ETG journal Digitalisierung trifft Praxis - VDE

Die Seite wird erstellt Hannelore Petersen
 
WEITER LESEN
ETG journal Digitalisierung trifft Praxis - VDE
02/2020

ETG journal
Energietechnische
Gesellschaft im VDE (ETG)

                            Digitalisierung
                             trifft Praxis
ETG journal Digitalisierung trifft Praxis - VDE
Bidi
                                                r
                                          Dat e k tio n
                                             ena
                                                  u st a ale r
                                                        u sc h

                   SCHUTZEINSTELLWERTE
                   VERWALTEN UND OPTIMIEREN

                   Datenverwaltung
                     Datenbank für die zentrale Verwaltung herstellerspezifischer Einstellsätze von
                      Schutzgeräten
                     Verwaltung von Prozessen rund um Primär- und Sekundärbetriebsmittel
                     Mehrbenutzer-Webanwendung mit präziser Verwaltung von Zugriffsrechten
                     Konverter für mehr als 30 herstellerspezifische Dateiformate

                   Schutzwerkzeuge
                     Umfangreiche Relaisbibliothek für stationäre und dynamische Berechnungen
                     Schutzdiagramme mit erweiterten Funktionen (z. B. Kurzschlussdurchlauf, P/Q,
                      Drag & Drop, etc.)
                     Werkzeug zur automatisierten Überprüfung der Schutzauslösezeiten und Selektivität
                     Assistent zur automatisierten Distanzschutzkoordinierung basierend auf benutzer-
                      definierten Einstellregeln

Für weitere Informationen besuchen Sie:                             POWER SYSTEM SOLUTIONS
www.digsilent.de
                                                                                       MADE IN GERMANY
In mehr als 150 Ländern tätig.
ETG journal Digitalisierung trifft Praxis - VDE
EDITORIAL

Liebe ETG Mitglieder,

die Amtsperiode 2020-22 des ETG Vorstandes hat begonnen           erhöhen, um Aufwände (z.B. Reisen) zu verringern, und um
– und wir, der gesamte Vorstand, freuen uns auf die Zusam-        Reichweiten zu erhöhen – viele Erfahrungen zeigen eindeutig,
menarbeit und den Austausch mit Ihnen. Mit vier „alten Ha-        dass mit online- oder Hybrid-Konzepten (gemischte online-/
sen“ sowie zwei neuen Mitgliedern haben wir einen guten Mix       Präsenzveranstaltungen) tatsächlich mehr Mitglieder einge-
aus Erfahrung und frischen Ideen – wobei wir Ideen ja vor al-     bunden und Teilnehmer erreicht werden können. Dies werden
lem auch aus der Arbeit der Fachgremien und von Ihnen allen,      wir entsprechend in der weiteren Arbeit der ETG berücksich-
den ETG Mitgliedern, erhalten. Unsere erste Vorstandssitzung      tigen und einbinden.
im Februar, zusammen mit dem wissenschaftlichen Beirat,               Darüber hinaus orientiert sich unsere weitere Arbeit natür-
war dann auch geprägt von ausführlichen Fachdiskussionen,         lich auch an der ETG Strategie. Wie in der ersten Vorstands-
neuen Ini­tiativen, dem Planen der anstehenden Veranstaltun-      sitzung in einer neuen Amtsperiode üblich, haben wir uns im
gen, einer sehr offenen und kollegialen Zusammenarbeit …          Februar an ein Update gemacht. Inhaltlich hatten wir nur ge-
    … und dann kam die COVID-19-Pandemie. Eine in die-            ringeren Anpassungsbedarf – was für eine Strategie, die ja
sem Maße unerwartete und auch historisch unvergleichliche         einen langfristigen Rahmen definieren soll, adäquat ist. Und
Ausnahmesituation, mit gravierenden Auswirkungen auf das          auch die danach beginnende COVID-19-Ausnahmesituation
gesellschaftliche, wirtschaftliche und auch das ganz persön-      hat tatsächlich keine Auswirkungen auf die Strategie selbst, son-
liche Leben mehr oder weniger der gesamten Weltbevölke-           dern nur auf die konkreten Aktionen und Maßnahmen, die wir
rung. Natürlich auch mit Auswirkungen auf einen Verband           uns jetzt für die nächste Zeit vornehmen und umsetzen werden.
wie den VDE und unsere Energietechnische Gesellschaft. Die

                                                                  „
Auswirkungen sind überwiegend negativ – da gibt es nichts         Unsere Vision als ETG haben wir präzisiert und mit der
zu beschönigen. Fachliche Zusammenarbeit in der bewährten         VDE Vision verknüpft:
Form kann aktuell nicht stattfinden; der VDE hat zum Schutz
der Gesundheit aller Experten/-innen und Mitarbeiter/-innen
sehr früh und konsequent das Zusammentreffen für persönli-
                                                                        Für eine lebenswerte Zukunft
che Sitzungen und Besprechungen gestoppt, richtigerweise.               durch ­Gestaltung einer nachhaltigen
Unsere geplanten Fachveranstaltungen können bis auf Wei-                Energie­versorgung und einer

                                                                                                                    “
teres nicht, zumindest nicht wie vorgesehen, stattfinden. In
der weiteren Tätigkeit des VDE sind noch andere Felder be-              effizienten Energienutzung.
troffen, und in Summe ergibt sich auch ein signifikanter wirt-
schaftlicher Schaden mindestens für das aktuelle Geschäfts-
jahr. In Konsequenz müssen, wie ja in vielen Unternehmen          Neu eingeführt haben wir eine Mission, die den expliziten
auch, Kosten gesenkt werden – zum Beispiel wird dieses            Zweck unserer Arbeit ausdrückt. Wobei die einzelnen
ETG j­ournal nur elektronisch verschickt, um die signifikanten    Aspekte alle auch bisher schon in der Strategie enthalten
Druck- und Porto­kosten zu vermeiden.                             waren.
    Gleichwohl bemühen sich alle Institutionen und Gremien
des VDE und auch der ETG, die negativen Auswirkungen auf
die Facharbeit und für die Mitglieder so gering wie möglich zu            Wir stärken die Zusammenarbeit zwischen
halten – und dies ist an vielen Stellen durchaus erfolgreich.             Industrie und Forschung
Einige positive Aspekte, die es ja durchaus gibt, werden si-
cherlich auch nach der COVID-19-Pandemie Bestand haben.
So hat sich in der Facharbeit zwangsläufig das digitale Zu-               Wir erarbeiten umsetzbare Lösungen für relevante
sammenarbeiten etabliert, und einige Veranstaltungen wurden               energietechnische Fragestellungen
ebenfalls digital durchgeführt. Online-Interaktion kann zwar
das persönliche Zusammentreffen und den direkten Aus-
tausch nicht ersetzen – und wir alle freuen uns bereits auf die           Wir treiben die Meinungsbildung auf unserem
ersten Besprechungen und Veranstaltungen, die auch wieder                 Fachgebiet
vor Ort stattfinden können, wenn auch sicherlich mit besonde-
ren Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen. Wie z.B. den ETG
Kongress in Wuppertal im Mai 2021, wo wir gerade in die kon-              Wir geben wesentliche Impulse für Öffentlichkeit,
krete Planungsphase eintreten. Aber Online-Interaktion kann,              Politik und Fachwelt
und wird, ein zusätzliches Mittel sein, um die Flexibilität zu

                                                                                                                                 3
ETG journal Digitalisierung trifft Praxis - VDE
EDITORIAL

Auch die konkrete Strategie haben wir präzisiert und klar          Dieses Leitbild steht seit geraumer Zeit für das Selbstver-
kategorisiert:                                                     ständnis der ETG, es begründet unseren hohen fachlichen
                                                                   Anspruch und definiert auch eine Verantwortlichkeit für unsere
„   Wissen                                                         Arbeit und unser Engagement. Und nach wie vor sind wir als
    Wir bauen das energietechnische Fachwissen durch               ETG prädestiniert, aus der Zusammenarbeit zwischen Her-
    Zusammenarbeit von Expertinnen und Experten der                stellern, Anwendern und Wissenschaft einen ausgewogenen,
    Hersteller, der Anwender und der Wissenschaft aus.             fachlich fundierten, realistischen und damit in Summe relevan-
                                                                   ten und wichtigen Beitrag zu leisten.
„   Lösungen                                                          Dies ist unsere Motivation für das Engagement in der ETG,
    Wir erarbeiten umsetzbare Lösungen zu relevanten               und wir zählen auch auf Ihre Unterstützung! Nicht nur zu
                                                                   den sachlichen Aspekten, die natürlich im Vordergrund ste-
    energietechnischen Fragestellungen für Komponenten bis
                                                                   hen, sondern aktuell eben auch zur Weiterentwicklung der Art
    zum energietechnischen Gesamtsystem.
                                                                   unserer Zusammenarbeit – lassen Sie uns die C     ­ hance nut-
„   Wirkung                                                        zen, dies nachhaltig und gewinnbringend im Sinne unserer
                                                                   ETG Strategie zu tun!
    Wir treiben die Meinungsbildung auf unserem Fachgebiet
    und geben wesentliche Impulse für Öffentlichkeit, Politik
                                                                   Ihr
    und Fachwelt.
                                                                   Dr.-Ing. Michael Schwan
                                                                   ETG Vorsitzender
„   Nutzen
    Wir bieten ein aktives, fachspezifisches Netzwerk und
    entwickeln den Mehrwert für unsere Mitglieder stetig
    weiter.

Prof. Dr.-Ing. Armin Schnettler neuer VDE Präsident

Prof. Dr. Armin Schnettler (57 Jahre) ist neuer VDE Präsident.     Armin Schnettler studierte und promovierte in der Elektro-
Schnettler, CEO New Energy Business bei Siemens Energy,            technik an der Universität Dortmund. Nach seiner Promotion
tritt damit turnusgemäß die Nachfolge von Dr. Gunther K  ­ egel,   wechselte der neue VDE Präsident 1992 zu ABB, wo er ver-
CEO der Pepperl + Fuchs AG, an, der als Präsident zum ZVEI         schiedene Positionen bekleidete. Von 1998 bis 2000 zeich-
(Zentralverband der Elektroindustrie) wechselt. Kegel ist da-      nete er als Mitglied der Geschäftsleitung der ABB Business
mit stellvertretender VDE Präsident. Weiterer stellvertretender    Area „High Voltage Substations“ in Zürich, Schweiz, verant-
VDE Präsident ist Alf Henryk Wulf, Aufsichtsratsmitglied der       wortlich. 2001 kehrte Schnettler zurück in die Wissenschaft
Software AG. Schnettler ist seit vielen Jahren im VDE aktiv        und forschte bis 2018 als Leiter des Instituts für Hochspan-
und trieb von 2002-2007 als Vorstandsmitglied der Energie-         nungstechnik an der RWTH Aachen. Von 2003 bis 2013 war
technischen Gesellschaft im VDE (VDE ETG) maßgeblich die           er parallel zu seinem Engagement im VDE Vorstand der For-
Themen Energieversorgung der Zukunft und Netzausbau vo-            schungsgemeinschaft für Elektrische Anlagen und Strom-
ran. „In meiner Amtszeit als VDE Präsident möchte ich den          wirtschaft. 2013 trat der gebürtige Hagener in den Siemens
VDE noch stärker auf die Themen der Nachhaltigkeit und             Konzern ein. Als Senior Vice President leitete er von 2013 bis
‚Energy of the Future‘ sowie Safety und Security ausrichten.       2015 den Bereich „New Technology Fields“ bei der Siemens
Ich freue mich, dass ich im Netzwerk VDE zusammen mit              AG Corporate Technology. Von 2016 bis 2020 stieg Schnett-
mehr als 100.000 ehrenamtlichen Experten und 1.500 Unter-          ler als Leiter der „Konzernforschung Energie und Elektronik“
nehmen Technologien für eine lebenswerte Zukunft vorantrei-        bei der Siemens AG auf. Seit 2020 ist er Executive Vice Presi-
ben kann. Gemeinsam streben wir an – und ich habe keinerlei        dent und begleitet als CEO New Energy Business bei Siemens
Zweifel daran, dass uns das auch gelingen wird – DER neut-         Energy den Börsengang.
rale und kompetente technisch-wissenschaftliche Partner für
die Industrie, die Politik und insbesondere die Gesellschaft zu                                      www.vde.com/de/presse/
werden“, umreißt der neue VDE Präsident seine Ziele.                                  armin-schnettler-ist-neuer-vde-praesident

4
ETG journal Digitalisierung trifft Praxis - VDE
INHALT

       Editorial�������������������������������������������3                    Rückblick ETG Veranstaltungen

                                                                                          E7       Workshop Elektromobilität mit Batterien und
       Neuer VDE Präsident������������������������������������������� 4                           Brennstoffzellen am 22. / 23. Januar 2020
                                                                                                   in Frankfurt am Main ������������������������������� 42
                                                                                          E8        Resiliente(?) Netze: VDE Expertendiskussion
  	T   TECHNIK UND TRENDS �������������������6                                                     zu kritischen Abhängigkeiten zwischen
                                                                                                    Energie- und Kommunikationsnetzen������� 43
                                                                                          E9        ETG FNN Tutorial Schutz- und Leittechnik 2020
T1     Die Wasserstoffwirtschaft ist der Schlüssel
                                                                                                    am 18. und 19. Februar 2020 in Berlin����� 44
       zur Sektorenkopplung ����������������������������������������� 6

T2     Ortsnetzstationen meet IoT����������������������������������� 8

T3     Cybersecurity in der Schutz- und Leittechnik –                                 I   INTERNATIONALES �����������������������49
       Aktuelle Entwicklung der regulatorischen
       Vorgaben����������������������������������������������������������� 11
                                                                                 I1       Aktuelle Informationen aus CIRED���������������������� 49
T4     Systematisierung der Autonomiestufen
                                                                                 I2       Aktuelle Informationen aus dem Deutschen
       in der Netzbetriebsführung��������������������������������� 14
                                                                                          Komitee der CIGRE ������������������������������������������� 50
T5     Regionalmärkte – Konzepte und Bewertung��������� 15
                                                                                 I3       A Time-Variant System to Detect and Locate
                                                                                          Outages in the Smart Grid ��������������������������������� 51

 E     ETG AKTUELL �������������������������������16
                                                                                  Y       YOUNG NET ���������������������������������54
ETG FNN DVGW Koordinierungskreis Strom/Gas

       E1        VDE und DVGW setzen sich für                                    Y1       Digitales Ehrenamt und Netzwerken in Zeiten
                 eine konsequente Gesamtsystem-                                           von Social Distancing����������������������������������������� 54
                ­betrachtung ein��������������������������������������� 16

Aktuelles aus den Fachbereichen
                                                                                  S       ENERGIEWENDE -SPLITTER �����������55
       E2       Stellungnahme des ETG Fachbereichs
                „Bahnen mit elektrischen Antrieben“
                zur Förderung der E-Mobilität������������������ 18              S1       Politik und Regulierung��������������������������������������� 55

       E3       Wabenstruktur zur Elektromobilität����������� 19                S2       Industrie und Forschung������������������������������������� 57

ETG Award 2020                                                           23     S3       International������������������������������������������������������� 58

Herbert-Kind-Preis24

ETG Literaturpreis28                                                             G       GRUNDLAGEN DER
ETG Task Forces                                                                           ELEKTROTECHNIK�����������������������60
       E4       „Zukunftsbild Energie“ –
                Aufgabenstellung und aktueller Status����� 32                   G1       Energiewende Quo Vadis? ��������������������������������� 60

E5     ETG Fokusthemen – Ein Zwischenbericht����������� 36

ETG Veranstaltungen                                                               H       HISTORIE DER ELEKTROTECHNIK ���62
       Vorschau 2020/21 ��������������������������������������������� 38
                                                                                 H1       Überstromschutz der Halbleiterventile und
       Save the Date ��������������������������������������������������� 40              Leitungsschutz in HGÜ-Anlagen������������������������� 62
Vorschau ETG Veranstaltungen

       E6       ETG Kongress 2021 – Call for Papers ����� 41                             Veranstaltungskalender70

                                                                                                                                                                5
ETG journal Digitalisierung trifft Praxis - VDE
T   TECHNIK & TRENDS

    T1 Die Wasserstoffwirtschaft ist der Schlüssel zur Sektorenkopplung

    Wasserstoff ist der Schlüssel zur Dekarbonisierung der Sek-           entscheidend. Siemens hat schon seit vielen Jahren indus-
    toren Industrie und Mobilität, betont Prof. Armin Schnettler,         trielle Anlagen der Megawatt-Klasse im Feld. Für die weite-
    Executive Vice President und CEO New Energy Business bei              re Skalierung sind Pilotanlagen in der 10-MW-Klasse und
    Siemens Energy und seit 1. Juli 2020 VDE Präsident, im Inter-         größer sehr wichtig, um schnell Betriebserfahrung zu sam-
    view mit der ew-Redaktion. Dafür sei jedoch eine Skalierung           meln und Zuverlässigkeit, Verfügbarkeit und Lebensdauer
    der Wasserstofferzeugung auf ein industrielles Niveau bis in          zu testen und zu optimieren.
    den Gigawatt-Bereich entscheidend.                                 Entwicklungsprojekte wie Hybridge und Element Eins planen
                                                                          im unteren dreistelligen Megawatt-Bereich, perspektivisch
    Herr Prof. Schnettler, beim VDE Tec Summit 2020 haben Sie             sind Projekte im Gigawatt-Bereich notwendig. Wann ste-
       in Ihrer Keynote gefordert, die Energieversorgung weltweit         hen solche großtechnischen Lösungen zur Verfügung?
       von fossilen auf erneuerbare Energien umzustellen. Wie          Schnettler: Wir sind auf einem guten Weg zu großindustri-
       kann das gelingen angesichts eines weltweit steigenden             ellen Anlagen. Bei Siemens Energy skalieren wir die Leis-
       Strombedarfs?                                                      tungsklasse unseres Portfolios alle vier bis fünf Jahre etwa
    Schnettler: Klar ist: Zur Dekarbonisierung gibt es keine Al-          um den Faktor Zehn. Im Moment sind Anlagen der 10-MW
       ternative. Dabei spreche ich nicht nur von der Energiewirt-        Klasse im Feld und wir entwickeln aktuell Anlagen für über
       schaft, die rund 40 % der weltweiten CO 2-Emissionen ver-          100 MW. Eine wichtige Motivation für größere Anlagen sind
       ursacht, sondern auch von anderen Sektoren, wie Industrie          die dadurch sinkenden Gestehungskosten für grünen Was-
       und Mobilität. Um auch den CO 2-Fußabdruck beispiels-              serstoff.
       weise der Chemie- oder Stahlindustrie, des Schwerlastver-       Außer großtechnischen Lösungen werden auch dezentra-
       kehrs oder der Schifffahrt in Richtung Null zu bringen, hilft      le Power-to-X-Konzepte erprobt, beispielsweise in einer
       uns die Sektorenkopplung. Damit nutzen wir erneuerbare             Wohnanlage in Augsburg. Wie beurteilen Sie diese Kon-
       Energien auch dort, wo die Elektrifizierung an ihre Grenzen        zepte?
       kommt. Eine gute Möglichkeit ist es hier, den Ausbau er-        Schnettler: Augsburg ist ein gutes Beispiel für Energiespei-
       neuerbarer Energien in wind- und sonnenreichen Ländern             cherung, Re-Elektrifizierung und Sektorenkopplung von
       wie Chile und Marokko voranzutreiben.                              Energie und Wärme. Die Re-Elektrifizierung ist ein langfristi-
    Einer Schlüsselrolle bei der Dekarbonisierung soll der Wasser-        ges Ziel der Wasserstoffwirtschaft. Aktuell stehen aber eher
       stoffwirtschaft zukommen, eine Technologie, die Sie immer          Anwendungen zur Dekarbonisierung der Sektoren Indust-
       wieder propagieren. Was sind hier die aktuellen Herausfor-         rie und Mobilität an. Letztlich geht es um die Zahlungsbe-
       derungen?                                                          reitschaft für die jeweilige Anwendung.
    Schnettler: Richtig, die Wasserstoffwirtschaft sehe ich als        Vor allem Unternehmen der Gaswirtschaft setzen nicht nur auf
       Schlüssel zur Sektorenkopplung. Denn Wasserstoff kann              grünen, sondern auch auf blauen Wasserstoff, also auf die
       Gasturbinen direkt antreiben oder in Brennstoffzellen ein-         Herstellung von Wasserstoff über Dampfreformierung von
       gesetzt werden. Außerdem kann es weiterverarbeitet in              Erdgas mit anschließender CO 2-Abscheidung/Speiche-
       Form von Methanol, Ammoniak oder als synthetischer                 rung. Wie beurteilen Sie dieses Konzept? Ist damit langfris-
       Treibstoff in der Mobilität, als Dünger oder Ausgangsstoff         tig eine CO 2-freie Energieversorgung möglich?
       für die Chemieindustrie zum Einsatz kommen. Zur De­             Schnettler: Grüner Wasserstoff wird langfristig immer bedeu-
       karbonisierung ist natürlich grüner Wasserstoff notwendig,         tender werden, vor allem bei wachsender Verfügbarkeit
       der typischerweise durch Elektrolyse von Wasser gewon-             von erneuerbaren Energien. Blauer Wasserstoff ist als Brü-
       nen wird – gespeist mit Strom aus erneuerbaren Energien.           ckentechnologie für diesen Weg geeignet. Parallel zu seiner
       Der größte Teil der aktuell rund 80 Mio. t des weltweit ver-       Nutzung kann die nötige Infrastruktur aufgebaut werden.
       brauchten Wasserstoffs stammt aus fossilen Quellen mit             Siemens Energy bedient mit den Produkten und Lösungen
       erheblicher Klimawirkung. Wir erwarten bis zum Jahr 2030           alle Märkte und Anwendungen, um eine Dekarbonisierung
       ein Wachstum der Wasserstoffwirtschaft um rund 20 Mio. t.          zu unterstützen. Bei der Sparte New Energy Business kon-
       Dieses Wachstum sollte im Hinblick auf den Klimawandel             zentrieren wir uns aber auf grünen Wasserstoff.
       zu einem Großteil aus grünem Wasserstoff bestehen. Da-          Die nationale Wasserstoffstrategie der Bundesregierung ist
       bei sind die Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen            jetzt verabschiedet. Welche Impulse erwarten Sie?
       Betrieb die Preise für Strom aus erneuerbaren Energien,         Schnettler: Nach dem Beschluss geht es jetzt um eine
       die Auslastung der Anlagen und deren Investitions- und             schnelle Realisierung, denn die nationale Wasserstoffstra-
       Betriebskosten – und natürlich die Regulierung in den je-          tegie dokumentiert den politischen Willen der Bundes­
       weiligen Ländern, also welche politischen Rahmenbedin-             regierung. Die Strategie muss jedoch in den kommenden
       gungen finden die Abnehmer des Wasserstoffs oder der               Jahren durch konkrete Gesetzesmaßnahmen mit Inhalten
       weiteren Produkte vor. Daher ist jetzt die Skalierung der          gefüllt werden. Zusätzlich halte ich eine entschlossene Um-
       Wasserstofferzeugung auf ein industrielles Niveau in den           setzung der Renewable Energy Directive (RED II) für extrem
       Bereich von 100 MW oder sogar in den Gigawatt-Bereich              wichtig. Wir müssen dafür sorgen, nachhaltige Märkte zu

    6
ETG journal Digitalisierung trifft Praxis - VDE
TECHNIK & TRENDS             T
                                                                                        Bild 1: Prof. Armin Schnettler: In den aktuellen
                                                                                        deutschen Netzentwicklungsplänen Strom
                                                                                        und Gas werden Anlagen in der Größe bis
                                                                                        10 GW diskutiert. Für eine funktionierende
                                                                                        Wasserstoffwirtschaft erwarten wir aber eher
                                                                                        einen deutlich zweistelligen Gigawatt-Bereich

                                                                                        Bildquelle: Anja Rottke / VDE

   schaffen, wie zum Beispiel durch die Anerkennung synthe-         Zweitens: Fehlende Akzeptanz ist oft mit fehlender Trans-
   tischer Kraftstoffe.                                             parenz und mit Unsicherheit verbunden. Hier bietet der
Es wird davon ausgegangen, dass sich in den nächsten zehn           VDE mit seinen Aus- und Weiterbildungsveranstaltungen
   Jahren ein globaler Wasserstoffmarkt entwickeln wird. Auf        sowie den Fachgesellschaften die richtige Plattform für In-
   welche Technologien in der gesamten Wertschöpfungsket-           novationen und fachlichen Austausch.
   te der Wasserstoffwirtschaft setzt Siemens hier?                     Drittens: Als technisch-wissenschaftlicher Verband sind
Schnettler: Siemens Energy beherrscht die komplette Wert-           wir der kompetente, aber neutrale Partner und Berater der
   schöpfungskette für eine grüne Strom- und Wasserstoff-           Öffentlichkeit und der Politik. Es gilt, diese Alleinstellungs-
   versorgung. Das bedeutet: Wir sind aktiv bei der Beratung        merkmale des VDE künftig stärker in den Fokus zu rücken.
   und Auslegung, bieten über Siemens Gamesa Windener-            Welche weiteren Impulse wollen Sie als VDE Präsident im Be-
   gieanlagen an und haben Technologien für Stromüber-              reich der Energietechnik setzen?
   tragung und Netzintegration sowie Elektrolysesysteme im        Schnettler: Die Energietechnik ist ein inhaltlich sehr breit auf-
   Portfolio. Zudem beherrschen wir die Re-Elektrifizierung         gestelltes Fachgebiet, das von der Interdisziplinarität lebt.
   des Wasserstoffs in Gasturbinen. In internationalen Projek-      Die Simulationstechnik spielt seit Jahrzehnten eine bedeut-
   ten treten wir als EPC-Lieferant (Engineering, Production,       same Rolle, die frühzeitige Digitalisierung in Form der Auto-
   Construction) auf und übernehmen die Finanzierung sowie          matisierung und Leittechnik, die Behandlung der elektroma-
   digitale Services. Dabei kooperieren wir mit Partnern aus        gnetischen Verträglichkeit und grundlegende Material- und
   der Energiewirtschaft, aus der Stahl- und Chemieindustrie,       Isolierstoffforschung bis zur Etablierung der Hochleistungs-
   mit Stadtwerken und mit vielen mehr.                             elektronik sind nur wenige Beispiele. In meiner Amtszeit
Entscheidend für den Durchbruch und den Erfolg von Was-             als VDE Präsident möchte ich den VDE noch stärker auf
   serstoffanwendungen ist die Akzeptanz – einerseits für das       die Zukunftsthemen Nachhaltigkeit, D    ­ ekarbonisierung und
   Thema Sicherheit, aber auch für das gesamte Ökosystem.           »Energy of the Future« konzentrieren. Die Kompetenzen
   Seit 1. Juli 2020 sind Sie Präsident des VDE. Was kann der       aus der großen fachlichen Breite unserer Fachgesellschaf-
   VDE tun, um die Akzeptanz für Wasserstoff zu erhöhen und         ten werden wir hier intensiv einbringen. Aber der VDE steht
   die zügige Entwicklung einer Wasserstoffwirtschaft voran-        nicht nur für die Energietechnik. Insofern möchte ich hier
   zutreiben?                                                       keine fachliche Einschränkung sehen. Wir streben an – und
Schnettler: Das Thema Sicherheit ist extrem wichtig. Gefah-         ich habe keinerlei Zweifel daran, dass uns das auch ge-
   ren bei der Wasserstoffherstellung und dem Transport wer-        lingen wird – der neutrale und kompetente technisch-wis-
   den aber häufig überschätzt: Seit Jahrzehnten wird Was-          senschaftliche Partner für die Industrie, die Politik und vor
   serstoff in großen Mengen ohne Probleme beispielsweise           allem für die Gesellschaft zu werden.
   mit Schiffen und Lkw transportiert. Drei Aspekte sind be-
   sonders relevant. Erstens: Der VDE hat die Expertise, sich        Martin Heinrichs
   führend um Standards und Normen zu kümmern. Vor al-
   lem internationale Standards und deren Einhaltung sind
   dabei wichtig. Wir werden unsere Erfahrungen und un-                                 Das Interview ist in ew – Magazin für die
   sere Technologieführerschaft als Chance verstehen und                                  Energiewirtschaft 7 / 2020 erschienen.
   schnell in die internationalen Normen einfließen lassen. Für
   eine E­ xportnation wie Deutschland ist das außerordentlich
   wichtig.

                                                                                                                                      7
ETG journal Digitalisierung trifft Praxis - VDE
T   TECHNIK & TRENDS

    T2 Ortsnetzstationen meet IoT

    Waren Verteilnetze bis vor wenigen Jahren vor allem für die       Um auch unter den eingangs beschriebenen geänderten
    Versorgung der Haushalte, Gewerbe- und Industriekunden            Rahmenbedingungen einen sicheren und funktionierenden
    konzipiert, so spielen sie bereits heute und noch mehr in Zu-     Netzbetrieb zu gewährleisten, ist das Herstellen der Beob-
    kunft eine bedeutende Rolle bei der Verwirklichung der Ener-      achtbarkeit des Mittel- und Niederspannungsnetzes eine
    giewende: Erneuerbare Energieanlagen, Ladepunkte für Elek-        grundlegende Voraussetzung. Hier besteht also Handlungs-
    troautos, Wärmepumpen, Speicher müssen so gemanagt                bedarf.
    werden, dass einerseits der Kunde sie optimal nutzen kann,            Als Schnittstelle zwischen dem Mittel- und Niederspan-
    andererseits ein jederzeit sicherer Netzbetrieb gewährleistet     nungsnetz spielen dabei die Ortsnetzstationen eine entschei-
    wird.                                                             dende Rolle. Diese müssen sukzessive zu „Synapsen des
                                                                      intelligenten Netzes“ ausgebaut werden. Diesbezüglich sind
    Hierzu ist die Erfassung von Daten auf Feldebene aus sog.         Ortsnetzstationen mit entsprechender Kommunikations-,
    intelligenten Betriebsmitteln eine Grundvoraussetzung. Durch      Mess- und Steuertechnik zu sog. intelligenten Ortnetzstati-
    die Weitergabe dieser Daten und deren Vernetzung z. B. in ei-     onen weiterzuentwickeln. Die Erfassung von Daten aus der
    ner zentralen Netzleitstelle ist dann die Umsetzung intelligen-   Niederspannungsebene ist dabei u. a. hinsichtlich der Daten-
    ter Funktionen für verschiedene Anwendungsmöglichkeiten           mengen besonders herausfordernd. Ein im Vergleich zu den
    (use cases) möglich. Stand heute ist allerdings der Ausstat-      bisherigen Anwendungen wesentlich größeres Mengengerüst
    tungsgrad mit intelligenten Betriebsmittel von Spannungs­         ist zu berücksichtigen, so dass aus Sicht der Autoren Cloud-
    ebene zu Spannungsebene sehr unterschiedlich, wie in Bild 1       technologien zum Einsatz kommen werden. Die Nutzung von
    dargestellt.                                                      Cloudtechnologien und entsprechender IoT-Anwendungen für
       Die HS-/MS-Umspannwerke sind bereits heute i. d. R. voll-      den Netzbetrieb bzw. als Unterstützung des Netzbetriebs sind
    ständig an ein Netzleitsystem angeschlossen. Damit können         dabei sowohl für Netzbetreiber wie auch für deren Technolo-
    das 110-kV-Verteilnetz und die Umspannwerke vollständig           giepartner Neuland und werden in der Branche durchaus kon-
    beobachtet und gesteuert werden. In der Mittel- und Nieder-       trovers diskutiert.
    spannungsebene sieht dies gegenwärtig anders aus. Hier ist            Um jedoch gemeinsam Erfahrungen mit den neuen Techni-
    der Ausstattungsgrad an intelligenten Betriebsmitteln für die     ken / Technologien und insbesondere mit Cloudanwendungen
    Mittelspannung überschaubar, für die Niederspannung bis-          im Umfeld realer Ortsnetzstationen zu sammeln, sind entspre-
    lang quasi nicht existent.                                        chende Pilotprojekte notwendig. In diesem Zusammenhang

                                                                                                   Bild 1: Smartifizierungsgrad versus
                                                                                                   Mengengerüst

    8
ETG journal Digitalisierung trifft Praxis - VDE
TECHNIK & TRENDS           T
wurde u. a. ein Netzbetreiber übergrei-
fendes Pilotprojekt gemeinsam mit ei-
nem Technologiepartner durchgeführt.
Ziel war es, im Rahmen eines PoC (Proof
of Concept) den Nachweis für verschie-
dene Lösungsbausteine insbesondere
unter Beachtung IT-sicherheitstechni-
scher Aspekte zu erbringen sowie aus-
gewählte Anwendungen prototypisch
umzusetzen. In diesem Zusammenhang
sind Betrachtungen zu einer möglichen
Skalierbarkeit, Konnektivität und Offen-
heit des Systems wichtig.
   Hierzu wurden in ausgewählten Orts-
netzstationen verschiedene Messgeräte
sowie IoT-Komponenten installiert und
diese an ausgewählte IoT-Plattformen
angebunden. Bild 2 zeigt eine gesamt-
hafte Übersicht der verprobten Techno-
logien.

                                            Bild 2: Übersicht betrachteter Techniken / Technologien
Feld-/Stationsebene

In der Mittelspannung werden Messwerte und Meldungen                nologie ermöglichen dabei ebenfalls die Erfassung von Daten
(z. B. Kurzschlussrichtungsmeldung – KuRi) mit entsprechen-         außerhalb der Ortsnetzstation, z. B. von Sensorik in Kabelver-
den Komponenten erfasst und per Modbus-Protokoll an das             teilerschränken.
Stationsautomatisierungsgerät übertragen. Zudem wird eine               Vor dem Hintergrund der Entwicklung einer skalierbaren
Fernsteuerbarkeit der MS-Lasttrennschalter ermöglicht. Nie-         Lösung, insbesondere auch für Bestandsanlagen, wurde be-
derspannungsseitig werden die Sammelschienenspannungen              sonderes Augenmerk auf die Ermittlung des Anbindungs-
und dreiphasig die NS-Abzweigströme ebenfalls via Modbus            aufwands (Montage, Parametrierung, Inbetriebnahme, etc.)
erfasst. Die Anbindung eines Spannungsqualitätsschreibers           gelegt. Die Erfassung der Abzweigströme in der Niederspan-
zur Erfassung der niederspannungsseitigen Transformato-             nungsverteilung stellte dabei aufgrund der baulichen Gege-
renspannungen und -ströme erfolgt ebenfalls mit dem Mod-            benheiten eine besondere Herausforderung dar.
bus-Protokoll. Konnektivität des Stationsautomatisierungsge-            Für die kommunikationstechnische Anbindung der Orts-
rätes mit den unterschiedlichen Komponenten – insbesondere          netzstation selbst wird jeweils ein Router in den Ortsnetzsta-
mit Komponenten unterschiedlicher Hersteller – ist hierbei es-      tionen genutzt.
sentiell.
    Die hierzu notwendige Installation von Komponenten er-
folgt sowohl in Ortnetzstationen, die bereits fernwirktechnisch     Anbindung an die IoT-Plattformen
an die Netzleitstelle angebunden waren, als auch in Ortnetz-
stationen ohne vorhandene Fernwirktechnik. Damit konnten            Alle für die Netzleitstelle unmittelbar relevanten Daten, wie z. B.
Erfahrungen sowohl für die Ausrüstung neuer wie auch für die        die Befehle zur Steuerung der MS-Lasttrennschalter, wer-
Nachrüstung bestehender Stationen gesammelt werden. Die             den in gewohnter Weise via IEC 60870-5-104 zur Netzleit-
Nutzung unterschiedlicher Komponenten und Technologien              stelle übertragen. Eine grundsätzliche Übertragung aller in der
für die Erfassung und Verarbeitung der Daten ermöglicht zu-         Ortsnetzstation erfassten Daten an die zentrale Netzleitstelle –
dem einen Komponenten- und Technologievergleich.                    insbesondere Messdaten aus der Niederspannung – ist nicht
    Daneben wurden als weitere Technik auch Breitbandpow-           vorgesehen.
erline-Komponenten in Ortsnetzstationen verbaut. Neben der              Diese Daten werden hingegen mittels der Gateway-Funk-
Hauptaufgabe der kommunikationstechnischen Übertragung              tion des Stationsautomatisierungsgerätes per OPC UA Pub
von Informationen ermöglichen entsprechende Repeater auch           Sub Protokoll über ein speziell gesichertes VPN an das eigne
die Erfassung der drei niederspannungsseitigen Leiter-­Erde-        Rechenzentrum geschickt. Von dort aus werden gefilterte Da-
Spannungen. Die so erfassten Messwerte werden über einen            ten durch entsprechende Sicherheitszonen ausgekoppelt und
zentralen Server ebenfalls in die Cloud des Netzbetreibers          in die Cloud des Netzbetreibers geschickt. Aus Sicht der be-
übertragen.                                                         teiligten Netzbetreiber ist eine wesentliche Grundvorausset-
    Darüber hinaus wurde die LoRaWAN-Technologie verprobt.          zung, dass alle Nutzdaten – unabhängig von der verwendeten
Hier werden die mittels LoRa-Sensoren erfassten Daten via           Technologie – zunächst direkt in die eigene Cloud geroutet
LoRa-Gateway an die Cloud des Netzbetreibers übertragen.            werden, um eine eigene Datenhaltung aller orginären Daten zu
Sowohl die Breitbandpowerline als auch die LoRaWAN-Tech-            gewährleisten. Damit ist die Verarbeitung der Daten durch den

                                                                                                                                     9
ETG journal Digitalisierung trifft Praxis - VDE
T   TECHNIK & TRENDS

    Netzbetreiber selbst möglich. Zudem können so die erfassten         Erfassung von Netzzustandsdaten in Ortsnetzstationen ist zu-
    Daten mit Daten aus Bestandssysteme (z. B. mit Betriebsmit-         dem eine essentielle Voraussetzung für die künftige Bewirt-
    teldaten) in Bezug gesetzt werden.                                  schaftung von Flexibilitäten.
        Die Nutzung des offenen Kommunikationsstandards war
    für eine erfolgreiche Anbindung an die Cloud-Umgebung
    des Netzbetreibers ausschlaggebend. Um perspektivisch je-           Fazit
    doch eine Unabhängigkeit zwischen Feld-/Stationsebene und
    Cloud ähnlich wie bei Verwendung z. B. des IEC-Protokolls           Das Energiesystem der Zukunft basiert auf intelligenten Ver-
    60870-5-104 sicherzustellen, sollte mit Blick auf Offenheit         teilnetzen. Der Ortsnetzstation kommt dabei als Bindeglied
    und Konnektivität auch das genutzte Protokoll durch den NB          zwischen der MS-/NS-Ebene eine besondere Rolle zu. Für die
    entsprechend spezifiziert vorgegeben werden.                        Erfassung von Daten in Ortsnetzstationen sowie die Verarbei-
        Im Rahmen des Piloten wollten die beteiligten Netzbetrei-       tung dieser ist die Verprobung unterschiedlicher Techniken /
    ber auch die Leistungsfähigkeit der Plattform des Techno-           Technologien notwendig. Mit Blick auf die Menge an Daten
    logiepartners („MindSphere“) insbesondere hinsichtlich der          werden Cloudtechnologien zum Einsatz gelangen.
    ­Applikationen kennenlernen. Hierzu erfolgt die Weitergabe der          Skalierbarkeit, Konnektivität, Offenheit, IT-sicherheitstech-
     Daten durch eine Cloud-zu-Cloud Kopplung.                          nische Aspekte sind dabei essentielle Anforderungen. Neben
        Unterstützt von Fachexperten wurde die Sicherheitsarchi-        den technischen sind hierbei auch immer die prozessualen Ge-
     tektur der Plattformen und der anhängigen Prozesse für die         sichtspunkte wie Montage, Parametrierung, ­Inbetriebnahme,
     Datenübertragung und -verarbeitung in der Cloud (krypto-           Patchmanagement zu betrachten.
     graphische Verschlüsselung, Zertifikatsverwaltung, Authenifi-
     zierung, etc.) überprüft. Dabei war die kryptographische In-
     besitznahme der im Feld neu verbauten Geräte durch den             Quellen
     Netzbetreiber eine weitere wesentliche Grundvoraussetzung.
     Dies wurde durch einen gemeinsam erarbeiteten, zweistufi-          − J. Arnold, J.-M. Salzmann, M. Lang, J. Brantl, D.
     gen Zertifikatsprozess ermöglicht. Im Piloten wurde der einfa-       ­Uffmann: „Ortsnetzstationen meet IoT“, netzpraxis, 2020,
     che und sichere Onboarding-Prozess für neu verbaute Geräte            Heft 1 – 2
     im Feld erfolgreich umgesetzt. Somit erfolgt auf der Grundla-      − J. Arnold, J.-M. Salzmann, M. Lang, J. Brantl, D.
     ge von Zertifikaten eine Authentifizierung und Ende-zu-­Ende          ­Uffmann: „Ortsnetzstationen meet IoT“, 11. ETG / FNN
     Verschlüsselung der gesamten Kommunikation zwischen dem                Tutorial „Schutz- und Leittechnik“, Februar 2020
     zentralen Stationsautomatisierungsgerät, der Cloud des Netz-
     betreibers und der Cloud des Technologieanbieters.
                                                                        Jens-Michael Salzmann
                                                                        E.DIS Netz GmbH
    Applikationsebene
                                                                           Weitere Autoren:
    Das Pilotprojekt beinhaltete Internet of Things (IoT) Datenana-
    lytik und Anwendungen für Stromnetze. Durch die Datenver-           „ Johannes Arnold,
    arbeitung in einer Plattform eines Technologieanbieters mit           Digital Grid SIEMENS AG
    vielseitigen Analysemöglichkeiten besteht die Möglichkeit,          „ Markus Lang,
    sehr schnell zusätzliche Anwendungsfälle in einer agilen Vor-         Digital Grid SIEMENS AG
    gehensweise zu entwickeln. So können die erfassten Daten            „ Johannes Brantl,
    z. B. schnell in einer Kartenansicht dargestellt, verarbeitet und     Bayernwerk Netz GmbH
    ausgewertet werden.                                                 „ Dirk Uffmann,
                                                                          E.ON SE
    Konkrete Anwendungsfälle sind hier u. a.:
    − Visualisierung der Niederspannungen und Niederspan-
      nungsströme
    − Störungsmanagement / Alarmierung bei Spannungsausfall
    − Überwachen ausgewählter Messgrößen und Netzzustände
    − Alarmierung bei Grenzwertverletzungen
    − Ermittlung von Unsymmetrien
    − Betriebsmittelmonitoring

    Ziel der Umsetzung v. g. Anwendungsfälle ist es, auch unter
    den geänderten netztechnischen Rahmenbedingungen einen
    effizienten Netzbetrieb im Sinne der Netzkunden zu gewähr-
    leisten. So können mit Hilfe von Daten z. B. Netzstörungen
    schneller erkannt, die Netz- und Betriebsplanung verbessert
    sowie durch eine kontinuierliche Zustandsüberwachung von
    Betriebsmitteln das Assetmanagement optimiert werden. Die

    10
TECHNIK & TRENDS            T

T3 Cybersecurity in der Schutz- und Leittechnik – Aktuelle Entwicklung
der regulatorischen Vorgaben

Entwicklung der Bedrohungslage

Das Thema Cybersecurity hat im Bereich der Prozesssteu-
erung in der Energieversorgung in den letzten Jahren kon-
tinuierlich an Relevanz gewonnen. Neben den häufig auf
klassischer IT-Technologie basierenden zentralen Netz- und
Kraftwerkleitsystemen betrifft das auch die Embedded-Tech-
nologien, wie sie in der Automatisierungs- und Schutztechnik
im Energieanlagen- und Stationsbereich eingesetzt werden.
Durch den umfassenden Einsatz digitaler Systeme und auf
Ethernet und dem IP-Protokoll basierender Kommunikations-
technologien hat sich auch hier die Bedrohungslage in den
letzten Jahren weiter verschärft. Der auf ICS (Industrial Con-
trol Systems) und OT (Operational Technology) spezialisierte
Schwachstellen-Informationsdienst der US-Regierung ICS-
CERT [1] veröffentlicht inzwischen pro Jahr mehrere hundert
Schwachstellenmeldungen, die auch kritische Komponenten                 Bild 1: Modernere Leit-, Automatisierungs- und Schutztechnik ist –
der Energieversorgung betreffen. Die Gründe hierfür sind viel-          im Gegensatz zum hier abgebildeten klassischen Kraftwerksleitstand
schichtig, unter anderem sind hier der generell steigende Di-           aus den 1920ern – in zunehmenden Maße von Cybersecurity-Risiken
gitalisierungsgrad und die wachsende Komplexität der in den             bedroht. Der Gesetzgeber will mit erweiterten Regulierungsvorgaben
Komponenten eingesetzten Software zu nennen. Ebenso ist                 gegenwirken.                                            Bild: S.Beirer
relevant, dass immer noch nicht alle Hersteller Software-Si-
cherheit im Entwicklungszyklus umfassend betrachten – teil-             den Umspannwerken direkt manipuliert. Hierzu verfügte die
weise werden in den Komponenten auch noch Softwarebe-                   eingesetzte Schadsoftware Industroyer/CrashOverride über
standteile eingesetzt, die in einer Zeit entwickelt wurden, als         Kommunikationsmodule für die Protokolle IEC 60870-5-101
hier die entsprechenden Security-Anforderungen noch nicht               und -104, IEC 61850 sowie für OPC-DA sowie ein Angriffs-
mit hoher Priorität berücksichtigt wurden.                              modul, mit dem bestimmte SIPROTEC-Schutzgeräte zum
    Die gezielten Hackerangriffe auf die ukrainischen Verteil-          Absturz gebracht werden konnten [4].
und Übertragungsnetzbetreiber in den Jahren 2015 und 2016                  Inzwischen warnen die zuständigen Behörden wie der Ver-
zeigen, dass diese Lücken inzwischen auch von Kriminellen               fassungsschutz und das Bundesamt für Sicherheit in der In-
oder (halb-)staatlichen Akteuren ausgenutzt werden, um die              formationstechnik (BSI) vor Angriffsversuchen auf EVU-Un-
Energieversorgung gezielt zu beeinträchtigen [2, 3]. Während            ternehmensnetzwerke. So ist laut dem BSI-Präsident Arne
bei der ersten Angriffswelle im Dezember 2015 die Hacker                Schönbohm zunehmend zu beobachten, dass die Angreifer
mit klassischen IT-Angriffstechniken die Kontrolle über die             versuchen, in die Netzwerke der Energieversorger einzudrin-
HMI-Rechner des Netzleitsystems übernahmen und von dort                 gen, um sich dort festzusetzen, um im Fall der Fälle aktiv wer-
dann durch Bedienung des Leitsystems Abschaltungen vor-                 den zu können [5]. Auch auf Grund dieser relevanten Bedro-
nahmen, wurden beim zweiten Angriff kurz vor Weihnachten                hungslage sollen die regulatorischen Vorgaben insbesondere
2016 die Stationsautomatisierung und die Schutztechnik in               für Kritische Infrastrukturen (KRITIS) verschärft und erweitert
                                                                        werden. Hierzu sind sowohl auf nationaler als auch auf euro-
                                                                        päischer Ebene verschiedene Vorgaben geplant, die im Fol-
                                                                        genden kurz vorgestellt werden.

                                                                        IT-Sicherheitsgesetz 2.0

                                                                        Das deutsche Innenministerium plant bereits seit geraumer
                                                                        Zeit eine Überarbeitung des IT-Sicherheitsgesetzes von 2015
                                                                        [6], das als Artikelgesetz unter anderem die IT-Security-Vor-
Bild 2: Kundeninformation auf der Webseite des ukrainischen DSO         gaben für Betreiber Kritischer Infrastrukturen im BSI-Gesetz
Kyivoblenergo zu den Hackerangriffen vom 23.12.2015                     und im Energiewirtschaftsgesetz definiert hat. Diese als „IT-Si-
                                           Bild/Screenshot: S.Beirer   cherheitsgesetz 2.0“ bezeichnete Novellierung wird seit Ende

                                                                                                                                            11
T   TECHNIK & TRENDS

    2018 diskutiert, ein erster Referentenentwurf wurde Anfang          the Energy Sector“ veröffentlicht [9]. Während eine EU-Emp-
    2019 bekannt [7], eine nochmals stark überarbeitete Version         fehlung – im Gegensatz zu einer Verordnung wie der bekann-
    wurde vor Kurzem im Internet veröffentlicht [8].                    ten Datenschutzgrundverordnung – keinen verbindlichen
         Gemäß des aktuellen Gesetzentwurfs sollen der Aufga-           Rechtsakt darstellt, können an ihren Erlass durchaus Rechts-
    benbereich und die Kompetenzen des BSI stark erweitert              folgen geknüpft sein. Im konkreten Fall empfiehlt die EU-Kom-
    werden, unter anderem in den Bereichen Verbraucherschutz,           mission den Mitgliedsstaaten explizit, die Empfehlungen in
    Detektion, Reaktion und Zertifizierung. Neben den Betreibern        ihre nationale Cyber-Security-Strategie aufzunehmen, insbe-
    sollen zukünftig auch Hersteller und Dienstleister verstärkt in     sondere durch entsprechende Gesetze und Regulierungen.
    die Regulierung einbezogen werden, insbesondere, wenn sie               Die Empfehlung behandelt die drei Themengebiete Echt-
    im Bereich der Kritischen Infrastrukturen tätig sind. Generell      zeitanforderungen, Kaskadeneffekte und die kombinierte
    soll der KRITIS-Begriff um sogenannte „Unternehmen in be-           Nutzung sogenannter Legacy-Systeme mit modernen Tech-
    sonderem öffentlichen Interesse“ erweitert werden.                  nologien wie IoT. So wird empfohlen, zur Sicherung von
         Ebenso sollen ergänzend konkrete technische und organi-        „Echtzeit-Kommunikation“ die aktuellsten Sicherheitsnormen
    satorische Anforderungen an KRITIS-Betreiber gestellt wer-          anzuwenden und eine sichere Machine-to-Machine-Authen-
    den. So wird der neue Begriff „Kritische Komponenten“ defi-         tisierung einzuführen, sobald entsprechende Produkte am
    niert – dies sind Systeme oder Komponenten, die in Kritischen       Markt verfügbar sind. Der Begriff „Echtzeit-Kommunikation“
    Infrastrukturen eingesetzt werden und bei denen eine Beein-         wird nicht näher definiert, umfasst aber üblicherweise auch
    trächtigung von Verfügbarkeit, Integrität, Authentizität oder       die auf Protokollen wie IEC 60807-5-104 und IEC 61850 ba-
    Vertraulichkeit die Funktionsfähigkeit der Kritischen Infrastruk-   sierende Fernwirk- und Prozesskommunikation. Für diese
    tur beinträchtigen kann, z. B. durch Versorgungsausfälle.           Protokolle sind in der ergänzenden Normfamilie IEC 62351 Si-
         Der Einsatz von kritischen Komponenten, für die eine Zer-      cherheitserweiterungen zur Verschlüsselung, Authentisierung
    tifizierungspflicht besteht, muss zukünftig durch die Betrei-       und Integritätssicherung definiert, die zumindest in Teilen auch
    ber Kritischer Infrastrukturen dem Innenministerium gemeldet        bereits in einigen ersten Produkten am Markt verfügbar sind.
    werden. Die Nutzung dieser Komponenten ist nur dann zuläs-              Zur Eingrenzung von Kaskadeneffekten empfiehlt die Kom-
    sig, wenn der Komponentenhersteller ergänzend zur Zertifizie-       mission, dass Energieversorger Designkriterien für resiliente,
    rung eine „Garantieerklärung“ über ihre Vertrauenswürdigkeit        das heißt widerstandsfähige Energie-Netze definieren und
    abgegeben hat. Die konkreten Inhalte dieser Vertrauenswür-          umsetzen. Was dies genau umfassen bzw. wie und in wel-
    digkeitserklärung sollen später definiert werden, es ist deshalb    chem Zeitrahmen der dafür voraussichtlich auch notwendige
    noch unklar, welche technischen Anforderungen an die Kom-           Netzumbau erfolgen soll, bleibt allerdings im Wesentlichen of-
    ponenten oder welche Vorgaben an die organisatorischen              fen. Des Weiteren wird empfohlen, dass Versorger sog. „cy-
    Prozesse beim Hersteller definiert werden sollen.                   ber-physische“ Effekte beim Krisenmanagement und Busi-
         Des Weiteren sollen KRITIS-Betreiber verpflichtet werden,      ness Continuity Management verstärkt berücksichtigen. Das
    sogenannte Systeme zur Angriffserkennung einzusetzen. Die           bedeutet im Wesentlichen, dass die Auswirkungen, die durch
    Anforderungen an solche Systeme sollen zukünftig vom BSI            die immer engere Kopplung von IT- und softwaretechnischen
    in einer Technischen Richtlinie definiert werden, es ist deshalb    Systemen mit den primärtechnischen Komponenten entste-
    unklar, ob die heute am Markt verfügbaren Intrusion Detection       hen, und die daraus resultierenden elektrotechnischen Effek-
    Systeme hier ausreichend sind.                                      te intensiv analysiert und entsprechende Notfallplanungen für
         Damit die Wiederherstellung von IKT-Systemen und Pro-          Krisen- und Ausfallszenarien erarbeitet werden müssen.
    zessen bei KRITIS-Betreibern im Falle von erheblichen Stö-              Um einen sicheren Betrieb von modernen Technologien –
    rungen sichergestellt werden kann, soll das BSI zukünftig in        das Empfehlungspapier spricht von State-of-the-Art Techno-
    Zusammenarbeit mit anderen zuständigen Behörden wie dem             logy – zusammen mit bestehenden Altsystemen (sogenannter
    Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe              Legacy Technology) zu ermöglichen, sollen Energieversorger
    (BBK) und den Betreibern Krisenreaktionspläne erstellen und         Altsysteme nach Möglichkeit mit sicherer, aktueller Technolo-
    diese regelmäßig überprüfen und anpassen. Das BSI erhält            gie ersetzen. Des Weiteren sollen zur Absicherung von Sys-
    zudem die Befugnisse im Rahmen von solchen erheblichen              temen und Komponenten konkrete Security-Anforderungen in
    Störungen Informationen und Auskünfte von den Betroffenen           Ausschreibungen definiert und ein Patchmanagement für die
    einzufordern und die erforderlichen informationstechnischen         ICS- und OT-Systeme umgesetzt werden.
    Maßnahmen für die Wiederherstellung der Sicherheit und der
    Funktionsfähigkeit der relevanten informationstechnischen
    Systeme anzuordnen.                                                 EU Cybersecurity Act

                                                                        Der EU Cybersecurity Act (kurz CSA) [10] ist eine europäi-
    EU Commission Recommendation on Cybersecurity in                    sche Verordnung mit dem Ziel, die Cybersicherheit und die
    the Energy Sector                                                   Widerstandsfähigkeit gegen Cyberangriffe in der EU zu er-
                                                                        höhen. Der CSA ist nach mehrjährigen Verhandlungen am
    Neben den mit dem IT-Sicherheitsgesetz 2.0 geplanten Er-            27.06.2019 in Kraft getreten. Wesentliche Inhalte sind eine
    weiterungen der regulatorischen Vorgaben auf nationaler Ebe-        Stärkung des Mandats der EU-Cybersicherheitsagentur ENI-
    ne sind derzeit verschiedene weitere Entwicklungen auch auf         SA sowie die Etablierung eines EU-weiten Rahmenwerks für
    EU-Ebene erkennbar. So hat die EU-Kommission im April               IT-Sicherheitszertifizierung von Produkten, Dienstleistungen
    2019 die Empfehlung „Recommendation on Cybersecurity in             und Prozessen.

    12
TECHNIK & TRENDS       T
Laut der Verordnung sind die Zertifizierungen bzw. die Nut-         Referenzen
zung zertifizierter Produkte, Dienstleistungen oder Prozesse
zunächst freiwillig. 2023 will die EU-Kommission allerdings         [1] https://www.us-cert.gov/ics
prüfen, ob Zertifizierungen bei ausreichender Verfügbarkeit am      [2] https://www.heise.de/security/meldung/Stromausfall
Markt in bestimmten Bereichen verpflichtend werden. Dies                 ­-in-der-Ukraine-augenscheinlich-durch-Hacker­­
würde voraussichtlich in erster Linie KRITIS-Betreiber betref-            -ausgeloest-3063343.html
fen und könnte dazu führen, dass auch im Bereich der Ener-          [3] https://www.heise.de/security/meldung/Industroyer
gietechnik nur noch zertifizierte Komponenten genutzt werden              -Fortgeschrittene-Malware-soll-Energieversorgung
dürfen. Dies wird auch von vielen Security-Experten kritisch              -der-Ukraine-gekappt-haben-3740606.html
gesehen, da eine Beschränkung der verfügbaren Produkte bei          [4] https://www.welivesecurity.com/deutsch/2017/06/12/
einer gleichzeitig – wenn überhaupt – nur geringfügen Erhö-               industroyer-bedroht-kritische-infrastrukturen/
hung der konkreten Produktsicherheit befürchtet wird.               [5] rbb Politmagazin Kontraste, Sendung vom 28.02.2019
                                                                    [6] https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/KRITIS/IT-SiG/
                                                                          it_sig_node.html
Network Code on Cybersecurity                                       [7] https://netzpolitik.org/2019/it-sicherheitsgesetz-2-0
                                                                          -wir-veroeffentlichen-den-entwurf-der-das-bsi-zur
Der letzte in diesem Artikel vorgestellte Cybersecurity-Regu-             -hackerbehoerde-machen-soll/
lierungsvorgabe ist der Network Code on Cybersecurity [11].         [8] https://netzpolitik.org/2020/seehofer-will-bsi-zur
Die Network Codes sind die durch die Europäische Kommis-                  -hackerbehoerde-ausbauen/#2020-05-07_BMI_
sion als EU-Verordnungen erlassenen, verbindlichen Vorga-                 Referentenentwurf_IT-Sicherheitsgesetz-2
ben zum Netzzugang und Netzbetrieb für alle am Verbund-             [9] https://ec.europa.eu/energy/sites/ener/files/commission
netz angeschlossenen Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber               _recommendation_on_cybersecurity_in_the_energy
und Erzeuger. Der Network Code on Cybersecurity soll in den               _sector_c2019_2400_final.pdf
kommenden Jahren erstellt werden und dabei u. a. die folgen-        [10] https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/eu
den Themen abdecken:                                                      -cybersecurity-act
− Sicherheitsaspekte grenzüberschreitender Energieflüsse            [11] https://ec.europa.eu/energy/sites/ener/files/documents/
− minimale Anforderungen an Produkte, System und Pro-                     1st_interim_report_final.pdf
    zesse                                                           [12]	https://ec.europa.eu/energy/sites/ener/files/sgtf_eg2_
− Planung, Monitoring, Reporting und Krisenmanagement                     report_final_report_2019.pdf

Die EU-Expertenkommission Smart Grid Task Force hat zu
möglichen Inhalten des Network Codes on Cybersecurity kon-                             Dr. Stephan Beirer,
krete Empfehlungen erarbeitet [12], z. B. zu Zertifizierungsvor-                       GAI NetConsult
gaben für Netz- und Anlagenbetreiber auf Basis der Normen
ISO/IEC 27001 / 27002 / 27019, zu Vorgaben für Produkt-
und Systemzertifizierungen nach IEC 62443 sowie zum ver-
pflichtenden Einsatz zertifizierter Produkte, Prozesse oder
Dienstleistungen für alle Netz- und Anlagen-Betreiber.
    Es wird erwartet, dass der Network Code on Cybersecurity
nicht vor 2023 finalisiert und in Kraft gesetzt wird.

Fazit

Die weiterhin erhöhte Cybersecurity-Bedrohungslage im Be-
reich der Kritischen Infrastrukturen und der Energieversorgung
führt dazu, dass die Regulierungsvorgaben auf nationaler und
europäischer Ebene absehbar weiter verschärft werden. Mit-
telfristig sind hier für die Leit-, Automatisierungs- und Schutz-
technik im Netz- und Energieanlagenbetrieb konkrete Auswir-
kungen zu erwarten – sowohl was die eingesetzten Produkte
und Technologien als auch was die Anforderungen an die or-
ganisatorischen und betrieblichen Prozesse angeht.

                                                                                                                               13
T   TECHNIK & TRENDS

    VDE Impuls

    T4 Systematisierung der Autonomiestufen in der Netzbetriebsführung

    Die grundlegenden Trends der Dekarbonisierung (Strom, Wär-         ein bedingungsautomatisierter Betrieb (Autonomiestufe 3) in
    me, Verkehr), Dezentralisierung und Digitalisierung sind mit       vielen Funktionsbereichen realisierbar sein. In den Nieder- und
    umfangreichen regulatorischen Veränderungen und Kosten-            Mittelspannungsortsnetzen wird die Entwicklung von der erfor-
    druck verbunden. Bei volatiler Versorgungssituation sowie          derlichen Prozessanbindung abhängig sein. Hier wird zunächst
    verzögertem Netzausbau führt dies zu einem Netzbetrieb nä-         der Fokus auf die Transparenz in die Ortsnetze zur Zustands­
    her an den Kapazitätsgrenzen. Durch all diese Veränderun-          erfassung gelegt werden und dann in Teilbereichen auch eine
    gen werden die Anforderungen an die Netzbetriebsführung            Bedingungsautomatisierung (Autonomiestufe 3) zum Einsatz
    komplexer. In allen Systemzuständen wie dem Normalbe-              kommen. Hervorzuheben ist die Abhängigkeit der Automatisie-
    trieb, dem Störungszustand bis hin zum Netzwiederaufbau            rung von der IKT sowie die Notwendigkeit von Rückfallebenen,
    muss ein sicherer Betrieb gewährleistet sein. Durch die gro-       um einen sicheren Netzbetrieb dauerhaft zu gewährleisten.
    ße Zahl der aktiven Systemteilnehmer ist sowohl eine vertika-         Eine Gesamtsystemautomatisierung (Autonomiestufen 4
    le (Kaskade) als auch eine horizontale (räumlich verteilt inner-   und 5) für Netzbetreiber ist in den nächsten zehn Jahren nicht
    halb einer Netzebene) Koordination zwischen Netzbetreibern         zu erwarten. Dafür sind über die Teilautomatisierungsstufen
    und Netznutzern wie Einspeisern, Abnehmern und Prosumern           zunächst noch zahlreiche Vorbereitungen erforderlich. In Teil-
    (inkl. Speichern) erforderlich. Die Komplexität hat inzwischen     gebieten des Verteilnetzes, insbesondere in Ortsnetzen, ist ein
    einen Grad erreicht, der umfangreiche Assistenzsysteme und         höherer Grad der Automatisierung (Autonomiestufe 4) für den
    Automatisierungsfunktionen erfordert, damit die Systemfüh-         Normalbetrieb, z. B. Spannungshaltung, Engpassmanage-
    rung die Komplexität beherrschen und notwendige Aufgaben           ment, Beiträge zur Frequenzhaltung, zu erwarten.
    und Entscheidungen umsetzen kann. Insbesondere, wenn in               In Pilotprojekten zur Sektorenkopplung werden die Umset-
    den Nieder- und Mittelspannungsnetzen verstärkt eine aktive        zungsmöglichkeiten, deren Nutzen und Wirtschaftlichkeit aus-
    Netzführung zur Koordination volatiler oder regelbarer Netz-       gelotet. Wenn diese Projekte erfolgreich sind, kann die Kopp-
    nutzer angestrebt wird, ist auf Grund der großen Zahl an Nie-      lung der verschiedenen Sektoren schrittweise verstärkt zum
    der- und Mittelspannungsnetzen eine bedarfsorientierte Auto­       Einsatz kommen. Eine Automatisierung der Kopplung wird mit
    matisierung erforderlich. Gleichermaßen bedarf die schnelle        verschiedenen Autonomiestufen einhergehen.
    Regelbarkeit von (leistungselektronischen) Netzkomponen-              Der VDE Impuls bildet den Ausgangspunkt für die Betrach-
    ten bis hin zu Hochspannungs-Gleichstromübertragungen              tung folgender weiterführender Fragestellungen, die es zu-
    schnelle und automatisierte Mechanismen zur sicheren Sys-          künftig in Bezug auf die Automatisierung des Netzbetriebs zu
    temführung. Neue Anforderungen im Netzbetrieb (z. B. Re-           betrachten gilt:
    dispatch, Netz-Markt-Koordination) begründen den Bedarf ei-        − In welchem Verhältnis stehen Kosten und Nutzen des Au-
    ner zunehmend automatisierten Vorgehensweise.                         tomatisierungsbedarfs?
                                                                       − Wie kann sichergestellt werden, dass beim Einsatz von
                                                                          Multi-­ Vendor Systemen elementare Berechnungen, bei-
    Zusammenfassung und Ausblick                                          spielsweise Lastflussrechnung und State Estimation,
                                                                          ­identische Ergebnisse liefern? Wie kann der Datenpflege-
    Der VDE Impuls liefert die Grundlage für eine systematische            aufwand gering gehalten werden?
    Betrachtung der voranschreitenden Automatisierung der              − Wie kann die Cyber-Sicherheit gewährleistet werden und
    Netzbetriebsführung. Es werden sechs Auto­nomiestufen für              welche Anforderungen bestehen an die Informations­
    den Netzbetrieb in Anlehnung an die Autonomiestufen beim               sicherheit, IT-Sicherheit und OT-Sicherheit?
    autonomen Fahren definiert. Davon ausgehend erfolgt eine           − Mit welchen Testverfahren kann kontinuierlich geprüft wer-
    Einordnung des heutigen Automatisierungsgrads der Funktio-             den, dass die Funktionalitäten und Sicherheit gewährleistet
    nen auf Systemleitebene. Hierbei wird dargelegt, welche Teil­          sind? Ist der Einsatz digitaler Zwillinge hierfür hilfreich, um
    automatisierungsfunktionen bereits Stand der Technik sind.             das komplexe, sich durch Software Updates und modulare
       Davon ausgehend werden Prozesse identifiziert, deren Au-            Erweiterung ständig verändernde automatisierte Gesamt-
    tomatisierungsgrad schrittweise bis zu einem Umsetzungs­               system abzubilden und zu testen?
    horizont 2030 erhöht werden soll, um die zunehmende Kom-           − Welcher Schulungsbedarf besteht für den Betriebsführer
    plexität des Netzbetriebs beherrschbar zu machen. In den               und inwieweit wird sich dessen Aufgabenfeld zukünftig än-
    Leitstellen des Übertragungsnetzes soll die Autonomiestufe             dern? Wird der Betriebsführer beispielsweise für die Über-
    1b (Decision Support) erreicht werden, um die Reaktionsfähig-          wachung der korrekten Funktionsweise und des Zusam-
    keit gegenüber unerwarteten Situationen durch Teilautomati-            menspiels der Automatisierungsfunktionen verantwortlich
    sierung (Autonomiestufe 2) zu verbessern. Netzbetreiberüber-           sein oder die Parametrierung von automatischen Funktio-
    greifende Funktionen sollen perspektivisch teilautomatisiert           nen durch Auswahl von Verhaltensmustern übernehmen?
    ausgeführt werden (Autonomiestufe 2). Zudem soll in allen          − Wie können komplexe Automatisierungsfunktionen in
    Leitstellen zur Beherrschung der zunehmenden Komplexität               (vor­aus­schauende) Netzsicherheitsrechnungen berück-
                                                                           sichtigt werden?
    14
Sie können auch lesen