LUST AUF SOZIALISMUS Mario Candeias/Barbara Fried/ Hannah Schurian (Hrsg.) - MATERIALIEN - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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LUST AUF SOZIALISMUS Mario Candeias/Barbara Fried/ Hannah Schurian (Hrsg.) - MATERIALIEN - Rosa-Luxemburg-Stiftung
MATERIALIEN

Mario Candeias/Barbara Fried/
Hannah Schurian (Hrsg.)

LUST AUF
SOZIALISMUS
… FÜR DIE ZUKUNFT SORGEN
INHALT

Vorwort                                                     2

Mario Candeias
Zeit für etwas Neues: darum ­Sozialismus                    3

Bernie Sanders
Der Weg, den ich demokratischen Sozialismus nenne          17

Sarah Leonard
There is an Alternative                                    25

Johanna Bozuwa
Zwölf Jahre, um alles zu verändern                         28
Potenziale eines Green New Deal

Verónica Gago
Revolution heißt für die Zukunft sorgen                    37

Étienne Balibar
Für einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts – vier Thesen   40

Ingar Solty
Warum, darum und wie rum ­Sozialismus?                     42

Alex Demirović
Sozialismus und Zurechenbarkeit                            67

Die Autor*innen                                            73
2   Vorwort

VORWORT

Lust auf Sozialismus und Zukunft? Wie in         auch in Deutschland wird wieder darüber ge­
diesen dystopischen Zeiten noch von Sozia­       stritten. Wie kann ein Socialism for Future, ei­
lismus reden? Und wie sollte man davon           ne sozial-ökologische Revolution, ein grüner
schweigen? Der Kapitalismus frisst Zukunft –     Sozialismus aussehen und die Sehnsüchte
während die Krisen unserer Zeit immer bren­      der Vielen bündeln? Wie sieht eine Politik aus,
nender werden, scheint ihre Lösung immer         die Hoffnung macht und Veränderungen be­
unwahrscheinlicher. Rasende ökologische          wirkt? Was tun und wo anfangen?
Zerstörung, eskalierende militärische Kon­       Sozialismus wäre erst einmal das Selbstver­
flikte und der Aufstieg rechter Kräfte stellen   ständliche …, aber es geht auch darum, ge­
genau wie die private Aneignung des gesell­      zielt beispielgebende, konkrete gesellschaftli­
schaftlichen Reichtums die Zukunft selbst        che Konflikte zu produzieren und den Jammer
infrage. Dass die planetarischen Grenzen er­     der Besitzendenklasse zu verhöhnen, wenn
reicht sind, verengt den zeitlichen Horizont     ihnen mal ein wenig genommen wird. Und
für linke Alternativen. Immer mehr Menschen      mehr natürlich – Ansätze gibt es zahlreiche,
erkennen, dass eine Katastrophe droht, wenn      der prominenteste der jüngsten Vorschläge
sich Ökonomie und Gesellschaft nicht radikal     ist sicher der Green New Deal von Alexandria
verändern – Fridays for Future und die glo­      Ocasio-Cortez und Bernie Sanders. Das neo­
balen Klimastreiks stehen dafür. Manchmal        liberale Mantra «There is No Alternative» hat
können wir uns das Ende der Welt besser vor­     sich in sein Gegenteil verkehrt. Zu einer radi­
stellen als das Ende des Kapitalismus (Fredric   kalen Veränderung gibt es keine Alternative
Jameson).                                        mehr, oder in Anlehnung an Verónica Gago:
Grundsätzliche Alternativen oder System­         Sozialismus heißt für die Zukunft sorgen.
wechsel werden gefordert, immer öfter. Gera­
de in den USA und Großbritannien wird das        Mario Candeias, Barbara Fried
von Jüngeren wieder mit der Frage nach ei­       und Hannah Schurian
nem sozialistischen Projekt verbunden. Und       Berlin, Januar 2020
Zeit für etwas Neues: darum ­Sozialismus   3

Mario Candeias

ZEIT FÜR ETWAS NEUES:
DARUM ­SOZIALISMUS

Der realexistierende Sozialismus ist geschei-     nur unter Aufgabe menschenrechtlicher Stan-
tert. Aus guten Gründen. Der realexistierende     dards. Kurz: Es handelt sich um Menschheits-
Kapitalismus auch. Letzterer wird keineswegs      probleme, die auch ein Scheitern des Kapita-
so schnell abtreten wie der Erstere. Sozialis-    lismus signalisieren, weit über die organische
mus oder Barbarei hieß es einst bei Rosa Lux-     Krise des neoliberalen Projekts hinaus. Aus-
emburg, als die Welt zunächst in Imperialis-      druck dessen ist der Aufstieg eines globalen
mus, Kolonialismus, Erstem Weltkrieg und          Autoritarismus. Im Interregnum ist dies die
dann im Zweiten Weltkrieg und Holocaust           spezifische Bearbeitungsform der Krise zur
versank. Die Barbarei ist angesichts sich auf-    Rückgewinnung/Sicherung von Herrschaft –
türmender Menschheitsprobleme wieder zu           mit unkalkulierbarem Zerstörungspotenzial.
einer realen und drohenden Möglichkeit ge-        Es braucht eine Alternative: einen erneuerten
worden.                                           demokratischen, einen grünen Sozialismus.
Die globale Ungleichheit hat sowohl zwischen      Es braucht eine Perspektive, die in einem of-
den Ländern als auch innerhalb der meisten        fenen und offensiven Suchprozess unsere
Länder ein nie gekanntes Ausmaß erreicht,         verschiedenen politischen Initiativen auf so
mit dramatischen Folgen für den gesellschaft-     unterschiedlichen Feldern wieder zusam-
lichen Zusammenhalt, die Demokratie – und         menbindet, damit nicht alles in Einzelpoliti-
darüber hinaus: Akkumulation basiert weni-        ken, -forderungen und -aktivitäten zerfällt. In
ger auf Produktion auf erweiterter Stufenlei-     Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung ist da-
ter, sondern immer mehr auf Umverteilung,         für eine radikale Perspektive entscheidend. Es
was zugleich wirtschaftliche Entwicklung blo-     geht nicht einfach um die Verteidigung des
ckiert. Dazu treten die Folgen kapitalistischen   Sozialstaates oder die Rückkehr zu einem na-
Wachstums, die zu einer planetarischen öko-       tionalstaatlichen Modell der Regulierung des
logischen Krise geführt haben, die weitere        Kapitalismus. Wir sollten klar sagen, dass wir
soziale Verwerfungen und rasant steigende         an einem Ende des Kapitalismus arbeiten, an
wirtschaftliche Schäden produziert. Durch         einer Gesellschaft, die Bernie Sanders unbe-
die beiden eben genannten Entwicklungen           kümmert Sozialismus nennt. Dazu gehören
mit befördert, durch Krieg und Zerstörung,        ganz selbstverständliche Dinge wie eine kos-
Ressourcenausbeutung, ungleiche Handels-          tenfreie Gesundheitsversorgung und Bildung
abkommen und ungerechte weltwirtschaft-           sowie bezahlbares Wohnen für alle; entgelt-
liche Beziehungen ist die Frage der globalen      freie öffentliche Dienstleistungen von Biblio-
Migration zu einer nicht mehr hintergehba-        theken bis zum öffentlichen Personennahver-
ren Herausforderung geworden: 71 Millionen        kehr; demokratische Mitsprache, die etwas
Menschen sind derzeit auf der Flucht, ein Re-     bewegt; der ökologische Umbau der Städte,
kord. Die allermeisten Geflüchteten landen in     des Verkehrs, der Energieversorgung und der
Ländern des globalen Südens. Aber auch die        Landwirtschaft; viel mehr Zeit füreinander und
Gesellschaften des Nordens sind zu Einwan-        zum Leben; Mitbestimmung und wirkliche
derungsgesellschaften geworden, ob sie es         Demokratie. Sozialismus wäre erst einmal das
wollen oder nicht. Eine Abschottung gelingt       Selbstverständliche.
4   Zeit für etwas Neues: darum ­Sozialismus

Hier scheint das Unabgegoltene vergangener         schon einmal vollbracht worden – heute sind
Zukünfte auf, von der Französischen Revolu-        die Herausforderungen mindestens so groß
tion über die Russische Revolution bis hin zu      wie zu Zeiten von Krise und Kriegswirtschaft –
1968 oder 1989. Wie Corbyn sagt: «Für uns          Letzteres verdeutlicht noch einmal die un-
mag das seit 40 Jahren das Gleiche sein, für       verzichtbare führende Rolle des Öffentlichen
die junge Generation ist das brandneu.» Es         dabei. Die heranrollende Rezession macht es
geht um Wege im Kapitalismus, die über ihn         noch deutlicher: Massive Inventionen werden
hinausführen. So wird das Wort Sozialismus         nötig (selbst der Bundesverband der Deut-
wieder sprechbar. Die Leute sind irritiert, se-    schen Industrie will die schwarze Null weg-
hen bei Wikipedia nach, informieren sich. Es       haben). Diese sollen nicht zum Erhalt des Al-
gibt eine Auftreffstruktur dafür, den Wunsch       ten, sondern zum Aufbau des Neuen genutzt
nach radialerer «Systemkritik» und Alternati-      werden! Gewissermaßen ein Einstiegspro-
ven, nicht zuletzt nach sozial-ökologischen Al-    jekt auf erweiterter Stufenleiter, denn es geht
ternativen – ein Wunsch, der oft wenig kon-        um nichts weniger als um ein neues Gesell-
kret ist.                                          schaftsmodell. Die gegenwärtige Krise und
Wir sollten nicht dahinter zurückbleiben, un-      Polarisierung bietet dafür auch ein Momen-
sere Vorstellungen einer solidarischen, demo-      tum angesichts schneller Bewegungen und
kratischen, feministischen, antirassistischen      Terrainwechsel, die Kräfteverhältnisse in die-
Postwachstumsalternative bei einem neuen           sem Sinne zu verschieben. Wir sollten den
alten, bei einem unabgegoltenen Namen zu           Moment nutzen.
nennen und gemeinsam dafür zu streiten, was
er bedeuten soll im 21. Jahrhundert: Sozialis-     Warum Sozialismus?
mus – eine gute, eine solidarische, eine ge-       Die Methode
rechte Gesellschaft, das Einfache, das schwer      Der Begriff Sozialismus versucht die unter-
zu machen scheint. Nicht alle in der Mosaik­       schiedlichen Interessen und Bewegungen im
linken oder im dritten Pol werden dies unter-      Sinne «revolutionärer Realpolitik» so zu ver-
schreiben, aber es sollte als selbstverständlich   knüpfen, dass sie sich nicht «nur erreichba-
akzeptiert sein, dass eine Transformations-        re Ziele steckt und sie mit den wirksamsten
linke innerhalb des Mosaiks für Sozialismus        Mitteln auf dem kürzesten Wege zu verfolgen
steht. Je nach Kontext kann das «grüner»,          weiß», sondern «in allen ihren Teilbestrebun-
«demokratischer», «feministischer» Sozialis-       gen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der
mus heißen, aber letztlich sollte es einfach um    bestehenden Ordnung» hinausgehen (Luxem-
«Sozialismus» sans phrase (ohne Umschwei-          burg 1903: 373).
fe) gehen.                                         Welche Punkte sind das jeweils in den ein-
Der Name ist nicht entscheidend, aber was          zelnen Politikfeldern? An welcher Stelle kann
sonst wäre ein positiver Begriff für einen Sys-    ein konkreter Bruch angestrebt werden bzw.
temwechsel – denn um nichts weniger geht           quantitative Veränderungen so weit getrieben
es. Wir sollten bewusst machen, dass die           werden, dass sie einen qualitativen Umbruch
oben genannten Menschheitsprobleme nicht           darstellen?
mit dem Drehen von Stellschrauben hie und          Zunächst geht es darum, gezielt beispielge-
da zu bewältigen sind: Die Eingriffstiefe und      bende, konkrete gesellschaftliche Konflikte
das Tempo wären zunächst mit dem New               zu produzieren: wie bspw. die Beschäftigten
­Deal in Zeiten von F. D. Roosevelt vergleich-     der Charité bei der Frage der Personalbemes-
 bar. Dies scheint überdimensioniert, ist aber     sung oder die Initiative «Deutsche Wohnen
 historisch in harten Auseinandersetzungen         & Co enteignen». Dabei sollte ein gezielter
Zeit für etwas Neues: darum ­Sozialismus   5

Konflikt eben an Alltagsbedürfnissen anset- Krankenhauskonzern ein auf Kosten von Pa-
zen, auf unmittelbare Verbesserung für die tient*innen und Personal; wer liefert welche
Einzelnen zielen und eine Dynamik für nächs- Rüstungsgüter in Krisengebiete; wer sperrt
te Schritte und weitergehende Perspektiven sich mit Dieselbetrug und Korruption gegen
schaffen. Dies schließt disruptive Praktiken eine ökologische Mobilitätswende etc. Hier
wie Streik, Besetzung, Blockade, auch Volks- geht es um ein gezieltes blaming der Gegner.
entscheid ein. Diese Selbstermächtigung So kann eine verbindende, sozialistische Klas-
und ein langer Atem sind zentral zur Er-
weiterung des Möglichkeitsraumes –
noch vor Kurzem hätten wir gedacht,            Den Jammer der Besitzenden­
dass eine Kampagne zur Enteignung              klasse verhöhnen, wenn ihnen
von Immobilienkonzernen unter keinen           mal ein wenig genommen wird.
Umständen Erfolg haben kann. Ein sol-
cher Konflikt verleiht Sichtbarkeit, inspiriert, senpolitik herausarbeiten, weshalb Kämpfe
motiviert. Eine entsprechende Kampagne um bessere Arbeitsbedingungen, Löhne und
bietet Möglichkeiten, zuvor zersplitterte In- Zeit, aber auch um die Reproduktion – Ge-
itiativen und Organisationen konkret zu ver- sundheit, Wohnen, Ökologie – noch immer
binden. Wenn sie erfolgreich ist, verschiebt Klassenkämpfe sind – das ist nicht evident,
sie den gesellschaftlichen Diskurs, mithin die weder im industriellen Sektor (Tradition der
Kräfteverhältnisse, und erweitert somit den Sozialpartnerschaft, Inkorporation in den Ex-
Möglichkeitsraum und erhöht die Durchset- portkorporatismus oder Digitalpakt), noch
zungsfähigkeit auch anderer Forderungen weniger in den Dienstleistungsbereichen, am
(beispielsweise hat die Enteignungskampag- wenigsten im Bereich öffentlicher sozialer In-
ne unmittelbar das Diskursfeld für den Mie- frastrukturen oder eben in der Klimafrage. So
tendeckel verbessert und inspiriert radikale ist zum Beispiel die Mär, wir säßen bei der
Überlegungen auf anderen Feldern). Dass ökologischen Krise alle im selben Boot, auch
Konflikte ungeheuer Spaß bereiten können, die Reichen könnten ihr nicht entfliehen, gro-
sieht man schon im Kleinen bei den Stadttei- ßer Unsinn angesichts der klassenförmig ext-
lorganisierungen, wenn dann eine Kampag- rem ungleichen Verteilung von Verursachung
ne vor Ort fruchtet, sich mit anderen verbin- und Folgen, global wie innergesellschaftlich.
det, man sich als Teil von etwas Größerem Neben dem Gegnerbezug braucht es immer
fühlt. Die organisierende Arbeit – verbinden, verbindende (meist recht allgemeine) Slogans
verbreitern, verankern – ist zentral, um mehr für eine Systemwende, aber auch positive
zu werden. Welches sind also die drei bis vier Projekte, eine Mischung aus erreichbaren Zie-
zentralen gesellschaftlichen Fragen, die ge- len und vorwärtsreibenden Forderungen und
löst werden müssen und die geeignet sind, Initiativen.
einen solchen, für die Linke produktiven Kon- Dabei werden alte sozialistische Problemati-
flikt zu entwickeln?                             ken wie Macht- und Eigentumsfragen, Um-
Dabei bedarf es jeweils spezifischer Gegner- verteilung, Planung und Demokratie aktu-
bezüge. Taktisch wie strategisch sollte man alisiert und mit neuen Problemstellungen
hier möglichst genau werden, damit der Geg- verknüpft – in der Perspektive der Erweiterung
ner nicht abstrakt bleibt: also etwa mit Re- der gemeinsamen Verfügung über die un-
cherchen über Hintergründe von Investo- mittelbaren Lebensbedingungen, der gesell-
ren, Machenschaften eines Unternehmens, schaftlichen Produktions- und Reproduktions-
wer steckt die Profite in diesem oder jenem mittel.
6   Zeit für etwas Neues: darum ­Sozialismus

Was daran ist sozialistisch?                      tet werden – ohne sich in Verzichtsdebatten zu
Hier geht es weniger um die Beschreibung ei-      verkämpfen. Mit einem solchen (nicht waren-
nes fertigen Ziels als um Bestimmung einiger      förmigen) Ausbau des Öffentlichen werden
orientierender Elemente für die wirkliche Be-     zugleich Märkte und Privatisierung zurück-
wegung, die den gegenwärtigen Zustand auf-        gedrängt. Das Öffentliche als Sphäre des Ge-
hebt.                                             meinsamen muss erfahrbar, der Reichtum des
1. Umverteilung: Umverteilung reicht nicht        Öffentlichen herausgestellt werden.
aus. Und doch ist eine radikale Umvertei-         Hier gibt es diverse Ansatzpunkte für geziel-
lung von Vermögen und Kapital eine wesent-        te gesellschaftliche Konflikte, neben dem Be-
liche Voraussetzung jeder linken Politik – hier   reich Wohnen (vgl. LuXemburg 2/2019) etwa
zeigt sich, wer einen Richtungswechsel ernst      im Gesundheitssektor: die Abschaffung der
nimmt und Vermögende wieder stärker zur           Fallpauschalen (DRG) sowie gesetzliche und
Finanzierung des Öffentlichen heranziehen         tarifliche Regeln für die Personalbemessung,
will, also das gesellschaftliche Mehrprodukt      die Abschaffung der Zweiklassenmedizin und
wieder der Allgemeinheit zuführt. Das ist im      der privaten Krankenversicherung, die Re-
engen Sinne Klassenkampf und beginnt viel-        kommunalisierung bzw. Vergesellschaftung
leicht bei der Einschränkung von Profitinteres-   der großen Krankenhaus- und Pflegekonzer-
sen – etwa der Möglichkeit, die Maximalrendi-     ne, die Einrichtung von Polykliniken und loka-
te bei der Veräußerung von Grund und Boden        len Gesundheitszentren mit Pflege- und Ge-
festzulegen – und endet bei der großen Steu-      sundheitsräten.
erreform. Auf pseudoökonomische Debat-            Ein dringliches Feld wären konsequente
ten, ob das sinkende Investitionen nach sich      Schritte zu einer Mobilitätswende und «au-
zöge oder nicht, sollten wir uns nicht einlas-    tofreien» und begrünten Stadt, unverzicht-
sen, sondern den Jammer der Besitzenden-          bar schon aufgrund ökologischer Gründe,
klasse verhöhnen, wenn ihnen mal ein wenig        aber auch zur Wiederaneignung des öffent-
genommen wird. Wir sollten jene Momente           lichen Raumes. Die Elemente sind bekannt:
herausstellen, in denen es aktuell gelingt (und   Verlagerung des Individualverkehrs auf einen
einst gelang), Besitzenden etwas wegzuneh-        massiv ausgebauten und «smarten» öffentli-
men, um dem Gefühl gegenzuarbeiten, dass          chen Nah- und Fernverkehr (v. a. auch für die
man an die sowieso nicht herankäme.               Pendler*innen im «urban-ländlichen» Raum),
2. Infrastruktursozialismus – Rückgewinnung       deutliche Preissenkung bis hin zum entgelt-
und Ausbau des Öffentlichen, der Commons,         freien ÖPNV, Rückkehr von Betrieben und In-
der sogenannten «Freiheitsgüter» (Michael         frastrukturen in öffentliche Hände, bessere
Brie, Dieter Klein): Mit dem Ausbau des kol-      Arbeitsbedingungen und Entlohnung, Vor-
lektiven Konsums durch Stärkung sozialer          rang von Fußgänger- und Radverkehr, Ende
und anderer Infrastrukturen sowie allgemei-       des Verbrennungsmotors. Das hieße, sich mit
ner solidarischer Sicherungssysteme wird          mächtigen Konzerninteressen und Lobbys an-
die Grundlage für a) eine solidarische und de-    zulegen. Es ist der richtige Moment dafür.
mokratische Lebensweise gelegt und kann           Insgesamt wäre der Ausbau des Öffentlichen
b) die Angst und Unsicherheit vor notwendi-       mit einer Stärkung der Rechte und Finanzen
gen großen gesellschaftlichen Veränderun-         der Kommunen zu verbinden, die in ganz we-
gen genommen werden, auch der in Teilen           sentlichen Bereichen für die unmittelbaren
der Gewerkschaften bzw. Arbeiterklasse ver-       Dinge des Lebens verantwortlich sein sollten:
breiteten Fixierung auf Lohnerhöhung und          von Gesundheit, Mobilität, Bildung und Ener-
stofflichen Warenkonsum entgegengearbei-          gie über Sicherheit und Beschäftigung bis zur
Zeit für etwas Neues: darum ­Sozialismus   7

Produktion und Zubereitung von Lebensmit-
                               schon gar nicht ein neoliberaler Umbau von
teln. Die Vision einer Stadt für alle – bzw. im
                               öffentlichen Diensten auf Wettbewerb und rei-
emphatischen Sinn der Kommune – böte je-
                               ne betriebswirtschaftliche Effizienz waren be-
ne Freiheitsgüter, die für eine angstfreie, indi-
                               sonders emanzipativ. Ein linkes Staatsprojekt
viduelle wie gemeinsame Entwicklung grund-
                               muss also die von den (Demokratie-)Bewe-
legend sind.                   gungen seit 2011 geforderte Erweiterung der
3. Wirkliche Demokratie, die sich sowohl
                               Teilhabe und Transparenz realisieren – und in
in Richtung Wirtschaftsdemokratie (sie-
                               sozialistischer Perspektive auf die Absorption
he Punkt 4) ausdehnt als auch in Richtung
                               des Staates in die Zivilgesellschaft hinarbeiten,
Demokrati­sierung des Staates, der Familie,
                               wie es bei Gramsci heißt. Partizipation heißt
der Lebens­weisen. Hier gilt es gewisserma-
                               nicht, seine Meinung äußern zu dürfen, son-
ßen, ein Sub­sidiaritätsprinzip zurückzugewin-
                               dern wirkliche Entscheidungen beeinflussen
nen: Über die lokalen Belange beschließen
                               zu können. Es braucht Strukturen, die nicht
die Kommunen. Wo über die jeweils kleinste
                               einfach mit einer veränderten Mehrheit wie-
Ebene andere Ebenen oder Regionen mit be-
                               der zurückgedreht werden können – wie beim
troffen sind, wird die jeweils andere Re­gion
                               paternalistischen und letztlich passivierenden
einbezogen oder die Entscheidung auf ei-
                               sozialdemokratischen Sozialstaat. Nur wenn
ne höhere Ebene verlagert. Die Repräsenta-
                               die Subalternen sich den Staat aneignen, ihn
tions- und Legitimationskrise des politischen
                               in die Zivilgesellschaft holen, mit Leben füllen,
Systems hat viel damit zu tun, dass wesent-
                               werden sie ihn auch verteidigen, wenn ande-
liche Bedürfnisse der Bevölkerung nicht be-
                               re ihn sich unter den Nagel reisen wollen, das
rücksichtigt werden, die Menschen selbst
                               Eigentum verscherbeln oder Entscheidungen
nicht mitwirken können. Jenseits und inner-
                               abschirmen und monopolisieren.
halb der Nationalstaaten hat sich eine trans-
                               Doch wenn es gelingt, wesentliche Bereiche
nationale Bourgeoisie etabliert, die nur noch
                               zu rekommunalisieren oder zu vergesellschaf-
eine «marktkonforme Demokratie» akzeptiert.
                               ten, öffentliche und genossenschaftliche Be-
Eine verselbständigte Klasse der Reichen und
                               triebe aufzubauen, Selbstverwaltungen zu in-
Superreichen, der «plutokratischen Extremis-
                               stallieren, wie sichern wir ab, dass diese dann
ten» (Piketty) entzieht sich der Finanzierung
                               auch in der gewünschten demokratischen
des Gemeinwohls, die «politische Klasse» ent-
                               Weise arbeiten und Partizipation ermögli-
koppelt sich. Der Staat erscheint vielen immer
                               chen?
weniger als Ort politischer Auseinanderset-
                               Funktionierende demokratische Routinen zu
zungen, sondern vielmehr als von ihnen ent-
                               finden ist wichtig. Und dennoch gilt es im-
fremdete (Klassen-)Macht.      mer wieder, auch demokratische Institutionen
Der Ausbau des Öffentlichen im Sinne einer
                               aufzubrechen, ihre «Öffnung für die Massen»
vorsorgenden Wirtschaft muss daher zugleich
                               durch immer wieder zu erneuernde Partizipa­
eine radikale Demokratisierung des Staates
                               tions­prozesse und Infragestellung der Institu-
sein. Weder der «wohlmeinend» paternalisti-
                               tionen bei drohender Bürokratisierung zu er-
sche und patriarchale fordistische Wohlfahrt-
                               wirken, die Institutionen perspektivisch immer
staat noch der autoritäre Staatssozialismus,
                               weiter in die Zivilgesellschaft und Selbsttätig-
                                                    keit zu absorbieren durch
                                                    Einrichtung von Selbstver-
Das Öffentliche als Sphäre des Gemein­              waltung und Räten auf den
samen muss erfahrbar, der Reichtum                  unterschiedlichen Ebenen.
des Öffentlichen herausgestellt werden.             Das gilt auch und beson-
8   Zeit für etwas Neues: darum ­Sozialismus

ders für linke Staatsprojekte. Die Eigensin-      tungen) und Investitionen ausüben. Generell
nigkeit von unten mag nicht immer der Logik       sollten Schlüsselbetriebe in öffentliches oder
(linker) Staatsprojekte entsprechen, bewahrt      genossenschaftliches Eigentum überführt
jedoch vor Verselbstständigung der Appara-        werden. Staatliche Fördergelder sollten auch
te. Hier wären die munizipalistischen Ansätze     als Hebel eingesetzt werden, um Beschäftig-
weiterzutreiben, Nachbarschaftsräte und par-      tenrechte, Partizipation und andere Eigen-
tizipative Haushalte zu verknüpfen und zu ent-    tumsformen durchzusetzen. Die Aktivitäten
wickeln.                                          von Unternehmen haben tief greifende Be-
4. Wirtschaftsdemokratie: Dabei geht es nicht     deutung, Wirkungen und Konsequenzen für
nur um das Öffentliche des Staates, sondern       die betreffenden Kommunen, Regionen und
auch um die Demokratisierung der Wirt-            darüber hinaus – es handelt sich daher der Sa-
schaft: Die «Leistungen» von Management           che nach nicht um private Angelegenheiten.

Wenn die Märkte ihre Investitionsfunktion nicht
wahrnehmen, dann muss diese weitaus stärker zur
öffentlichen, partizipativ organisierten Aufgabe werden.

und Shareholder-value-Konzepten in der Un-        5. Unumkehrbarkeit? Die Eigentumsfrage:
ternehmensführung sind angesichts von Kurz-       Die Frage der Vergesellschaftung ist wieder
fristdenken, Finanzkrise, exorbitanten Mana-      sprechbar geworden. Diese Öffnung sollte ge-
gergehältern, Steuerhinterziehung, Pleiten        zielt genutzt werden: Wie beim Thema Woh-
und Massenentlassungen sowie wachsender           nen hat dies noch ohne Erreichung des ei-
ökologischer Zerstörung und (Diesel-)Skanda-      gentlichen Ziels den Diskurs verschoben und
len in Zweifel geraten. Auch die klassische be-   mehr Möglichkeiten eröffnet. Diese Erfahrung
triebliche Mitbestimmung konnte dem Druck         lässt sich konkret übertragen, um die Hinder-
transnationaler Konkurrenz und finanzdomi-        nisse bei der Entwicklung von Gesundheitsin-
nierter Kontrolle nicht ausreichend begeg-        frastrukturen (Krankenhaus- und Pflegekon-
nen, geriet manchmal selbst in Verwicklun-        zerne), bei der Sicherung privater Daten und
gen von Kollaboration und Korruption. Es ist      digitaler Infrastrukturen (Facebook & Co), bei
also Zeit für eine über die klassische Mitbe-     der Mobilitätswende (Automobilkonzerne
stimmung hinausgehende Demokratisierung           und die Bahn AG) oder beim Wohnungsbau
der Wirtschaft, für eine weitreichende Parti-     (informelle Kartelle in der Bauwirtschaft) zu
zipation von Beschäftigten, Gewerkschaften,       überwinden. Die Vergesellschaftung zentraler
Verbänden und Initiativen, Bevölkerung/Kon-       materieller und sozialer Infrastrukturen sowie
sument*innen und anderen Stakeholdern an          zentraler Produktionsstrukturen in öffentliche
Entscheidungen in Betrieben (und zwar ent-        Unternehmen oder Genossenschaften (beide
lang der gesamten, transnationalen Produk-        gesteuert von Räten, die aus Beschäftigten,
tionskette). Beschäftigte sollten Mitwirkungs-    Nutzer*innen, Betroffenen und Politiker*innen
und Vetorechte bei der Personalbemessung          zusammengesetzt sind) ist ein wesentlicher
und Betriebsverlagerungen, stärkeren Ein-         Faktor zur dauerhafteren Verschiebung von
fluss bei Arbeitszeiten oder der Produktions-     Kräfteverhältnissen. Eine wirkliche Vergesell-
organisation erhalten. Regionale Räte und         schaftung (nicht nur die formelle Verstaatli-
Beschäftigte sollten Mitwirkungs- und Mitent-     chung) wäre auch ein wirksamerer Schutz ge-
scheidungsrechte bei Innovationen (und -rich-     gen spätere Reprivatisierungen.
Zeit für etwas Neues: darum ­Sozialismus    9

Die Frage der Unumkehrbarkeit gilt aber auch       Technologien bis hin zu Nano- oder Biotech-
für andere essenzielle Entscheidungen und          nologien. «Tatsächlich ist es der Staat, der be-
Errungenschaften, hinter die eine künftige Ge-     reit ist, Risiken einzugehen, die Unternehmen
sellschaft nicht mehr zurückfallen darf – Stich-   scheuen. Er hat sich als schöpferisch erwie-
wort: Ewigkeitsklauseln des Grundgesetzes,         sen, schaffte gänzlich neue Märkte und Bran-
etwa die verfassungsmäßige Absicherung öf-         chen.» (Mazzucato 2014)
fentlicher sozialer Infrastruktur und ein Priva-   Wofür wollen wir investieren? Dies wäre
tisierungsverbot. Von rechts werden perma-         durchaus eine gute Frage für eine Kampag-
nent neoliberale und autoritäre Maßnahmen          ne. Dies schließt auch die Sozialisierung der
in das Verfassungsrecht gegossen bzw. Ins-         Innovationsfunktion ein, um der Entwicklung
titutionen und Strukturen gebaut, die spezi-       der Produktivkräfte eine Richtung zu geben,
fische Politiken vor demokratischem Einfluss       die an den Bedürfnissen der Einzelnen ansetzt
entziehen wollen, dies beginnt bei der Unab-       und nicht an den Perspektiven des Profits – of-
hängigkeit der Zentralbank und der einseiti-       fensiv, die Unfähigkeit des privaten Sektors
gen Definition der Aufgaben der EZB und geht       herausstellend, weil er den komplizierten Un-
bis zu Fiskalpakt, Lissabon Vertrag etc. Nun       sinn, vom digitalen Gadget bis zur Waffen-
sollten wir es den herrschenden Klassen nicht      produktion, entwickeln kann, aber keine Lö-
gleichtun. Aber erweiterte soziale und politi-     sung selbst für einfache Probleme wie etwa
sche Rechte, bestimmte Freiheitsgüter etc.         neue Werkstoffe für günstige und ökologische
sollten nicht (so leicht) infrage gestellt wer-    Wohnungen. Die Gewinnung ökologischer
den können und daher institutionalisiert wer-      (Leichtbau-)Materialien und Stoffe, die Siche-
den, wenn möglich mit Verfassungsrang, gern        rung von 100 Prozent erneuerbarer Energie
auch auf trans- und internationaler Ebene.         mit entsprechenden dezentralen Speicherka-
6. Umgestaltung: Sozialisierung der Inves-         pazitäten und abnehmenden Stromverbräu-
titionsfunktion (John Maynard Keynes): Die         chen, die Entwicklung smarter öffentlicher
Überakkumulation von Kapital produziert Wel-       Mobilitätssysteme bei gleichzeitiger Reduzie-
len spekulativer Blasen, gefolgt von Kapital       rung des Verkehrs, die Ersetzung seltener Er-
und Arbeitsplatzvernichtung, während immer         den durch alternative Rohstoffe, ökologische
größere Bereiche gesellschaftlicher Repro-         Anbaumethoden zur Sicherung der Ernäh-
duktion wie Erziehung und Ausbildung, Um-          rungssouveränität angesichts globaler Erwär-
welt, Hungerbekämpfung, Infrastrukturen            mung etc. – dies sind nur einige Beispiele für
und öffentliche Dienstleistungen liegenblei-       progressive Innovationsfronten, die Investitio-
ben bzw. kaputtgespart werden. Die großen          nen in breite öffentliche Grundlagen- und An-
Menschheitsprobleme bleiben ungelöst auf           wendungsforschung erfordern.
Kosten der subalternen Klassen und der natür-      7. Kollektive Kreativität: Ungeahnte Produkti-
lichen Umwelt. Wenn die Märkte ihre Investi-       vitätspotenziale liegen auch in der Befreiung
tionsfunktion nicht wahrnehmen, dann muss          der Autonomie der Arbeit. Die neuen Produk-
diese weitaus stärker zur öffentlichen, partizi-   tivkräfte ermöglichen die «Emanzipation der
pativ organisierten Aufgabe werden. Mariana        Arbeiter von der Fessel, für die Ausführung
Mazzucato zeigt, wie die Schaffung von neu-        einer Teilfunktion eine beschränkte und da-
en Technologien/Produktivkräften, ja sogar         mit einschränkende Kompetenz ausbilden zu
neuen Märkte in den letzten 40 Jahren nicht        müssen». Doch die «Privatproduktion wird
durch Unternehmen, sondern durch staatli-          diese Möglichkeit kaum zur friedlichen Entfal-
che Forschungsprogramme und Maßnahmen              tung treiben»; «die Herrschaftskräfte werden
erfolgte: vom Internet, über die erneuerbaren      nicht freiwillig eine Anordnung mit zerstören,
10 Zeit für etwas Neues: darum ­Sozialismus

in der sie die ‹Köpfe› repräsentieren, die das   Produktivkraftrevolution ballt sich ungeheure
Werk der ‹Hände› regulieren» (PAQ 1987: 58).     Kompetenz, sprunghafte Zunahme kollektiver
Erst in «ihrer demokratischen Form, als Ko-      Handlungsfähigkeit bei den Arbeitsteams, die
operative Individualität», kann eine neue Form   über die 4.0-Produk­tionssysteme eine interna-
der Arbeitsteilung ihre Potenziale entfalten     tionale einheitliche Sprache sprechen lernen.
(Müller 2010: 312).                              Dennoch: Die Herausbildung «kooperativer
Vor dem Hintergrund zunehmender Transna­         Kreativität» komplexer Arbeit im Prozess der
tio­nalisierung und Standardisierung wurden      Informatisierung und Computerisierung bildet
in den letzten Jahren die neuen Formen der       den Kern der neuen Produktivkräfte. Er ver-
Arbeitsorganisation zurückgeschraubt, errei-     weist auf «eine neue Stufe der Vergesellschaf-
chen ihre Grenzen. Ein «Kulturbruch» in den      tung» (Müller 2010: 285), deren Realisierung
Unternehmen, der bereits im Zuge der Kri-        durch die kapitalistischen Produktionsverhält-
se der New Economy eingeleitet wurde. Von        nisse vorerst verstellt bleibt. Grundlage der
Kapitalseite erfolgt ein Rückbau von Autono-     Entfaltung kooperativer Kreativität ist Demo-
miespielräumen, Verschärfung von Kontrolle,      kratisierung von Arbeitsorganisation wie der
Intensivierung und Prekarisierung der Arbeit     Entscheidung über den Zweck der Produk­
sowie Überausbeutung. Im Ergebnis sinkt die      tion und damit die bereits angelegte Überwin-
Arbeitsproduktivität in diesen Bereichen. «Die   dung der unproduktiven Grenzen des Privatei-
Potenziale der neuen Produktivkräfte lassen      gentums. Jenseits der Nische wird schließlich
sich unter den neoliberalen Produktionsver-      auch die Vernetzung nicht kapitalistischer
hältnissen nicht weiter realisieren» (Candeias   (digitaler wie stofflicher) Produktion über die
2010: 8). Wissensmanagementsysteme versu-        flexible Verbindung entsprechender Maschi-
chen bereits das spezialisierte Wissen der Ar-   nensysteme möglich. Es gilt, die kooperative
beitenden zu verallgemeinern. Mit der Indus-     Kreativität den einzwängenden Imperativen
trie 4.0 soll das Produktionswissen erneut und   von Konkurrenz und Profit zu entwinden (vgl.
auf höherer Stufe an die Maschinen(-­systeme)    Candeias 2016).
übertragen werden. Selbstverständlich be-        8. Ein neuer Begriff von Reichtum: Für eine
wegt sich die Selbstorganisation in einem        sozial-ökologische Transformation ist auf re-
«Raum möglicher Problemlösungen, den Men-        produktive Bedürfnisse zu orientieren; hin zu
schen mittels mathematischer Modellierung        einer «Reproduktionsökonomie», die sich zu
voraus entwerfen» (Ohm/Bürger 2015: 22).         beschränken weiß und zugleich neuen Reich-
Selbst beim Einsatz sogenannter künstlicher      tum schafft: andere soziale Innovationen,
Intelligenz ist es «normal und erwartbar, dass   sinnvollere Produktivkräfte, Zeitwohlstand,
Menschen Fehler machen – sowohl die Pro-         allseitige Entwicklung, Raum für Zärtlichkeit,
grammierer als auch die Operateure der Sys-      Solidarität, Unterstützung und Ansporn statt
teme». Daher birgt die Konstruktion «‹intel-     Konkurrenz. Im Zentrum einer Transformation
ligenter›, das heißt vermeintlich fehlerfreier   würden Bereiche stehen, die gemeinhin un­
Systeme hohe Risiken» (Weyer 1997: 245).         ter einen (weiten) Begriff der Reproduktions-
Dies hat sich schon beim alten Traum der au-     oder Sorgearbeiten fallen: Ausbau bedürfnis­
tomatischen Fabrik bei Fiat als Dialektik der    orientierter sozialer Infrastrukturen öffentlicher
Automation erwiesen. Die maschinelle ler-        Gesundheit, Pflege, Erziehung und Bildung,
nende Fehlerkorrektur kann jedoch die Steue-     Forschung, sozialer Dienste, Ernährung und
rung auf sehr wenige, ausgewählte menschli-      Schutz unserer natürlichen Umwelten, ­Pflege
che Wächter*innen und Regulator*innen des        menschlicher Beziehung. In diesen zentralen
Produktionsprozesses begrenzen. Mit der          Bereichen beklagen alle seit Jahren Mangel,
Zeit für etwas Neues: darum ­Sozialismus 11

es sind die einzigen Bereiche, in denen die Be-    Notwendige gesellschaftliche Arbeit ist dabei
schäftigung in Industrieländern wächst. Sie        als gemeinschaftliche Selbstverpflichtung zu
sind öffentlich zu halten und nicht dem Markt      verstehen, als gemeinsame Bestimmung, was
preiszugeben. Dies wäre zugleich ein Beitrag       geleistet werden soll, wie die gewonnenen
zur Ökologisierung unserer Produktionswei-         Ressourcen und die Zeit eingesetzt werden
se (da diese Arbeit mit Menschen selbst we-        sollen. Dies schließt jedoch weitreichende in-
nig Umweltzerstörung mit sich bringt) sowie        dividuelle Autonomiespielräume in der Arbeit
zur Bearbeitung der Krisen von (bezahlter) Ar-     mit ein, ebenso wie die freiwillige assoziier-
beit und (unbezahlter) Reproduktion. Und gut       te/dissoziierte Arbeit nach Neigung: etwa ein
gewendet können sie einen Beitrag zur eman-        individuelles «Ziehungsrecht» (Supiot 1999)
zipativen Gestaltung von Geschlechterver-          für autonome Zeiten (allein oder in Gruppen)
hältnissen leisten, durch den Blick auf repro-     für eigensinnige Projekte und Erfindungen,
duktive Funktionen. Mit der Überwindung der        Forschung, Kunst etc., die Raum für kreative
geschlechtlichen Arbeitsteilung wäre auch          und innovative Entfaltung schaffen (inkl. der
die Überwindung der Trennung von Kopf und          dafür nötigen Mindestressourcen und Erpro-
Hand anzugehen.1 Dabei bildet die neue «femi-      bungsphasen, sofern es sich nicht um gefähr-
nistische Internationale» international gegen-     liche Verfahren handelt), ohne notwendige
wärtig den radikalsten und sichtbarsten Ge-        Zustimmung durch ein Kollektiv. Ebenso sind
genpol zum globalen Autoritarismus wie zum         individuelle Ziehungsrechte in Form von Sab-
Neoliberalismus. Eine solche Bewegung gilt es      baticals denkbar, die nicht direkt an im enge-
klassenpolitisch weiterzutreiben, so wie es die    ren Sinne gesellschaftlich notwendige Arbeit
Diskussion um Frauen*Streik und reproduk­          gebunden sind (etwa für Reisen, Muße, Ex-
tive Gerechtigkeit begonnen hat.                   zess und Experiment). Ziehungsrechte für Er-
9. Ein neuer Begriff von Arbeit: Bei einer sol-    ziehungs- und Pflegezeiten, wie sie zum Teil
chen sozial-ökologischen und feministischen        gegenwärtig schon bestehen, sind hingegen
Offensive geht es auch um die Neudefinition        weitgehend überflüssig, sofern die repro-
und Neuverteilung dessen, was wir als ge-          duktiven Arbeiten selbst als notwendige in
sellschaftlich notwendige Arbeit verstehen         den Alltag eingebaut sind – aber auf Wunsch
(4-in-1-Perspektive, vgl. Haug 2011) – durch       durchaus möglich. Insofern steht die gemein-
Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit, Ausdeh-         same Definition, Ausgestaltung und Vertei-
nung kollektiver, öffentlich finanzierter Ar-      lung gesellschaftlicher Arbeit im Vordergrund,
beit, orientiert an der Reduktion von Stoff- und   ist jedoch mit der Möglichkeit temporärer in-
Energieverbrauch, am Beitrag zu menschli-          dividueller Exit-Optionen und kollektiv garan-
cher Entwicklung, am Reichtum allseitiger Be-      tierter autonomer Räume verbunden.
ziehungen, nicht an der Produktion von Mehr-       10. Weniger ist (manchmal) mehr: Die Re­
wert. Wachstumskritische Bewegungen,               orien­tierung auf reproduktive Bedürfnisse geht
feministische Politiken und Dienstleistungs-       einher mit einer Orientierung auf Binnenmarkt
gewerkschaften wie ver.di können an solchen        und -produktion, die Entwicklung neuer (so­
Punkten zusammenkommen.                            zial-­ökologischer) Innovationsrichtungen und

Gesellschaftlich notwendige Arbeit orientiert an
der Reduktion von Stoff- und Energieverbrauch, am Beitrag
zu menschlicher Entwicklung, am Reichtum allseitiger
Beziehungen, nicht an der Produktion von Mehrwert.
12 Zeit für etwas Neues: darum ­Sozialismus

Produktivkräfte für die stoffliche Produktion. ser Weise auch für den Mobiliätssektor: Der
Globale Produktionsketten werden seit Lan- Umbau von Individualverkehr mit Verbren-
gem überdehnt und führen zur Verschwen- nungsmotor hin zu kollektiven, smarten öf-
dung von Ressourcen. Es geht dabei nicht um fentlichen Verkehrsmitteln auf Basis regenera-
einen «naiven Antiindustrialismus» (Urban), tiver Energien erfordert die Entwicklung und
sondern vielmehr um eine alternative Produk- Produktion neuer Produkte, einen massiven
tion, regionale Produktions- und Reproduk- Ausbau von Infrastrukturen, Personalaufbau
tionskreisläufe. Dies bedeutet, die Debatte u. a. m.
um das progressive Verhältnis von selektiver Ein solches qualitatives Wachstum ist über-
«Deglobalisierung» und «solidarischer Alter- gangsweise nicht zuletzt aufgrund der Defizi-
globalisierung» (gilt auch für Europadebatte) te in vielen Bereichen der Reproduktion, aber
weiterzutreiben, statt der gegenwärtigen um auch alternativer industrieller Produktion not-
Globalisierung versus Rückkehr zum National- wendig – dies gilt vor allem für Länder des glo-
staat, die nur die Entgegensetzung von Neo- balen Südens. Hier ist ein simpler Gegensatz
liberalen und Rechten reproduziert. Eine Ten- von Wachstums- versus Postwachstumspo-
denz zu Deglobalisierung und Regionalisierung sitionen kontraproduktiv. Dabei weisen De-
der Wirtschaft trägt auch                                           batten um Buen Vivir und
zum Abbau der Leistungs-                                            sozial-ökologische Ent-
bilanzungleichgewichte          Die Transformation                  wicklungsweisen jenseits
und der Exportfixierung         erfordert unglaublich               westlicher Lebenswei-
bei. Bestimmte politische       viel Arbeitskraft.                  sen im globalen Süden
Kompetenzen wären von                                               über Wachstums- und
der internationalen oder europäischen Ebene Modernisierungsvorstellungen hinaus. Auch
tatsächlich «zurückzuholen», etwa die Orga- hier sind falsche Gegensätze zu vermeiden:
nisation der Daseinsvorsorge, anderes wiede- Nicht «Entwicklung» an sich ist das Problem,
rum, wie die Gewährleistung (globaler) sozia- nicht die «moderne» Zivilisation, sondern eine
ler und ökologischer Rechte oder die Kontrolle spezifische Form kapitalistischer (oder auch
der Finanzmärkte, wäre trans- oder internati- staatssozialistischer) Entwicklung und be-
 onal anzugehen. Es ginge um eine neue Ver- stimmter gesellschaftlicher Naturverhältnis-
 bindung von Dezentralität mit transnationalen se. Eine Reproduktionsökonomie bedeutet
 Vermittlungen (siehe die Punkte zu Demokratie mittelfristig, dass sich Bedürfnisse und Öko-
und Subsidiarität oben). Auf dieser Grundlage nomie qualitativ entwickeln, aber nicht mehr
lässt sich über einen erneuerten Internationa- quantitativ bzw. stofflich wachsen.
lismus und viele neue Internationalen nach- 11. Gerechte Übergänge und universelle Job-
denken, die globale Solidarität praktisch ma- garantie: Positive Perspektiven für die von der
chen, aber lokal verankert sind.               Klimakrise am stärksten Betroffenen wie für
Wird der Umbau konsequent betrieben, ist ei- die von steigenden Kosten (z. B. der Energie-
ne Vernichtung alter Branchen und Kapitale wende) und dem Umbau (z. B. dem Struktur-
(und entsprechende Gegenwehr) unvermeid- wandel durch industrielle Konversion oder
lich. Bestimmte Bereiche müssen schrump- durch Rückbau etwa der Rüstungsindustrie)
fen (bspw. Teile der mit hohem Stoffumsatz bedrohten Beschäftigten, Gemeinden und
verbundenen industriellen Produktion), an- Länder sind notwendig. In diesem Sinne ver-
dere zunächst wachsen (bspw. die gesamte suchen Just-Transition-Initiativen Klimage-
­Care-­Öko­nomie), bei relativer Entkopplung rechtigkeits- und Arbeiterbewegung zusam-
 vom stofflichen Wachstum. Dies gilt in gewis- menzubringen. Andernfalls werden immer
Zeit für etwas Neues: darum ­Sozialismus 13

wieder soziale gegen ökologische Interessen        Leben, Zeit für Familie und Freund*innen und
ausgespielt oder die Berücksichtigung von          lebenswerter natürlicher Umwelten. Zielmar-
Interessen der unteren Klassen (bessere Um-        ken wären das Ende des Verbrennungsmotors
weltbedingungen und bewusster Konsum)              im Jahr 2030 und die weitgehende Verwirk-
oder von Beschäftigteninteressen (mehr Jobs)       lichung autofreier Innenstädte durch einen
bleibt äußerlich. Kriterien für einen solchen      massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs
gerechten Übergang zu einem grünen Sozia-          und entsprechende Infrastrukturen in den
lismus könnten sein: Alle zu treffenden Maß-       Städten und auf dem Land.
nahmen müssten daran gemessen werden,              Die Beschäftigten wissen, dass ein Struk-
ob sie 1. relevant zur Senkung von CO2 -Emis-      turwandel kommt. Es wäre positiv, an das
sionen beitragen, 2. zur Reduzierung von Ar-       enorme Wissen und den Produzenten- bzw.
mut und Vulnerabilität (Verletzlichkeit), 3. zur   Gebrauchswertstolz der Beschäftigten an-
Reduzierung von Einkommens- und anderen            zuknüpfen: Schaffen wir einen sozial-ökolo-
Ungleichheiten, 4. Beschäftigung und Gute          gischen Umbau der Industrie, der zugleich
Arbeit befördern und 5. demokratische Parti-       Jobs – nicht zuletzt im Metallbereich – und Zu-
zipation der Einzelnen ermöglichen.                kunft auf diesem Planeten sichert? Es bedarf
Am Beispiel der Automobilindustrie lässt           dafür schließlich vieler Elemente alternativer
sich dies verdeutlichen. Der bereits enor-         Produktion: die Entwicklung und Ausweitung
me Konkurrenzdruck wird angesichts weiter          von E-Bus-Systemen (Oberleitung, auto-
steigender globaler Überkapazitäten zuneh-         nom etc.), Klein- und Rufbussen, spezialisier-
men, Zentralisierung befördern und Stand-          ten Nutzfahrzeugen etc., die Produktion von
orte und Arbeitsplätze gefährden. Präventiv        Schienenfahrzeugen (S- und U-Bahnen, Stra-
wären staatliche Kapitalhilfen an alternative      ßenbahnen, Regional- und Fernzüge, Güter-
Entwicklungswege und die Beteiligung am            züge), smarter Verkehrsleitsysteme, teilweise
Eigentum bzw. die volle Vergesellschaftung         der Bau von Energie- und Schieneninfrastruk-
von Unternehmen zu knüpfen. Öffentliche            tur, die Entwicklung von ökologisch verträgli-
Beteiligung wäre mit erweiterter Partizipation     chen Leichtbaumaterialien etc. pp.
von Beschäftigten, Gewerkschaften, Umwelt-         Nicht in jedem Fall wird dies für Beschäftigte
verbänden und den Menschen der Region zu           bedeuten, im selben Betrieb oder derselben
verbinden, zum Beispiel in regionalen Räten,       Branche bleiben zu können. Damit eine sozial-­
die über konkrete Schritte einer Konversion        ökologische Transformation nicht angstbe-
des Automobilkonzerns in einen ökologisch          setzt ist (oder gar von Betroffenen bekämpft
orientierten Dienstleister für öffentliche Mo-     wird), bedarf es neben positiver Perspektiven
bilität entscheiden. Von Jobverlust bedroh-        und Partizipation auch Garantien. ­Alexandria
te Automobilwerker*innen diskutierten, ent-        Ocasio-Cortez und Bernie Sanders haben da-
wickelten und bestimmten dort mit, wie eine        her in ihren Vorschlag für einen Green New
Konversion ihrer Industrien und ein gerechter      Deal (vgl. Bozuwa in dieser Broschüre) im
Übergang organisiert werden kann. So kön-          Anschluss an den von Roosevelt eine Jobga-
nen unterschiedliche Betroffene im Betrieb         rantie aufgenommen. Die Transformation er-
oder in der Region selbst zu Protagonist*innen     fordert unglaublich viel Arbeitskraft. Jede*r,
der Veränderung werden. Die Mobilitätswen-         der*die Arbeit wünscht, sollte das Recht auf
de muss gegen Konzerninteressen durchge-           eine öffentlich finanzierte, tariflich Arbeit mit
setzt werden, aber mit den Beschäftigten und       «kurzer Vollzeit» (Becker/Riexinger 2017) ha-
ihren Familien: Auch sie haben ein Interesse       ben. Zugleich würde eine solche Garantie die
an der «Vereinbarkeit» von auskömmlichem           Arbeit besser verteilen und darüber hinaus die
14 Zeit für etwas Neues: darum ­Sozialismus

Macht des Kapitals brechen, die Bedingungen        Es gibt wenig Ansätze, die einer solchen öf-
der Arbeit zu diktieren, der Prekarisierung ein    fentlichen Produktionsweise eine eigene öko-
Ende setzen.                                       nomische Qualität zugestehen. Ausnahmen
12. Eine neue Ökonomie: Die Ökonomie, die          sind zum Beispiel die Ansätze eines «Public
sich nicht um Profit, sondern um die Sonne         Value» (Mazzucato/Ryan-Jones 2019) oder ei-
der Bedürfnisbefriedigung dreht, einen an-         ner «Sozialwirtschaft» (Müller 2005 u. 2010).
deren Begriff von Reichtum hat, öffnet die         Legen wir jedoch eine andere gesellschaft-
Perspektive auf eine Existenz jenseits des         liche Buchführung an, die gebrauchs- und
Hamsterrädchens, auf Zeitwohlstand, Ent-           bedarfsorientiert ist und dabei von den ge-
wicklung und Wechsel der Tätigkeiten, auf all-     sellschaftlichen und natürlichen Ressourcen
seitige Beziehungen und Muße, auf eine de-         ausgeht, geht es um die Frage, zu welchem
mokratische und solidarische Lebensweise.          Zweck und wie wir diese Ressourcen einset-
Aber wer soll das alles bezahlen? Abgesehen        zen wollen. Ohnehin benötigen wir einen plan-
von der drastischen Umverteilung zur Korrek-       volleren Einsatz von Ressourcen, um ihren
tur der enormen Ungleichheiten über diver-         Verbrauch drastisch zu reduzieren. Dies gilt
se Formen der Besteuerung und Enteignung           nicht nur für stoffliche Ressourcen, sondern
geht es auch um ein anderes Verständnis von        auch für die Arbeitskraft. Eine gesellschaftli-
Ökonomie.                                          che Buchführung vorhandener und benötigter
Kapitalistische Ökonomien beruhen auf der          Ressourcen würde eine von kapitalistischen
Produktion von Waren zur Realisierung eines        Werttransfers unabhängige Grundlage für ei-
Mehrwertes, der durch die Arbeit produziert        ne öffentliche Produktionsweise bieten. Dies
wird, die mehr Wert schafft, als sie kostet. Die   führt uns unmittelbar zum nächsten Punkt.

Für eine andere gesellschaftliche Buchführung, die
gebrauchs- und bedarfsorientiert ist und dabei von den
gesellschaftlichen und natürlichen Ressourcen ausgeht.

Bereiche der öffentlichen Dienste oder stoff-      13. Partizipative Planung: Die Notwendig-
licher staatlicher Infrastrukturen gelten zwar     keit, schnelle strukturelle Veränderungen un-
als wichtige Voraussetzungen für die Repro-        ter Zeitdruck herbeizuführen, macht Elemen-
duktion des Kapitals (etwa Verkehrsnetze oder      te partizipativer Planungsprozesse, consultas
schulische Bildung), gelten aber ökonomisch        populares und peoples planning processes,
als nur abgeleitet: Werte werden im privatka-      dezentraler demokratischer Räte erforderlich
pitalistischen Sektor erzeugt und dann vom         (regionale Räte waren in der Auseinanderset-
Staat abgeschöpft, um damit die Investitio-        zung um die Krise in den Automobil- und Ex-
nen und Lohnkosten zu bestreiten. Zwar kann        portindustrien bereits in der Diskussion, vgl.
er auch Kredite aufnehmen, aber auch diese         IG Metall Esslingen 2009) bzw. «unterschied-
müssen dann irgendwann durch Steuern, al-          liche Ebenen der Planung» (Gindin 2019) und
so Abschöpfung von Mehrwert beglichen              Schleifen wechselseitiger Abstimmungen
werden. Im Grunde kann in diesem Verständ-         und neuer Checks and Balances (welche Rolle
nis der Staat nur ausgeben, was er über einen      haben Warenmärkte darin?).
Werttransfer später wieder aus der Wertpro-        Unabdingbar rasche Veränderungsprozes-
duktion der Privaten abschöpft – es bleibt bei     se wurden auch in der Vergangenheit mittels
Umverteilungspolitik.                              Planung vollbracht (z. B. in den USA in den
Zeit für etwas Neues: darum ­Sozialismus 15

1930er und 1940er Jahren). Von der «Über-         ten mit neuen Materialien (VEB-Platte 3.0) und
legenheit des sozialistischen Grundplans»         architektonischen Wettbewerb für ein bezahl-
sprach selbst Joseph Schumpeter (1942:            bares und grünes Wohnen in der Stadt – was
310 ff.), der glühende Anhänger der von ihm       könnte ein populäres Einstiegsprojekt sein?
selbst so genannten «schöpferischen Zer-
störung» im Kapitalismus. In der Problematik      Für die freie Entwicklung
schneller Übergänge verfügen sozialistische       einer jeden
Positionen also über ein starkes Argument –       Entscheidend ist, dass alle genannten Ele-
doch sollte es sich um partizipative Planung      mente auf die Erweiterung der gemeinsamen
handeln (Williamson 2010). Nur so kann Ver-       Handlungsfähigkeit ausgerichtet sind, die
gesellschaftung mit überkommenen Macht-           Einzelnen befähigen, Protagonist*innen ihrer
und Eigentumsverhältnissen des Kapitalismus       eigenen Geschichte zu werden. Das Ziel ist
brechen. Angesichts negativer Erfahrungen         bereits von Marx im Manifest der Kommunis-
mit autoritär-zentralistischer Planung kön-       tischen Partei auf den Punkt gebracht worden:
nen regionale Experimente einen Einstieg er-      Eine Gesellschaft, «worin die freie Entwick-
möglichen. Die Demokratisierung und De-           lung eine[r] jeden die Bedingung der freien
zentralisierung vorhandener überregionaler        Entwicklung aller ist» (MEW 4: 482).
Planungsprozesse im Gesundheitssystem,            Möglicherweise sind wir bereits in einer Ent-
bei Netzplanungen im Energie- und Bahnbe-         scheidungssituation: Der Bruch mit den alten
reich, im Bildungswesen etc. können weitere       neoliberalen und neuen autoritären Politiken
Ansatzpunkte sein. Schwieriger ist es mit der     wird zur Notwendigkeit angesichts der Ver-
globalen Stoff- und Ressourcenplanung – Er-       dichtung von globaler Ungleichheit, ökologi-
fahrungen internationaler Organisationen          scher Krise, Migrationsbewegungen, globa-
oder die gigantischen Planungserfahrungen         lem Autoritarismus und Faschisierung. Ein
transnationaler Konzerne sind kaum unmittel-      ernsthafterer Konjunktureinbruch würde die-
bar demokratisierbar (wie sähe eigentlich ei-     se Situation noch verschärfen. Der «Mittel-
ne Vergesellschaftung entlang transnationaler     weg» postideologischer Offenheit und links-
Produktionsketten aus?). Abgebrochene Ex-         liberaler Kritik ist dann nicht mehr gangbar.
perimente kybernetisch gestützter, demokra-       Kräfte, die sich für den Erhalt liberaler, bür-
tischer Planung (in Chile unter Allende) sollen   gerlicher Freiheiten und minimaler Standards
ausgewertet und auf der Höhe der Zeit neu ge-     solidarischer Lebensweisen einsetzen wol-
dacht werden. Neue Produktivkräfte und digi-      len, müssen Partei ergreifen gegen Autorita-
tale Möglichkeiten für Planung sind zu nutzen     rismus und Neoliberalismus, das heißt auch
(ohne sie zu überschätzen); Kapazitäten für       für einen radikaleren linken Kurs. Jetzt ist der
Planung und ihre Umsetzung in den Verwal-         Moment der Entscheidung, in einer Phase des
tungen und Betrieben sind aufzubauen und zu       Interregnums, in dem noch unterschiedliche
stärken – Beispiel Wohnen: Der Neubau von         Möglichkeiten offen sind, sich aber bereits zu
Wohnungen und Schulen krankt auch an den          schließen beginnen. Die Barbarei ist wieder
abgebauten Kapazitäten in der Verwaltung,         denkbar – und sie ist der Normalfall im Über-
besonders eben in den Planungsstäben, aber        gang zu einem neuem gesellschaftlichen Pro-
auch am Mangel an Baustoffen (wenige oligo-       jekt (sei es kapitalistisch oder nicht); ein sozia-
polistische Anbieter) – hier bräuchte es neben    listisches Projekt kann sich dabei zugleich auf
mehr Beschäftigten im öffentlichen Dienst         Notwendigkeit aufgrund ungelöster, eskalie-
auch eigene Werke etwa für ökologisch und         render Menschheitsprobleme und der Gefahr
ästhetisch entwickelte serielle (Platten-)Bau-    der Barbarei berufen, als auch aus Wünschen/
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