Jubiläumsmagazin der Universität Hamburg
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Jubiläumsmagazin der Universität Hamburg Uni Ist Hamburg Das Hauptgebäude der Universität Hamburg steht bereits seit 1911 im Herzen der Stadt. Von Beginn an werden hier Vorlesungen gehal- ten – früher wie heute im Rahmen des Allgemei- nen Vorlesungswesens auch für interessierte Bürgerinnen und Bürger. Das Motto: Der Forschung, der Lehre, der Bildung 1 0 0 Hamburg ist Uni Im Januar schmückte einen Abend lang eine große Gratulation zum Geburtstag der Universi- tät das Hamburger Rathaus. Die Gründung war 1919 hier entschieden worden. Auch sechs weitere Wahrzeichen Hamburgs gratulierten, unter anderem die Hauptkirche St. Michaelis und die Elbphilharmonie.
6 INHALT LIEBE LESERINNEN, Die Abstimmung über diesen Antrag fiel positiv aus, am 28. März 1919 stand fest, LIEBE LESER, dass Hamburg eine Universität bekommt und zwar eine, die in gewisser Weise von seit elf Ausgaben trägt dieses, unser Anfang an einer Stadt gehört und diese Hochschulmagazin eigentlich einen Stadt an ihrem Wissen teilhaben lässt. dezent anderen Namen: 19NEUNZEHN, Bis heute. Und auch unter Mithilfe unse- eine Referenz auf das Gründungsjahr der res Hochschulmagazins: 20NEUNZEHN Universität Hamburg. Es ist ein beson- nun also! deres Jahr für Deutschland. Ein Jahr, in dem die Fundamente der modernen In dieser ganz besonderen Ausgabe Demokratie gelegt und gleich darauf fünf finden Sie bestimmt hundert Mal die wichtige Hamburger Bildungsinstitutio- 100. Sie finden Blicke zurück und Blicke nen gegründet wurden. nach vorn, in dem kleinen Moment dazwischen ist dieses Magazin entstan- Mit ihren 100 Jahren gehört diese den. Sie finden hunderte Mitglieder der Universität zu den jüngeren. Und doch Universität, hunderte Geschichten, viel ist sie eine Besonderheit, denn sie wurde Wissenschaft und einen Dreiklang an gegründet durch die Entscheidung eines Rubriken, der schon vor hundert Jahren Parlaments und nicht, wie die sehr viel über dem Eingang des Hauptgebäudes in älteren Universitäten, auf der Basis einer Stein gemeißelt war: Der Forschung. Der „einsamen“ Entscheidung eines Fürsten. Lehre. Der Bildung. Vor genau 100 Jahren forderte der wenige Tage zuvor gewählte Schulsenator Emil Ich wünsche Ihnen eine unterhaltsame, Kruse in einer Sitzung der Bürgerschaft: vielleicht auch eine nachdenkliche Lek- türe und freue mich, wenn Sie unserem „Wir müssen alles […] zusammenraffen, Campusmagazin auch in den nächsten um uns Achtung und Sympathie im Aus- 100 Jahren treu bleiben. lande zu verschaffen […] und ich denke, dazu soll uns eine gute, freie Hamburger Hochschule dienen […] die eine Organisa- Ihr tion bekommt von freiester Verfassung. Frei soll die Lehre sein und frei das Ler- Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Lenzen nen, würdig dem freien Staat Hamburg.“ Präsident der Universität Hamburg
7 08 Kurz gefeiert Highlights aus dem Jubiläumsjahr 46 100 JAHRE LEHRE 10 48 Muff & Mythos: Die Geschichte des Talars 100 JAHRE 50 Ein Blick zurück: Studentisches Leben im Wandel UNIVERSITÄT 56 40 Jahre später: Ein Familiengespräch über das Studieren mit Kind 12 Ein Jahrhundert des Fortschritts: 57 Das Tor zur Welt: Die Universität Hamburg Besondere Leistungen an der Universität ist international vernetzt 18 Showdown in der Bürgerschaft: Krimi 60 Lehre lieber ungewöhnlich: einer Universitätsgründung Die Zukunft des Studierens 20 Frauen an der Universität Hamburg 63 Menschen hinter den Kulissen der 23 Menschen hinter den Kulissen der Universität: Teil 3 Universität: Teil 1 24 Gestern nicht vergessen: 64 Gedenken an der Universität 26 „Lehre lebt vom Diskurs“: Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Lenzen im Interview 100 JAHRE BILDUNG 28 66 Ein Leben voller Universität: 100 JAHRE 69 Wissensangebote für jedes Alter Menschen hinter den Kulissen der FORSCHUNG Universität: Teil 4 70 Kultur für alle: Universitätsmitglieder 30 Forschung an der Universität Hamburg ist ... und die Kooperationen mit der Stadt ... groß, interdisziplinär und vieles mehr 72 Wissen schafft Wirklichkeit 33 Menschen hinter den Kulissen der 74 Der Forschung, der Lehre, der Liebe: Universität: Teil 2 Im Studium die Partnerin fürs Leben gefunden 34 Evolution der Forschung 76 Glückwunsch Universität Hamburg! 38 Blick in die Zukunft: Junge Forscherinnen Alumni und Studierende gratulieren und Forscher berichten 42 Science City Bahrenfeld: Die Zukunft von 78 Wissenschaft und Wohnen 44 Heimatforschung WANN & WO 78 Das Jubiläumsjahr 80 Von Artenschutz bis Zoll: Große Dauerausstellung zur Universitätsgeschichte 82 Wann & Wo für das Sommersemester 2019 86 Letzte Frage: Wir werden 100. Wer noch? 86 Impressum
8 KURZ GEFEIERT EIN HOCH AUF DIE HOCHSCHULE 1919 trat die erste demokratisch gewählte Bürgerschaft, das Parlament der Freien und Hansestadt Hamburg, zusammen – und beschloss schon am 28. März des selben Jahres, eine Universität zu gründen. Um das zu feiern, lud Wissen- schaftssenatorin Katharina Fegebank 100 Jahre später zahlreiche Gäste zu einem Senatsempfang in den Großen Festsaal des Hamburger Rathauses. Darunter waren auch prominente Hamburgerinnen und Hamburger aus Medien, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Die Festrede Zum Jubiläum Die Festrednerinnen und -redner Prof. Dr. Peter Sloterdijk, Katharina Fe- hielt der Philosoph und Autor Prof. Dr. gebank, Barbara Duden und Universitätspräsident Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Lenzen (v. l.) Peter Sloterdijk, ein Alumnus. VORLESUNG FÜR ALLE Ob im Michel, im Miniatur Wunderland, in Stadtteil- zentren und Kulturhäusern oder in der Europapassage – im Jubiläumsjahr halten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Uni- versität Hamburg von April bis Oktober Vorlesungen an ungewöhnlichen Orten. Ein besonderes Highlight ist dabei die Jubiläumsbar- kasse, die alle Interessierten zweimal im Monat auf der Elbe mit auf Wissensfahrt nimmt. Der Eintritt ist (in der Regel) frei. Weitere Infos und Programm: uhh.de/jub Vorlesung voraus Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Lenzen und Prof. Dr. Erika Garutti auf der Jubiläumsbarkasse
9 100 SPANNENDE SONDERBRIEF- BLICKWINKEL MARKE ZUM 100. GEBURTSTAG Unter dem Motto „100 Blickwinkel“ teilen Mitglieder, Alumni sowie Freundinnen Anlässlich des Jubiläums unserer und Freunde der Universität auf einer di- Universität mit einer Sonder- gitalen Pinnwand ihre Geschichten, Fotos briefmarke. Sie zeigt im Universi- und Videos, die sie mit ihrer Alma Mater täts-Rot das Hauptgebäude an der verbinden. Ein User beschreibt zum Edmund-Siemers-Allee, hat einen Beispiel, wie er sich in den 1990er-Jahren Wert von 2,60 Euro und wurde vom in einem Hinterzimmer des Regionalen Berliner Grafiker und Designprofessor Rechenzentrums das noch junge Internet Christopher Jung gestaltet. mit einem befehlsbasierten E-Mail-Pro- gramm erschloss. Ein anderer schwärmt von der Bibliothek des Fachbereichs Geschichte im elften Stock des Philoso- phenturms, von der aus man fast ganz Hamburg überblicken konnte. Weitere Infos: uhh.de/100blickwinkel GROSSER BAHNHOF Für das Jubiläumsjahr grüßt seit Februar der Bahnhof Dammtor gleich gegenüber dem Hauptgebäude die Bahnreisenden mit der Namenser- gänzung „Hamburg Universität“. Am Dammtorbahnhof halten täglich mehr als 800 Nah- und Fernverkehrszüge und rund 55.000 Menschen steigen an der Station ein und aus. Auch das Miniaturwunderland pass- CAMPUS-TOUR te den Bahnhof an (Foto). PER APP Die Universität aus einer ganz neuen Perspektive erleben – kein Problem: Eine neue Campus-Tour bietet Smartphone- gestützte Führungen über das Univer- sitätsgelände. Erste Stationen sind das Hauptgebäude, die Staats- und Uni- versitätsbibliothek, das Audimax, das Denkmal „Neue Dammtorsynagoge“ und der Pferdestall (Allende-Platz 1). Ab Mai rund ums Hauptgebäude und auf www.ct.uni-hamburg.de UNIFANT Texte: VG Komiker, Künstler und UHH-Alumnus Otto Waalkes hat der Universität zum Jubiläum einen „Unifanten“ geschenkt – eine eigens kreierte Unterart seines „Ottifanten“.
NIVERSITÄT 11 12 Ein Jahrhundert des Fortschritts – besondere Leistungen an der Universität 18 Showdown in der Bürgerschaft: Krimi einer Universitätsgründung 20 Frauen an der Universität Hamburg 23 Menschen hinter den Kulissen der Universität: Teil 1 24 Gestern nicht vergessen: Gedenken an der Universität 26 „Lehre lebt vom Diskurs“: Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Lenzen im Interview Das Auditorium maximum, kurz Audimax, der Universität Hamburg
12 Forschung der Universität Hamburg Raps kann genetisch so verändert werden, dass er mehrfach ungesättigte Fettsäuren enthält. ein jahr- hundert des Seit der Gründung der Universität Ham- burg leisten ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Herausragendes in Lehre, Forschung und Bildung. Auch fortschritts wenn es um Strukturen und die Organi- sation selbst geht, werden oft Maßstäbe gesetzt. Eine kleine Auswahl. Texte: Anna Priebe
13 Frühe Friedensforschung gungen, etwa gegen die überlaufenen Mit dem 1923 gegründeten „Institut für Seminare und die autokratische Haltung Auswärtige Politik“ gab es an der Ham- vieler Professoren. Im Gegenzug wurde burgischen Universität eines der ersten in der Freien und Hansestadt 1969 das Friedensforschungsinstitute der Welt. bundesweit erste Hochschulreformgesetz Maßgeblich geprägt wurde es durch den verabschiedet. Es gliederte die Universi- Leiter und Völkerrechtler Albrecht Men- tätsstruktur neu – statt Fakultäten gab es delssohn Bartholdy (1874–1936), der an Fachbereiche – und schaffte das Rektorat der Rechts- und Staatswissenschaftlichen als Leitung ab. Fakultät zugleich den ersten deutschen Lehrstuhl für Internationales Privatrecht und Auslandsrecht innehatte. Durch das Institut war die Hamburger Universität zudem die erste in Deutschland, an der englisches und US-amerikanisches Recht Nobelpreis für das Pauli-Prinzip gelehrt wurde. Das Leitbild der Einrich- Wolfgang Pauli (1900–1958) war Zeit- tung lautete: Wer die Ursachen für Krieg genosse und Fachkollege von Marie kennt, kann ihn vermeiden; 1938 wurde Curie (1867–1934) und Albert Einstein sie nach Berlin verlegt. Heute gibt es an (1879–1955) sowie einer der wichtigsten der Universität Hamburg das 1971 gegrün- Physiker seiner Zeit. Von 1922 bis 1928 dete „Institut für Friedens- und Sicher- wirkte er an der Universität Hamburg heitspolitik“. und entdeckte hier 1924 das sogenannte Ausschließungsprinzip als Erklärung zum Aufbau von Materie. Für dieses „Pau- li-Prinzip“ erhielt er 1945 den Nobelpreis. Mit Otto Stern (1888–1969), Hans Jensen (1907–1973), Isidor Rabi (1898–1988), Emi- Diversity in der Verwaltung lio Segrè (1905–1989) und Sir Hans Adolf Die Universität Hamburg ist bunt, viel- Krebs (1900–1981) wirkten fünf weitere fältig und in diesem Bereich vorbildlich. Nobelpreisträger im Laufe ihrer wissen- 2008 war sie die erste Universität, die schaftlichen Karrieren an der Universität die „Charta der Vielfalt“ des gleichna- Hamburg. migen Vereins unter Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin Angela Merkel unterzeichnete und sich als Arbeitgeber damit zur Vielfalt bekannte. Seit 2019 hat die Universität zudem als erste der Hamburger Hochschulen ein Diversi- Atome in Echtzeit ty-Konzept und gehört auch unter den Im Exzellenzcluster „Hamburg Centre for 15 größten Universitäten der Bundesre- Ultrafast Imaging“ wurden in den vergan- publik zu einer der ersten Institutionen genen Jahren auf dem Campus Bahrenfeld mit solch einer strategischen Leitlinie. zahlreiche neue Messmethoden für die Alle Maßnahmen zu diesem Themen- Röntgen- und Elektronenbeschleuniger bereich sind seit 2018 zentral in der entwickelt – mit dem Ziel, die Bewegung sogenannten „Gleichstellungsdatenbank“ von Atomen und Molekülen in Echtzeit Demokratische Gründung abrufbar und nun im Diversity-Konzept zu beobachten. Gemeinsam mit Wissen- Die Universität Hamburg war die erste der Universität verankert. schaftlerinnen und Wissenschaftlern des Universität in Deutschland, die auf Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY, parlamentarischen Beschluss gegründet des Max-Planck-Instituts für Struktur und wurde und nicht etwa auf eine Stiftung Dynamik der Materie, des biologischen oder einen fürstlichen Erlass zurückging. Forschungslabors EMBL und des Röntgen- Am 28. März 1919 beschloss die gerade lasers European XFEL wurde zum Beispiel erstmals gewählte Bürgerschaft der Frei- Tiefgreifende Strukturveränderungen erstmals die kurzzeitige Supraleitung, also en und Hansestadt die Gründung einer Die „68er“ stehen in der deutschen ein elektrischer Materialwiderstand von „Hamburgischen Universität“. Feierlich Geschichte für Protest und Veränderung. Null, bei Raumtemperatur beobachtet – eröffnet wurde sie am 10. Mai 1919 Auch an der Universität Hamburg gab obwohl dieser Zustand sonst meist nur bei (Siehe S. 18). es Widerstand gegen die Studienbedin- sehr tiefen Temperaturen eintritt.
14 Raps statt Fisch des Werkes. Dieses Modell entwickelte Pa- ren. Im Arbeitsbereich Bewegungs- und Mehrfach ungesättigte, sehr langkettige nofsky nach seiner Emigration in die USA Trainingswissenschaft wurde zusätzlich Fettsäuren, sogenannte VLCPUFA, sind 1933 weiter und machte es dort bekannt. die Sonifikation, also die Vertonung von wichtig für die Ernährung des Menschen Bewegungen, für die Anwendung im und kommen vor allem in Fischen vor, die Leistungssport entwickelt. Beim Rudern sie wiederum über Mikroalgen aufneh- zum Beispiel wird die Beschleunigung in men. In seiner Grundlagenforschung MEHR ALS Töne umgewandelt, die die Sportlerinnen erbrachte Prof. Dr. Ernst Heinz (*1938) und Sportler beim Training hören können: Anfang der 2000er-Jahre erstmals den 67 NEU Je stärker das Boot beschleunigt wird, Nachweis, dass die Gene der Algen, die desto höher der Ton. Sie können ihre für die Produktion der VLCPUFA verant- ENTDECKTE Bewegungen entsprechend anpassen und wortlich sind, in Landpflanzen wie Lein verbessern. Seit 2009 wird diese Form eingesetzt werden können. Diese Er- ARTEN der Sonifikation in der Vorbereitung der kenntnisse wurden später auch auf Raps deutschen Rudernationalmannschaft übertragen. So kann heute Öl gewonnen IN ZWEI JAHREN auf die Weltmeisterschaften eingesetzt. werden, das die wichtigen VLCPUFA ent- Zukünftig soll die Technik auch beim hält und die Fischbestände entlastet. Schwimmen zum Einsatz kommen. Beben am Meeresgrund Heute sind tausende von ihnen weltweit im Einsatz, aber der Ursprung der Ozean- boden-Seismometer liegt an der Univer- Neuentdeckungen in aller Welt sität Hamburg. Am damaligen Institut für Grundlagen für PISA Forscherinnen und Forscher der Univer- die Physik des Erdkörpers (IPE) wurden in Seit 2000 werden von der „Organisation sität Hamburg tragen dazu bei, die Ar- den 1970er- und 1980er-Jahren die euro- für wirtschaftliche Zusammenarbeit und tenvielfalt der Erde zu erfassen. So waren paweit ersten dieser Geräte entwickelt, Entwicklung“ im Drei-Jahres-Rhythmus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- die es ermöglichen, Erdbeben auf dem die sogenannten PISA-Studien (Program- ler der Arbeitsgruppe Tierökologie und Meeresgrund selbst aufzuzeichnen und me for International Student Assessment) Naturschutz 2017 an der Beschreibung nicht – wie bis dahin – nur deren Aus- durchgeführt. Getestet werden Schülerin- von 26 neuen Froscharten in Madagaskar wirkungen an Land. Die Daten führten nen und Schüler auf ihre Lesekompetenz beteiligt. In den Forschungsabteilungen zu einem völlig neuen Verständnis der sowie ihre Fähigkeiten in Mathematik und des Centrums für Naturkunde der Uni- Entstehung von Erdbeben und können den Naturwissenschaften. Die Grundlagen versität Hamburg wurden zudem in den heute zum Beispiel zur Vorhersage von für diese Studien wurden auch an der Uni- vergangenen zwei Jahren 67 neue Arten Tsunamis eingesetzt werden. versität Hamburg gelegt: Gleich mehrere beschrieben, etwa Gordionus maori, ein international vergleichende Studien dieser parasitärer Saitenwurm, sowie die Spin- Art wurden hier seit den 1980er-Jahren in nenart Charinus kakum. Zudem wurde Kooperation mit der weltweit agierenden von Hamburger Wissenschaftlern die Be- Organisation für Bildungsforschung IEA schreibung der neu entdeckten Minerale vorbereitet und durchgeführt, etwa die Erazoite und Vondechenite veröffentlicht. Gebärdensprachforschung erste Studie zum Aufsatzunterricht in 14 Das Institut für Deutsche Gebärden- Ländern 1982 sowie zum Leseverständnis sprache und Kommunikation Gehörloser in 30 Ländern 1987. (IDGS) an der Universität Hamburg wurde 1987 als bundesweit erstes Zentrum für Deutsche Gebärdensprache gegründet. Es Hamburger Schule I gilt als Vorreiter in der Forschung sowie Während der Weimarer Republik präg- in der universitären Ausbildung von ten Aby Warburg (1866–1929) und Erwin Gebärdenspachdolmetscherinnen und Neue Wege in der Notfallversorgung Panofsky (1892–1968) die kunsthistorische -dolmetschern in Deutschland. Patientinnen und Patienten, die mit Forschung und entwickelten am Kunst- kleineren Beschwerden die Notaufnah- geschichtlichen Seminar die sogenannte men überlasten, sind ein zunehmendes „Hamburger Schule“ der Bildanalyse. Die- Problem. Am Universitätsklinikum Ham- se umfasst die drei Schritte der formalen burg-Eppendorf (UKE) wird es bereits seit Bildbeschreibung, der ikonographischen 2012 auf besondere Weise gelöst: Das Analyse der für die Darstellung verwen- Vertonte Bewegung Institut und die Poliklinik für Allgemein- deten Motive und Symbole sowie der Bewegungsanalysen im Sport erfolgen medizin ist das bundesweit erste im uni- ikonologischen Analyse der Bedeutung normalerweise mit Kameras oder Senso- versitären Kontext, das in den Betrieb der
15 Blick ins All Alexander Gerst, Alumnus der Universität Hamburg, war erster deutscher Kommandant der ISS. Zentralen Notaufnahme (ZNA) integriert band dabei ihre pädagogische Perspektive er 1912 entwickelte, setzt das sogenann- wurde. Die Ärztinnen und Ärzte behan- mit der psychologischen Forschung. te Intelligenzalter ins Verhältnis zum deln in einem speziellen Bereich der ZNA Lebensalter und soll so das intellektuelle die Menschen, die keiner notfallmäßigen Leistungsvermögen einer Person wider- Versorgung bedürfen, und entlasten so spiegeln. Der Begründer der differenzi- die Abläufe. Das Konzept wurde inzwi- ellen Psychologie initiierte 1918 univer- schen von anderen universitären Kliniken sitäre Kurse für Kriegsheimkehrer in übernommen. Sexualforschung Hamburg und bereitete so der Universität An der Universität Hamburg wurde 1959 den Weg. Ab 1924 leitete er gemeinsam das erste universitäre Institut für Sexual- mit Heinz Werner das Psychologische forschung der deutschen Nachkriegszeit Institut der Universität; 1933 emigrierte gegründet. Heute ist es das „Institut für der jüdische Professor erst in die Nieder- Sexualforschung und Forensische Psych- lande und später in die USA, wo er weiter Der Mensch und seine Umwelt iatrie“ am Universitätsklinikum Ham- lehrte. Mit ihrem posthum erschienenen Werk burg-Eppendorf. „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ trug die Pädagogin und Psychologin Martha Muchow (1892–1933) zur Be- gründung der Umweltpsychologie bei, also der Erforschung der Wechselwirkun- Patente Chemie gen von Mensch und Umwelt. Sie war Kluger Wegbereiter Prof. Dr. Hansjörg Sinn (*1929) und Prof. Volksschullehrerin und studierte nach der Einer der maßgeblichen Unterstützer Dr. Walter Kaminsky (*1941) entwickelten Gründung der Universität Psychologie, der Universitätsgründung und einer der in den 1970er-Jahren in der technischen Philosophie, Deutsche Philologie und Li- ersten Professoren der neuen Hochschule und makromolekularen Chemie an der teraturgeschichte. Nach ihrer Promotion war der Erfinder des Intelligenzquotien- Universität Hamburg eine neue und arbeitete sie am Psychologischen Institut ten (IQ): der Psychologe William Stern schnellere Methode, um mithilfe eigens eng mit William Stern zusammen und ver- (1871–1938). Der IQ, dessen Berechnung erzeugter Katalysatoren makromoleku-
16 lare Stoffe herzustellen, die als Polyo- Religiöse Vielfalt Universitäre Lehrerausbildung lefine bezeichnet und zum Beispiel für Die Universität Hamburg verabschiedete 1926 legte die Hamburgische Bürger- Folien und Fasern benötigt werden. Die als erste Universität in Deutschland im schaft fest, dass die damalige Volks- Aktivität dieser Katalysatoren ist etwa Herbst 2017 einen Verhaltenskodex für schullehrerausbildung an die Universität zehnmal größer als die bisher benutzter. die Religionsausübung an der Hochschu- verlegt werden sollte. Drei Jahre dauerte Von den 160 Millionen Tonnen Polyolefi- le. Eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen das Studium. Vorher fand die Ausbildung nen, die pro Jahr auf der Welt hergestellt und Wissenschaftlern erarbeitete ihn im in den Lehrerseminaren der Stadt statt. werden, werden ca. 15 Millionen mit der Auftrag des Präsidenten; der Kodex hält Die Universität Hamburg war die vierte in Hamburg entwickelten und paten- vor allem fest, dass die Universität als sä- Universität in Deutschland, der diese tierten Methode synthetisiert. Um den kulare Institution gleichermaßen der Frei- Aufgabe zukam. Kunststoff wieder zu beseitigen, wurde heit der Wissenschaft wie der „Pluralität zudem in den 1980er-Jahren das Ham- in weltanschaulichen Fragen“ verpflichtet burger Pyrolyseverfahren entwickelt, ist und dass die „die Religionsfreiheit der bei dem der Stoff in einem speziellen Universitätsangehörigen […] gewährleis- Reaktor zu wiederverwendbarem Öl und tet ist“. Diese umfasse nicht nur die Frei- Gas zersetzt wird. heit, einen Glauben zu haben und diesen Verantwortung für die eigene Geschichte auszuüben, sondern auch die Freiheit, Hamburg war die erste deutsche Uni- keinen Glauben zu haben. versität, die ihre Geschichte zwischen 1933 und 1945 wissenschaftlich aufar- beitete. Ein Ergebnis des umfangreichen Forschungsprojektes: die dreibändige Hamburger Schule II Publikation „Hochschulalltag im ‚Dritten In der Hamburger Archäologie wurden Reich‘“. Für die Aufarbeitung der kolo- erstmals in Deutschland systematisch UHH trifft ISS nialen Vergangenheit – auch die der Kommunikationstheorien für die Inter- Die Universität Hamburg ist die einzige Freien und Hansestadt – wurde 2014 die pretation antiker Bildwerke eingesetzt. deutsche Universität, die einen Komman- Forschungsstelle „Hamburgs (post-)kolo- Die Forschungsrichtung wurde in den danten der Internationalen Raumstation niales Erbe“ eingerichtet. Es ist die erste 1970er- und 1980er-Jahren an der Uni- (ISS) zu ihren Ehrensenatoren zählen kann. dieser Art in Deutschland. (Siehe S. 24) versität Hamburg von Prof. Dr. Burk- Der Geophysiker Alexander Gerst (*1976) hard Fehr (*1942) und Prof. Dr. Lambert promovierte hier von 2004 bis 2010 und Schneider (*1943) entwickelt und gilt startete zweimal ins All: 2014 und 2018. heute als Standard im Fach der Klassi- Von Oktober bis Dezember 2018 war er der schen Archäologie. erste deutsche Kommandant der ISS. Innovative Augenheilkunde Prof. Dr. Gerhard Meyer-Schwickerath (1920–1992) entwickelte am Universi- tätsklinikum Hamburg-Eppendorf Ende der 1940er-Jahre die Lichtkoagulation, also das Bündeln von Licht zur Behand- lung der Netzhaut. Heute werden Laser genutzt, um zum Beispiel durch das Erzeugen einer Narbe die Ablösung der Netzhaut zu verhindern oder Tumore zu entfernen. 1949 wurde die Methode erstmals erfolgreich eingesetzt. Schätze der Wissenschaft Rund 40 wissenschaftliche Sammlungen und Archive gibt es an der Universität Hamburg. Die Sammlungen sind eine wichtige Infrastruktur für die Forschung. So verfügt das Centrum für Naturkunde Hamburger Schule Aby Warburg (1896) und andere prägten die Kunstgeschichte. der Universität Hamburg über eine der
17 Entdeckung Das Mineral Vondechenite wurde in der Eifel gefunden und im Mineralogischen Museum als neue Art beschrieben. größten naturkundlichen Sammlungen Kontroverse in der Geschichtswissenschaft Deutschlands mit mehr als zehn Millio- Mit seinem Werk „Griff nach der Welt- nen Objekten. Einige der Sammlungen macht: die Kriegszielpolitik des kaiserlichen sind weltweit einzigartig, etwa die Re- Deutschland 1914 / 18“ löste der Hamburger genwurmsammlung mit 4.200 Präpara- Historiker Prof. Dr. Fritz Fischer (1908–1999) ten, oder haben große regionale Bedeu- 1961 eine große Debatte in der Geschichts- tung wie die Lackfilmsammlung, die mit wissenschaft der Bundesrepublik aus. Der 600 Exemplaren die umfangreichste in Wissenschaftler, der selbst Mitglied der Deutschland ist. Die Lackfilmmethode ist NSDAP war, stellte unter anderem die Frage eine Konservierungsmethode für Sedi- nach der Verantwortung des Deutschen mentablagerungen und Böden. Kaiserreichs für den Beginn des Ersten Weltkriegs. Die anschließende Diskussion wird als „Fischer-Kontroverse“ bezeichnet. Herzlichen Dank an die vielen Universi- Seerecht in der Hansestadt tätsmitglieder, die mit Hinweisen und In- Passend zur Heimatstadt wurde an der formationen zu diesem Artikel beigetra- Universität Hamburg 1982 das deutsch- gen haben. Die Auswahl für die wenigen landweit erste Institut für Seerecht Seiten ist sehr schwer gefallen. und Seehandelsrecht gegründet. In den Forschungsprojekten des Institutes geht es etwa um Fragen des nationalen und inter- nationalen öffentlichen Seerechts. Zudem gibt es eine seerechtliche Spezialbibliothek.
18 Showdown in der Bürger- schaft Dass Hamburg eine Universität hat, erscheint heute selbst- verständlich. Tatsächlich aber stemmten sich die Hanseaten lange gegen die Gründung der als „unhamburgisch“ empfun- denen Institution. Erst strategische Winkelzüge und politi- sche Umbrüche machten den Weg frei für die Gründung. Text: Steffen Fründt Überlebensgroß, in vollem Ornat, den langer Hand geplante Strategie entgegen abgestimmt. Das Ergebnis: 73 Stimmen Blick in eine unbestimmte Ferne gerich- setzte, die man heute als Salamitaktik dafür, 80 dagegen. „Es war ein Fiasko“, tet: Werner von Melle beziehungsweise bezeichnen könnte. Um seinen Lebens- sagt Historiker Nicolaysen. Von Melle seinem in Bronze gegossenen Abbild traum einer Universität in Hamburg zu hatte zwei Faktoren unterschätzt: Das begegnet jede und jeder, die bzw. der das verwirklichen, reorganisierte er zunächst Beharrungsvermögen der konservativen Hauptgebäude der Universität Hamburg das bereits seit 1837 bestehende Allge- Kaufmannschaft und – am anderen betritt. Seine Büste steht nicht ohne meine Vorlesungswesen, das Bürgerin- Ende des politischen Spektrums – die Grund an prominenter Stelle. Schließ- nen und Bürgern öffentliche Vorlesungen Vorbehalte der Sozialdemokraten. Diese lich gilt der Hamburger Senator und bot. Holte dann nach und nach Professu- hätten schon damals als Zünglein an der Bürgermeister als Gründervater dieser ren in die Stadt, die den Handelsinteres- Waage die Universität gegen den Willen Lehranstalt. Zu Recht? Die Wahrheit ist: sen der Kaufleute in die Karten spielten: des Establishments durchsetzen können. kompliziert. Japanologie, Sinologie, afrikanische Sie taten dies nicht, weil sie die akademi- Sprachen. Er warb für die Vorzüge eines schen Anstalten als elitäre Einrichtungen „Dass die Weltstadt Hamburg eine Uni Kolonialinstituts und brachte einige und Instrumente des Klassenkampfes hat, war lange nicht so klar, wie es heute vermögende Hamburger dazu, viel Geld erfuhren. erscheint“, sagt Prof. Dr. Rainer Nicolay- für die Gründung einer Hamburgischen sen von der Arbeitsstelle für Universi- Wissenschaftlichen Stiftung zu geben. Universität als Perspektive tätsgeschichte. Seit den 1820er-Jahren Nachdem er schließlich den Reeder diskutierten die Entscheider der Stadt Edmund Siemers auf die Idee gebracht Eine Gemengelage, in die erst nach dem über die Gründung einer Universität. hatte, der Stadt ein Vorlesungsgebäude Ersten Weltkrieg Bewegung kam. Die Doch das Hamburger Bürgertum winkte für 1,5 Millionen Goldmark zu stiften, sah Novemberrevolution hatte verkrustete stets ab. Zu teuer. Unhamburgisch. Mög- sich von Melle bereit zum finalen Schritt. Machtverhältnisse aufgerissen, zudem licherweise fürchtete die tonangebende erforderte die Lage Pragmatismus. Eine Kaufmannschaft auch einen Bedeutungs- Im Herbst 1913 kam es zum ersten Universität wurde als Chance begrif- verlust durch einen akademischen Stand Showdown in der Bürgerschaft. Hamburg fen, Kriegsheimkehrern eine berufliche in ihrer Stadt. war gerade zur Millionenstadt avanciert, Perspektive zu verschaffen. Dozenten Werner von Melle sah die Metropole hielten ab Januar 1919 Erstsemesterkurse Mit Salamitaktik zur Universität bereit für den in seinen Augen überfälli- ab, deren Scheine auch von preußischen gen Schritt und wähnte den Senat hinter Universitäten anerkannt wurden. Ein Uni- Ein Bollwerk der Ablehnung, dem Bil- sich. Am 29. Oktober wurde über seinen versitätsbetrieb auf dem kurzen Dienst- dungssenator Werner von Melle eine von Antrag zur Gründung einer Universität weg, aber ohne Universität.
19 Die Schlagzeile Am 9. April 1919 berichtet das Hambur- ger Fremdenblatt über die Universitätsgründung. Im März 1919 wählten die Hamburger Der finale Akt und erstmals auch die Hamburgerinnen ihr erstes demokratisches Parlament. Damit war der Weg frei für den finalen Noch in der letzten Sitzung der alten Akt. Am 10. Mai 1919 wurde in der heuti- Bürgerschaft wurde von Melles Vorhaben gen Laeiszhalle die erste demokratische erneut zur Abstimmung gebracht – sein Universitätsgründung in Deutschland Versuch, vor der Zeitenwende selbst gefeiert. Es wurde dann auch die große als Wegbereiter der Universität in die Stunde des Mannes, der so lange für die- Geschichtsbücher einzugehen. Doch der se Institution gekämpft hatte. Obwohl es zweite Anlauf endete mit einem Patt; letztlich seine politischen Gegner waren, von Melle war erneut gescheitert. die vermeintlich „vaterlandslosen Gesel- len“, denen die Hamburgische Universität Zum dritten und entscheidenden Show- ihre Existenz formal verdankte, war es down kam es dann nach der Wahl am von Melle, der auf großer Bühne neben 28. März 1919. Nun hatten die Sozial- dem ersten Rektor Karl Rathgen die demokraten die absolute Mehrheit im Eröffnungsrede hielt. Sozialdemokraten Landesparlament und brachten einen kamen nicht zu Wort. Auch die Medaille Antrag ein, der fast wortgleich dem ent- der Rektor-Amtskette zeigte das in Ham- sprach, der zehn Tage zuvor gescheitert burg bestens bekannte Konterfei sowie war. Diesmal stimmte die Bürgerschaft seinen darüber eingeprägten Namen: mit einer überwältigenden Mehrheit für Bürgermeister Dr. W. v. Melle. die Gründung der Universität. Zugleich setzte die SPD ihre langjährige Forderung nach einer Volkshochschule durch.
20 1. 2. 3. 4. Universität 6. 5. Frauen 7. an der 8. 9. Von den 1.700 Studierenden, die im 10. Sommersemester 1919 starteten, waren nur 212 Frauen (12,5%). Im Winterse- mester 2017 / 18 waren 56 Prozent der Studierenden an der Universität Ham- burg weiblich – im Bundesdurchschnitt waren es 49 Prozent. 2017 gab es zudem 2.316 wissenschaftliche Mitarbeiterinnen (48%) und 223 Professorinnen (31%). Ein Blick auf Frauen an der Universität Hamburg – heute und damals.
21 Frauen haben sich in der Wissenschaft ihren #Wissenschaftlerinnen Platz erkämpft. Mehr und mehr auch in der „Männerdomäne“ Informatik. Dank erfolgrei- cher Vorbilder wirken in diesem Fachgebiet inzwischen zahlreiche Wissenschaftlerinnen. Drei von ihnen berichten in der 20NEUNZEHN über ihre Erfahrungen. Statements: Sarah Wiedenhöft „Es hat mich nie gekümmert, ob ich anders wahrgenommen werde“ 1. Prof. Dr. Christiane Floyd (*1943), von 1991 bis 2008 Professorin für Softwaretechnik an der Universität Hamburg Mir ist es nicht sehr wichtig, dass ich die erste Informatikpro- fessorin in Deutschland war – das war 1978 an der TU Berlin. Mein Job war sehr anspruchsvoll und ich war Mutter von zwei kleinen Kindern. Vor allem die ersten Jahre waren nicht leicht, da auf meine Situation keine Rücksicht genommen wurde. Es hat mich aber nie gekümmert, ob ich als Frau anders wahrge- nommen werde. Für mich zählt viel mehr, was ich inhaltlich gestalten konnte und in Forschung und Lehre beigetragen habe. Ich habe in Wien studiert und 1966 in Mathematik promoviert. Prägende Wissenschaftlerinnen aus Meine beruflichen Stationen waren zunächst als Systempro- 100 Jahren Universität Hamburg: grammiererin bei Siemens, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Stanford und Beraterin in der Softwarefirma 4. Agathe Lasch (1879–1942) Softlab. Als Professorin bin ich mit meiner Arbeitsgruppe in Berlin bzw. später in Hamburg einen eigenen Weg gegangen: Die erste Professorin der Universität. 1923 Wir haben einen menschengerechten und anwendungsnahen erhielt sie als erste Frau in Hamburg und Ansatz in der Softwaretechnik entwickelt, der technische Qua- als erste Germanistin in Deutschland den lität mit der Unterstützung von Benutzerinnen und Benutzern Professorentitel. Ihre Veröffentlichun- verbindet und partizipative Gestaltung ermöglicht. Dazu stehe gen zur Niederdeutschen Sprache gelten ich auch heute noch. In der Lehre halte ich viel von Projektar- noch heute als Referenzwerke. Lasch beit in Gruppen. Hier können sich gerade Frauen gut im Team wurde 1942 deportiert und ermordet. Der einbringen. Besonders gern habe ich Promotionen betreut – ein Hörsaal B im Hauptgebäude trägt ihren Drittel davon waren Frauen. Die wissenschaftliche Betreuung Namen; zudem erinnert ein Stolperstein war mein wichtigster Beitrag zur Förderung von Frauen. vor dem Gebäude an sie. „Es gibt immer noch unterschiedliche Erwartungen“ 5. Martha Muchow (1892–1933) 2. Prof. Dr. Judith Simon (*1977), seit 2017 Professorin für Ethik in der Informationstechnologie an der Universität Hamburg Pädagogin und Psychologin, die das Da ich als Philosophin an einem Informatikfachbereich arbeite, Forschungsgebiet der Umweltpsycholo- war für mich meine Rolle als Frau hier erst einmal weniger rele- gie mitbegründete. Sie arbeitete eng mit vant als meine fachfremde Ausbildung. Diese hätte ja durchaus William Stern zusammen und wurde im dazu führen können, dass man nicht ernst genommen wird. Das September 1933 entlassen. Wenige Tage hat sich zum Glück nicht bewahrheitet, die Kolleginnen und später beging sie Suizid. Die Bibliothek Kollegen sind hier sehr offen. Natürlich gibt es dennoch Situati- der Erziehungswissenschaft ist nach Mu- onen, in denen ich als Frau in der Wissenschaft anders wahrge- chow benannt. Zudem liegt zum Geden- nommen werde als meine männlichen Kollegen. Es gibt einfach ken ein Stolperstein vor dem Hauptgebäu- immer noch unterschiedliche Erwartungen an das Verhalten de der Universität.
22 von Männern und Frauen: Was bei Männern noch als durchset- 6. Hedwig Klein (1911–1942) zungsfähig gilt, wird bei Frauen als übermäßig aggressiv wahr- genommen – von beiden Geschlechtern. Da stellt sich natürlich Studentin der Islamwissenschaft, Semi- die Frage, was ich selbst als Lehrende tun kann. Studierende tistik und Anglistik, die 1937 ihr Promo- haben schon 20 Jahre Sozialisation hinter sich, wenn sie zu uns tionsverfahren beantragte, das ihr 1938 kommen, und gelernt, wie sich Männer und Frauen geschlechts- trotz exzellenter Leistungen verweigert spezifisch zu verhalten haben. Machen da spezielle Angebote wurde. Sie wurde 1942 nach Auschwitz für weibliche Studierende der Informatik Sinn oder verstärken deportiert. diese eher stereotype Geschlechterrollen? Das ist eine Frage, die auch meine Studentinnen sehr unterschiedlich beantworten. 7. Anna Siemsen (1882–1951) Ein anderer Punkt sind Frauenquoten. Prinzipiell halte ich diese durchaus für geeignet, um ausgewogene Arbeitsumfelder zu Lehrerin, Germanistin und Pädagogin, die schaffen. Die Erfüllung von Quoten hängt aber auch von der sich gegen die Nationalsozialisten und für Bewerbungslage ab. Gerade in der Informatik ist es so, dass Stel- ein geeintes Europa einsetzte. Der Hörsaal len in der Wirtschaft oft attraktiver sind als an der Hochschule. der Erziehungswissenschaft im Von-Melle- Daran muss sich, ganz allgemein, etwas ändern, um gute junge Park 8 ist nach ihr benannt. Menschen für die Universität zu gewinnen: Frauen und Männer. 8. Magdalene Schoch (1897–1987) „Ich habe mich immer akzeptiert gefühlt“ 3. Susanne Schmidt (*1990) promoviert seit 2014 am Fachbereich Juristin, die seit 1919 an der Universität In meiner wissenschaftlichen Laufbahn stehe ich noch am Anfang. wirkte und sich hier 1932 als deutschland- 2014 habe ich mein Informatik-Studium mit dem Master abge- weit erste Frau in den Rechtwissenschaf- schlossen und arbeite seitdem als Doktorandin im Arbeitsbereich ten habilitierte. 1937 emigrierte sie aus Human-Computer Interaction. Eine Diskriminierung aufgrund Protest gegen die Nationalsozialisten in meines Geschlechtes habe ich tatsächlich nie erfahren – weder die USA. Der Hörsaal J im Hauptgebäude im Studium noch danach. Ich habe mich immer akzeptiert gefühlt sowie verschiedene Preise und Förderpro- und es nie als störend empfunden, überwiegend mit Männern gramme an der Universität sind nach ihr zusammenzuarbeiten. Gerade aufgrund meiner positiven Erfah- benannt. rungen freut es mich, dass sich auch andere Frauen nicht vom Image einer männlich dominierten Informatik abschrecken lassen 9. Rahel Liebeschütz-Plaut (1894–1993) und sich für ein technisches Studium entscheiden. Im Laufe des Jahres werde ich voraussichtlich meine Promotion abschließen Erste Frau, die sich an der Medizinischen und eventuell für eine Zeit ins Ausland gehen. In der Forschung Fakultät der Universität Hamburg habili- ist es durchaus üblich, häufiger die Universität zu wechseln, auch tierte (1923). Die Ärztin arbeitete anschlie- wenn das bedeutet, sich auf ein neues Team einzustellen. Für ßend zehn Jahre am Physiologischen die Zukunft würde ich mir wünschen, dass Doktorandinnen UND Institut, bevor ihr 1933 die Lehrerlaubnis Doktoranden gerade am Anfang ihrer Promotion noch besser un- entzogen wurde. 1938 emigrierte sie ge- terstützt werden. Denn unabhängig vom Geschlecht müssen sich meinsam mit ihrem Mann nach England. alle Promotionsstudierenden auf viele neue Aufgabenbereiche Ein Mentoringprogramm für weibliche einstellen und gleichzeitig versuchen, eine gute Work-Life-Balan- Nachwuchskräfte ist nach ihr benannt. ce zu bewahren. 10. Heidrun Hartmann (1942–2016) Angebote im Bereich „Gleichstellung“ Um Frauen in Studium und Wissenschaft noch weiter zu fördern, Biologin, die von 1970 bis 2007 an der Uni- gibt es im Fachbereich Informatik sowie in der MIN-Fakultät ver- versität Hamburg lehrte. Ihr Fachgebiet schiedene Angebote. Schülerinnen können sich etwa in Praktika war die systematische Botanik, speziell über das Fach informieren, während es für Studentinnen und die Mittagsblumengewächse (Aizoaceae). Wissenschaftlerinnen der Fakultät unter anderem Unterstützung Es wurden zwei Pflanzenarten nach ihr durch das Frauenförderprogramm „Anna Logica“ gibt. Zudem benannt sowie die Gattung Hartmanthus. bietet das Familienzimmer „Zwischenspeicher“ eine Kurzzeitbe- treuung für Kinder bis sechs Jahren. Weitere Infos: Porträts von Frauen, die an der Universität uhh.de/gleichstellung-inf gewirkt haben: uhh.de/frauenportraits Neben fachbereichsspezifischen Angeboten gibt es auch von der Stabsstelle Gleichstellung zahlreiche Initiativen. Weitere Infos: uhh.de/gleichstellung
23 1. 2. 3. HINTER DEN KULISSEN An der Universität Hamburg gibt es viele wichtige Tätigkeiten, an die man im ersten Moment nicht denkt. 20NEUNZEHN stellt Menschen aus unterschiedlichen Bereichen in einer vierteiligen Serie vor. Teil 1 1. Seit 26 Jahren für die Post zuständig: Emilie Dornhof (64) versuche ich immer eine Lösung zu finden. Ich komme aus einer Mitarbeiterin in der Poststelle handwerklich sehr begabten Familie und habe einen Elektrobe- Ich bin seit 26 Jahren an der Uni und für die Poststellen im Von- ruf gelernt. Jetzt bin ich schon fast zehn Jahre hier und sehr Melle-Park 5 und der Edmund-Siemers-Allee 1 zuständig. Hier glücklich, zum Uni-Team gehören zu dürfen. kümmere ich mich um den Versand von Briefen und Paketen sowie die Verteilung der ankommenden Briefe in die richtigen 3. Dienstliche Mobilfunkverträge laufen über mich: Manuela Postfächer. Dafür muss ich oft erstmal die richtige Person re- Prühs (39) Sachbearbeiterin Telefondienste im Regionalen Re- cherchieren, wenn die angegebene Adresse ungenau ist. Zudem chenzentrum bin ich Anlaufstelle für alle Paketboten auf der Suche nach dem Zusammen mit meinem Kollegen Michael Köhn bearbeite ich richtigen Büro. Von den Mitarbeitern, die bei mir die Post abho- im Rechenzentrum sämtliche Anfragen zur Telefonie an der len, kenne ich inzwischen schon viele persönlich. Universität Hamburg. Neben dem Tagesgeschäft, also zum Beispiel der Bearbeitung von Neuanschlüssen und Störungen, 2. Problemlöserin in sieben Uni-Gebäuden: Frauke Nester (51) beschäftigt uns derzeit die Umstellung der Telefonie auf Voice- Leiterin des Serviceteams des Philosophenturms Over-IP. Mein Schwerpunkt ist zudem der Mobilfunkbereich, Das Schönste an meiner Arbeit ist, dass jeder Tag anders ist. Ob das heißt, Abschluss und Kündigung von dienstlichen Mobil- tropfender Wasserhahn, klemmender Schlüssel oder technische funkverträgen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Probleme im Seminarraum: Geht nicht, gibt’s bei uns nicht. Uni. Ich arbeite sehr gern mit Menschen zusammen und mein Gemeinsam mit meinem Kollegen betreue ich insgesamt sieben Job bietet jeden Tag etwas Neues – darum liebe ich ihn. (AMP) Gebäude, unter anderem das Audimax, den Allende-Platz 2 und bis vor einem Jahr den Philosophenturm. Auch bei kleineren Problemen wie zum Beispiel einem zu niedrigen Schreibtisch
24 Gedenktafel Seit 1971 erinnert die goldene Inschrift im Audimax an die Studierenden Reinhold Meyer, Hans Leipelt, Margaretha Rothe und Friedrich Geussenhainer von der „Weißen Rose Hamburg“. Gestern nicht vergessen Die Geschichte der Universität Hamburg ist eng mit der deutschen verbunden – in guten wie in schlechten Zeiten. Wie Erinnerung und Gedenken für eine Hochschule funktionieren kön- nen, ist dabei immer wieder aufs Neue eine Herausforderung. Die Universität Hamburg setzt auf Forschung und Vermittlung, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Text: Daniel Meßner
25 „In Memoriam“ steht auf der Tafel, die im Audimax an die studentischen Mitglieder der „Weißen Rose Hamburg“ erinnert. 1971 wurde sie in den Boden des Gebäu- des eingelassen, um an die Widerstands- kämpferinnen und -kämpfer zu erinnern. „Mehr als viele andere Universitäten bemühen wir uns, die NS-Zeit nicht nur wissenschaftlich aufzuarbeiten, sondern die Erinnerungskultur in den Unialltag zu integrieren und sichtbar zu machen“, sagt Prof. Dr. Rainer Nicolaysen, der Lei- ter der Arbeitsstelle für Universitätsge- schichte. Das zeige sich nicht nur an der Gedenkplatte im Audimax, sondern auch an den sieben Hörsälen im Hauptgebäu- Gestürzt 1968 wurde das Denkmal des Kolonialoffiziers Hermann von Wissmann vor de, die nach in der NS-Zeit verfolgten der Universität von Studierenden vom Sockel gestoßen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- lern benannt sind, sowie an Denkmälern rund um den Campus Von-Melle-Park. Für die beiden Studenten hatte die Akti- Nachwirkungen des Kolonialismus in Unbequeme Wahrheit: NS-Zeit on keine Konsequenzen, dafür änderte Hamburg, Deutschland und den ehema- sich bald die Hochschule grundlegend: ligen Kolonien untersucht. Dabei steht Dieser möglichst vorbehaltlose Umgang 1969 wurde die Universität Hamburg zur auch die Universität selbst im Fokus, mit der eigenen Vergangenheit war lange bundesweit ersten Reformuniversität – deren eigene Wurzeln unter anderem im Zeit nicht selbstverständlich. Es hat bis eine wichtige Voraussetzung auch für Kolonialinstitut liegen. in die 1980er-Jahre gedauert, bis die eine neue Erinnerungskultur. Universitätsgeschichte der NS-Zeit erst- Erinnerungskultur und Alltag mals in einem großen, interdisziplinären Denkmalsturz: das koloniale Erbe Forschungsprojekt aufgearbeitet wurde. „Die Vergangenheit ist Teil unserer Identi- Bundesweit hatte die Arbeit Vorbildcha- Die Forderung der Studierenden nach tät“, erklärt Dr. Sabine Bamberger-Stem- rakter und gilt als Pilotprojekt. Und sie einer kritischen Beschäftigung mit der mann, Direktorin der Landeszentrale ist Ausgangspunkt für viele Gedenk- eigenen Geschichte zeigte sich in einer für politische Bildung in Hamburg und Initiativen: „Auch die Umbenennung der weiteren spektakulären Protestaktion: Lehrbeauftragte an der Universität Hörsäle wäre ohne diese Forschung nicht In der Nacht vom 31. Oktober auf den Hamburg. Sie betont die Bedeutung von möglich gewesen“, betont Nicolaysen. 1. November 1968 stürzten Studierende Gedenken und Erinnerungskultur: „Eine zwei Denkmäler, die Kolonialoffizieren ge- Universität kann nur dann im Rahmen ih- In der Erinnerungskultur spielen auch widmet waren: Hermann von Wissmann rer gesamtgesellschaftlichen Verantwor- Jubiläen und Gedenktage eine besondere und Hans Dominik. Das Wissmann-Denk- tung funktionieren, wenn alle Beteiligten Rolle: Sie sind Anlass für viele, sich zu mal stand seit 1922 an der Ostseite des einen Bezug zur Institution haben und erinnern und sich mit der eigenen Ge- Hauptgebäudes, das Dominik-Denkmal zur eigenen Vergangenheit.“ Denn ohne schichte auseinanderzusetzen. Allerdings seit 1935 an der Westseite. Die geforderte Geschichte verstünden wir die eigene müsse diese dann Nicolaysen zufolge Aufarbeitung der Kolonialgeschichte Gegenwart nicht. kritisch befragt werden: „Wir sind auch ließ allerdings auf sich warten. Die der unbequemen Wahrheit verpflichtet Denkmäler wurden nach dem Sturz für So erinnert die Bronzetafel im Audimax und schauen uns die Vergangenheit an, Jahrzehnte in der Sternwarte Bergedorf die Lehrenden und Studierenden immer ob sie uns gefällt oder nicht.“ eingelagert. wieder an die vier jungen Menschen, die für ihre Überzeugungen eintraten und Diese Einstellung war vor 50 Jahren kaum 46 Jahre später setzt die Universität dafür mit ihrem Leben bezahlten. denkbar. Als die Jurastudenten Detlev Hamburg – wie bei der Auseinander- Albers und Gert Hinnerk Behlmer beim setzung mit der NS-Zeit – nun auch im Rektorwechsel im November 1967 im Audi- Umgang mit der kolonialen Vergangen- max ein Banner mit der Aufschrift „Unter heit Maßstäbe. In der Forschungsstelle den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“ unter entfalteten, erregten sie bundesweit der Leitung von Prof. Dr. Jürgen Zimmerer Aufsehen. werden seit 2014 die Verbindungen und
26 lehre Universitätspräsident Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Lenzen im Gespräch mit Lars Haider, Chefre- lebt vom dakteur des Hamburger Abendblatts, über künstliche Intelligenz im Lehrbetrieb, über das deutsche Oxford und über seinen Erinne- diskurs rungsoptimismus.* Lars Haider: Haben Sie als Präsident der Universität Hamburg eine Art Erfolgs- oder Führungsmotto? Prof. Lenzen: Ich sehe mich eher als Moderator. Ich treffe zwar jeden Tag Entscheidungen, aber es sind häufig Arrangements von Entscheidungen anderer. Manchmal beneide ich Ärztinnen und Ärzte, die direkt am OP-Tisch eine Entscheidung treffen, die sofort umgesetzt wird. Hilft es denn in der täglichen Arbeit, Pädagoge zu sein? Überhaupt nicht. Der Umgang mit Lehrenden und Lernenden macht aber große Freude! Ich brauche auch keine sogenannte ‚Work-Life-Balance‘. Für mich ist das ein unsinniger Begriff. Wenn die Arbeit Spaß macht und ich mich mit ihr identifiziere, brauche ich keine harte Grenze zwischen Tätigkeit und Freizeit und somit auch keinen Ausgleich, da mich die Arbeit nicht bedrückt. DIE ‚SCHLUMMERNDE SCHÖNE‘ ZU WECKEN, HAT MICH GEREIZT Sie waren mit 28 der jüngste Hochschulprofessor Deutschlands und sind nun der älteste Universitätspräsident Deutschlands. Was ist schöner? Mit 28 Professor zu sein, war kein leichter Job. Die anderen Professoren waren meist 20, 30 Jahre älter und natürlich sehr viel erfahrener. Heute habe ich den Rücken frei und bin in der Grundstimmung fröhlich. Vielleicht ist das auch eine Art Erin- nerungsoptimismus. Das ist ein Begriff aus der Psychologie und er beschreibt einen romantisierenden Trick des Gehirns, damit man mit dem Riesenpaket, das man auf den Schultern trägt, überhaupt zurechtkommt. Die Universität Hamburg galt lange Zeit als Massenuniversität mit mittelmäßigem Ruf. Das stimmt. Sie war nicht gut angesehen, aus meiner Sicht zu Unrecht. Die Universität wurde damals von der Politik und der Bevölkerung als zu teuer empfunden und galt als eine Art bessere Berufsschule. Die Aufmerksamkeit der Stadt galt vor allem dem Hafen. Mich hat es sehr gereizt, diese schlummernde Schöne zu wecken. Denn es gab schon damals exzellente Wissenschaftlerin- nen und Wissenschaftler an der Universität Hamburg.
27 Was hat sich seitdem getan? licht und sehr Erfolg versprechend ist. Diese Bereiche nicht zu Eine ganze Menge. Wir haben inzwischen vier Exzellenzcluster trennen, das ist für mich das Oxford-Prinzip. mit spannenden Themen und auf einem Niveau, das Weltklasse hat. In der Bevölkerung, aber auch in der Politik hat ein Sinnes- Bleiben wir beim Blick in die Zukunft: Wie wird die künstliche wandel stattgefunden und es sind Personen beteiligt, die sich Intelligenz den Lehrbetrieb verändern? begeistern konnten und können für die nachhaltige Entwick- Man kann sicher nicht den gesamten Lehrbetrieb auf digitales lung eines Wissenschaftsstandorts. Die Science City Bahrenfeld Lehren und Lernen umstellen. Aber es gibt einen Sockel von ist ein weiterer Schritt in diese Richtung. normiertem Wissen, das man haben muss, und dies kann stan- dardisiert und digital vielleicht sogar besser vermittelt werden, Und Hamburg kann zum deutschen Oxford werden – meinen wie zum Beispiel die Einführung von bestimmten Operations- Sie das im Ernst? techniken oder eine Einführung ins Steuerrecht. Doch insge- Ja, natürlich. Es gibt einen schönen Satz des Philosophen Ludwig samt lebt gerade universitäre Lehre vom Dialog, vom Diskurs, Marcuse: ‚Wer nicht mehr will, als er kann, bleibt unter seinen vom Widersprechen und von offener Kommunikation. Mir ist Möglichkeiten!‘ Oxford zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass wichtig, Menschen beim Gespräch ins Gesicht zu sehen. Und die Stadt aus einer Mischbebauung aus universitären Einrichtun- zwar live und nicht per Bildschirm. gen und Wohnhäusern besteht. Dieses Prinzip ist sehr intelligent, weil es das Zusammensein von Leben und Arbeiten sowie die *Dieses Gespräch ist ein Auszug aus dem Podcast „Entscheider Lebensgemeinschaft zwischen Lehrenden und Lernenden ermög- treffen Haider“. Weitere Infos: uhh.de/haider Zur Person Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Lenzen, geboren 1947 in Münster, stu- dierte Erziehungswissenschaft, Philosophie sowie Deutsche, Englische und Niederländische Philologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Nach der Promotion 1973 arbei- tete er von 1973 bis 1975 im Bereich Bildungsforschung für das Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen. 1975 bis 1977 lehrte Lenzen als Professor für Erziehungswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität. Ab 1977 war er Pro- fessor für Philosophie der Erziehung an der Freien Universität Berlin. Zwischen 1986 und 1994 nahm Lenzen Gastprofessuren an den Universitäten Stanford, Columbia, Tokyo, Hiroshima und Nagoya wahr. Von 1999 bis 2010 war er Mitglied des Präsi- Entspannt Dieter Lenzen (l.) und Lars Haider bei der Aufzeich- diums der Freien Universität Berlin, ab 2003 als Präsident. 2010 nung des Podcasts „Entscheider treffen Haider“ trat er das Amt des Präsidenten der Universität Hamburg an.
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