ETG journal Digitalisierung trifft Praxis - VDE
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Bidi r Dat e k tio n ena u st a ale r u sc h SCHUTZEINSTELLWERTE VERWALTEN UND OPTIMIEREN Datenverwaltung Datenbank für die zentrale Verwaltung herstellerspezifischer Einstellsätze von Schutzgeräten Verwaltung von Prozessen rund um Primär- und Sekundärbetriebsmittel Mehrbenutzer-Webanwendung mit präziser Verwaltung von Zugriffsrechten Konverter für mehr als 30 herstellerspezifische Dateiformate Schutzwerkzeuge Umfangreiche Relaisbibliothek für stationäre und dynamische Berechnungen Schutzdiagramme mit erweiterten Funktionen (z. B. Kurzschlussdurchlauf, P/Q, Drag & Drop, etc.) Werkzeug zur automatisierten Überprüfung der Schutzauslösezeiten und Selektivität Assistent zur automatisierten Distanzschutzkoordinierung basierend auf benutzer- definierten Einstellregeln Für weitere Informationen besuchen Sie: POWER SYSTEM SOLUTIONS www.digsilent.de MADE IN GERMANY In mehr als 150 Ländern tätig.
EDITORIAL Liebe ETG Mitglieder, die Amtsperiode 2020-22 des ETG Vorstandes hat begonnen erhöhen, um Aufwände (z.B. Reisen) zu verringern, und um – und wir, der gesamte Vorstand, freuen uns auf die Zusam- Reichweiten zu erhöhen – viele Erfahrungen zeigen eindeutig, menarbeit und den Austausch mit Ihnen. Mit vier „alten Ha- dass mit online- oder Hybrid-Konzepten (gemischte online-/ sen“ sowie zwei neuen Mitgliedern haben wir einen guten Mix Präsenzveranstaltungen) tatsächlich mehr Mitglieder einge- aus Erfahrung und frischen Ideen – wobei wir Ideen ja vor al- bunden und Teilnehmer erreicht werden können. Dies werden lem auch aus der Arbeit der Fachgremien und von Ihnen allen, wir entsprechend in der weiteren Arbeit der ETG berücksich- den ETG Mitgliedern, erhalten. Unsere erste Vorstandssitzung tigen und einbinden. im Februar, zusammen mit dem wissenschaftlichen Beirat, Darüber hinaus orientiert sich unsere weitere Arbeit natür- war dann auch geprägt von ausführlichen Fachdiskussionen, lich auch an der ETG Strategie. Wie in der ersten Vorstands- neuen Initiativen, dem Planen der anstehenden Veranstaltun- sitzung in einer neuen Amtsperiode üblich, haben wir uns im gen, einer sehr offenen und kollegialen Zusammenarbeit … Februar an ein Update gemacht. Inhaltlich hatten wir nur ge- … und dann kam die COVID-19-Pandemie. Eine in die- ringeren Anpassungsbedarf – was für eine Strategie, die ja sem Maße unerwartete und auch historisch unvergleichliche einen langfristigen Rahmen definieren soll, adäquat ist. Und Ausnahmesituation, mit gravierenden Auswirkungen auf das auch die danach beginnende COVID-19-Ausnahmesituation gesellschaftliche, wirtschaftliche und auch das ganz persön- hat tatsächlich keine Auswirkungen auf die Strategie selbst, son- liche Leben mehr oder weniger der gesamten Weltbevölke- dern nur auf die konkreten Aktionen und Maßnahmen, die wir rung. Natürlich auch mit Auswirkungen auf einen Verband uns jetzt für die nächste Zeit vornehmen und umsetzen werden. wie den VDE und unsere Energietechnische Gesellschaft. Die „ Auswirkungen sind überwiegend negativ – da gibt es nichts Unsere Vision als ETG haben wir präzisiert und mit der zu beschönigen. Fachliche Zusammenarbeit in der bewährten VDE Vision verknüpft: Form kann aktuell nicht stattfinden; der VDE hat zum Schutz der Gesundheit aller Experten/-innen und Mitarbeiter/-innen sehr früh und konsequent das Zusammentreffen für persönli- Für eine lebenswerte Zukunft che Sitzungen und Besprechungen gestoppt, richtigerweise. durch Gestaltung einer nachhaltigen Unsere geplanten Fachveranstaltungen können bis auf Wei- Energieversorgung und einer “ teres nicht, zumindest nicht wie vorgesehen, stattfinden. In der weiteren Tätigkeit des VDE sind noch andere Felder be- effizienten Energienutzung. troffen, und in Summe ergibt sich auch ein signifikanter wirt- schaftlicher Schaden mindestens für das aktuelle Geschäfts- jahr. In Konsequenz müssen, wie ja in vielen Unternehmen Neu eingeführt haben wir eine Mission, die den expliziten auch, Kosten gesenkt werden – zum Beispiel wird dieses Zweck unserer Arbeit ausdrückt. Wobei die einzelnen ETG journal nur elektronisch verschickt, um die signifikanten Aspekte alle auch bisher schon in der Strategie enthalten Druck- und Portokosten zu vermeiden. waren. Gleichwohl bemühen sich alle Institutionen und Gremien des VDE und auch der ETG, die negativen Auswirkungen auf die Facharbeit und für die Mitglieder so gering wie möglich zu Wir stärken die Zusammenarbeit zwischen halten – und dies ist an vielen Stellen durchaus erfolgreich. Industrie und Forschung Einige positive Aspekte, die es ja durchaus gibt, werden si- cherlich auch nach der COVID-19-Pandemie Bestand haben. So hat sich in der Facharbeit zwangsläufig das digitale Zu- Wir erarbeiten umsetzbare Lösungen für relevante sammenarbeiten etabliert, und einige Veranstaltungen wurden energietechnische Fragestellungen ebenfalls digital durchgeführt. Online-Interaktion kann zwar das persönliche Zusammentreffen und den direkten Aus- tausch nicht ersetzen – und wir alle freuen uns bereits auf die Wir treiben die Meinungsbildung auf unserem ersten Besprechungen und Veranstaltungen, die auch wieder Fachgebiet vor Ort stattfinden können, wenn auch sicherlich mit besonde- ren Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen. Wie z.B. den ETG Kongress in Wuppertal im Mai 2021, wo wir gerade in die kon- Wir geben wesentliche Impulse für Öffentlichkeit, krete Planungsphase eintreten. Aber Online-Interaktion kann, Politik und Fachwelt und wird, ein zusätzliches Mittel sein, um die Flexibilität zu 3
EDITORIAL Auch die konkrete Strategie haben wir präzisiert und klar Dieses Leitbild steht seit geraumer Zeit für das Selbstver- kategorisiert: ständnis der ETG, es begründet unseren hohen fachlichen Anspruch und definiert auch eine Verantwortlichkeit für unsere Wissen Arbeit und unser Engagement. Und nach wie vor sind wir als Wir bauen das energietechnische Fachwissen durch ETG prädestiniert, aus der Zusammenarbeit zwischen Her- Zusammenarbeit von Expertinnen und Experten der stellern, Anwendern und Wissenschaft einen ausgewogenen, Hersteller, der Anwender und der Wissenschaft aus. fachlich fundierten, realistischen und damit in Summe relevan- ten und wichtigen Beitrag zu leisten. Lösungen Dies ist unsere Motivation für das Engagement in der ETG, Wir erarbeiten umsetzbare Lösungen zu relevanten und wir zählen auch auf Ihre Unterstützung! Nicht nur zu den sachlichen Aspekten, die natürlich im Vordergrund ste- energietechnischen Fragestellungen für Komponenten bis hen, sondern aktuell eben auch zur Weiterentwicklung der Art zum energietechnischen Gesamtsystem. unserer Zusammenarbeit – lassen Sie uns die C hance nut- Wirkung zen, dies nachhaltig und gewinnbringend im Sinne unserer ETG Strategie zu tun! Wir treiben die Meinungsbildung auf unserem Fachgebiet und geben wesentliche Impulse für Öffentlichkeit, Politik Ihr und Fachwelt. Dr.-Ing. Michael Schwan ETG Vorsitzender Nutzen Wir bieten ein aktives, fachspezifisches Netzwerk und entwickeln den Mehrwert für unsere Mitglieder stetig weiter. Prof. Dr.-Ing. Armin Schnettler neuer VDE Präsident Prof. Dr. Armin Schnettler (57 Jahre) ist neuer VDE Präsident. Armin Schnettler studierte und promovierte in der Elektro- Schnettler, CEO New Energy Business bei Siemens Energy, technik an der Universität Dortmund. Nach seiner Promotion tritt damit turnusgemäß die Nachfolge von Dr. Gunther K egel, wechselte der neue VDE Präsident 1992 zu ABB, wo er ver- CEO der Pepperl + Fuchs AG, an, der als Präsident zum ZVEI schiedene Positionen bekleidete. Von 1998 bis 2000 zeich- (Zentralverband der Elektroindustrie) wechselt. Kegel ist da- nete er als Mitglied der Geschäftsleitung der ABB Business mit stellvertretender VDE Präsident. Weiterer stellvertretender Area „High Voltage Substations“ in Zürich, Schweiz, verant- VDE Präsident ist Alf Henryk Wulf, Aufsichtsratsmitglied der wortlich. 2001 kehrte Schnettler zurück in die Wissenschaft Software AG. Schnettler ist seit vielen Jahren im VDE aktiv und forschte bis 2018 als Leiter des Instituts für Hochspan- und trieb von 2002-2007 als Vorstandsmitglied der Energie- nungstechnik an der RWTH Aachen. Von 2003 bis 2013 war technischen Gesellschaft im VDE (VDE ETG) maßgeblich die er parallel zu seinem Engagement im VDE Vorstand der For- Themen Energieversorgung der Zukunft und Netzausbau vo- schungsgemeinschaft für Elektrische Anlagen und Strom- ran. „In meiner Amtszeit als VDE Präsident möchte ich den wirtschaft. 2013 trat der gebürtige Hagener in den Siemens VDE noch stärker auf die Themen der Nachhaltigkeit und Konzern ein. Als Senior Vice President leitete er von 2013 bis ‚Energy of the Future‘ sowie Safety und Security ausrichten. 2015 den Bereich „New Technology Fields“ bei der Siemens Ich freue mich, dass ich im Netzwerk VDE zusammen mit AG Corporate Technology. Von 2016 bis 2020 stieg Schnett- mehr als 100.000 ehrenamtlichen Experten und 1.500 Unter- ler als Leiter der „Konzernforschung Energie und Elektronik“ nehmen Technologien für eine lebenswerte Zukunft vorantrei- bei der Siemens AG auf. Seit 2020 ist er Executive Vice Presi- ben kann. Gemeinsam streben wir an – und ich habe keinerlei dent und begleitet als CEO New Energy Business bei Siemens Zweifel daran, dass uns das auch gelingen wird – DER neut- Energy den Börsengang. rale und kompetente technisch-wissenschaftliche Partner für die Industrie, die Politik und insbesondere die Gesellschaft zu www.vde.com/de/presse/ werden“, umreißt der neue VDE Präsident seine Ziele. armin-schnettler-ist-neuer-vde-praesident 4
INHALT Editorial�������������������������������������������3 Rückblick ETG Veranstaltungen E7 Workshop Elektromobilität mit Batterien und Neuer VDE Präsident������������������������������������������� 4 Brennstoffzellen am 22. / 23. Januar 2020 in Frankfurt am Main ������������������������������� 42 E8 Resiliente(?) Netze: VDE Expertendiskussion T TECHNIK UND TRENDS �������������������6 zu kritischen Abhängigkeiten zwischen Energie- und Kommunikationsnetzen������� 43 E9 ETG FNN Tutorial Schutz- und Leittechnik 2020 T1 Die Wasserstoffwirtschaft ist der Schlüssel am 18. und 19. Februar 2020 in Berlin����� 44 zur Sektorenkopplung ����������������������������������������� 6 T2 Ortsnetzstationen meet IoT����������������������������������� 8 T3 Cybersecurity in der Schutz- und Leittechnik – I INTERNATIONALES �����������������������49 Aktuelle Entwicklung der regulatorischen Vorgaben����������������������������������������������������������� 11 I1 Aktuelle Informationen aus CIRED���������������������� 49 T4 Systematisierung der Autonomiestufen I2 Aktuelle Informationen aus dem Deutschen in der Netzbetriebsführung��������������������������������� 14 Komitee der CIGRE ������������������������������������������� 50 T5 Regionalmärkte – Konzepte und Bewertung��������� 15 I3 A Time-Variant System to Detect and Locate Outages in the Smart Grid ��������������������������������� 51 E ETG AKTUELL �������������������������������16 Y YOUNG NET ���������������������������������54 ETG FNN DVGW Koordinierungskreis Strom/Gas E1 VDE und DVGW setzen sich für Y1 Digitales Ehrenamt und Netzwerken in Zeiten eine konsequente Gesamtsystem- von Social Distancing����������������������������������������� 54 betrachtung ein��������������������������������������� 16 Aktuelles aus den Fachbereichen S ENERGIEWENDE -SPLITTER �����������55 E2 Stellungnahme des ETG Fachbereichs „Bahnen mit elektrischen Antrieben“ zur Förderung der E-Mobilität������������������ 18 S1 Politik und Regulierung��������������������������������������� 55 E3 Wabenstruktur zur Elektromobilität����������� 19 S2 Industrie und Forschung������������������������������������� 57 ETG Award 2020 23 S3 International������������������������������������������������������� 58 Herbert-Kind-Preis24 ETG Literaturpreis28 G GRUNDLAGEN DER ETG Task Forces ELEKTROTECHNIK�����������������������60 E4 „Zukunftsbild Energie“ – Aufgabenstellung und aktueller Status����� 32 G1 Energiewende Quo Vadis? ��������������������������������� 60 E5 ETG Fokusthemen – Ein Zwischenbericht����������� 36 ETG Veranstaltungen H HISTORIE DER ELEKTROTECHNIK ���62 Vorschau 2020/21 ��������������������������������������������� 38 H1 Überstromschutz der Halbleiterventile und Save the Date ��������������������������������������������������� 40 Leitungsschutz in HGÜ-Anlagen������������������������� 62 Vorschau ETG Veranstaltungen E6 ETG Kongress 2021 – Call for Papers ����� 41 Veranstaltungskalender70 5
T TECHNIK & TRENDS T1 Die Wasserstoffwirtschaft ist der Schlüssel zur Sektorenkopplung Wasserstoff ist der Schlüssel zur Dekarbonisierung der Sek- entscheidend. Siemens hat schon seit vielen Jahren indus- toren Industrie und Mobilität, betont Prof. Armin Schnettler, trielle Anlagen der Megawatt-Klasse im Feld. Für die weite- Executive Vice President und CEO New Energy Business bei re Skalierung sind Pilotanlagen in der 10-MW-Klasse und Siemens Energy und seit 1. Juli 2020 VDE Präsident, im Inter- größer sehr wichtig, um schnell Betriebserfahrung zu sam- view mit der ew-Redaktion. Dafür sei jedoch eine Skalierung meln und Zuverlässigkeit, Verfügbarkeit und Lebensdauer der Wasserstofferzeugung auf ein industrielles Niveau bis in zu testen und zu optimieren. den Gigawatt-Bereich entscheidend. Entwicklungsprojekte wie Hybridge und Element Eins planen im unteren dreistelligen Megawatt-Bereich, perspektivisch Herr Prof. Schnettler, beim VDE Tec Summit 2020 haben Sie sind Projekte im Gigawatt-Bereich notwendig. Wann ste- in Ihrer Keynote gefordert, die Energieversorgung weltweit hen solche großtechnischen Lösungen zur Verfügung? von fossilen auf erneuerbare Energien umzustellen. Wie Schnettler: Wir sind auf einem guten Weg zu großindustri- kann das gelingen angesichts eines weltweit steigenden ellen Anlagen. Bei Siemens Energy skalieren wir die Leis- Strombedarfs? tungsklasse unseres Portfolios alle vier bis fünf Jahre etwa Schnettler: Klar ist: Zur Dekarbonisierung gibt es keine Al- um den Faktor Zehn. Im Moment sind Anlagen der 10-MW ternative. Dabei spreche ich nicht nur von der Energiewirt- Klasse im Feld und wir entwickeln aktuell Anlagen für über schaft, die rund 40 % der weltweiten CO 2-Emissionen ver- 100 MW. Eine wichtige Motivation für größere Anlagen sind ursacht, sondern auch von anderen Sektoren, wie Industrie die dadurch sinkenden Gestehungskosten für grünen Was- und Mobilität. Um auch den CO 2-Fußabdruck beispiels- serstoff. weise der Chemie- oder Stahlindustrie, des Schwerlastver- Außer großtechnischen Lösungen werden auch dezentra- kehrs oder der Schifffahrt in Richtung Null zu bringen, hilft le Power-to-X-Konzepte erprobt, beispielsweise in einer uns die Sektorenkopplung. Damit nutzen wir erneuerbare Wohnanlage in Augsburg. Wie beurteilen Sie diese Kon- Energien auch dort, wo die Elektrifizierung an ihre Grenzen zepte? kommt. Eine gute Möglichkeit ist es hier, den Ausbau er- Schnettler: Augsburg ist ein gutes Beispiel für Energiespei- neuerbarer Energien in wind- und sonnenreichen Ländern cherung, Re-Elektrifizierung und Sektorenkopplung von wie Chile und Marokko voranzutreiben. Energie und Wärme. Die Re-Elektrifizierung ist ein langfristi- Einer Schlüsselrolle bei der Dekarbonisierung soll der Wasser- ges Ziel der Wasserstoffwirtschaft. Aktuell stehen aber eher stoffwirtschaft zukommen, eine Technologie, die Sie immer Anwendungen zur Dekarbonisierung der Sektoren Indust- wieder propagieren. Was sind hier die aktuellen Herausfor- rie und Mobilität an. Letztlich geht es um die Zahlungsbe- derungen? reitschaft für die jeweilige Anwendung. Schnettler: Richtig, die Wasserstoffwirtschaft sehe ich als Vor allem Unternehmen der Gaswirtschaft setzen nicht nur auf Schlüssel zur Sektorenkopplung. Denn Wasserstoff kann grünen, sondern auch auf blauen Wasserstoff, also auf die Gasturbinen direkt antreiben oder in Brennstoffzellen ein- Herstellung von Wasserstoff über Dampfreformierung von gesetzt werden. Außerdem kann es weiterverarbeitet in Erdgas mit anschließender CO 2-Abscheidung/Speiche- Form von Methanol, Ammoniak oder als synthetischer rung. Wie beurteilen Sie dieses Konzept? Ist damit langfris- Treibstoff in der Mobilität, als Dünger oder Ausgangsstoff tig eine CO 2-freie Energieversorgung möglich? für die Chemieindustrie zum Einsatz kommen. Zur De Schnettler: Grüner Wasserstoff wird langfristig immer bedeu- karbonisierung ist natürlich grüner Wasserstoff notwendig, tender werden, vor allem bei wachsender Verfügbarkeit der typischerweise durch Elektrolyse von Wasser gewon- von erneuerbaren Energien. Blauer Wasserstoff ist als Brü- nen wird – gespeist mit Strom aus erneuerbaren Energien. ckentechnologie für diesen Weg geeignet. Parallel zu seiner Der größte Teil der aktuell rund 80 Mio. t des weltweit ver- Nutzung kann die nötige Infrastruktur aufgebaut werden. brauchten Wasserstoffs stammt aus fossilen Quellen mit Siemens Energy bedient mit den Produkten und Lösungen erheblicher Klimawirkung. Wir erwarten bis zum Jahr 2030 alle Märkte und Anwendungen, um eine Dekarbonisierung ein Wachstum der Wasserstoffwirtschaft um rund 20 Mio. t. zu unterstützen. Bei der Sparte New Energy Business kon- Dieses Wachstum sollte im Hinblick auf den Klimawandel zentrieren wir uns aber auf grünen Wasserstoff. zu einem Großteil aus grünem Wasserstoff bestehen. Da- Die nationale Wasserstoffstrategie der Bundesregierung ist bei sind die Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen jetzt verabschiedet. Welche Impulse erwarten Sie? Betrieb die Preise für Strom aus erneuerbaren Energien, Schnettler: Nach dem Beschluss geht es jetzt um eine die Auslastung der Anlagen und deren Investitions- und schnelle Realisierung, denn die nationale Wasserstoffstra- Betriebskosten – und natürlich die Regulierung in den je- tegie dokumentiert den politischen Willen der Bundes weiligen Ländern, also welche politischen Rahmenbedin- regierung. Die Strategie muss jedoch in den kommenden gungen finden die Abnehmer des Wasserstoffs oder der Jahren durch konkrete Gesetzesmaßnahmen mit Inhalten weiteren Produkte vor. Daher ist jetzt die Skalierung der gefüllt werden. Zusätzlich halte ich eine entschlossene Um- Wasserstofferzeugung auf ein industrielles Niveau in den setzung der Renewable Energy Directive (RED II) für extrem Bereich von 100 MW oder sogar in den Gigawatt-Bereich wichtig. Wir müssen dafür sorgen, nachhaltige Märkte zu 6
TECHNIK & TRENDS T Bild 1: Prof. Armin Schnettler: In den aktuellen deutschen Netzentwicklungsplänen Strom und Gas werden Anlagen in der Größe bis 10 GW diskutiert. Für eine funktionierende Wasserstoffwirtschaft erwarten wir aber eher einen deutlich zweistelligen Gigawatt-Bereich Bildquelle: Anja Rottke / VDE schaffen, wie zum Beispiel durch die Anerkennung synthe- Zweitens: Fehlende Akzeptanz ist oft mit fehlender Trans- tischer Kraftstoffe. parenz und mit Unsicherheit verbunden. Hier bietet der Es wird davon ausgegangen, dass sich in den nächsten zehn VDE mit seinen Aus- und Weiterbildungsveranstaltungen Jahren ein globaler Wasserstoffmarkt entwickeln wird. Auf sowie den Fachgesellschaften die richtige Plattform für In- welche Technologien in der gesamten Wertschöpfungsket- novationen und fachlichen Austausch. te der Wasserstoffwirtschaft setzt Siemens hier? Drittens: Als technisch-wissenschaftlicher Verband sind Schnettler: Siemens Energy beherrscht die komplette Wert- wir der kompetente, aber neutrale Partner und Berater der schöpfungskette für eine grüne Strom- und Wasserstoff- Öffentlichkeit und der Politik. Es gilt, diese Alleinstellungs- versorgung. Das bedeutet: Wir sind aktiv bei der Beratung merkmale des VDE künftig stärker in den Fokus zu rücken. und Auslegung, bieten über Siemens Gamesa Windener- Welche weiteren Impulse wollen Sie als VDE Präsident im Be- gieanlagen an und haben Technologien für Stromüber- reich der Energietechnik setzen? tragung und Netzintegration sowie Elektrolysesysteme im Schnettler: Die Energietechnik ist ein inhaltlich sehr breit auf- Portfolio. Zudem beherrschen wir die Re-Elektrifizierung gestelltes Fachgebiet, das von der Interdisziplinarität lebt. des Wasserstoffs in Gasturbinen. In internationalen Projek- Die Simulationstechnik spielt seit Jahrzehnten eine bedeut- ten treten wir als EPC-Lieferant (Engineering, Production, same Rolle, die frühzeitige Digitalisierung in Form der Auto- Construction) auf und übernehmen die Finanzierung sowie matisierung und Leittechnik, die Behandlung der elektroma- digitale Services. Dabei kooperieren wir mit Partnern aus gnetischen Verträglichkeit und grundlegende Material- und der Energiewirtschaft, aus der Stahl- und Chemieindustrie, Isolierstoffforschung bis zur Etablierung der Hochleistungs- mit Stadtwerken und mit vielen mehr. elektronik sind nur wenige Beispiele. In meiner Amtszeit Entscheidend für den Durchbruch und den Erfolg von Was- als VDE Präsident möchte ich den VDE noch stärker auf serstoffanwendungen ist die Akzeptanz – einerseits für das die Zukunftsthemen Nachhaltigkeit, D ekarbonisierung und Thema Sicherheit, aber auch für das gesamte Ökosystem. »Energy of the Future« konzentrieren. Die Kompetenzen Seit 1. Juli 2020 sind Sie Präsident des VDE. Was kann der aus der großen fachlichen Breite unserer Fachgesellschaf- VDE tun, um die Akzeptanz für Wasserstoff zu erhöhen und ten werden wir hier intensiv einbringen. Aber der VDE steht die zügige Entwicklung einer Wasserstoffwirtschaft voran- nicht nur für die Energietechnik. Insofern möchte ich hier zutreiben? keine fachliche Einschränkung sehen. Wir streben an – und Schnettler: Das Thema Sicherheit ist extrem wichtig. Gefah- ich habe keinerlei Zweifel daran, dass uns das auch ge- ren bei der Wasserstoffherstellung und dem Transport wer- lingen wird – der neutrale und kompetente technisch-wis- den aber häufig überschätzt: Seit Jahrzehnten wird Was- senschaftliche Partner für die Industrie, die Politik und vor serstoff in großen Mengen ohne Probleme beispielsweise allem für die Gesellschaft zu werden. mit Schiffen und Lkw transportiert. Drei Aspekte sind be- sonders relevant. Erstens: Der VDE hat die Expertise, sich Martin Heinrichs führend um Standards und Normen zu kümmern. Vor al- lem internationale Standards und deren Einhaltung sind dabei wichtig. Wir werden unsere Erfahrungen und un- Das Interview ist in ew – Magazin für die sere Technologieführerschaft als Chance verstehen und Energiewirtschaft 7 / 2020 erschienen. schnell in die internationalen Normen einfließen lassen. Für eine E xportnation wie Deutschland ist das außerordentlich wichtig. 7
T TECHNIK & TRENDS T2 Ortsnetzstationen meet IoT Waren Verteilnetze bis vor wenigen Jahren vor allem für die Um auch unter den eingangs beschriebenen geänderten Versorgung der Haushalte, Gewerbe- und Industriekunden Rahmenbedingungen einen sicheren und funktionierenden konzipiert, so spielen sie bereits heute und noch mehr in Zu- Netzbetrieb zu gewährleisten, ist das Herstellen der Beob- kunft eine bedeutende Rolle bei der Verwirklichung der Ener- achtbarkeit des Mittel- und Niederspannungsnetzes eine giewende: Erneuerbare Energieanlagen, Ladepunkte für Elek- grundlegende Voraussetzung. Hier besteht also Handlungs- troautos, Wärmepumpen, Speicher müssen so gemanagt bedarf. werden, dass einerseits der Kunde sie optimal nutzen kann, Als Schnittstelle zwischen dem Mittel- und Niederspan- andererseits ein jederzeit sicherer Netzbetrieb gewährleistet nungsnetz spielen dabei die Ortsnetzstationen eine entschei- wird. dende Rolle. Diese müssen sukzessive zu „Synapsen des intelligenten Netzes“ ausgebaut werden. Diesbezüglich sind Hierzu ist die Erfassung von Daten auf Feldebene aus sog. Ortsnetzstationen mit entsprechender Kommunikations-, intelligenten Betriebsmitteln eine Grundvoraussetzung. Durch Mess- und Steuertechnik zu sog. intelligenten Ortnetzstati- die Weitergabe dieser Daten und deren Vernetzung z. B. in ei- onen weiterzuentwickeln. Die Erfassung von Daten aus der ner zentralen Netzleitstelle ist dann die Umsetzung intelligen- Niederspannungsebene ist dabei u. a. hinsichtlich der Daten- ter Funktionen für verschiedene Anwendungsmöglichkeiten mengen besonders herausfordernd. Ein im Vergleich zu den (use cases) möglich. Stand heute ist allerdings der Ausstat- bisherigen Anwendungen wesentlich größeres Mengengerüst tungsgrad mit intelligenten Betriebsmittel von Spannungs ist zu berücksichtigen, so dass aus Sicht der Autoren Cloud- ebene zu Spannungsebene sehr unterschiedlich, wie in Bild 1 technologien zum Einsatz kommen werden. Die Nutzung von dargestellt. Cloudtechnologien und entsprechender IoT-Anwendungen für Die HS-/MS-Umspannwerke sind bereits heute i. d. R. voll- den Netzbetrieb bzw. als Unterstützung des Netzbetriebs sind ständig an ein Netzleitsystem angeschlossen. Damit können dabei sowohl für Netzbetreiber wie auch für deren Technolo- das 110-kV-Verteilnetz und die Umspannwerke vollständig giepartner Neuland und werden in der Branche durchaus kon- beobachtet und gesteuert werden. In der Mittel- und Nieder- trovers diskutiert. spannungsebene sieht dies gegenwärtig anders aus. Hier ist Um jedoch gemeinsam Erfahrungen mit den neuen Techni- der Ausstattungsgrad an intelligenten Betriebsmitteln für die ken / Technologien und insbesondere mit Cloudanwendungen Mittelspannung überschaubar, für die Niederspannung bis- im Umfeld realer Ortsnetzstationen zu sammeln, sind entspre- lang quasi nicht existent. chende Pilotprojekte notwendig. In diesem Zusammenhang Bild 1: Smartifizierungsgrad versus Mengengerüst 8
TECHNIK & TRENDS T wurde u. a. ein Netzbetreiber übergrei- fendes Pilotprojekt gemeinsam mit ei- nem Technologiepartner durchgeführt. Ziel war es, im Rahmen eines PoC (Proof of Concept) den Nachweis für verschie- dene Lösungsbausteine insbesondere unter Beachtung IT-sicherheitstechni- scher Aspekte zu erbringen sowie aus- gewählte Anwendungen prototypisch umzusetzen. In diesem Zusammenhang sind Betrachtungen zu einer möglichen Skalierbarkeit, Konnektivität und Offen- heit des Systems wichtig. Hierzu wurden in ausgewählten Orts- netzstationen verschiedene Messgeräte sowie IoT-Komponenten installiert und diese an ausgewählte IoT-Plattformen angebunden. Bild 2 zeigt eine gesamt- hafte Übersicht der verprobten Techno- logien. Bild 2: Übersicht betrachteter Techniken / Technologien Feld-/Stationsebene In der Mittelspannung werden Messwerte und Meldungen nologie ermöglichen dabei ebenfalls die Erfassung von Daten (z. B. Kurzschlussrichtungsmeldung – KuRi) mit entsprechen- außerhalb der Ortsnetzstation, z. B. von Sensorik in Kabelver- den Komponenten erfasst und per Modbus-Protokoll an das teilerschränken. Stationsautomatisierungsgerät übertragen. Zudem wird eine Vor dem Hintergrund der Entwicklung einer skalierbaren Fernsteuerbarkeit der MS-Lasttrennschalter ermöglicht. Nie- Lösung, insbesondere auch für Bestandsanlagen, wurde be- derspannungsseitig werden die Sammelschienenspannungen sonderes Augenmerk auf die Ermittlung des Anbindungs- und dreiphasig die NS-Abzweigströme ebenfalls via Modbus aufwands (Montage, Parametrierung, Inbetriebnahme, etc.) erfasst. Die Anbindung eines Spannungsqualitätsschreibers gelegt. Die Erfassung der Abzweigströme in der Niederspan- zur Erfassung der niederspannungsseitigen Transformato- nungsverteilung stellte dabei aufgrund der baulichen Gege- renspannungen und -ströme erfolgt ebenfalls mit dem Mod- benheiten eine besondere Herausforderung dar. bus-Protokoll. Konnektivität des Stationsautomatisierungsge- Für die kommunikationstechnische Anbindung der Orts- rätes mit den unterschiedlichen Komponenten – insbesondere netzstation selbst wird jeweils ein Router in den Ortsnetzsta- mit Komponenten unterschiedlicher Hersteller – ist hierbei es- tionen genutzt. sentiell. Die hierzu notwendige Installation von Komponenten er- folgt sowohl in Ortnetzstationen, die bereits fernwirktechnisch Anbindung an die IoT-Plattformen an die Netzleitstelle angebunden waren, als auch in Ortnetz- stationen ohne vorhandene Fernwirktechnik. Damit konnten Alle für die Netzleitstelle unmittelbar relevanten Daten, wie z. B. Erfahrungen sowohl für die Ausrüstung neuer wie auch für die die Befehle zur Steuerung der MS-Lasttrennschalter, wer- Nachrüstung bestehender Stationen gesammelt werden. Die den in gewohnter Weise via IEC 60870-5-104 zur Netzleit- Nutzung unterschiedlicher Komponenten und Technologien stelle übertragen. Eine grundsätzliche Übertragung aller in der für die Erfassung und Verarbeitung der Daten ermöglicht zu- Ortsnetzstation erfassten Daten an die zentrale Netzleitstelle – dem einen Komponenten- und Technologievergleich. insbesondere Messdaten aus der Niederspannung – ist nicht Daneben wurden als weitere Technik auch Breitbandpow- vorgesehen. erline-Komponenten in Ortsnetzstationen verbaut. Neben der Diese Daten werden hingegen mittels der Gateway-Funk- Hauptaufgabe der kommunikationstechnischen Übertragung tion des Stationsautomatisierungsgerätes per OPC UA Pub von Informationen ermöglichen entsprechende Repeater auch Sub Protokoll über ein speziell gesichertes VPN an das eigne die Erfassung der drei niederspannungsseitigen Leiter-Erde- Rechenzentrum geschickt. Von dort aus werden gefilterte Da- Spannungen. Die so erfassten Messwerte werden über einen ten durch entsprechende Sicherheitszonen ausgekoppelt und zentralen Server ebenfalls in die Cloud des Netzbetreibers in die Cloud des Netzbetreibers geschickt. Aus Sicht der be- übertragen. teiligten Netzbetreiber ist eine wesentliche Grundvorausset- Darüber hinaus wurde die LoRaWAN-Technologie verprobt. zung, dass alle Nutzdaten – unabhängig von der verwendeten Hier werden die mittels LoRa-Sensoren erfassten Daten via Technologie – zunächst direkt in die eigene Cloud geroutet LoRa-Gateway an die Cloud des Netzbetreibers übertragen. werden, um eine eigene Datenhaltung aller orginären Daten zu Sowohl die Breitbandpowerline als auch die LoRaWAN-Tech- gewährleisten. Damit ist die Verarbeitung der Daten durch den 9
T TECHNIK & TRENDS Netzbetreiber selbst möglich. Zudem können so die erfassten Erfassung von Netzzustandsdaten in Ortsnetzstationen ist zu- Daten mit Daten aus Bestandssysteme (z. B. mit Betriebsmit- dem eine essentielle Voraussetzung für die künftige Bewirt- teldaten) in Bezug gesetzt werden. schaftung von Flexibilitäten. Die Nutzung des offenen Kommunikationsstandards war für eine erfolgreiche Anbindung an die Cloud-Umgebung des Netzbetreibers ausschlaggebend. Um perspektivisch je- Fazit doch eine Unabhängigkeit zwischen Feld-/Stationsebene und Cloud ähnlich wie bei Verwendung z. B. des IEC-Protokolls Das Energiesystem der Zukunft basiert auf intelligenten Ver- 60870-5-104 sicherzustellen, sollte mit Blick auf Offenheit teilnetzen. Der Ortsnetzstation kommt dabei als Bindeglied und Konnektivität auch das genutzte Protokoll durch den NB zwischen der MS-/NS-Ebene eine besondere Rolle zu. Für die entsprechend spezifiziert vorgegeben werden. Erfassung von Daten in Ortsnetzstationen sowie die Verarbei- Im Rahmen des Piloten wollten die beteiligten Netzbetrei- tung dieser ist die Verprobung unterschiedlicher Techniken / ber auch die Leistungsfähigkeit der Plattform des Techno- Technologien notwendig. Mit Blick auf die Menge an Daten logiepartners („MindSphere“) insbesondere hinsichtlich der werden Cloudtechnologien zum Einsatz gelangen. Applikationen kennenlernen. Hierzu erfolgt die Weitergabe der Skalierbarkeit, Konnektivität, Offenheit, IT-sicherheitstech- Daten durch eine Cloud-zu-Cloud Kopplung. nische Aspekte sind dabei essentielle Anforderungen. Neben Unterstützt von Fachexperten wurde die Sicherheitsarchi- den technischen sind hierbei auch immer die prozessualen Ge- tektur der Plattformen und der anhängigen Prozesse für die sichtspunkte wie Montage, Parametrierung, Inbetriebnahme, Datenübertragung und -verarbeitung in der Cloud (krypto- Patchmanagement zu betrachten. graphische Verschlüsselung, Zertifikatsverwaltung, Authenifi- zierung, etc.) überprüft. Dabei war die kryptographische In- besitznahme der im Feld neu verbauten Geräte durch den Quellen Netzbetreiber eine weitere wesentliche Grundvoraussetzung. Dies wurde durch einen gemeinsam erarbeiteten, zweistufi- − J. Arnold, J.-M. Salzmann, M. Lang, J. Brantl, D. gen Zertifikatsprozess ermöglicht. Im Piloten wurde der einfa- Uffmann: „Ortsnetzstationen meet IoT“, netzpraxis, 2020, che und sichere Onboarding-Prozess für neu verbaute Geräte Heft 1 – 2 im Feld erfolgreich umgesetzt. Somit erfolgt auf der Grundla- − J. Arnold, J.-M. Salzmann, M. Lang, J. Brantl, D. ge von Zertifikaten eine Authentifizierung und Ende-zu-Ende Uffmann: „Ortsnetzstationen meet IoT“, 11. ETG / FNN Verschlüsselung der gesamten Kommunikation zwischen dem Tutorial „Schutz- und Leittechnik“, Februar 2020 zentralen Stationsautomatisierungsgerät, der Cloud des Netz- betreibers und der Cloud des Technologieanbieters. Jens-Michael Salzmann E.DIS Netz GmbH Applikationsebene Weitere Autoren: Das Pilotprojekt beinhaltete Internet of Things (IoT) Datenana- lytik und Anwendungen für Stromnetze. Durch die Datenver- Johannes Arnold, arbeitung in einer Plattform eines Technologieanbieters mit Digital Grid SIEMENS AG vielseitigen Analysemöglichkeiten besteht die Möglichkeit, Markus Lang, sehr schnell zusätzliche Anwendungsfälle in einer agilen Vor- Digital Grid SIEMENS AG gehensweise zu entwickeln. So können die erfassten Daten Johannes Brantl, z. B. schnell in einer Kartenansicht dargestellt, verarbeitet und Bayernwerk Netz GmbH ausgewertet werden. Dirk Uffmann, E.ON SE Konkrete Anwendungsfälle sind hier u. a.: − Visualisierung der Niederspannungen und Niederspan- nungsströme − Störungsmanagement / Alarmierung bei Spannungsausfall − Überwachen ausgewählter Messgrößen und Netzzustände − Alarmierung bei Grenzwertverletzungen − Ermittlung von Unsymmetrien − Betriebsmittelmonitoring Ziel der Umsetzung v. g. Anwendungsfälle ist es, auch unter den geänderten netztechnischen Rahmenbedingungen einen effizienten Netzbetrieb im Sinne der Netzkunden zu gewähr- leisten. So können mit Hilfe von Daten z. B. Netzstörungen schneller erkannt, die Netz- und Betriebsplanung verbessert sowie durch eine kontinuierliche Zustandsüberwachung von Betriebsmitteln das Assetmanagement optimiert werden. Die 10
TECHNIK & TRENDS T T3 Cybersecurity in der Schutz- und Leittechnik – Aktuelle Entwicklung der regulatorischen Vorgaben Entwicklung der Bedrohungslage Das Thema Cybersecurity hat im Bereich der Prozesssteu- erung in der Energieversorgung in den letzten Jahren kon- tinuierlich an Relevanz gewonnen. Neben den häufig auf klassischer IT-Technologie basierenden zentralen Netz- und Kraftwerkleitsystemen betrifft das auch die Embedded-Tech- nologien, wie sie in der Automatisierungs- und Schutztechnik im Energieanlagen- und Stationsbereich eingesetzt werden. Durch den umfassenden Einsatz digitaler Systeme und auf Ethernet und dem IP-Protokoll basierender Kommunikations- technologien hat sich auch hier die Bedrohungslage in den letzten Jahren weiter verschärft. Der auf ICS (Industrial Con- trol Systems) und OT (Operational Technology) spezialisierte Schwachstellen-Informationsdienst der US-Regierung ICS- CERT [1] veröffentlicht inzwischen pro Jahr mehrere hundert Schwachstellenmeldungen, die auch kritische Komponenten Bild 1: Modernere Leit-, Automatisierungs- und Schutztechnik ist – der Energieversorgung betreffen. Die Gründe hierfür sind viel- im Gegensatz zum hier abgebildeten klassischen Kraftwerksleitstand schichtig, unter anderem sind hier der generell steigende Di- aus den 1920ern – in zunehmenden Maße von Cybersecurity-Risiken gitalisierungsgrad und die wachsende Komplexität der in den bedroht. Der Gesetzgeber will mit erweiterten Regulierungsvorgaben Komponenten eingesetzten Software zu nennen. Ebenso ist gegenwirken. Bild: S.Beirer relevant, dass immer noch nicht alle Hersteller Software-Si- cherheit im Entwicklungszyklus umfassend betrachten – teil- den Umspannwerken direkt manipuliert. Hierzu verfügte die weise werden in den Komponenten auch noch Softwarebe- eingesetzte Schadsoftware Industroyer/CrashOverride über standteile eingesetzt, die in einer Zeit entwickelt wurden, als Kommunikationsmodule für die Protokolle IEC 60870-5-101 hier die entsprechenden Security-Anforderungen noch nicht und -104, IEC 61850 sowie für OPC-DA sowie ein Angriffs- mit hoher Priorität berücksichtigt wurden. modul, mit dem bestimmte SIPROTEC-Schutzgeräte zum Die gezielten Hackerangriffe auf die ukrainischen Verteil- Absturz gebracht werden konnten [4]. und Übertragungsnetzbetreiber in den Jahren 2015 und 2016 Inzwischen warnen die zuständigen Behörden wie der Ver- zeigen, dass diese Lücken inzwischen auch von Kriminellen fassungsschutz und das Bundesamt für Sicherheit in der In- oder (halb-)staatlichen Akteuren ausgenutzt werden, um die formationstechnik (BSI) vor Angriffsversuchen auf EVU-Un- Energieversorgung gezielt zu beeinträchtigen [2, 3]. Während ternehmensnetzwerke. So ist laut dem BSI-Präsident Arne bei der ersten Angriffswelle im Dezember 2015 die Hacker Schönbohm zunehmend zu beobachten, dass die Angreifer mit klassischen IT-Angriffstechniken die Kontrolle über die versuchen, in die Netzwerke der Energieversorger einzudrin- HMI-Rechner des Netzleitsystems übernahmen und von dort gen, um sich dort festzusetzen, um im Fall der Fälle aktiv wer- dann durch Bedienung des Leitsystems Abschaltungen vor- den zu können [5]. Auch auf Grund dieser relevanten Bedro- nahmen, wurden beim zweiten Angriff kurz vor Weihnachten hungslage sollen die regulatorischen Vorgaben insbesondere 2016 die Stationsautomatisierung und die Schutztechnik in für Kritische Infrastrukturen (KRITIS) verschärft und erweitert werden. Hierzu sind sowohl auf nationaler als auch auf euro- päischer Ebene verschiedene Vorgaben geplant, die im Fol- genden kurz vorgestellt werden. IT-Sicherheitsgesetz 2.0 Das deutsche Innenministerium plant bereits seit geraumer Zeit eine Überarbeitung des IT-Sicherheitsgesetzes von 2015 [6], das als Artikelgesetz unter anderem die IT-Security-Vor- Bild 2: Kundeninformation auf der Webseite des ukrainischen DSO gaben für Betreiber Kritischer Infrastrukturen im BSI-Gesetz Kyivoblenergo zu den Hackerangriffen vom 23.12.2015 und im Energiewirtschaftsgesetz definiert hat. Diese als „IT-Si- Bild/Screenshot: S.Beirer cherheitsgesetz 2.0“ bezeichnete Novellierung wird seit Ende 11
T TECHNIK & TRENDS 2018 diskutiert, ein erster Referentenentwurf wurde Anfang the Energy Sector“ veröffentlicht [9]. Während eine EU-Emp- 2019 bekannt [7], eine nochmals stark überarbeitete Version fehlung – im Gegensatz zu einer Verordnung wie der bekann- wurde vor Kurzem im Internet veröffentlicht [8]. ten Datenschutzgrundverordnung – keinen verbindlichen Gemäß des aktuellen Gesetzentwurfs sollen der Aufga- Rechtsakt darstellt, können an ihren Erlass durchaus Rechts- benbereich und die Kompetenzen des BSI stark erweitert folgen geknüpft sein. Im konkreten Fall empfiehlt die EU-Kom- werden, unter anderem in den Bereichen Verbraucherschutz, mission den Mitgliedsstaaten explizit, die Empfehlungen in Detektion, Reaktion und Zertifizierung. Neben den Betreibern ihre nationale Cyber-Security-Strategie aufzunehmen, insbe- sollen zukünftig auch Hersteller und Dienstleister verstärkt in sondere durch entsprechende Gesetze und Regulierungen. die Regulierung einbezogen werden, insbesondere, wenn sie Die Empfehlung behandelt die drei Themengebiete Echt- im Bereich der Kritischen Infrastrukturen tätig sind. Generell zeitanforderungen, Kaskadeneffekte und die kombinierte soll der KRITIS-Begriff um sogenannte „Unternehmen in be- Nutzung sogenannter Legacy-Systeme mit modernen Tech- sonderem öffentlichen Interesse“ erweitert werden. nologien wie IoT. So wird empfohlen, zur Sicherung von Ebenso sollen ergänzend konkrete technische und organi- „Echtzeit-Kommunikation“ die aktuellsten Sicherheitsnormen satorische Anforderungen an KRITIS-Betreiber gestellt wer- anzuwenden und eine sichere Machine-to-Machine-Authen- den. So wird der neue Begriff „Kritische Komponenten“ defi- tisierung einzuführen, sobald entsprechende Produkte am niert – dies sind Systeme oder Komponenten, die in Kritischen Markt verfügbar sind. Der Begriff „Echtzeit-Kommunikation“ Infrastrukturen eingesetzt werden und bei denen eine Beein- wird nicht näher definiert, umfasst aber üblicherweise auch trächtigung von Verfügbarkeit, Integrität, Authentizität oder die auf Protokollen wie IEC 60807-5-104 und IEC 61850 ba- Vertraulichkeit die Funktionsfähigkeit der Kritischen Infrastruk- sierende Fernwirk- und Prozesskommunikation. Für diese tur beinträchtigen kann, z. B. durch Versorgungsausfälle. Protokolle sind in der ergänzenden Normfamilie IEC 62351 Si- Der Einsatz von kritischen Komponenten, für die eine Zer- cherheitserweiterungen zur Verschlüsselung, Authentisierung tifizierungspflicht besteht, muss zukünftig durch die Betrei- und Integritätssicherung definiert, die zumindest in Teilen auch ber Kritischer Infrastrukturen dem Innenministerium gemeldet bereits in einigen ersten Produkten am Markt verfügbar sind. werden. Die Nutzung dieser Komponenten ist nur dann zuläs- Zur Eingrenzung von Kaskadeneffekten empfiehlt die Kom- sig, wenn der Komponentenhersteller ergänzend zur Zertifizie- mission, dass Energieversorger Designkriterien für resiliente, rung eine „Garantieerklärung“ über ihre Vertrauenswürdigkeit das heißt widerstandsfähige Energie-Netze definieren und abgegeben hat. Die konkreten Inhalte dieser Vertrauenswür- umsetzen. Was dies genau umfassen bzw. wie und in wel- digkeitserklärung sollen später definiert werden, es ist deshalb chem Zeitrahmen der dafür voraussichtlich auch notwendige noch unklar, welche technischen Anforderungen an die Kom- Netzumbau erfolgen soll, bleibt allerdings im Wesentlichen of- ponenten oder welche Vorgaben an die organisatorischen fen. Des Weiteren wird empfohlen, dass Versorger sog. „cy- Prozesse beim Hersteller definiert werden sollen. ber-physische“ Effekte beim Krisenmanagement und Busi- Des Weiteren sollen KRITIS-Betreiber verpflichtet werden, ness Continuity Management verstärkt berücksichtigen. Das sogenannte Systeme zur Angriffserkennung einzusetzen. Die bedeutet im Wesentlichen, dass die Auswirkungen, die durch Anforderungen an solche Systeme sollen zukünftig vom BSI die immer engere Kopplung von IT- und softwaretechnischen in einer Technischen Richtlinie definiert werden, es ist deshalb Systemen mit den primärtechnischen Komponenten entste- unklar, ob die heute am Markt verfügbaren Intrusion Detection hen, und die daraus resultierenden elektrotechnischen Effek- Systeme hier ausreichend sind. te intensiv analysiert und entsprechende Notfallplanungen für Damit die Wiederherstellung von IKT-Systemen und Pro- Krisen- und Ausfallszenarien erarbeitet werden müssen. zessen bei KRITIS-Betreibern im Falle von erheblichen Stö- Um einen sicheren Betrieb von modernen Technologien – rungen sichergestellt werden kann, soll das BSI zukünftig in das Empfehlungspapier spricht von State-of-the-Art Techno- Zusammenarbeit mit anderen zuständigen Behörden wie dem logy – zusammen mit bestehenden Altsystemen (sogenannter Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Legacy Technology) zu ermöglichen, sollen Energieversorger (BBK) und den Betreibern Krisenreaktionspläne erstellen und Altsysteme nach Möglichkeit mit sicherer, aktueller Technolo- diese regelmäßig überprüfen und anpassen. Das BSI erhält gie ersetzen. Des Weiteren sollen zur Absicherung von Sys- zudem die Befugnisse im Rahmen von solchen erheblichen temen und Komponenten konkrete Security-Anforderungen in Störungen Informationen und Auskünfte von den Betroffenen Ausschreibungen definiert und ein Patchmanagement für die einzufordern und die erforderlichen informationstechnischen ICS- und OT-Systeme umgesetzt werden. Maßnahmen für die Wiederherstellung der Sicherheit und der Funktionsfähigkeit der relevanten informationstechnischen Systeme anzuordnen. EU Cybersecurity Act Der EU Cybersecurity Act (kurz CSA) [10] ist eine europäi- EU Commission Recommendation on Cybersecurity in sche Verordnung mit dem Ziel, die Cybersicherheit und die the Energy Sector Widerstandsfähigkeit gegen Cyberangriffe in der EU zu er- höhen. Der CSA ist nach mehrjährigen Verhandlungen am Neben den mit dem IT-Sicherheitsgesetz 2.0 geplanten Er- 27.06.2019 in Kraft getreten. Wesentliche Inhalte sind eine weiterungen der regulatorischen Vorgaben auf nationaler Ebe- Stärkung des Mandats der EU-Cybersicherheitsagentur ENI- ne sind derzeit verschiedene weitere Entwicklungen auch auf SA sowie die Etablierung eines EU-weiten Rahmenwerks für EU-Ebene erkennbar. So hat die EU-Kommission im April IT-Sicherheitszertifizierung von Produkten, Dienstleistungen 2019 die Empfehlung „Recommendation on Cybersecurity in und Prozessen. 12
TECHNIK & TRENDS T Laut der Verordnung sind die Zertifizierungen bzw. die Nut- Referenzen zung zertifizierter Produkte, Dienstleistungen oder Prozesse zunächst freiwillig. 2023 will die EU-Kommission allerdings [1] https://www.us-cert.gov/ics prüfen, ob Zertifizierungen bei ausreichender Verfügbarkeit am [2] https://www.heise.de/security/meldung/Stromausfall Markt in bestimmten Bereichen verpflichtend werden. Dies -in-der-Ukraine-augenscheinlich-durch-Hacker würde voraussichtlich in erster Linie KRITIS-Betreiber betref- -ausgeloest-3063343.html fen und könnte dazu führen, dass auch im Bereich der Ener- [3] https://www.heise.de/security/meldung/Industroyer gietechnik nur noch zertifizierte Komponenten genutzt werden -Fortgeschrittene-Malware-soll-Energieversorgung dürfen. Dies wird auch von vielen Security-Experten kritisch -der-Ukraine-gekappt-haben-3740606.html gesehen, da eine Beschränkung der verfügbaren Produkte bei [4] https://www.welivesecurity.com/deutsch/2017/06/12/ einer gleichzeitig – wenn überhaupt – nur geringfügen Erhö- industroyer-bedroht-kritische-infrastrukturen/ hung der konkreten Produktsicherheit befürchtet wird. [5] rbb Politmagazin Kontraste, Sendung vom 28.02.2019 [6] https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/KRITIS/IT-SiG/ it_sig_node.html Network Code on Cybersecurity [7] https://netzpolitik.org/2019/it-sicherheitsgesetz-2-0 -wir-veroeffentlichen-den-entwurf-der-das-bsi-zur Der letzte in diesem Artikel vorgestellte Cybersecurity-Regu- -hackerbehoerde-machen-soll/ lierungsvorgabe ist der Network Code on Cybersecurity [11]. [8] https://netzpolitik.org/2020/seehofer-will-bsi-zur Die Network Codes sind die durch die Europäische Kommis- -hackerbehoerde-ausbauen/#2020-05-07_BMI_ sion als EU-Verordnungen erlassenen, verbindlichen Vorga- Referentenentwurf_IT-Sicherheitsgesetz-2 ben zum Netzzugang und Netzbetrieb für alle am Verbund- [9] https://ec.europa.eu/energy/sites/ener/files/commission netz angeschlossenen Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber _recommendation_on_cybersecurity_in_the_energy und Erzeuger. Der Network Code on Cybersecurity soll in den _sector_c2019_2400_final.pdf kommenden Jahren erstellt werden und dabei u. a. die folgen- [10] https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/eu den Themen abdecken: -cybersecurity-act − Sicherheitsaspekte grenzüberschreitender Energieflüsse [11] https://ec.europa.eu/energy/sites/ener/files/documents/ − minimale Anforderungen an Produkte, System und Pro- 1st_interim_report_final.pdf zesse [12] https://ec.europa.eu/energy/sites/ener/files/sgtf_eg2_ − Planung, Monitoring, Reporting und Krisenmanagement report_final_report_2019.pdf Die EU-Expertenkommission Smart Grid Task Force hat zu möglichen Inhalten des Network Codes on Cybersecurity kon- Dr. Stephan Beirer, krete Empfehlungen erarbeitet [12], z. B. zu Zertifizierungsvor- GAI NetConsult gaben für Netz- und Anlagenbetreiber auf Basis der Normen ISO/IEC 27001 / 27002 / 27019, zu Vorgaben für Produkt- und Systemzertifizierungen nach IEC 62443 sowie zum ver- pflichtenden Einsatz zertifizierter Produkte, Prozesse oder Dienstleistungen für alle Netz- und Anlagen-Betreiber. Es wird erwartet, dass der Network Code on Cybersecurity nicht vor 2023 finalisiert und in Kraft gesetzt wird. Fazit Die weiterhin erhöhte Cybersecurity-Bedrohungslage im Be- reich der Kritischen Infrastrukturen und der Energieversorgung führt dazu, dass die Regulierungsvorgaben auf nationaler und europäischer Ebene absehbar weiter verschärft werden. Mit- telfristig sind hier für die Leit-, Automatisierungs- und Schutz- technik im Netz- und Energieanlagenbetrieb konkrete Auswir- kungen zu erwarten – sowohl was die eingesetzten Produkte und Technologien als auch was die Anforderungen an die or- ganisatorischen und betrieblichen Prozesse angeht. 13
T TECHNIK & TRENDS VDE Impuls T4 Systematisierung der Autonomiestufen in der Netzbetriebsführung Die grundlegenden Trends der Dekarbonisierung (Strom, Wär- ein bedingungsautomatisierter Betrieb (Autonomiestufe 3) in me, Verkehr), Dezentralisierung und Digitalisierung sind mit vielen Funktionsbereichen realisierbar sein. In den Nieder- und umfangreichen regulatorischen Veränderungen und Kosten- Mittelspannungsortsnetzen wird die Entwicklung von der erfor- druck verbunden. Bei volatiler Versorgungssituation sowie derlichen Prozessanbindung abhängig sein. Hier wird zunächst verzögertem Netzausbau führt dies zu einem Netzbetrieb nä- der Fokus auf die Transparenz in die Ortsnetze zur Zustands her an den Kapazitätsgrenzen. Durch all diese Veränderun- erfassung gelegt werden und dann in Teilbereichen auch eine gen werden die Anforderungen an die Netzbetriebsführung Bedingungsautomatisierung (Autonomiestufe 3) zum Einsatz komplexer. In allen Systemzuständen wie dem Normalbe- kommen. Hervorzuheben ist die Abhängigkeit der Automatisie- trieb, dem Störungszustand bis hin zum Netzwiederaufbau rung von der IKT sowie die Notwendigkeit von Rückfallebenen, muss ein sicherer Betrieb gewährleistet sein. Durch die gro- um einen sicheren Netzbetrieb dauerhaft zu gewährleisten. ße Zahl der aktiven Systemteilnehmer ist sowohl eine vertika- Eine Gesamtsystemautomatisierung (Autonomiestufen 4 le (Kaskade) als auch eine horizontale (räumlich verteilt inner- und 5) für Netzbetreiber ist in den nächsten zehn Jahren nicht halb einer Netzebene) Koordination zwischen Netzbetreibern zu erwarten. Dafür sind über die Teilautomatisierungsstufen und Netznutzern wie Einspeisern, Abnehmern und Prosumern zunächst noch zahlreiche Vorbereitungen erforderlich. In Teil- (inkl. Speichern) erforderlich. Die Komplexität hat inzwischen gebieten des Verteilnetzes, insbesondere in Ortsnetzen, ist ein einen Grad erreicht, der umfangreiche Assistenzsysteme und höherer Grad der Automatisierung (Autonomiestufe 4) für den Automatisierungsfunktionen erfordert, damit die Systemfüh- Normalbetrieb, z. B. Spannungshaltung, Engpassmanage- rung die Komplexität beherrschen und notwendige Aufgaben ment, Beiträge zur Frequenzhaltung, zu erwarten. und Entscheidungen umsetzen kann. Insbesondere, wenn in In Pilotprojekten zur Sektorenkopplung werden die Umset- den Nieder- und Mittelspannungsnetzen verstärkt eine aktive zungsmöglichkeiten, deren Nutzen und Wirtschaftlichkeit aus- Netzführung zur Koordination volatiler oder regelbarer Netz- gelotet. Wenn diese Projekte erfolgreich sind, kann die Kopp- nutzer angestrebt wird, ist auf Grund der großen Zahl an Nie- lung der verschiedenen Sektoren schrittweise verstärkt zum der- und Mittelspannungsnetzen eine bedarfsorientierte Auto Einsatz kommen. Eine Automatisierung der Kopplung wird mit matisierung erforderlich. Gleichermaßen bedarf die schnelle verschiedenen Autonomiestufen einhergehen. Regelbarkeit von (leistungselektronischen) Netzkomponen- Der VDE Impuls bildet den Ausgangspunkt für die Betrach- ten bis hin zu Hochspannungs-Gleichstromübertragungen tung folgender weiterführender Fragestellungen, die es zu- schnelle und automatisierte Mechanismen zur sicheren Sys- künftig in Bezug auf die Automatisierung des Netzbetriebs zu temführung. Neue Anforderungen im Netzbetrieb (z. B. Re- betrachten gilt: dispatch, Netz-Markt-Koordination) begründen den Bedarf ei- − In welchem Verhältnis stehen Kosten und Nutzen des Au- ner zunehmend automatisierten Vorgehensweise. tomatisierungsbedarfs? − Wie kann sichergestellt werden, dass beim Einsatz von Multi- Vendor Systemen elementare Berechnungen, bei- Zusammenfassung und Ausblick spielsweise Lastflussrechnung und State Estimation, identische Ergebnisse liefern? Wie kann der Datenpflege- Der VDE Impuls liefert die Grundlage für eine systematische aufwand gering gehalten werden? Betrachtung der voranschreitenden Automatisierung der − Wie kann die Cyber-Sicherheit gewährleistet werden und Netzbetriebsführung. Es werden sechs Autonomiestufen für welche Anforderungen bestehen an die Informations den Netzbetrieb in Anlehnung an die Autonomiestufen beim sicherheit, IT-Sicherheit und OT-Sicherheit? autonomen Fahren definiert. Davon ausgehend erfolgt eine − Mit welchen Testverfahren kann kontinuierlich geprüft wer- Einordnung des heutigen Automatisierungsgrads der Funktio- den, dass die Funktionalitäten und Sicherheit gewährleistet nen auf Systemleitebene. Hierbei wird dargelegt, welche Teil sind? Ist der Einsatz digitaler Zwillinge hierfür hilfreich, um automatisierungsfunktionen bereits Stand der Technik sind. das komplexe, sich durch Software Updates und modulare Davon ausgehend werden Prozesse identifiziert, deren Au- Erweiterung ständig verändernde automatisierte Gesamt- tomatisierungsgrad schrittweise bis zu einem Umsetzungs system abzubilden und zu testen? horizont 2030 erhöht werden soll, um die zunehmende Kom- − Welcher Schulungsbedarf besteht für den Betriebsführer plexität des Netzbetriebs beherrschbar zu machen. In den und inwieweit wird sich dessen Aufgabenfeld zukünftig än- Leitstellen des Übertragungsnetzes soll die Autonomiestufe dern? Wird der Betriebsführer beispielsweise für die Über- 1b (Decision Support) erreicht werden, um die Reaktionsfähig- wachung der korrekten Funktionsweise und des Zusam- keit gegenüber unerwarteten Situationen durch Teilautomati- menspiels der Automatisierungsfunktionen verantwortlich sierung (Autonomiestufe 2) zu verbessern. Netzbetreiberüber- sein oder die Parametrierung von automatischen Funktio- greifende Funktionen sollen perspektivisch teilautomatisiert nen durch Auswahl von Verhaltensmustern übernehmen? ausgeführt werden (Autonomiestufe 2). Zudem soll in allen − Wie können komplexe Automatisierungsfunktionen in Leitstellen zur Beherrschung der zunehmenden Komplexität (vorausschauende) Netzsicherheitsrechnungen berück- sichtigt werden? 14
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