AkademieAktuell und Forschung - Beiträge zu einer aktuellen Debatte - Bayerische Akademie der Wissenschaften

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AkademieAktuell und Forschung - Beiträge zu einer aktuellen Debatte - Bayerische Akademie der Wissenschaften
Ausgabe 02/2014 – ISSN 1436-753X

AkademieAktuell
              Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Schwerpunkt
              Evaluation in Wissenschaft
              und Forschung
              Beiträge zu einer aktuellen Debatte

         Bayerische
      Akademie der Wissenschaften
AkademieAktuell und Forschung - Beiträge zu einer aktuellen Debatte - Bayerische Akademie der Wissenschaften
Editor i a l

                                                                                              Liebe Leserinnen,
                                                                                                    liebe Leser!
Frü h e r fa n d Evalu i e ru n g von Leistung und Potential eines
Wissenschaftlers allein aus Anlass von Berufungs- und Wahlent-
scheidungen statt. Daraus resultierte dann ein Zu- und Vertrauens-
vorschuss für den Zeitraum der Verantwortungsübertragung. Heute
müssen sich Personen, Strukturen, Prozesse und Ergebnisse wissen-
schaftlicher Institutionen zusätzlich und relativ häufig diversen
Bewertungen unterziehen. Inwieweit dieser Trend der positiven

                                                                                                                                                                                Abb.: Archiv
Qualitätsentwicklung dient, vielleicht aber auch unerwünschte
Nebenwirkungen erzeugt bis hin zur Beförderung eines dysfunktio-
nalen Konformismus, ist Gegenstand vielfältiger Debatten.

Auch die Bayerische Akademie der Wissenschaften unterzog sich kürzlich – als erste Länder-
akademie überhaupt – einer umfassenden Strukturevaluation. Aus diesem Anlass haben
wir Mitglieder und Gastautoren eingeladen, für dieses Themenheft von „Akademie Aktuell“
unterschiedliche Aspekte von Evaluationen im Wissenschaftssystem zu beleuchten.

Martin Hose wirft einen Blick in die Vergangenheit und beschreibt eine ganz besondere
Evaluation, mit der sich der griechische Philosoph Platon im 4. Jahrhundert vor Christus
beschäftigte (S. 10). Jörg Hacker und Stefan Artmann zeigen, warum Evaluationen zu den
großen wissenschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit gehören (S. 16). Eine
„gute Praxis“ institutioneller Evaluationen im Wissenschaftssystem jenseits von Ritual und
Standardprozedur fordert Andreas Stucke (S. 20). Den richtigen Zeitpunkt für eine gelun-
gene Evaluation beschreibt Martin Lohse (S. 24). Akademiepräsident Karl-Heinz Hoffmann
spricht im Interview über evaluierende und evaluierte Wissenschaftler, über seine per-
sönlichen Erfahrungen und über die Strukturevaluation der Akademie (S. 30). Werden die
Schweine vom Wiegen fetter? Das fragt Jürgen Kaube und erklärt, wie sich das Publikations-
verhalten von Wissenschaftlern durch Dauerevaluation verändert (S. 35). Neue Instrumente
zur Messung exzellenter Forschungsleistungen in Rankings stellt Lutz Bornmann vor (S. 38).
Die aufwändige Sicherung der wissenschaftlichen Qualität im Akademienprogramm er-
läutern Günter Stock und Sebstian Zwies (S. 44).

Ich danke allen Autorinnen und Autoren für die Mitwirkung an dieser Ausgabe. Mögen
die Beiträge helfen, in dem höchst facetten- und folgenreichen Evaluationsgeschehen die
Orientierung zu erleichtern.

                                      Prof. Dr. Arnold Picot – Sekretar der Philosophisch-historischen Klasse

                                                        Ausgabe 02/2014 – ISSN 1436-753X                          Unser Titel
                                         AkademieAktuellZeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

                                                                                                                  Universitäten und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen
                                                                                                                  konkurrieren heute um finanzielle Förderung, internationale
                                          Schwerpunkt
                                                        Evaluation in Wissenschaft
                                                        und Forschung

                                                                                                                  Aufmerksamkeit und die besten Köpfe. Zunehmend sollen
                                                        Beiträge zu einer aktuellen Debatte

                                                                                                                  Evaluationen dabei helfen, Stärken und Schwächen im deut-
                                                                                                                  schen Wissenschaftssystem zu identifizieren und Forschung
               Abb.: Uwe Zucchi/dpa

                                                                                                                  und Lehre zu verbessern. Unser Titelbild zeigt Studierende
                                                   Bayerische
                                                                                                                  an der Universität Kassel, wo das Wintersemester 2012 mit
                                                                                                                  einer Rekordzahl von über 22.000 Studierenden begann.
                                                Akademie der Wissenschaften

                                                                                                                                                             02-2014 Akademie Aktuell 3
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H eft 4 9                  INHALT
  Aus g a b e
  02-2014
                             A ktu el l                                   Th ema:
                                                                          Evalu atio N
                              6 Staatsminister Spaenle in der Akademie
                                Am 9. Mai 2014 besuchte der Wissen-       10    Evaluation – ein Ausblick auf die
                                schaftsminister die Plenarsitzung der           Vergangenheit
                                Akademie                                        Der griechische Philosoph Platon beschäf-
                                                                                tigte sich im 4. Jahrhundert vor Christus
                              7 Leibniz-Rechenzentrum beteiligt sich am
                                                                                mit einer ganz besonderen Evaluation
                                „Virtuellen Alpenobservatorium“
                                                                                Von Martin Hose
                                Wie wirkt sich der Klimawandel in der
                                sensiblen Alpenregion aus?                16 Riskante Abwägungen zwischen
                                                                             Neugier und Nutzen
                                 Großzügige Förderung
                                                                             Evaluationen gehören zu den
                                 Tafel im Akademiefoyer enthüllt
                                                                             großen wissenschaftspolitischen
                                 Wissenschaftspreis für Geodäsie             Herausforderungen unserer Zeit
                                 Die Deutsche Geodätische Kommission         Von Jörg Hacker und Stefan Artmann
                                 (DGK) zeichnet 2014 Dr.-Ing. Jan Dirk
                                                                          20 Jenseits von Ritual und Standardprozedur:
                                 Wegner aus
                                                                             Zur „guten Praxis“ institutioneller
                                                                             Evaluationen im Wissenschaftssystem
                                                                             Was muss man berücksichtigen, damit
                                                                             Evaluationen erfolgreich ablaufen können?
                                                                             Von Andreas Stucke

                                                                          24 Reif für Veränderung?
                                                                             Wann Evaluationen sinnvoll sind
                                                                             Überlegungen zum richtigen Zeitpunkt
                                                                             für Evaluationen
                                                                             Von Martin Lohse

                                                                          30 „Es hat ein Nachdenken über
                                                                             Evaluationen eingesetzt“
                                                                             Interview mit Akademiepräsident
                                                                             Karl-Heinz Hoffmann

                                             10                                                                             Abb.: A. Heddergott; Sergey Nivens/Fotolia.com

                                      6

4 Akademie Aktuell 02-2014
AkademieAktuell und Forschung - Beiträge zu einer aktuellen Debatte - Bayerische Akademie der Wissenschaften
35 Werden die Schweine vom                 Tag u ng
                                                                   Wiegen fetter?
                                                                   Evaluation in der Wissenschaft:         54 Cipriano de Rore: Hüter der Tradition
                                                                   Wie man sich darauf einstellt              und Wegbereiter der „neuen Musik“
                                                                   Von Jürgen Kaube                           Tagung zu Leben und Werk des
                                                               38   Die Messung von (exzellenten)             flämischen Komponisten
                                                                    Forschungsleistungen durch Rankings       Von Katelijne Schiltz und Bernhold
                                                                    Neue Instrumente geben differenziert      Schmid
                                                                    Auskunft über exzellente Forschung
                                                                    Von Lutz Bornmann
                                                                                                           N eu ersc h ei n u ng
                                                               44 Bedeutung und Funktion von
                                                                  Evaluationen im Akademienprogramm        57 Die bayerischen Diplomaten auf
                                                                  Sicherung der wissenschaftlichen            dem Westfälischen Friedenskongress
                                                                  Qualität im größten geisteswissen-          Die Korrespondenz der bayerischen
                                                                  schaftlichen Forschungsprogramm der         Gesandten wird derzeit ediert
                                                                  Bundesrepublik                              Von Gabriele Greindl
                                                                  Von Günter Stock und Sebastian Zwies

                                                                                                           P erso n en
                                                               J u n g es Ko l l e g
                                                                                                           62   Kurz notiert
                                                                50 Britische Geschichte, Tumorforschung         Akademie intern
                                                                   und organische Chemie                        Von Gabriele Sieber
                                                                   Interview mit Katharina Boehm,
                                                                   Michael Hudecek
                                                                   und Konrad Tiefenbacher                 Ru b r i k en

                                                                                                            3 Editorial

                                                                                                           64 Termine Juni bis Okober 2014

                                                                                                           66 Auf einen Blick

                                                                                                           57
Abb.: Jeff Goldberg/ESTO; National Maritime Museum/Wikimedia

                                                               38

                                                                                                                                                      02-2014 Akademie Aktuell 5
AkademieAktuell und Forschung - Beiträge zu einer aktuellen Debatte - Bayerische Akademie der Wissenschaften
Aktu e l l

                                                                              Staatsminister Spaenle in
                                                                              der Akademie
                                                                              Am 9. Ma i 201 4 besuchte Wissenschaftsminister
                                                                              Ludwig Spaenle die Plenarsitzung der Akademie. The-
                                                                              ma seines Gesprächs mit den Mitgliedern waren die
                                                                              Pläne und die Zukunft der traditionsreichen Einrich-
                                                                              tung. Der Minister bezeichnete die Akademie „als ein
                                                                              Kronjuwel im Reigen der Forschungseinrichtungen des
                                                                              Freistaates“. Sie habe sich als bislang „einzige große
                                                                              Akademie […] vor zwei Jahren aufgeschlossen und aktiv
                                                                              in ein Evaluierungsverfahren eingebracht“, würdigte
                                                                              er den derzeitigen Reformprozess. Darin verknüpfe die
                                                                              Akademie die Empfehlungen der Evaluierungskommis-
                                                                              sion mit internen Reformbestrebungen. Um die Brücke
                                                                              zum 21. Jahrhundert zu schlagen, sei eine effizientere
                                                                              Struktur wichtig. Ziel müsse es sein, in der Akademie
                                                                              Einheiten zu entwickeln, die forschungsgetrieben die
                                                                              Verbindung von Disziplinen ermöglichen. Besonde-
                                                                              re Anliegen seien dem Staatsminister u. a. auch die
                                                                              Erhöhung des Frauenanteils in der Akademie und die
                                                                              Verjüngung der Gelehrtengemeinschaft. Es gelte, die
                                                                              besten Traditionen der Akademie fortzuentwickeln. n

                                                                                                                                       Abb.: A. Heddergott (2); BAdW; Privat; UFS

  Karl-Heinz Hoffmann (links oben) und Wissenschaftsminister Ludwig Spaenle
  bei der Eröffnung der Plenarsitzung in der Akademie (großes Bild).

6 Akademie Aktuell 02-2014
AkademieAktuell und Forschung - Beiträge zu einer aktuellen Debatte - Bayerische Akademie der Wissenschaften
Aktu e l l

Leibniz-Rechenzentrum
beteiligt sich am „Virtuellen
Alpenobservatorium“
W i e w i r kt s i c h d e r Klimawandel in der sensiblen
Alpenregion aus und welche Folgen hat dies für Bayern? Die
Umweltforschungsstation Schneefernerhaus auf der Zugspit-
ze liefert seit 15 Jahren Messdaten an Klimaforscher aus ganz
Deutschland. Nun gehen die Wissenschaftler noch einen
Schritt weiter: Die alpinen Höhenforschungsstationen in
Italien, Frankreich, der Schweiz, Österreich und Deutschland    Großzügige Förderung
bündeln ihre Aktivitäten in einem „Virtuellen Alpenobserva-
torium“. Das Leibniz-Rechenzentrum der Bayerischen Akade-       Di e Akademi e wü r digt ihre Förderer: Mit einer
mie der Wissenschaften beteiligt sich als IT-Dienstleister an   Tafel im Foyer dankt sie Unternehmen, Stiftungen und
dieser Kooperation. Der Verbund verfolgt drei zentrale Ziele:   Privatpersonen, die die Einrichtung in den letzten Jahren
Vernetzung der Höhenforschungsstationen im IT-Bereich,          großzügig unterstützt haben. Akademiepräsident Karl-
einschließlich Qualitätssicherung und Datenspeicherung,         Heinz Hoffmann lud alle Förderer Ende März 2014 zu einer
Definition und Durchführung gemeinsamer Forschungspro-          kleinen Feierstunde in die Akademie.                     n
gramme zu den Themen Klimawandel und Anpassung sowie
schließlich die Schaffung eines internationalen Forschungs-
konsortiums im Rahmen einer Beteiligung am europäischen
Forschungsprogramm „Horizon 2020“.

„Das Virtuelle Alpenobservatorium bringt eine neue Qua-
lität in die europäische Klimaforschung“, erklärte Umwelt-
minister Marcel Huber. „Der Klimawandel macht an den
Grenzen nicht Halt. Die Bewältigung der Klimafolgen ist
für alle Alpenländer eine der größten Herausforderungen
des Jahrhunderts. Der Klimaschutz in den Alpen braucht
deshalb grenzüberschreitende Kooperation auf der Basis
vergleichbarer Daten. Das Virtuelle Alpenobservatorium
wird zum Zentrum der Klimaforschung in den Alpen.“ Im
Mittelpunkt steht ein intensiver Datenaustausch zwischen
den großen alpinen Observatorien, die zum Teil unterschied-
liche, zum Teil sich ergänzende Forschungsschwerpunkte
haben. Messdaten werden in einem zentralen Alpen-Daten-
analysezentrum zusammengeführt – etwas, das es bis heu-         Wissenschaftspreis für Geodäsie
te in vergleichbarer Form nicht gibt. Die informationstech-
nische Vernetzung der Stationen miteinander erlaubt einen       Di e Deutsc h e Geodätisc h e Kommission (DGK)
schnellen, komfortablen Datenaustausch nach internatio-         zeichnet 2014 Dr.-Ing. Jan Dirk Wegner (ETH Zürich) mit
nalen Standards. Profitieren werden davon die Wirtschaft        ihrem Wissenschaftspreis aus. Er ist ein Experte auf dem
– etwa der Tourismus-, Wasser-, Energie-, Versicherungs- und    Gebiet der Mustererkennung zur automatischen Extrak-
Gesundheitssektor – aber auch die Politik, die bereits heute    tion und 3D-Modellierung von Objekten für Anwendun-
Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel in die               gen in Photogrammetrie, Fernerkundung und Computer
Wege leiten und finanzieren muss.                          n   Vision. Er hat in seinen Arbeiten wesentliche Beiträge zur
                                                                Entwicklung wahrscheinlichkeitstheoretischer Muster-
  Das Schneefernerhaus auf der Zugspitze.                       erkennungsansätze geleistet, die mittels maschinellen
                                                                Lernens automatisch Kartierungen etwa von Gebäuden
                                                                oder Straßennetzwerken durchführen.

                                                                Der DGK-Preis ist mit 2.000 Euro dotiert und würdigt die
                                                                Leistung junger, hochqualifizierter Wissenschaftlerinnen
                                                                und Wissenschaftler. Er wird im Oktober 2014 in Berlin
                                                                auf der INTERGEO 2014 vergeben, der weltweit bedeu-
                                                                tendsten Messe für Geodäsie, Geoinformation und Land-
                                                                management.                                            n

                                                                                               02-2014 Akademie Aktuell 7
AkademieAktuell und Forschung - Beiträge zu einer aktuellen Debatte - Bayerische Akademie der Wissenschaften
Th ema                 Eva luation

                                       Abb.: picture-Alliance/AP-Photo

8 Akademie Aktuell 02-2014
AkademieAktuell und Forschung - Beiträge zu einer aktuellen Debatte - Bayerische Akademie der Wissenschaften
Evaluatio n                     Th e ma

    Evaluation in
    Wissenschaft
    und Forschung
    Beiträge zu
    einer aktuellen Debatte

10 Evaluation – ein Ausblick auf die Vergangenheit
   Von Martin Hose
16 Riskante Abwägungen zwischen Neugier und Nutzen
   Von Jörg Hacker und Stefan Artmann
20 Jenseits von Ritual und Standardprozedur:
   Zur „guten Praxis“ institutioneller Evaluationen im
   Wissenschaftssystem
   Von Andreas Stucke                                                    Volle Hörsäle – Alltag an deut-
24 Reif für Veränderung? Wann Evaluationen sinnvoll sind                 schen Universitäten, die sich
   Von Martin Lohse                                                      kontinuierlich Evaluierungen und
                                                                         Akkreditierungen stellen müssen.
30 „Es hat ein Nachdenken über Evaluationen eingesetzt“
                                                                         Im Bild: Studierende der Human-
   Interview mit Karl-Heinz Hoffmann
                                                                         und Zahnmedizin hören im
35 Werden die Schweine vom Wiegen fetter?                                historischen Hörsaal am Institut
   Von Jürgen Kaube
                                                                         für Anatomie der Universität
38 Die Messung von (exzellenten) Forschungsleistungen                    Leipzig eine Vorlesung über Neuro-
   durch Rankings                                                        anatomie, 2012.
   Von Lutz Bornmann
44 Bedeutung und Funktion von Evaluationen
   im Akademienprogramm
   Von Günter Stock und Sebastian Zwies                              02-2014 Akademie Aktuell
AkademieAktuell und Forschung - Beiträge zu einer aktuellen Debatte - Bayerische Akademie der Wissenschaften
Th ema                 Eva luation

10 Akademie Aktuell 02-2014
AkademieAktuell und Forschung - Beiträge zu einer aktuellen Debatte - Bayerische Akademie der Wissenschaften
Evaluatio n                           Th e ma

                                                                                  Antike

                                      Evaluation – ein Ausblick
                                        auf die Vergangenheit
                                          Der griechische Philosoph Platon beschäftigte
                                      sich im 4. Jahrhundert vor Christus mit einer ganz
                                                                 besonderen Evaluation.
Abb.: Robert Geiss/picture alliance

                                                                                           Neoklassische Statue des anti-
                                                                                           ken griechischen Philosophen
                                                                                           Platon an der Akademie von
                                                                                           Athen. Die Akademie ist die
                                                                                           führende Trägerin außeruniver-
                                                                                           sitärer akademischer Forschung
                                                                                           und zentrale wissenschaftliche
                                                                                           Einrichtung in Griechenland.

                                                                                       02-2014 Akademie Aktuell 11
Th ema                  Eva luation

                     Vo n M art i n Ho se

                          Zur Geschichte von Begriff und Konzept

                          D e r B e g r i f f Eva luati o n zur Bezeichnung
                          einer spezifischen Form von Bewertung hat eine
                          recht junge Geschichte. Sie beginnt, wenn ich
                          recht sehe, mit dem italienischen Geographen
                          Adriano Balbi (1782–1848), einem Spezialisten für
                          Statistik, der von 1821 bis 1832 in Paris lebte und
                          dort (als Adrien Balbi) 1829 eine Abhandlung mit
                          dem Titel „La population des deux mondes“ pub-
                          lizierte. Darin gebrauchte er die Substantivierung
                          des französischen Verbums évaluer: évaluation
                          im Sinne von „Schätzung“: „L’évaluation de
                          M. Le Goux de Flaix, qui estimait, il y a quelques
                          années, la population de l’Inde à 184 millions, est
                          extraordinairement exagérée.“

                          Ein entscheidender Schritt in der Prägung des
                          Begriffs verbindet sich mit dem US-amerikani-
                          schen Bildungsforscher Ralph W. Tyler (1902–
                          1994), der im Zusammenhang mit einer sich über
                          acht Jahre erstreckenden Untersuchung der Aus-
                          wirkung von Schul-Curricula auf Bildungserfolge
                          („Eight-Years-Study“, 1933 bis 1941) „evaluation“     Für die letzte Frage nach der Überprüfung
                          als Schlüsselbegriff für eine reflektierte Beob-      verwendete Tyler den Begriff Evaluation; er ist
                          achtung und Kontrolle der Curricula einführte. In     jedoch unlösbar mit den drei vorausgehenden
                          seinem einflussreichen Buch „Basic Principles of      Schritten verbunden und gewinnt aus dieser
                          Curriculum and Instruction“ (1949) formulierte        Verbindung seine spezifische strukturelle Be-
                          er das sog. „Tyler-Rationale“, eine Strukturvorga-    deutung.
                          be für Lehrinstitutionen und Lernprozesse, die
                          aus vier einfachen Fragen besteht:                    Es ist evident, dass dieses Rationale zwar für
                          1. Welche Bildungsziele soll eine Schule er-          die konkrete Arbeit mit Bildungsinstitutionen
                             reichen?                                           konzipiert war, doch bei entsprechender Abs-
                          2. Wie können Lernerfahrungen identifiziert           traktion geeignet ist, auch die Effizienz anderer
                             werden, die für diese Ziele sinnvoll sind? (Für    Institutionen und Strukturen in den Blick zu
                             Tylers pädagogisches Konzept ist die Vorstel-      nehmen. Diesen Schritt über den Bereich der
                             lung zentral, dass Lernen wesentlich mit einem     Bildung hinaus haben in den letzten Dezennien
                             Erfahren des Lernvorgangs verknüpft ist.)          vor allem die Wirtschaftswissenschaften (teil-
                          3. Wie können Lernerfahrungen möglichst               weise in der Kategorisierung als Qualitätsma-
                                                                                                                                    Beide Abb.: Ohio State University

                             effizient organisiert werden?                      nagement) vollzogen, so dass sich institutionell
                          4. Wie kann die Effizienz der Lernerfahrungen         „Evaluationsforschung“ sowohl im Rahmen der
                              überprüft werden?                                 Pädagogik wie auch der Ökonomie an Univer-
                                                                                sität beheimatet und darüber hinaus die in der
                                                                                Wissenschaft der Moderne üblichen Organisa-
                                                                                tionsformen (Fachgesellschaften und Zentren)

12 Akademie Aktuell 02-2014
Evaluatio n                      Th e ma

                                                          luation gehört, da sie aufgrund ihrer empirischen
                                                          Methodiken, um Max Weber ins Spiel zu bringen,
                                                          vom Prinzip des Beherrschens durch Berechnung
                                                          ausgeht, mithin zum Arsenal einer „entzauber-
                                                          ten Welt“. Ferner: Durch Evaluation soll der Ein-
                                                          satz von Ressourcen optimiert werden, seien es
                                                          etwa die in einem Bildungssystem aufgewende-
                                                          ten Mittel, seien es die Ressourcen, die man mit
                                                          dem Begriff des Humankapitals zu bezeichnen
                                                          pflegt, oder seien es schließlich die Ressourcen
                                                          eines Industrieunternehmens (oder seiner Eigen-
                                                          tümer). Man kann, um Konzepte aus Ulrich Becks
                                                          Entwurf der Risikogesellschaft aufzugreifen, das
                                                          Instrument der Evaluation in dieser Verwendung
                                                          dem Feld der „Logik der Reichtumsproduktion“
                                                          zuweisen. Doch gleichzeitig gehört sie auch zu
                                                          den Instrumenten, mit denen die Risikogesell-
                                                          schaft die Produktion von Risiken zu dämpfen
                                                          versucht: Bedeutet Evaluation doch den Versuch,
                                                          Ergebnisproduktion zu steuern.

                                                          Das Unbehagen an der Evaluation

                                                          Die Evaluation, so mag es daher scheinen, hat
                                                          einen festen Ort in der Gesellschaft der Moderne,
                                                          und es ist unter den Bedingungen dieser Gesell-
                                                          schaft sinnlos oder gar töricht, auf sie verzichten
                                                          zu wollen. Dennoch ist unübersehbar, dass dieses
                                                          Instrument nicht immer als unproblematisch
                                                          angesehen wird (in der Regel von den „Evaluier-
                          Ralph W. Tyler prägte 1949 in   ten“), obwohl die Fachforschung die Kriterien
                          seinem Hauptwerk das Wort       für dieses Instrument zunehmend präziser und
                          Evaluation als Schlüssel-       damit konsensfähiger formuliert hat: So habe
                          begriff für die Kontrolle von   sich eine Evaluation auf einen klar definierten
                          Bildungserfolgen.               Gegenstand und ein vorher festgelegtes Ziel zu
                                                          beziehen, sei von Experten durchzuführen, die
                                                          ihre Bewertungen nach exakt fest- und offen-
ausgebildet hat. Freilich scheint das Potential           gelegten Kriterien vornehmen etc., wie etwa Lars
der Evaluation damit noch nicht ausgeschöpft:             Balzer 2005 in seinem Werk „Wie werden Evalua-
Projekte im Rahmen der Entwicklungshilfe und              tionsprojekte erfolgreich?“ forderte.
des Umweltschutzes sind Gebiete, in denen
zunehmend mit diesem Instrument gearbei-           Doch liegen hier zugleich auch Schwierigkeiten.
tet wird, ferner (und davon zeugt dieses Heft)     Zwar kann man ein Ziel formal präzise definieren,
werden Forschungseinrichtungen und -projekte       doch bleiben – je nach Abstraktionsgrad dieser
Evaluationen unterzogen.                           Definition – breite Spielräume der Ausdeutung.
                                                   Man stelle sich etwa vor, eine Institution würde
Die Evaluation als Instrument der Moderne          auf das Ziel „Ermöglichung und Förderung innova-
                                                   tiver Forschung“ hin untersucht. Hier bliebe u. a.
Man kann diesen Siegeszug der Evaluation mit       unbestimmt, was unter „innovativ“ (disziplinär
den spezifischen Signaturen der Moderne verbin- oder interdisziplinär? Grundlagen- oder anwen-
den. Denn sie beruht, wie bereits ihr Ursprung in dungsbezogene Forschung? etc.) verstanden
Tylers Bildungsforschung zeigt, auf der Prämisse werden soll. Ferner stellt sich die Frage, wie der
der Analysierbarkeit der Welt einschließlich ihrer Begriff des „Experten“ zu fassen ist: Geht es um
sozialen Dimensionen, der Prämisse der Steuer-     Experten für den jeweiligen Gegenstand oder
barkeit des Analysierten und der reflexiven        für Evaluation? – Gängige Praxis scheint eine
Begleitung von Analyse und Steuerung. Die Eva- Mischung von Experten beider Kompetenzberei-
                                                   che bei der Zusammenstellung größerer Panels
                                                   von Expertengruppen zu sein, wobei wiederum
                                                   nicht immer klar ist, welche Hierarchisierung

                                                                                                            02-2014 Akademie Aktuell 13
Th ema                            Eva luation

                                     der Expertenkompetenzen wäh-
                                     rend der Evaluation waltet. Diese
                                     Schwierigkeiten finden sich er-
                                     staunlicherweise bereits in einem
                                     Text entfaltet, der mehr als zwei-
                                     tausend Jahre alt ist und – avant la
                                     lettre – die früheste nachweisbare
                                     (oder erhaltene) Darstellung eines
                                     Evaluationsgeschehens bildet. Es
                                     fehlt lediglich der terminus techni-
                                     cus im Text.

                                     Platon und die Evaluation

                                     Angesichts der pointierten Fest-
                                     stellung, dass alle Philosophie nach
                                     Platon letztlich nur Fußnoten zu
                                     seinen Ideen seien, kann es kaum
                                     erstaunen, dass ein Platonischer
                                     Dialog, der Laches, eine Evaluation
                                     vorführt, die in einer Hinsicht die
                                     Methodiken moderner Evaluationen
                                     übertrifft. Es lohnt daher, auf diesen
                                     Text aus dem 4. Jahrhundert v. Chr.
                                     einen Blick zu werfen.

                                     Im Laches wird folgende Konstellation
                                     zugrundegelegt: Lysimachos und
   Der Anfang des Platonischen       Melesias, zwei vornehme Athener,
   Laches im Codex Oxoniensis        wollen ihren beiden Söhnen eine
   Clarkianus 39 (Ende 9. Jahrhun-   Erziehung und Bildung angedeihen
   dert n. Chr.).                    lassen, die sie in die Lage versetzt,
                                     mit Leistung die Ehre und damit das
                                     Ansehen der Familie aufrechtzuer-
                                     halten. (In der athenischen Gesellschaft ist Ehre      mag hier die empirische Komponente vermissen,
                                     das zentrale Element von Sozialprestige, und so        doch kann dies aufgrund der Spezifik des Evalua-
                                     ist die Zielsetzung der beiden Väter, die ihrerseits   tionsauftrags für entbehrlich gehalten werden.
                                     nichts zur Familienehre beigetragen haben und
                                     dies auf Defizite ihrer Erziehung zurückführen,        Die hiermit von Platon beschriebene Evaluation
                                     im Kontext ihrer Umwelt durchaus angemes-              vollzieht sich jedoch in besonderer Weise. Denn
                                     sen.) Zu diesem Zweck wollen sie die Söhne in          bevor Nikias und Laches ihre Stellungnahmen
                                     der „Hoplomachie“, der Kampfeskunst in voller          abgeben, bitten sie darum, dass ein weiterer
                                     Rüstung, vom hierfür besten Lehrer Athens              Evaluator hinzugezogen werden soll: Sokrates.
                                     unterweisen lassen. Allerdings sind sie sich ihrer     Seine spezifische Kompetenz liegt in anderen
                                     Sache nicht wirklich sicher. Daher haben sie zwei      Bereichen als die der beiden Generäle: Er soll
                                     bedeutende Generäle Athens, Nikias und Laches,         beteiligt werden, „weil er sich immer da aufhält,
                                     hinzugezogen, von denen sie Rat erbitten, ob mit       wo es irgend etwas der Art gibt, wie du es für die
                                                                                                                                                  Abb.: Wikimedia

                                     der angestrebten Ausbildung durch den berühm-          jungen Leute suchst, einen trefflichen Lehrge-
                                     ten Lehrer das von ihnen definierte Ziel erreicht      genstand oder eine treffliche Beschäftigung“
                                     werden kann. Man erkennt in dieser Konstellation       (180c), d. h. ihm wird eine irgendwie geartete Ver-
                                     gleichsam eine „Urszene“ der Evaluation: Eine
                                     Institution (der Lehrer und seine Ausbildung)
                                     wird auf ein fest umrissenes Ziel hin (Ausbildung
                                     zur Fähigkeit, Ehre zu erwerben) von einem Ex-
                                     pertenpanel (Nikias und Laches) „evaluiert“. Man

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Evaluatio n                            Th e ma

trautheit mit Lehrgegenständen zugeschrieben.       von „Fach-Evaluatoren“ prädestiniert, ist nicht auf
Deutlicher wird Sokrates' Funktion, sobald Nikias   ein Fachwissen gegründet. Bekanntlich zeich-
und Laches ihre Voten formuliert haben. Denn        net den Platonischen Sokrates ein (reflektiertes)
der eine hält die Ausbildung in Hoplomachie         Nicht-Wissen aus, ein Wissen um sein Nicht-
geeignet, um das gesteckte Ziel zu erreichen, der   Wissen. Dieses spezifische (Nicht-)Wissen macht
andere hat starke Bedenken; ihm scheint der zu      Sokrates zum beharrlich Fragenden, der damit
erwartende Nutzen zu gering, und unklar sei, ob     das bisher nicht bewusste Nicht-Wissen seiner
es sich bei der Hoplomachie überhaupt um einen      Gesprächspartner aufdeckt. Dies vollzieht sich
adäquaten Lehrgegenstand handele. Nunmehr           auch im Laches. Denn zwar kann sich Sokrates mit
wird Sokrates gebeten, als Schiedsrichter zu        den Evaluatoren rasch auf das Ziel der Erziehung
fungieren, und die Väter stellen in Aussicht, der   einigen, die Söhne zu andreia, Mannhaftigkeit
Meinung folgen zu wollen, der Sokrates durch        oder Tapferkeit, und arete, Tugend, zu führen. Doch
seinen Beitritt die Mehrheit verleiht. Einem sol-   scheitern die beiden berühmten Generäle daran,
chen Verfahrensweg zur Entscheidungsfindung         diese beiden Begriffe plausibel zu definieren: „Wir
widerspricht Sokrates energisch: „Nach dem Wis-     haben also nicht herausgefunden, was die Tapfer-
sen nämlich, meine ich, nicht aber nach der Zahl    keit ist“ (199e). So konstatiert Sokrates schließlich,
muß man entscheiden, wenn die Entscheidung          und dies bedeutet zugleich, dass die Evaluatoren
richtig getroffen werden soll“ (184e). Und so       keine Expertise für ihre Aufgabe besitzen. Ihre
schlägt er vor, zunächst die Kompetenz bzw. das     Empfehlung an die Väter, Sokrates mit der Ausbil-
Wissen der Experten zu untersuchen und dann         dung der Söhne zu betrauen, gesteht dies ein.
dem zu folgen, der sich als der Kundige erwiesen
hat – wenn aber keiner der Experten kundig sei,     Eine Platonische Empfehlung?
solle man nach anderen suchen.
                                                    Das Versagen der Evaluatoren im Laches darf
Platon schildert im Laches also nicht nur eine      nun nicht als antizipatorische Kritik des großen
Evaluation, er führt mit Sokrates zudem einen       Philosophen an einem, wie oben ausgeführt,
Evaluator der Evaluatoren ein. Die Evaluation       wichtigen Instrument des Wissenschafts- und
erhält damit eine Metaebene.                        Bildungsbetriebs der Gegenwart missverstan-
Denn Sokrates'                                      den werden. Denn die Kompetenz-zerstörende
Expertentum, das                                      Aporie, in die Nikias und Laches geraten, ließe
ihn zum Evaluator                                        sich innerhalb des Platonischen Denk-
                                                           gebäudes auflösen. Doch lässt sich aus
                                                              dem Laches eine vielleicht nützliche
                                                                Anregung gewinnen, nämlich die
                                                                 Evaluation grundsätzlich mit einer
                                                                   Evaluation der Evaluation zu
                                                                     verbinden, die die Evaluatoren,                 Der Autor
                                                                     möglicherweise allein mit dem           Prof. Dr. Martin Hose lehrt
                                                                     Instrument des sokratischen             griechische Philologie an der
                                                                      Fragens, zu einem intensiveren         Ludwig-Maximilians-Universität
                                                                      Nachdenken über die Prämis-            München. Seine Forschungs-
                                                                      sen ihrer Urteile und einem            schwerpunkte sind das griechi-
                                                                     besseren Verstehen dessen, was          sche Drama, Historiographie
                                                                    sie zu evaluieren haben, führen          und hellenistische Dichtung
                                                                   kann. Ob eine solche Empfehlung           sowie die griechische Literatur
                                                                  praktikabel und durchführbar ist,          der Kaiserzeit. Er ist Sprecher
                                                                 steht auf einem anderen Blatt. Aber         der Graduate School „Distant
                                                                man mag bezweifeln, dass ein Platon          Worlds“, Vorsitzender des Senats
                                                               bei etwas von ihm als richtig Erkann-         der LMU und stellvertretender
                                                              tem auf die Praktikabilität besonderen         Vorsitzender ihres Hochschulrats.
                                                               Wert gelegt hätte.                   n       Die Bayerische Akademie der
                                                                                                             Wissenschaften wählte ihn 2001
                                                                                                             zum ordentlichen Mitglied, seit
                                                                                                             2013 ist er Sekretar ihrer Philoso-
                                                                                                             phisch-historischen Klasse.

                                                            Sokrates. Römische Büste
                                                           (1. Jahrhundert n. Chr., Louvre).

                                                                                                         02-2014 Akademie Aktuell 15
Th ema                 Eva luation

                                                       Evaluation und Nachhaltigkeit

        Riskante Abwägungen zwischen
                   Neugier und Nutzen
        Evaluationen gehören zu den großen wissenschaftspolitischen
             Herausforderungen unserer Zeit, weil sie unterschiedliche
    Wertmaßstäbe verbinden müssen, um die nachhaltige Entwicklung
                        des Wissenschaftssystems fördern zu können.

                                      Vo n Jö rg Hacke r u n d Ste fa n Artma n n

                          E i n e d er wi c h ti gsten Voraussetzungen
                          des wissenschaftlichen Fortschritts besteht
                          darin, dass es die Forscher selbst sind, die
                          über den Erkenntniswert von Beobachtungen,
                          Hypothesen und Theorien entscheiden. Indem
                          sie sich zu Experten für ein Forschungsge-
                          biet ausbilden, erwerben sie die Kompetenz,
                          im Allgemeinen am besten zu beurteilen, ob
                          eine neue Information zum wissenschaftlich
                          anerkannten Wissen gezählt werden sollte.
                          Folgerichtig gehört es zum Selbstverständnis
                          der sich selbst organisierenden Wissenschaft,
                          dass die Forscher gleichfalls darüber entschei-
                          den sollten, welche Personen, Projekte und
                          Institutionen erfolgreich gearbeitet haben und
                          entsprechend gute Chancen besitzen, zukünf-
                          tig finanziert zu werden. So förderte beispiels-
                          weise die Deutsche Forschungsgemeinschaft
                          (DFG) im Jahr 2012 laut ihrem Jahresbericht
                          rund 31.000 Projekte mit einer Summe von
                          beinahe 2,7 Mrd. Euro. Dementsprechend legt        Dass solche Fragen schon auf Grund des Finanz-
                          sie als Selbstverwaltungsorganisation der          volumens, um das es geht, gesamtgesellschaft-
                          deutschen Wissenschaft einen überaus großen        liche Relevanz besitzen, zeigt sich an einem
                          Wert auf die transparente Evaluierung ihrer        wichtigen Indikator: Laut einer Erhebung des
                          Förderprogramme, die sich an klaren Bewer-         Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft
                          tungsstandards ausrichtet.                         vom Dezember 2013 hat der Anteil der Ausga-
                                                                             ben für Forschung und Entwicklung am Brutto-
                          Wenn es um die Verteilung einer Ressource wie      inlandsprodukt (BIP) in Deutschland mit
                          Geld geht, treten auch im Wissenschaftssystem      2,98 Prozent im Jahr 2012 fast das Drei-Prozent-
                          Konflikte auf, die analog in anderen gesellschaft- Ziel der Lissabon-Strategie des Europäischen
                          lichen Bereichen auf der Tagesordnung stehen.      Rats erreicht. Dabei machten die Aufwendun-
                          Wie wichtig ist es, dass ein Forschungsprojekt die gen der öffentlichen Hand 0,96 Prozent des BIP
                          Neugier der Experten befriedigt, im Verhältnis zu aus – das sind über 25,5 Mrd. Euro. Diese Zahlen
                          dem Nutzen, den dasselbe Projekt für die Lösung verdeutlichen die Notwendigkeit, forschungs-
                          drängender gesellschaftlicher Herausforderun-      und innovationspolitische Maßnahmen evi-
                          gen gebracht hat? Wie sollten die Grundlagen-      denzbasiert zu evaluieren, wie jüngst auch die
                          und die angewandte Forschung hinsichtlich ihrer Expertenkommission Forschung und Innova-
                          längerfristigen Konsequenzen für das Gemein-       tion (EFI) in ihrem diesjährigen Gutachten zu
                          wohl bewertet werden? Welche Wertmaßstäbe          Forschung, Innovation und technologischer
                          sollten überhaupt bei Evaluationen eine Rolle      Leistungsfähigkeit Deutschlands betonte.
                          spielen und wie sollten sie zueinander in Bezie-
                          hung gesetzt werden?

16 Akademie Aktuell 02-2014
Evaluatio n                              Th e ma

                                                                                                              wird, zu einer differenzierten Bilan-    Bewährt oder falsifiziert – oft
                                                                                                              zierung des Erkenntnisfortschritts       dauert es Jahrzehnte, bis theo-
                                                                                                              führen: Wenn es darum geht zu be-        retische Annahmen bestätigt
                                                                                                              werten, welche Forschungsprojekte        werden können, etwa die
                                                                                                              erfolgreich gewesen sind, könnte es      Existenz des Higgs-Teilchens. Im
                                                                                                              zum Beispiel angeraten sein, dieje-      Bild: der Teilchenbeschleuniger
                                                                                                              nigen Ergebnisse nicht überzube-         LHC des Kernforschungszent-
                                                                                                              werten, die direkt zum gegenwär-         rums CERN bei Genf, wo Physi-
                                                                                                              tigen Wissensstand beigetragen,          ker 2012 vermutlich das neue
                                                                                                              aber womöglich nur geringe neue          Elementarteilchen aufspürten.
                                                                                                              Forschungsaktivitäten angeregt
                                                                                                              haben. Ungewöhnliche Beobach-
                                                                                                              tungen, gewagte Hypothesen und
                                                                                                              kühne Theorien, die zwischenzeit-
                                                                                                              lich bereits falsifiziert worden sind,
                                                                                                              könnten eine nachhaltige, aber indi-
                                                                                                              rekte positive Rolle gespielt haben
                                                                                                              – etwa wenn ihre Falsifikation zu
                                                                                                              bedeutsamen Resultaten geführt
                                                                                                              hat, die ansonsten vermutlich erst
                                                                                                              später bekannt geworden wären.

                                                                                                              Lässt sich wissenschaftliche Relevanz
                                                                                                              messen? Impact und Reputation

                                                                                                                Der Anspruch, den relativen Wert
                                                                                                                bewährter und falsifizierter Theo-
                                                                                                                rien für den Erkenntnisfortschritt
                                                                                                                differenziert abzuschätzen, führt
                                                                                                                zu dem Problem, ob die inner-
                                                                                                                wissenschaftliche Relevanz von
                                                                                                                Forschungsresultaten eine mess-        Kühne Hypothesen können
                                                                                                                bare Größe ist. Diese Frage hat zur    die Wissenschaft oftmals am
                                                                                                                Entwicklung von heute weitver-         weitesten voranbringen:
                                                                                                                breiteten Indikatoren                  Karl R. Popper (1902–1994).
                                                                                                                wie dem Journal
                                           Wahrheit als grundlegender wissenschaftlicher         Impact Factor (JIF) angeregt. Er
                                           Wertmaßstab                                           beansprucht, die Relevanz einer
                                                                                                 Zeitschrift zu messen; sein Wert
                                           Auf welchen Wertmaßstab bezieht sich wissen-          ist, vereinfacht ausgedrückt, gleich
                                           schaftliches Handeln? Die Antwort scheint auf         der durchschnittlichen Anzahl von
                                           der Hand zu liegen: Wissenschaftler orientieren       Zitationen, die ein in der Zeitschrift
                                           sich, wenn sie eine neue Theorie beurteilen, an der veröffentlichter Beitrag während
                                           Unterscheidung zwischen wahr und falsch – oder, der jeweils vorhergehenden zwei
                                           wie es Karl R. Popper in seinem Werk „Logik der       Jahre in anderen Zeitschriften auf-
                                           Forschung“ formulierte, an der Unterscheidung         weist. Die Erfolgsgeschichte des JIF
                                           zwischen bewährt und falsifiziert. Sagt eine          hat mit einem Bedürfnis nach Eva-
                                           Theorie zum Beispiel experimentelle Beobach-          luation begonnen: Amerikanische
                                           tungen korrekt voraus, dann hat sie sich bewährt; Hochschulbibliothekare wollten
                                           widersprechen ihr diese Beobachtungen aber,           die Bedeutung von Zeitschriften
                                           dann gilt sie als falsifiziert. Dabei richtet sich an für den wissenschaftlichen Diskurs
Abb.: picture-alliance/Empics; Wikimedia

                                           die Begründungen solcher Urteile wiederum die         quantifizieren, um ihre Entschei-
                                           Forderung, mittels desselben Wertmaßstabs ein-        dungen über Subskriptionen objek-
                                           schätzbar zu sein. So muss die Falsifizierung einer tiv begründen zu können.
                                           Theorie durch die Angabe einer Beobachtung, die
                                           ihr widerspräche, selbst falsifizierbar sein.

                                           Diese Eigenart des wissenschaftlichen Wissens
                                           sollte, wenn sie in Evaluationen ernstgenommen

                                                                                                                                                      02-2014 Akademie Aktuell 17
Th ema                 Eva luation

                          Bei der Forschungsevaluation werden ver-             das, was er messen soll. […] Die einzige Methode,
                          schiedene quantitative Indikatoren eingesetzt,       um diesem Paradox zu entrinnen und dennoch
                          beispielsweise der Hirsch-Faktor, der den Einfluss   Leistungsindikatoren beizubehalten, wären
                          eines Wissenschaftlers bibliometrisch erfassen       deren ständige Veränderungen und Anpassun-
                          soll, oder die Summe der Drittmitteleinwer-          gen durch die betroffenen Fachleute“ (M. Oster-
                          bungen eines Instituts in einem bestimmten           loh, Das Paradox der Leistungsmessung und
                          Zeitraum. Unabhängig von der konkreten               die Nachhaltigkeit der Forschung, in: J. Hacker
                          Ausgestaltung der Rankings und Ratings, die auf      (Hrsg.), Nachhaltigkeit in der Wissenschaft.
                          Indikatoren-Clustern beruhen, tragen sie alle        Leopoldina-Workshop am 12. November 2012 in
                          dazu bei, wissenschaftliche Reputation als bere-     Berlin, Halle (Saale) und Stuttgart, 2013, S. 104).
                          chenbare Größe erscheinen zu lassen. Reputation
                          bezeichnet, so der Soziologe Niklas Luhmann          Im Sinne einer nachhaltigen Evaluationskultur
                          in seinem Werk „Die Wissenschaft der Gesell-         sollten quantitative Reputationsmaße daher
                          schaft“, „die Leistung der Erstkommunikation von     immer wieder innerhalb der verschiedenen
                          Wissen“ und macht es einfacher, die Relevanz         Fachdisziplinen mittels einer differenzierten
                          von Forschungsresultaten einzuschätzen: Je           Beurteilung der Relevanz relativiert werden, wel-
                          höher die Reputation eines Wissenschaftlers ist,     che die Forschungsergebnisse der betreffenden
                          desto stärker haben seine bisherigen Publikatio-     Wissenschaftler für den Erkenntnisfortschritt
                          nen im Urteil der Fachkollegen die Wissenschaft      besitzen. In diese Richtung zielt zum Beispiel
                          vorangebracht, so dass seine aktuellen Resultate     das so genannte „Informed Peer Review“ im
                          eine entsprechende Aufmerksamkeit verdienen.         Forschungsrating des Wissenschaftsrats. Solche
                                                                               anspruchsvolleren Verfahren sind für die evalu-
                          Gegenwärtig findet weltweit eine Debatte über        ierenden Gremien gewiss in dem Sinne riskant,
                          Sinn und Unsinn der Objektivierung von Reputa-       dass sich die Bewertung der Produktivität eines
                          tion durch quantitative Evaluationsindikatoren       falsifizierbaren Forschungsresultats jederzeit
                          statt. Im Bereich der Zitationsindices hat diese     ändern kann – aber dieses Risiko bewusst auf
                          Debatte Anfang 2013 zur San Francisco Declara-       sich zu nehmen, macht die Verantwortung der
                          tion On Research Assessment (DORA) geführt,          evaluierenden gegenüber den evaluierten Wis-
                          die von der American Society for Cell Biology ini-   senschaftlern aus.
                          tiiert worden ist (am.ascb.org/dora). Sie schlägt
                          Maßnahmen gegen die Überbewertung des                Nachhaltigkeit als Wertmaßstab für Forschung
                          JIF vor und wurde bis Mitte März 2014 von fast
                          11.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-        Die Frage nach der Relevanz von Forschungser-
                          lern sowie Organisationen unterzeichnet. Die         gebnissen wird vermehrt mit Blick auf die Bezie-
                          wichtigsten Argumente wider den überzogenen          hungen zwischen dem Wissenschaftssystem und
                          Einsatz solcher Reputationsmaße warnen davor,        anderen gesellschaftlichen Bereichen gestellt.
                          dass die Wirkungen, die sie auf das Verhalten        Dann tritt neben die Bedeutung wissenschaft-
                          der evaluierten Wissenschaftler ausüben, den         licher Resultate für den Erkenntnisfortschritt
                          Nutzen des Reputationsbegriffs in der wissen-        ihr außerwissenschaftlicher Nutzen. Im umfas-
                          schaftlichen Praxis konterkarieren können. Die       sendsten Sinne geschieht dies, wenn gefragt
                          Ökonomin Margit Osterloh weist darauf hin,           wird, welchen Beitrag die Wissenschaft für die
                          dass die Zerstörung von Reputation als sinnvoller    nachhaltige Entwicklung der Menschheit leistet.
                          Wertmaßstab für Forschungsleistungen und da-         Wer bestritte ernsthaft, dass die Wissenschaften
                          mit die praktische Falsifikation von quantitativen   ganz wesentlich dabei helfen können, globale
                          Reputationsindikatoren der Logik des „Paradoxes      Herausforderungen wie Klimawandel und Seu-
                          der Leistungsmessung“ folgt: Wenn Wissen-            chenausbreitung zu meistern? Dieser Konsens
                          schaftler sich mit einer Forschungsfrage vor         allein reicht aber nicht aus, wenn sich Politik,
                          allem oder ausschließlich deshalb beschäftigen,      Zivilgesellschaft und Wissenschaft darüber
                          weil sie hoffen, dass sie ihre Ergebnisse in den     verständigen wollen, wie wissenschaftliche Er-
                          führenden Zeitschriften veröffentlichen können,      kenntnisprozesse, öffentliche Meinungsbildung
                          dann überlagert die extrinsische Motivation des      und demokratische Entscheidungsfindung im
                          Reputationsgewinns die intrinsische Motivation       Sinne der Nachhaltigkeit am besten miteinander
                          der Wahrheitssuche, deren Erfolg eigentlich          zu verknüpfen sind. Denn die Beteiligten folgen
                          gemessen werden sollte.                              durchaus unterschiedlichen Wertmaßstäben –
                                                                               selbst wenn es darum geht, ein gemeinsames
                          Die Objektivierung von Reputation zu Bewer-          Ziel zu verwirklichen.
                          tungszwecken droht das evaluierte Handeln zu
                          pervertieren, falls die Evaluation „[…] den Fokus
                          auf den Leistungsindikator legt und nicht auf

18 Akademie Aktuell 02-2014
Evaluatio n                                Th e ma

                                                                          eine Koordination gesundheitspolitisch gesetzter
                                                                          Anreize, ergebnisoffener Grundlagenforschung
                                                                          (zum Beispiel in der Synthetischen Biologie) und
                                                                          ökonomischer Verwertung fördern? Ein weite-
                                                                          res Beispiel ist die langfristige Bedeutung von
                                                                          Disziplinen wie der Taxonomie, deren konti-
                                                                          nuierliche Forschungsarbeit zwar nur selten
                                                                          Schlagzeilen produziert, die aber für Fortschritte
                                                                          in den Lebenswissenschaften (z. B. Biodiversitäts-
                                                                          forschung) und der Medizin (z. B. Personalisierte
                                                                          Medizin) unabdingbar ist. Hierzu hat eine Ar-
                                                                          beitsgruppe der Leopoldina im Juni dieses Jahres
                                                                          eine Stellungnahme vorgelegt.
                                                                                                                                 Forschungsevaluation mit
                                                                          Zweitens sollten Wissenschaftler neugieriger auf       Gemeinwohlorientierung: die
                                                                          die Herausforderung gemacht werden, nutzenstif-        Stellungnahme „Antibiotika-
                                                                          tende Anwendungen für ihre Forschungsergeb-            Forschung: Probleme und Pers-
                                                                          nisse zu entwickeln und schädlichen Anwendun-          pektiven“ (2013) der Akademie
                                                                          gen entgegenzuarbeiten. Hier ist beispielsweise        der Wissenschaften in Hamburg
                                                                          an das Stichwort „Dual use“ zu denken: Wie kön-        und der Nationalen Akademie
                                                                          nen Wissenschaftler Forschungsvorhaben etwa            der Wissenschaften Leopoldina.
                                                                          zu hochpathogenen Grippeviren, die potentiell so-
                                                                          wohl nützliche als auch schädliche Anwendungen
                                                                          nahelegen, so durchführen, dass sie die Gefahr
                   Die allermeisten Wissenschaftler zeigen sich           des Missbrauchs minimieren? Eine Arbeitsgruppe
                   skeptisch, wenn Interessenvertreter aus Politik        der DFG (federführend) und der Leopoldina hat
                   und Zivilgesellschaft im Namen des Gemein-             jüngst Leitlinien zum Umgang mit Forschungs-
                   wohls fordern, direkte Relevanz für nachhaltige        freiheit und Risiken in der Wissenschaft erarbeitet.
                   Entwicklung zu einem neuen allgemeinen                 Auch für gesamtgesellschaftliche Vorhaben wie
                   Kriterium der Forschungsevaluation zu erheben.         die Energiewende ist es von großer Relevanz, dass
                   Würde damit nicht eine Entwicklung einsetzen,          sich Wissenschaftler damit beschäftigen, realisti-
                   an deren Ende die Unterordnung der Wissen-             sche Handlungsalternativen zu beschreiben und
                   schaft unter ihre unmittelbare gesellschaftliche       systematisch zu erforschen – nicht zuletzt, um
                   Nützlichkeit stünde? Das erste Opfer wäre ge-          vor scheinbar vielversprechenden Irrwegen zu
                   wiss die Grundlagenforschung, bei der niemand          warnen. Letzteres ist etwa bei der Nutzung der
                   vorherzusagen weiß, für welche gesellschaftli-         Bioenergie der Fall, wie die Leopoldina 2013 in der
                   chen Probleme ihre Ergebnisse einmal relevant          Stellungnahme „Bioenergie – Möglichkeiten und
                   werden könnten. Nachhaltige Entwicklung, die           Grenzen“ erläuterte.
                   Generationen überspannt, und kurzsichtige
                   Wissenschaftsevaluation, die auf den Nachweis          Die Strategien der nützlichen Neugier und der
                   eines unmittelbaren Nutzens fixiert ist, passen        Neugier auf den Nutzen sollen dazu beitragen,
                   nicht zusammen. Daher ist es eine der größten          dass gerade angesichts zunehmender Forderun-                   Die Autoren
                   wissenschaftspolitischen Herausforderungen             gen nach mehr Nachhaltigkeit in der Wissen-            Prof. Dr. Jörg Hacker ist Mikro-
                   unserer Zeit, das Verhältnis zwischen den Wert-        schaft keine unüberbrückbaren Spannungen               biologe und seit 2010 Präsident
                   maßstäben der Wahrheit, der Reputation und der         zwischen den Erwartungen entstehen, die aus            der Deutschen Akademie der
                   Nachhaltigkeit immer wieder neu auszutarieren.         dem Wissenschaftssystem und den anderen                Naturforscher – Nationale
                                                                          Bereichen der Gesellschaft auf die Forschung ge-       Akademie der Wissenschaften
                   Nützliche Neugier und Neugier auf den Nutzen           richtet werden. Differenzierte und risikobewuss-       Leopoldina. Er wurde 2006
                                                                          te Evaluationen können bei dem notwendigen             als ordentliches Mitglied in die
                   An Themen, zu denen momentan solche kom-               Interessensausgleich sehr hilfreich sein, indem        Bayerische Akademie der
                   plexen Abwägungen stattfinden, mangelt es              sie verdeutlichen, dass Nutzen und Neugier             Wissenschaften gewählt und ist
                   wahrlich nicht. Dabei lassen sich zwei wichtige        einander nicht widersprechen: Sie entdecken den        seit 2008 korrespondierendes
                   Strategien erkennen. Erstens ist es notwendig,         potentiellen Nutzen in der von Neugier getriebe-       Mitglied.
                   die Politik und die Zivilgesellschaft, aber auch die   nen Forschung und wecken die Neugier auf nutz-
                   Wissenschaft kontinuierlich darauf hinzuwei-           bringende Anwendungen wissenschaftlicher               PD Dr. Stefan Artmann ist Phi-
                   sen, dass die von Neugier getriebene Forschung         Expertise.                                     n      losoph und seit 2014 Leiter des
Abb.: Leopoldina

                   nachhaltigen Nutzen stiften kann. Dies ist etwa                                                               Präsidialbüros der Nationalen
                   bei der Entwicklung dringend notwendiger                                                                      Akademie der Wissenschaften
                   neuer Antibiotika der Fall: Wie lässt sie sich durch                                                          Leopoldina.

                                                                                                                             02-2014 Akademie Aktuell 19
Th ema                 Eva luation

                                                 Wissenschaftsrat

             Jenseits von Ritual                                     My old mother always used to say (…),
        und Standardprozedur:                                        that facts are like cows.

             Zur „guten Praxis“
                                                                     If you stare them in the face hard enough,
                                                                     they generally run away.
                institutioneller                                     			                        (Dor othy Say e r s)

       Evaluationen im Wissen-
                 schaftssystem                                                 1990er Jahre, nach der Evaluation sämtlicher
                                                                               Bund-Länder-finanzierten Einrichtungen der
                                                                               „Blauen Liste“ durch den Wissenschaftsrat,
                                                                               wurde, auch mit Verweis auf Entwicklungen in
               Evaluationen in der Wissenschaft sind seit                      Großbritannien und den Niederlanden, in regel-
      einigen Jahren massiver Kritik ausgesetzt – anders,                      mäßigen Evaluationen der Königsweg gesehen,
                                                                               um verkrustete Strukturen im Wissenschafts-
           als noch in den 1990er Jahren. Was muss man                         system aufzubrechen. Die in Teilen schwache in-
         berücksichtigen, damit sie trotzdem erfolgreich                       ternationale Konkurrenzfähigkeit des deutschen
                                                                               Wissenschaftssystems – so die breit geteilte
             ablaufen können? Der Wissenschaftsrat hat                         Wahrnehmung damals – sei auch Ergebnis einer
                          dazu Empfehlungen vorgelegt.                         zu großzügigen staatlichen Grundfinanzierung
                                                                               ohne ausreichende Qualitätskontrolle. Ausgeru-
                                                                               fen wurde deshalb eine „Kultur der Evaluation“
                                         Vo n An dreas Stu cke                 in Deutschland. Keine zehn Jahre später hat sich
                                                                               die öffentliche Bewertung praktisch umgekehrt.
                                                                               Institutionelle Evaluationen finden zwar weiter
                                                                               statt, wahrscheinlich sogar mit steigender
                          I c h v e rmute , ic h b i n auch deshalb um         Intensität, aber nun mit deutlich schlechterem
                          einen Beitrag zum aktuellen Themenheft der           Gewissen aller Beteiligten. In den öffentlichen
                          Bayerischen Akademie der Wissenschaften              Debatten steht die Befürchtung im Vordergrund,
                          gebeten worden, weil der Wissenschaftsrat als        Evaluation könne wissenschaftliche Innovation
                          Akteur mit ausreichend Erfahrungswissen zum          nicht fördern, sondern würde sie geradezu
                          Thema wahrgenommen wird. Und in der Tat: Der         verhindern, weil sie Forscher und Einrichtungen
                          Wissenschaftsrat hat schon zu Zeiten institu-        von deren eigentlicher Aufgabe, Forschung zu
                          tionell begutachtet, als der Begriff „Evaluation“    betreiben, ablenke, notwendig den wissenschaft-
                          noch nicht gängig war. Er wurde später im Zuge       lichen Mainstream und nicht Originalität beloh-
                          der Vereinigung der beiden deutschen Wissen-         ne und in der Summe bestenfalls ein Ritual von
                          schaftssysteme zu der zentralen, öffentlich auch     Qualitätssicherung und damit Symbolpolitik sei,
                          so apostrophierten „Evaluationsinstanz“ und hat      schlechtestenfalls aber nur bereits beschlossene
                          danach bis in die Gegenwart großflächig ganze        Budgetkürzungen legitimieren solle. Mitunter
                          Teile der institutionell verfassten Wissenschaft,    werden Evaluationen sogar in die Nähe von pein-
                          etwa die Einrichtungen der „Blauen Liste“ oder       lichen Befragungen durch die Heilige Inquisition
                          der Ressortforschung, begutachtet bzw. zu            gerückt. Zwei Welten – oder Ausdruck notwendi-
                          einzelnen Wissenschaftsorganisationen, wie der       ger Zielspannungen zwischen wissenschaftlicher
                          Helmholtz-Gemeinschaft, „Systemevaluationen“         Selbststeuerung und externer Kontrolle?
                          durchgeführt.
                                                                               Gegenstand wissenschaftspolitischer
                                                                                                                                  Abb.: Dudarev Mikhail/Fotolia.com

                          Evaluation in der Wissenschaft: Königsweg der        Kontroversen
                          Qualitätskontrolle oder Heilige Inquisition?
                                                                               Es wird niemanden verwundern, wenn ein
                          Evaluation hat ungebrochen Konjunktur im             Thema wie Evaluation, mit dem auch das Ver-
                          Wissenschaftssystem, sie wird zunehmend              hältnis zwischen Wissenschaft und Politik neu
                          nachgefragt und angeboten – auch vom Wissen-         bestimmt wird, früher oder später Gegenstand
                          schaftsrat. Radikal verändert hat sich demgegen-     wissenschaftspolitischer Kontroversen wird.
                          über der öffentliche Diskurs über Evaluation: Hier
                          hat sich binnen weniger Jahre ein diametraler
                          Einstellungswandel vollzogen. Noch Ende der

20 Akademie Aktuell 02-2014
Evaluatio n             Th e ma

          02-2014 Akademie Aktuell 21
Th ema                 Eva luation

                          Insbesondere die Balance zwischen Vertrauen           Kontext steht, in dem unterschiedliche Akteure
                          in die Wissenschaft und öffentlicher Rechen-          mit ganz verschiedenen legitimen Interessen
                          schaftslegung der Wissenschaft für wachsende          beteiligt sind und es ganz wesentlich darauf an-
                          staatliche Alimentierung ist störungsanfällig         kommt, den Prozess der Evaluation so zu gestal-
                          und muss stets neu hergestellt werden. Das            ten, dass der „Fall“, um den es geht, eine bestmög-
                          zeigt sich auch in den Aushandlungsprozes-            liche Herangehensweise erfährt. Es geht also um
                          sen um das Thema Evaluation. Immer dann,              das, was man die „soziale Pragmatik“ von Evalua-
                          wenn viel auf dem Spiel steht und Evaluationen        tionen nennen könnte und was alle Prozess-
                          tatsächlich Folgen zeitigen, treten Akteure mit       schritte von der Einleitung eines Evaluationsver-
                          ihren jeweiligen Interessen auf die Bühne. Diese      fahrens über die Durchführung bis zum Abschluss
                          Interessenlagen sind vielfältig, etwa zwischen        sowie zur Umsetzung der Ergebnisse umfasst.
                          Politik, die „accountability“ einklagt, und Wissen-
                          schaft, die Vertrauen und langfristige Absiche-     Evaluationskriterien und Indikatoren sind in
                          rung will, zwischen Einrichtungsleitungen, die      einem solchen Verfahren Orientierungsmarken,
                          steuern wollen, und einzelnen Wissenschaftlern,     also Hilfsmittel, die Fragen anregen und zur
                          die in Ruhe forschen wollen, zwischen Natur-        Strukturierung des Begutachtungsprozesses
                          und Ingenieurwissenschaftlern, die oftmals in       beitragen können, aber keine kontextlosen Mess-
                          kooperativen Forschungsverbünden mit großen         größen, die unabhängig von den Voraussetzun-
                          Forschungsinfrastrukturen arbeiten, und Teilen      gen und Bedingungen ihrer Anwendung wis-
                          der Geistes- und Sozialwissenschaften, die den      senschaftspolitische Bedeutung haben (sollten).
                          Wert der „Individualforschung“ betonen, und         Die Zahl von Publikationen, Zitaten, Promotionen
                          – nicht zuletzt – zwischen eher disziplinär und     sowie Patenten oder die Höhe der Drittmittel von
                          eher inter- oder transdisziplinär arbeitenden       Instituten sagt für sich ebenso wenig über die
                          Wissenschaftlern. Letztere beklagen seit länge-     relative Leistung oder Leistungsfähigkeit einer
                          rem, dass mit ihnen in Evaluationen oft nicht fair  Einrichtung aus wie über die wissenschaftspoli-
                          umgegangen werde. Unterfüttert sind die Posi-       tischen Schlussfolgerungen, die daraus zu ziehen
                          tionen mit vielen guten Argumenten, etwa von        sind. So müssen Publikations- und Zitations-
                          Geisteswissenschaftlern, die darauf hinweisen,      werte für eine seriöse qualitative Einordnung
                          dass weder die Zahl von Publikationen in peer-      immer auf eine Bezugsgröße – die Publikations-
                          reviewed Journalen noch die Höhe von Drittmit-      aktivitäten im Forschungsfeld bzw. den Output
                          teleinwerbungen per se ein gültiger Indikator für   anderer vergleichbarer Einrichtungen – bezogen
                          Qualität oder gar Kreativität ist. Umgekehrt wird   und vor dem Hintergrund der institutionellen
                          nicht überraschen, dass zum Beispiel Vertreter      Rahmenbedingungen, unter denen publiziert
                          der geräteintensiven teuren Natur- und Inge-        wird, bewertet werden. Hier wird man eine Res-
                          nieurwissenschaften gerade diese Leistungs-         sortforschungseinrichtung, die neben Forschung
                          indikatoren hochhalten, da sie helfen, dringend     vor allem Beratung und Dienstleistungen für die
                          benötigte Zuwächse zu begründen.                    Politik zu leisten hat, anders bewerten müssen
                                                                              als etwa ein Max-Planck-Institut. Festgestellte
                          Dringend nötig: eine Reflexion der                  unterdurchschnittliche Leistungen einer Ein-
                          Evaluationspraxis                                   richtung können zudem nicht automatisch zu
                                                                              eindimensionalen Schlussfolgerungen, etwa zu
                          Derartige Debatten sind als „Begleitmusik“ zu viel- Ressourcenentzug oder Schließung, führen. Das
                          fältigen Evaluationsaktivitäten nicht nur unver-    Gegenteil mag richtig sein, wenn die Leistungs-
                          meidlich, sie sind geradezu notwendig. Entspre-     schwäche zum Beispiel an mangelnder appara-
                          chend hat sich der Wissenschaftsrat des Themas      tiver Ausstattung oder an einer Überfrachtung
                          reflexiv angenommen und die Evaluationspraxen einer Einrichtung mit zu vielen externen Aufträ-
                          in Deutschland, auch die eigenen, einer kritischen gen durch den Zuwendungsgeber liegt. In die-
                          Untersuchung unterzogen. Am Ende standen            sem Fall kann ein niedriger Leistungsstand sogar
                          Empfehlungen, die zwar auch zu einzelnen Me-        der Anlass sein, für die Einrichtung eine bessere
                          thoden und Indikatoren Stellung beziehen – wie      Ausstattung oder dauerhaft mehr Geld und Zeit
                          zur Bibliometrie, zum Umgang mit Publikations-,     für eigene Forschung zu empfehlen.
                          Zitations- oder Drittmittelzahlen –, deren gemein-
                          samer Nenner und Stoßrichtung aber gerade
                          kein technizistisch-methodischer ist. Es ging dem
                          Wissenschaftsrat vielmehr darum, deutlich zu
                          machen, dass jede Evaluation in einem sozialen

22 Akademie Aktuell 02-2014
Evaluatio n                          Th e ma

Empfehlungen des Wissenschaftsrates                 •	Bei der Bewertung von Forschungsleistungen
                                                      sollte jegliche „Tonnenideologie“ vermieden
Daran wird deutlich: Der Vorgang der Bewertung        werden. „Mehr“ ist nicht gleich „besser“. Das
ist im Kern ein interaktiver, in dem verschiedene     Verfahren sollte deshalb so angelegt sein, dass
Akteure – mindestens die zu begutachtende Ein-        vor allem die Qualität der Forschungsleistun-
richtung, die Bewertungsgruppe und der Auftrag-       gen erfasst wird.
geber – ihre Sichtweisen darüber austauschen,       • Die verwendeten Bewertungsmaßstäbe müs-
wie die Leistungen einer Einrichtung zu bewer-        sen „adäquat“ sein, d. h. der jeweiligen Mission
ten sind, welche Gründe dafür verantwortlich          bzw. dem Aufgabenprofil einer Einrichtung
gemacht und wie mögliche Defizite behoben wer-        folgen.
den können. Je stärker dieser Tatbestand Teil der   • In die (Weiter-) Entwicklung von Evaluations-
mitlaufenden Reflexion aller Beteiligten ist, desto   verfahren sollten alle relevanten Akteure,
besser sind die Voraussetzungen, die Qualität des     insbesondere aber die jeweiligen Fachgemein-
Evaluationsprozesses zu steigern. Damit ist im        schaften einbezogen werden, um auf diese
Grunde auch die Prämisse beschrieben, die den         Weise disziplinäre bzw. forschungsfeldbezoge-
Wissenschaftsrat in seinen „Empfehlungen zur          ne Besonderheiten zu erfassen.
Bewertung und Steuerung von Forschungsleis-         •	Eine ausreichende Grundfinanzierung von
tung“ 2011 veranlasst hat, jenseits von technizis-    Hochschulen und außeruniversitären For-
tischen Hinweisen zu Indikatorik und Methoden         schungseinrichtungen, um „risikoreiche“,
eine Reihe von übergeordneten Handlungsemp-           langfristige Forschung abzusichern, muss die
fehlungen für die Durchführung von Evaluationen       Basis für steuernde Eingriffe durch Evaluatio-
zu geben. Sie unterstreichen, dass institutionelle    nen sein. Evaluationen sind kein geeignetes
Evaluationen nicht als triviale Standardprozedur      Instrument zur Redistribution von Mitteln bei
ablaufen dürfen, in die lediglich Zahlen und Daten    fehlender Grundfinanzierung.
eingespeist und vorgestanzte Bewertungen
ausgeworfen werden, sondern in ihrem Gelingen Gemeinsames Merkmal dieser Empfehlungen ist,
davon abhängen, dass kontextsensitiv, d. h. unter   dass ihre Umsetzung nicht top-down verordnet
größtmöglicher Berücksichtigung der Vorausset-      werden kann. Es ist auch noch nicht viel gehol-
zungen und Besonderheiten des einzelnen Falls       fen, wenn Grundsätze dieser Art die Leitfäden für
sowie bisheriger Erfahrungen, Bewertungen vor-      gute Evaluationen zieren oder einfach nur büro-
genommen, Begründungen ausgetauscht, Befun- kratisch „abgearbeitet werden“. Die Empfehlun-
de erklärt und Ratschläge ausgesprochen werden gen stellen vielmehr eine Aufforderung an alle
können. Der Wissenschaftsrat ist der Auffassung: Beteiligten dar, gerade bei konkret anstehenden
• Institutionelle Evaluationen sind umso valider „Evaluationsfällen“ in einen Diskurs über die Vo-               Der Autor
   und wirksamer, je breiter sie auf Berichtssys-   raussetzungen des Gelingens der Evaluationen        Dr. Andreas Stucke leitet die
   teme und Monitoring-Aktivitäten der Ein-         zu treten. Weil Evaluationen nie im machtfreien Abteilung Evaluation im Wissen-
   richtungen selbst aufsetzen können. Wissen-      Raum stattfinden, kommt es darauf an, Begrün- schaftsrat. Der Wissenschaftsrat
   schaftliche Einrichtungen sollten deshalb über dungslasten zu erzeugen bzw. zu verschieben           ist eines der wichtigsten wissen-
   institutionelle Formen der Selbstbeobachtung     und allen Akteuren Argumente zur Verfügung zu schaftspolitischen Beratungs-
   verfügen, um nach innen strategie- und ent-      stellen, um, notfalls auch streitig, über Auftrag   gremien in Deutschland. Er
   scheidungsfähig und nach außen argumenta- und Zielsetzungen, Methoden und Bewertungs- berät die Bundesregierung und
   tionsfähig zu sein.                              maßstäbe, Diagnosen und Therapien zu reden.         die Regierungen der Länder in
•	Bewertungsverfahren und Steuerungsinstru-         Wie gut der Wissenschaftsrat in dieser Hinsicht Fragen der inhaltlichen und
   mente sollten regelmäßig auf ihre erwünsch-      seine eigenen Empfehlungen beherzigt, müssen strukturellen Entwicklung der
   ten wie unerwünschten Wirkungen überprüft        andere beurteilen; der Anspruch ist jedenfalls      Hochschulen, der Wissenschaft
   werden, sie dürfen nicht zu „schlechter Rou-     gesetzt und darf eingefordert werden.            n und der Forschung.
   tine“ oder zum Selbstzweck werden.
•	Evaluationen verursachen Aufwand und
   Kosten, vor allem bei Gutachtern und den zu                  Literatur und WWW
   evaluierenden Einrichtungen. Deshalb sollte
   bei aller notwendigen Komplexität einer Evalu-
                                                                Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Bewertung und
   ation die Aufwandsbegrenzung ein vorrangiges
                                                                Steuerung von Forschungsleistung, November 2011. Download:
   Ziel sein.
                                                                www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/1656-11.pdf
•	Vielfach hat sich eine regelmäßige Rechen-
   schaftslegung durch externe Evaluationen
   etabliert. Diese sollte, wenn nicht besondere
   Anlässe gegeben sind, einer angemessenen
   Taktung folgen, d. h. im Regelfall eher großzü-
   gig bemessen sein (5–10 Jahre).

                                                                                                           02-2014 Akademie Aktuell 23
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