- ten auf, sondern in den Antworten kamen nicht in Basel, sondern in München ab- schen Aufhausen stammenden jüdischen vier unterschiedliche Generationen zum halten wollte. Am Ende war es der Wider- Familie begründet wurde. Ausdruck: „Religion, Tradition, Gemein- stand der jüdischen Gemeinde der Stadt, Aber auch bis in die Gegenwart sind diese schaft, Stolz, Lehre, Studium, Lebens- innerhalb welcher sich die wenigsten für historischen Bezüge bayerischen jüdi- freude, Pluralität …“ all das stehe für die zionistische Idee begeisterten, da sie schen Lebens sichtbar: Der Vater der aktu- jüdisches Leben, so das Podium. Lena ihre Zukunft in der geliebten bayerischen ellen US-Amerikanischen Botschafterin in Gorelik verwies darauf, dass es doch ge- Heimat und nicht in Palästina sahen. Berlin, Amy Gutmann, entstammte dem rade diese Vielschichtigkeit sei, die das 1918 rief Kurt Eisner den Bayerischen fränkischen Feuchtwangen. Gerade die Judentum ausmache. Freistaat aus und wurde damit bis zu sei- bisher unbekannteren Aspekte der jüdi- Die an die jüngste Podiumsteilnehmerin ner Ermordung der erste jüdische Minis- schen Geschichte und Gegenwart Bayerns Lena Prytula gerichtete Frage nach den terpräsident der deutschen Geschichte. soll das Forschungsprojekt hervorheben, Werten und Themen, die für ihre jüngere Zu den tragischen Kapiteln zählt die Rolle, so Brenner. Um dabei eine möglichst weite Generation der jüdischen Gemeinschaft die gerade Bayern beim Aufstieg der Na- Perspektive zu schaffen, ist das Vorhaben im Vordergrund stehen, beantwortete sie tionalsozialistischen Bewegung spielte. in zwei Teilprojekte gegliedert: mit der großen Motivation, mit der sie sich mit vielen anderen jungen Menschen für die Schaffung einer von Normalität geprägten Gegenwart und Zukunft jüdi- schen Lebens in Deutschland einsetze. Gerade über Themen, die eine Vielzahl von jungen Menschen ansprächen, wie etwa Nachhaltigkeit oder „Fridays for Future“, könne man in Schulen und Uni- versitäten auch zeigen, dass Juden nor- male Mitglieder der Gesellschaft sind, wie alle anderen auch. Das sei es, was sich Juden aller Generationen in Deutschland wünschten: Normalität, so Prytula. Ereignisse wie in Halle oder Hanau seien es, die dann immer wieder Existenzangst auslösten. Aber auch gegen Antisemitis- mus setzt sich Lena Prytula ein. Gerade in ihrer Rolle als angehende Lehrerin wünscht sie sich jedoch bei der Ausbil- dung von Pädagogen deutlich mehr Raum für Themen wie Ausgrenzung, Antisemi- tismus und Rassismus. Besonders Char- lotte Knobloch zeigte sich erfreut darüber, Podiumsdiskussion in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften mit (von links) Lena wie die jüngere jüdische Generation sich Prytula, Ilanit Spinner (BR), Lena Gorelik, Michael Brenner und Charlotte Knobloch. mit Elan für die Gesellschaft einsetze, Foto: BAdW/ Kai Neunert Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022 9
Im Rahmen des ersten Teilprojekts „Spu- nimmt die jüngere Vergangenheit und ten Wissenschaftlern, sollen über die drei- rensuche – Das Landjudentum im vor- Gegenwart in den Fokus. Hier werden vor jährige Laufzeit des Projekts nicht nur industriellen Bayern“ stehen vor allem allem die Entwicklungen seit Begrün- eine Reihe an Veranstaltungen und Publi- Überreste frühneuzeitlichen jüdischen dung des Landesverbands der Israeliti- kationen entstehen, sondern gemeinsam Lebens in Bayern im Fokus. Diese sollen schen Kultusgemeinden und der 13 baye- mit dem Bayerischen Rundfunk auch Pod- über die Methoden der Bauforschung und rischen Jüdischen Gemeinden beleuchtet, casts und eine virtuelle Karte, die sich an Archäologie bisher weniger bekannte Orte aber auch Themen wie der Antisemitis- eine breite Öffentlichkeit richten und das jüdischen Lebens als Erinnerungsorte mus der Nachkriegsjahre werden syste- jüdische Leben in Bayern dadurch in sei- kenntlich und einer breiten Öffentlichkeit matisch untersucht. ner Vielfalt sichtbar machen sollen. bekannt machen. Unter der Mitarbeit von Bernd Päffgen Einzelheiten zum Projekt und ein Video Das zweite Teilprojekt „Neuanfang – Jüdi- (Extra-Ordinarius für Vor- und Frühge- der Podiumsdiskussion: https://judentum- sches Leben in Bayern von 1945 bis heute“ schichte, LMU) und weiteren renommier- in-bayern.badw.de Julia Schneidawind Grußwort des Zentralratspräsidenten Dr. Josef Schuster am 10. Februar 2022 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zur Veranstaltung „Jüdisches Leben in Bayern. Ein Generationendialog“ Vor genau zwei Wochen wurde der Inter- verordnen“ lässt. Sie sagte – ich zitiere: der modernen Medien bedienen: Podcasts, nationale Holocaust-Gedenktag began- „Unsere von vielen geachtete Gedenkkul- Videos und interaktive Karten sind geplant. gen. Ich war zu Gast bei der Gedenkstun- tur bleibt nur lebendig, wenn wir immer Warum erwähne ich das so ausführlich? de im Bundestag, wo Inge Auerbacher, wieder von Neuem Fragen an die Ge- Ich glaube, dass wir uns in einer Umbruch- die als Kind das KZ Theresienstadt über- schichte stellen und nach Antworten situation befinden, was die Wissensver- lebt hat, eine bewegende Rede hielt. Sie, suchen. Das gilt gerade für junge Men- mittlung angeht. Schon heute 35-Jährige sehr geehrte Frau Knobloch, hatten im schen. Es bedeutet auch, andere Blick- sind selbstverständlich mit dem Internet Jahr zuvor ebenfalls sehr beeindruckend winkel zuzulassen (…).“ aufgewachsen und beziehen daraus ihre in der Gedenkstunde gesprochen. In dieser Debatte rücken immer stärker Informationen. Für noch Jüngere ist es Es sind nicht mehr viele Shoa-Überleben- die modernen Medien in den Fokus: Ge- normal, dass alle Informationen nicht nur de unter uns, die rüstig genug sind für denkstätten präsentieren sich jetzt in jederzeit, sondern an jedem Ort abrufbar solche Auftritte. So ist es für jeden ein Kurz-Videos auf TikTok, die Gedenkstätte sind. Kanäle wie Instagram oder TikTok wertvolles Geschenk, der einem Shoa- Dachau – um ein weiteres Beispiel zu haben für sie eine größere Bedeutung als Überlebenden zuhören darf. nennen – bot im vergangenen Jahr ins- das Fernsehen. Von Zeitungen oder Bü- Zugleich begleitet uns mit zunehmender gesamt 31 Facebook-Live-Rundgänge an. chern will ich gar nicht mehr sprechen. Intensität die Frage, wie wir trotz wach- Die Arolsen-Archive haben vor zwei Jah- Bildungsinstitutionen stehen damit heut- sendem zeitlichen Abstands die Erinne- ren das Projekt „Every name counts“, also zutage vor einer großen Herausforderung: rung aufrechterhalten können, wie wir „Jeder Name zählt“ gestartet. Dabei kann Sie sollen fundiertes Wissen vermitteln, Wissen über die Shoa vermitteln, mit wel- sich jeder daran beteiligen, die Daten von was sich nicht unbedingt auf TikTok fin- chen Mitteln. Shoa-Opfern zu digitalisieren. Und ich det, aber zugleich stehen sie sozusagen in Die neue Bundestagspräsidentin Bärbel könnte viele Beispiele hinzufügen. Konkurrenz zu all den sozialen Netzwer- Bas hat in ihrer Rede in der Gedenkstunde Und auch die neue Ad-hoc-Arbeitsgruppe ken. am 27. Januar darauf hingewiesen, dass der Bayerischen Akademie der Wissen- Wenn es um die Vermittlung von Wissen sich Erinnerungskultur „nicht von oben schaften zu Judentum in Bayern wird sich über das Judentum geht, kommt ein zwei- ter Spagat hinzu: Die richtige Balance zwi- schen Erinnerung und Gegenwart. Junge Juden haben dieses Jahr anlässlich des Holocaust-Gedenktages zu Recht die Frage aufgeworfen, was eigentlich an allen anderen Tagen geschehe. Reduziert sich das Interesse der allgemeinen Be- völkerung am Judentum auf einen Tag? Vielleicht noch ein zweites Mal, am 9. No- vember? Das ist sicherlich überspitzt, doch manch- mal ist Provokation gut, um Debatten an- zuregen. Denn für unser Zusammenleben, für den Zusammenhalt unserer Gesell- schaft, ja, ich wage zu behaupten, für unsere Demokratie ist es von essenziel- ler Bedeutung, dass sich die Mehrheits- bevölkerung sowohl der Tatsache bewusst ist, dass auch heute Juden in Deutschland leben, als auch, dass wir Juden Bestand- teil dieser Gesellschaft sind. Unsere Gesellschaft muss wegkommen von dieser Teilung „Juden und Deutsche“, Dr. Josef Schuster © BAdW/Kai Neunert wegkommen vom „Wir“ und „die“! Daher 10 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022
war und ist das jetzt verlängerte Festjahr tion und Kultur zur deutsch-jüdischen manchen Fällen überhaupt erst zu schaffen. „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutsch- Geschichte, mit ihren Blütezeiten und ih- Ein besseres Verständnis für das Judentum land“ wirklich ein Gewinn. ren Abgründen. in Deutschland, im besten Fall einen Ab- Und daher begrüße ich ganz ausdrück- Im Zentralrat der Juden haben wir längst bau von Antisemitismus erreichen wir nicht lich die neue Ad-hoc-Arbeitsgruppe der den Schwerpunkt unserer Arbeit verlagert durch eine Abkehr von unserer Erinne- Akademie, die den weiten Bogen der jüdi- auf die Stärkung der heute existierenden rungskultur. Wir erreichen das aber eben- schen Geschichte in Bayern bis zur Ge- Gemeinden, den Dialog mit anderen Grup- so wenig, wenn Juden nur als Opfer wahr- genwart spannt, sowie den heutigen pen und auf die Schulen. genommen werden. Zuerst den Menschen Abend, der mehrere Generationen zu- So wichtig das Shoa-Gedenken ist – ich zu sehen und erst danach die Konfession sammenbringt. möchte hier nicht missverstanden werden oder Herkunft – das muss die Haltung in Denn das kommt in den Schulen leider – so wichtig ist es auch, die Verbindungen unserem Land sein. In diesem Sinne freue häufig zu kurz: Eine Brücke zu schlagen zwischen Mehrheitsgesellschaft und jüdi- ich mich sehr auf den Output der Arbeits- zwischen der jüdischen Religion, Tradi- scher Gemeinschaft zu stärken oder in gruppe und wünsche ihr viel Erfolg! Buber-Rosenzweig-Medaille OSNABRÜCK. Mit einem Festakt wurde Beide Preisträger setzen sich seit vielen 1952 veranstaltet der Deutsche Koordi- am 6. März in Osnabrück die Woche Jahren ebenso engagiert wie entschlos- nierungsrat (DKR) der Gesellschaften für der Brüderlichkeit 2022 eröffnet, die sen gegen Antisemitismus und Rassismus Christlich-Jüdische Zusammenarbeit im unter dem Motto des diesjährigen ein und nutzen den Sport zum Brücken- März eines jeden Jahres die Woche der Jahresthemas „Fair Play – jeder Mensch bauen zwischen Menschen unterschied- Brüderlichkeit. Überall werden aus diesem zählt“ steht. Höhepunkt der Eröffnungs- licher Herkunft und Religion. Die Lauda- Anlass Veranstaltungen durchgeführt, feier war die Verleihung der Buber- tio hielt die Journalistin Esther Schapira, um auf die Zielsetzung der Gesellschaf- Rosenzweig-Medaille an Peter Fischer, selbst Preisträgerin der Buber-Rosenzweig- ten und auf ihr jeweiliges Jahresthema Präsident von Eintracht Frankfurt, so- Medaille 2007. Pandemiebedingt fand die hinzuweisen. wie MAKKABI Deutschland e.V., vertre- Feier erneut in kleinem Rahmen statt, Wir dokumentieren nachfolgend die Lau- ten durch deren Präsident Alon Meyer. wurde aber live vom ZDF gestreamt. Seit datio von Esther Schapira. bere. Laudatio von Esther Schapira anlässlich der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille 2022 in Osnabrück Eine Preisverleihung ist ein freudiges Er- ser Stelle: auch ich gehöre inzwischen unmittelbar nach dem Krieg die Neu- eignis. Eigentlich. Aber jede Freude bleibt deshalb dazu und eben nicht nur, weil ich gründung des Vereins beantragte. Ein derzeit im Hals stecken angesichts der seit Jahrzehnten den Adlern die Daumen solcher Verein kann keinen Ehrenpräsi- schrecklichen Bilder aus der Ukraine. Im drücke, den „Juddebube“ vom Main, wie denten Rudolf Gramlich haben, der Mit- Vergleich zum Krieg wird plötzlich alles Eintracht Frankfurt in den 30er Jahren glied der NSDAP und der Waffen-SS war. nebensächlich. Auch die „wichtigste Ne- genannt wurde. Peter Fischer hat diesen Skandal beendet bensache“ der Welt, der Sport im All- Juden spielten von Anfang an eine ent- und so dafür gesorgt, dass der Shoa- gemeinen, der Fußball im Besonderen. scheidende Rolle in der Vereinsgeschichte. Überlebende Helmut „Sonny“ Sonneberg Der russische Angriffskrieg auf den de- Und so war es auch der Jude und KZ- sich in seiner Eintracht-Familie wieder mokratischen Nachbarn Ukraine zwingt Überlebende Emanuel Rothschild, der zuhause fühlen kann. selbst FIFA und IOC anzuerkennen, was Für den heutigen Präsidenten Peter Fischer sie sonst gern leugnen: Der Sport ist im- sind die jüdischen Wurzeln seiner Ein- mer auch Politik. Die Legende vom un- tracht ein Handlungsauftrag. Er hat aus politischen Sport, wie ein Mantra vom der Mitgliedschaft bei seinem Verein ein deutschen IOC-Präsidenten Thomas Bach politisches Statement gemacht. Das gleiche gerade erst wieder bei der Olympiade in gilt für die Mitglieder des Sportvereins China vorgetragen, sie hat nie gestimmt. Makkabi. Unter der Leitung seines Präsi- Wer Diktatoren als bunte Propaganda- denten Alon Meyer ist aus Makkabi sehr Kulisse dient, macht sich mitschuldig. Und viel mehr geworden als der kleine jüdi- wer eine Stimme hat, die gehört wird, und sche Sportverein, in dem ich als Jugend- schweigt, ebenfalls. Für diese Einmischung liche Tischtennis gespielt habe. stehen die Preisträger der Buber-Rosen- Rund zweieinhalbtausend Mitglieder hat zweig-Medaille 2022. Makkabi inzwischen und jede und jeder Mit 99 Prozent haben die Mitglieder von einzelne von ihnen weiß, dass es gefähr- Eintracht Frankfurt ihren Präsidenten lich werden kann, sich mit dem T-Shirt Peter Fischer wiedergewählt, weil er seine ihres Vereins zu zeigen, weil darauf der Stimme undiplomatisch und unüberhör- Davidstern und hebräische Schriftzeichen bar erhoben hat gegen Rassismus, gegen zu lesen sind. Und trotzdem bekennen sie Homophobie und gegen Antisemitismus sich zu Makkabi und sehr viele nicht nur und für Weltoffenheit und Toleranz. trotzdem, sondern deswegen. Das ist auch Für seine klare Haltung erhielt Peter deshalb bemerkenswert und ermutigend, Fischer Drohungen und Hass – aber auch weil dreiviertel der Mitglieder nicht jü- viel Zuspruch und rund 17.000 neue Ver- Die Laudatorin Esther Schapira, Journalis- disch sind, unter ihnen viele Christen und einsmitglieder. Und ich oute mich an die- tin und frühere Preisträgerin. Muslime. 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Dass es Mut braucht, den Davidstern in Wer dopt, wird disqualifiziert. Doch als Deutschland offen zu zeigen und dass der der Iran jetzt nach der Olympiade in Tokio jüdische Sportverein immer wieder Poli- alle Länder erneut aufrief, es ihm gleich- zeischutz braucht – das ist ein Skandal, zutun und nicht gegen israelische Sport- den die Preisträger nicht tatenlos hinneh- ler anzutreten, löste das kaum Reaktio- men. Das ist die Grundlage ihrer Freund- nen aus. Judenhass aber ist wie poli- schaft und ihrer gemeinsamen Arbeit, für tisches Doping, nein schlimmer, weil so die Peter Fischer und Makkabi Deutsch- offen und so folgenlos. land mit dem Präsidenten Alon Meyer Sport verbindet, heißt es aus den VIP-Eta- heute ausgezeichnet werden. gen der Sportfunktionäre immer, und ge- Beide kenne ich persönlich. Und ich freue nau deshalb dürfe er sich nicht verein- mich auch als Trägerin der Buber-Rosen- nahmen lassen. Und doch tut er es jedes zweig Medaille – gemeinsam mit Georg Mal wieder. Die Olympiade in China, die M. Hafner – darüber, diese Laudatio halten Fußballweltmeisterschaft in Katar – zwei zu dürfen. Auszeichnungen nämlich ma- sportliche Großereignisse in Ländern, die chen sich nicht nur gut im Lebenslauf, son- Menschenrechte mit Füßen treten, zwei dern sie sind eine Bestärkung und eine beschämende Beispiele allein in diesem Verpflichtung. Diese ganz besonders. Jahr für die korrupte Kumpanei zwischen 1968 wurde die Buber-Rosenzweig-Me- Politik und Sport. daille zum ersten Mal verliehen. 54 Jahre Sport aber kann tatsächlich verbinden, später ist der Kampf gegen Antisemitis- Rabbiner Andreas Nachama eröffnete die nämlich die Demokraten weltweit, Men- mus und für Toleranz und Verständigung Woche der Brüderlichkeit 2022. schen, die sich solidarisch für die Freiheit noch genau so wichtig und noch immer und die Achtung der Menschenwürde zäh und mühsam. Wer ihn führt, braucht Diese zynische Täter/Opfer-Umkehr ist einsetzen – ohne Ausgrenzung wegen einen langen Atem, eine hohe Frustra- übrigens für den jüdischen Staat eine Religion, Hautfarbe, Geschlecht, Natio- tionstoleranz – und zuweilen eben auch ständige Erfahrung auf allen Ebenen. nalität. Ermutigung. Deshalb ist diese Medaille Auch im Sport. Erstmals beziehen nun also auch die gro- so wichtig. Gestatten Sie mir an dieser Stelle einen ßen Sportverbände klar Position. Denn: Liebe Preisträger, ich bin sicher, auch Sie kurzen Blick fünfzig Jahre zurück. Der 24. Februar 2022 hat die Welt verän- kennen diese Situation, in denen Ihnen Peter Fischer war gerade 16 Jahre alt. dert und damit auch die Sportwelt. Sie ist die verzweifelte Frage durch den Kopf Alon Meyer noch nicht geboren: 1972. nicht mehr heil. Nichts ist mehr heil und schießt, ob dieser Kampf sich überhaupt Erstmals durften die Olympischen Spiele jede Katastrophe ist denkbar. Die „Frie- lohnt angesichts der Zunahme der Roh- wieder nach Deutschland. Doch die Olym- densdividende“ ist aufgebraucht noch be- heit, der Dummheit, des Hasses. Im Netz, piade in München endete in einer Kata- vor die letzten Überlebenden des zweiten auf der Straße und auch auf dem Fußball- strophe – einem palästinensischen Terror- Weltkrieges gestorben sind. feld. anschlag auf die israelische Olympia- Peter Fischer wurde nur ein Jahrzehnt Eben überall in der Gesellschaft. Und das mannschaft mitten in Deutschland mit danach geboren. Die Erinnerung an die leider weltweit. 17 Toten. Jahrzehntelang kämpften die Gräuel des Krieges waren in seiner Kind- Selbst ein Krieg, wie wir ihn gerade mit- Angehörigen der Opfer darum, dass die heit noch frisch und spürbar, auch wenn ten in Europa erleben, ist wieder möglich, olympische Welt ihrer Liebsten wenig- so viele Deutsche lieber von der „Stunde weil die Lüge zur Wahrheit erklärt wird. stens einen kurzen Moment lang geden- Null“ faselten. Der jüdische Präsident der Ukraine wird ken möge. Alon Meyer ist fast zwanzig Jahre jünger, vom russischen Präsidenten als „Nazi“ „Fair Play – Jeder Mensch zählt!“ Fair aber in jüdischen Familien gilt eine ande- angegriffen. Play? re Zeitrechnung. Der Kampf ums Weiter- leben nach dem Überleben überdauert die Generationen. Beiden ist das Engage- ment gegen Antisemitismus eine persön- liche Verpflichtung, die aus der eigenen Lebensgeschichte folgt. Beide wissen, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist, sondern täglich neu erkämpft werden muss und dass es dabei auf jede Stimme ankommt und jede Gelegenheit. Makkabi Deutschland und Peter Fischer nutzen die Möglichkeiten, die der Sport bietet, um vor allem junge Menschen von gesellschaftlichem Fair Play zu überzeu- gen. Aufstehen, reden, sich einmischen – mehr können wir nicht tun. Weniger dür- fen wir nicht tun. Und wenn diese Momente kommen, in denen die Kraft schwindet und die Zuver- sicht, dass Worte sich noch lohnen – dann schauen Sie in Zukunft einfach auf Ihre Buber-Rosenzweig-Medaille. Ja, es lohnt sich! Bitte erheben Sie Ihre Stimme unver- Die Preisträger Peter Fischer und Alon Meyer. Fotos (3) Jacqueline Wardeski drossen weiter. 12 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 147/2022
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