PlottdietscheMejale "Als hätten wir alle das gleiche Leben gelebt " - In diesem Heft: Jubiläum: 40 Jahre Patenschaft des Landes Baden-Württemberg ...
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November 2019 PlottdietscheMejale „Als hätten wir alle das gleiche Leben gelebt…“ In diesem Heft: Jubiläum: 40 Jahre Patenschaft des Landes Baden-Württemberg über die LmDR Konferenz zur sozialen Gerechtigkeit für Spätaussiedler „Deutschland mit meinen Augen“
Die Landsmannschaft Aus dem Inhalt 40 Jahre Patenschaft des Landes 2 40 Jahre Patenschaft des Landes Baden-Württemberg über die LmDR Baden-Württemberg über die LmDR 3 Auf ein Wort Grußwort 3 Heimatbuch 2020: Kulturgeschichte, Le- des Stellvertretenden Ministerpräsidenten und Ministers für Inneres, bensbilder, Schicksale Digitalisierung und Migration des Landes Baden-Württemberg, Thomas Strobl, 4 30 Jahre „Wiedergeburt“ in Kasachstan 6 Niedersachsen: Grenzüberschreitendes zur Jubiläumsfeier am 27. November 2019 in Stuttgart Projekt „Herbstfarben“ in Perm 7 Gedenkfeier der Landesgruppe Bayern Sehr geehrte Damen und Herren, 8 Konferenz zur sozialen Gerechtigkeit liebe russlanddeutsche Landsleute, für Spätaussiedler 9 Termine der Wanderausstellung als Schirmherr und Festredner der Jubilä- umsfeier zu 40 Jahren Patenschaft des Lan- 10 „Russland-Deutsche“ unter Generalver- des Baden-Württemberg über die Lands- dacht1 mannschaft der Deutschen aus Russland 12 „Deutschland mit meinen Augen“ würde ich mich sehr freuen, Sie am 27. No- 14 „Berlin, ick liebe Dir!“ vember 2019 zahlreich in Stuttgart begrü- 15 Herzliche Einladung zur Premiere in ßen zu können. Wiesbaden Die vergangenen vier Jahrzehnte waren 15 Wandbildkalender 2020 des HFDR für viele Russlanddeutsche mit großen Ver- 16 Kathis Senf änderungen verbunden. Nach dem Fall des Thomas Strobl 17 Wie viele Menschen, so viele Schicksale sogenannten „Eisernen Vorhangs“ konn- 18 PlottdietscheMejale: „Als hätten wir ten plötzlich Hunderttausende Deutsche Rückblick dankbar konstatieren: Sie haben alle das gleiche Leben gelebt…“ aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion diese Herausforderung bewundernswert 20 Kulturfest der Deutschen aus Russland nach Deutschland ausreisen. Dies war und bewältigt – auch mit Hilfe der Landsmann- in Neuss ist weiterhin in jedem einzelnen Fall ein An- schaft. Sie haben sich mit Ihren Traditio- 21 Interview mit Elvira Gillert lass für große Freude und Dankbarkeit. nen, Ihren Werten und mit Ihrem Fleiß in 22 60 Jahre Orts- und Kreisgruppe Osnabrück Nicht vergessen sei aber auch, dass die Deutschland eingebracht und dieses Land Aussiedlung vor allem eine riesige Heraus mitgeprägt. Sie haben sich dadurch eine 23 Benefizkonzert zu 25 Jahren Orts- forderung für alle ist, die diesen Schritt große Wertschätzung erarbeitet. Lassen Sie gruppe Schweinfurt wagen. Denn eine Aussiedlung bedeutet, bis uns anlässlich des Patenschaftsjubilums ge- 24 Baden-Württemberg hin zur Sprache das gesamte gesellschaftli- meinsam daran erinnern! 28 Bayern che Umfeld zu wechseln. Heute darf ich im Ihr Thomas Strobl 30 Bremen 31 Hamburg 31 Hessen 32 Niedersachsen Jubiläumsfeier zu 40 Jahren Patenschaft 34 Nordrhein-Westfalen des Landes Baden-Württemberg über die LmDR A 34 Rheinland-Pfalz nlässlich des 40. Jahrestages der Übernahme der Patenschaft des Landes Baden-Württem- 34 Schleswig-Holstein berg über die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland findet am 27. November 2019 37 Bücherangebot der Landsmannschaft eine Jubiläumsfeier im Literaturhaus Stuttgart, Breitscheidstraße 4, statt. 38 Glückwünsche Die Schirmherrschaft hat Thomas Strobl, Minister für Inneres, Digitalisierung und Migration und 39 Martin Thielmann – Würdigung zum stellvertretender Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, übernommen. 90. Geburtstag 39 Ella Rollhäuser – alles Gute zum 90. Ge- Das vorläufige Programm: burtstag! Ab 14.30 Uhr: Einlass 40 „Wolgakinder“ – ein fesselnder Roman 15.30 bis 17.30 Uhr: Festakt über die Wolgadeutschen • Eröffnungsgebet 41 Valentina Stroh (Felchle), „Eine Lebens- • Begrüßung: Ernst Strohmaier, Vorsitzender der Landesgruppe Baden- geschichte vieler Schwabenfamilien“ Württemberg der LmDR 42 Meine Mam • Ansprache: Adolf Fetsch, Ehrenvorsitzender der LmDR 44 Nachruf auf Robert Leinonen • Festrede: Thomas Strobl 45 Zum Gedenken • Ansprache: Johann Thießen, Bundesvorsitzender der LmDR 46 Beitrittserklärung • Ausstellungspräsentation zur Geschichte und Gegenwart der LmDR 47 Haiku • Ehrungen verdienter Freunde und Mitglieder der LmDR 48 LmDR beim Aktionstag der Stuttgarter Migrationsberater • musikalischer Rahmen: Polizeiorchester des Landes Baden-Württemberg Ab 17 Uhr: Empfang Bitte beachten Sie: Redaktionsschluss für die Dezember 2019 ist der 17. November 2019. 2 VOLK AUF DEM WEG Nr. 11/2019
Die Landsmannschaft Auf ein Wort chen, in Freiheit, Demokratie und Recht- staatlichkeit. Sie fanden hier das Leben, nach dem sie Liebe Landsleute, sich so lange gesehnt hatten. Sie schätzten die liebe Freunde und Unterstützer neue Heimat, die jetzt keine stiefmütterliche der Deutschen aus Russland, mehr war, die ihnen in der Sowjetunion ver- wehrt worden war und in die sie sich voller eine groß angelegte Veranstaltung der Überzeugung eingliederten. Landsmannschaft der Deutschen aus Russ- Ich will aber nicht verschweigen, dass sie land am 26. September 2019 in Heidelberg hier in Deutschland auch auf politische und stand unter dem Motto „30 Jahre Wiederver- gesellschaftliche Hindernisse stießen, die sie einigung Deutschlands – 30 Jahre Deutsche so nicht erwartet hatten und die sich in nicht aus Russland in Heidelberg“. unerheblicher Weise auch auf die Gegenwart Für uns Deutsche aus Russland markiert meiner Landsleute ausgewirkt haben. das Jahr 1989, wie ich in meiner Rede im Ich nenne die Hindernisse, die Deutschen Rahmen des Festaktes ausführte, den Be- aus Russland bei der Anerkennung ihrer in ginn einer Entwicklung, die kaum einer bis der Sowjetunion erworbenen beruflichen dahin für möglich gehalten hatte. Weiter be- Qualifikationen in den Weg gestellt wurden, tonte ich in meiner Rede: wodurch Hunderttausenden von ihnen die Johann Thießen „Unter dem russischen Präsidenten Gor- Ausübung angemessener Berufe unmöglich batschow und Bundeskanzler Helmut Kohl wurde. drentengesetzgebung endlich aus der Welt erreichten die Zahlen der deutschen Aus- Ich nenne negative Zeitungsartikel geschafft werden. siedler aus der Sowjetunion damals unge- und Fernsehberichte, die Aussiedlern und Eine weitere Gelegenheit, auf die Lebens- ahnte Höhen. Spätaussiedlern eine erhöhte Kriminali- leistungen der Deutschen aus Russland, aber Durften bis 1988 oft nur wenige hundert tätsneigung attestierten, auch wenn wissen- auch ihre nach wie vor bestehenden Prob- oder bestenfalls einige tausend von ihnen schaftliche Untersuchungen ganz andere Er- leme und Benachteiligungen aufmerksam zu in die Bundesrepublik kommen, waren es gebnisse erbracht hatten. machen, wird die Jubiläumsfeier am 27. No- in den 1990er Jahren zum Teil über 200.000 Ich nenne erhebliche Kürzungen von Aus- vember 2019 im Stuttgarter Liederhaus zu 40 pro Jahr. siedlerrenten, die gegenwärtig dazu geführt Jahren Übernahme der Patenschaft des Lan- Es konnten plötzlich Menschen kommen, haben, dass Deutsche aus Russland in weit des Baden-Württemberg über die LmDR denen über Jahrzehnte die Ausreise aus der überdurchschnittlichem Maße von Altersar- bieten. Sowjetunion verwehrt worden war. mut bedroht oder bereits betroffen sind.“ Im Mittelpunkt der Feier wird jedoch Und sie kamen in ihrer übergroßen Mehr- Gerade hinsichtlich des zuletzt Genann- unser Dank an die baden-württembergi- heit mit dem Wunsch, nach all den jahrzehn- ten wird die Landsmannschaft nicht locker schen Landesregierungen stehen, die seit 40 telangen Verfolgungen, Vertreibungen, Dis- lassen und gemeinsam mit ihren Unter- Jahren zuverlässig an unserer Seite stehen kriminierungen und Demütigungen in der stützern weiterhin darauf drängen, dass die und die Patenschaft mit Leben erfüllen. Sowjetunion endlich im Land ihrer Vorfah- durch nichts zu rechtfertigenden Benachtei- Johann Thießen, ren leben zu dürfen – als Gleiche unter Glei- ligungen unserer Landsleute durch die Frem- Bundesvorsitzender der LmDR Heimatbuch 2020: Kulturgeschichte, Lebensbilder, Schicksale I m November 2019 erscheint mit dem • Johann Kampen (posthum): Perma- „Heimatbuch 2020 der Deutschen aus nente Familientrennung; Geschichte Russland“ der neueste Band einer lan- der Mennoniten in Chortitza. gen Publikationsreihe der LmDR, die 1953 • Dr. Robert Korn: Peter Sinner und ihren Anfang genommen hat. 32 Einzelbände und fünf Sonderbände umfasst die Publikationsreihe damit - rund Friedrich Fiedler - zwei Jubiläen 2019. • Irene Kreker: Nicht vorprogrammier- ter Stammbaum. Heimatbuch 10.000 Seiten über die Geschichte und Kul- • Rita Laubhan: Zur Geschichte der 2020 tur der Russlanddeutschen, verfasst von Wis- Kaukasusdeutschen. senschaftlern, Kulturschaffenden und unmit- • Dr. Wendelin Mangold: 1991: Vor und telbar Betroffenen. nach der Aussiedlung; Gedichte. Neben Beiträgen zur Kulturgeschichte • Nina Paulsen: Lebensgeschichten Karl enthält das Heimatbuch 2020 insbesondere Betz und Robert Huber; Interview mit Lebensbilder und Schicksalsberichte mit be- dem Historiker Victor Herdt. sonderer Betonung der Jahre vor, während • Johann Pfaffenroth: Auszüge aus sei- und nach der Aussiedlung nach Deutschland. ner Lebensgeschichte. Einige der insgesamt rund 25 Artikel und • Rose Steinmark: Das Kollektivistenthe- behandelten Themen seien hier genannt: ater in Odessa. • Eduard Deibert: Zur Geschichte der • Erna Wormsbecher: Geschichte ihrer LANDSMANNSCHAFT Ausreisebewegung. Aussiedlung. DER DEUTSCHEN AUS RUSSLAND • Agnes Gossen-Giesbrecht: Lebensge- • Liste von Büchern zur russlanddeut- •• •• ••• • • • L m DR schichte Wilhelm Reimchen; Ankunft schen Thematik. in Podolsk. Redaktion der Heimatbücher VOLK AUF DEM WEG Nr. 11/2019 3
Grenzüberschreitende Massnahmen „Die Deutschen sind ein nicht wegzudenkender Teil des geeinten Volkes Kasachstans“ 30 Jahre „Wiedergeburt“ in Kasachstan: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit der LmDR Linkes Bild: Albert Rau, Lilli Bischoff, Jakob Fischer und Waldemar Eisenbraun (von links nach rechts) bei der Feier zu 30 Jahren „Wiederge- burt“ Kasachstans. Rechtes Bild: Jakob Fischer mit Sängerinnen aus Balchasch. I n der kasachischen Hauptstadt Nur- schiedenen Regionen und den Gästen des für die Jugend und ihr Eintreten für gesell- Sultan feierten die Deutschen Kasachs Kulturfestivals. schaftliche Harmonie im Land. „Besonders tans vom 25. bis 29. September 2019 Seitdem Dr. Albert Rau 2017 an die Spitze freut mich, dass die ‚Wiedergeburt‘ sich nicht das 30-jährige Jubiläum der Vereinigung der „Wiedergeburt“ trat, konnte die deut- als Insel versteht, sondern als konstruktiven der Deutschen Kasachstans „Wiederge- sche Minderheit ihre Stellung in der kasa- Teil dieses schönen Landes Kasachstan, und burt“, die 2017 in eine gesellschaftliche chischen Gesellschaft weiter festigen. Als dass sie eine enge Beziehung zu allen ande- Stiftung umgewandelt wurde. Im Rahmen Madschlis-Abgeordneter (Unterhaus im par- ren Ethnien pflegt.“ der Feierlichkeiten fand das 10. Repub lamentarischen Zweikammernsystem Ka- Lilli Bischoff überbrachte in ihrer An- likanische Festival der deutschen Kultur, sachstans) verfügt Rau über gute Kontakte sprache die Grüße des Bundesvorsitzenden „Wir sind zusammen“, statt, das Solisten, zur Landespolitik und setzt zudem auf Aus- Johann Thießen und stellte insbesondere Chöre, Tanz- und Instrumentalgruppen gleich, was der politischen Unterstützung der die Bedeutung der Kasachstandeutschen aus 15 Regionen Kasachstans versammelte. Anliegen der Deutschen durch die kasachi- für die bundesdeutsche Gesellschaft he Zum großangelegten Programm der Fei- sche Regierung förderlich ist. Die Leitung der raus. Sie betonte: „Zahlreiche Russlanddeut- erlichkeiten gehörten neben dem Festakt „Wiedergeburt“ orientiert sich an den Maxi- sche – gerade auch aus Kasachstan – haben und dem Kulturfestival men: Geschlossenheit nach innen, Offenheit beeindruckende Leistungen im kulturellen, • ein Trachtenumzug, nach außen sowie Bekenntnis zur gemeinsa- sportlichen, gesellschaftspolitischen und • der Wettbewerb „Neue Namen“, men Gegenwart und Zukunft in einer vielfäl- wirtschaftlichen Bereich vorzuweisen. Dazu • eine Fotoausstellung zur 30-jährigen Ge- tigen Gesellschaft. gehören die Autoren Eleonora Hummel, schichte der „Wiedergeburt“, In vielen Bereichen zeigen sich bereits die Fredy Gareis und Wendelin Mangold, die • ein Seminar für Deutschlehrer, ersten positiven Folgen. So wurde die Be- Publizistin und Theaterexpertin Rose Stein- • die Podiumsdiskussion „Zwischen Ver- schränkung des Deutschunterrichts an hö- mark, die Regisseurin Anna Hoffmann, die gangenheit und Zukunft“, heren Schulen im vergangenen Jahr aufge- Pianistin Olga Gollej, die Sportler Ina Men- • Workshops und öffentliche Auftritte hoben und Deutsch gegenüber Englisch als zer, Christina Hammer, Heinrich Popow und • sowie ein mehr als zweistündiges Ga- dritte Sprache aufgewertet, und an den Uni- Elena Krawzow, um nur einige zu nennen.“ lakonzert mit Wettbewerbsgewinnern versitäten des Landes werden wieder junge In diese Reihe gehört auch Jakob Fischer, im Rahmen des Kulturfestivals als ein- Deutschlehrer für Schulen ausgebildet, in seit über 25 Jahren Projektleiter der LmDR drucksvoller Abschluss. denen Deutsch ebenfalls verstärkt propa- und Kulturvermittler über die Grenzen hi- Die Landsmannschaft war in Nur-Sul- giert wird. naus. Für sein herausragendes Engagement tan durch die stellvertretende Bundesvor- Entsprechend großes Lob gab es von Sei- wurde er in diesem Jahr mit dem Bundes- sitzende und niedersächsische Landesvor- ten der Redner beim Festakt. „Die Deut- verdienstkreuz am Bande des Verdienstor- sitzende Lilli Bischoff und Jakob Fischer, schen sind ein nicht wegzudenkender Teil dens der Bundesrepublik Deutschland aus- Projektleiter der landsmannschaftlichen des geeinten Volkes Kasachstans“, sagte etwa gezeichnet. Die ersten beiden deutschen Wanderausstellung, vertreten. Auch Walde- der frühere stellv. Vorsitzende der Volksver- Festivals in Kasachstan, im Januar 1988 im mar Eisenbraun, Leiter des Bayerischen Kul- sammlung Kasachstans, Leonid Prokopenko. Gebiet Karaganda und im Oktober 1990 in turzentrums der Deutschen aus Russland, Anerkennend äußerte sich auch der deut- Alma-Ata, hatte er mit Unterstützung des war gekommen. sche Botschafter Tilo Klinner in seinem Deutschen Theaters Temirtau-Almaty orga- Die Gäste aus Deutschland beteiligten Grußwort. Er lobte den „wirklich engen nisiert. In den vergangenen Jahren wurde er sich an allen Veranstaltungen im Rahmen Kontakt der ‚Wiedergeburt‘ mit der Deut- bei seinen Auftritten bei Festivals der deut- der Feierlichkeiten, hatten aufschlussreiche schen Botschaft und auch mit den deutschen schen Kultur in Kasachstan bejubelt. Auch Begegnungen und Gespräche mit Vertretern Institutionen in Kasachstan“, das zuletzt ge- diesmal war er in mehrere Veranstaltungen der „Wiedergeburt“-Vereinigungen aus ver- stiegene Engagement der Selbstorganisation fest eingebunden. 4 VOLK AUF DEM WEG Nr. 11/2019
Grenzüberschreitende Massnahmen Er erzählt: „Als Mitbegründer der ‚Wie- Deutsche Minderheit in Kasachstan – 30 Jahre „Wiedergeburt“ D dergeburt‘ im Jahr 1989 habe ich an den of- fiziellen Veranstaltungen und Podiumsdis- ie deutsche Minderheit in Kasach- Die Assoziation vereinigte alle 21 Regio- kussionen teilgenommen. Ich war auch am stan umfasst ca. 180.000 Men- nalgesellschaften. Mit deutscher Unterstüt- Seminar der Deutschlehrer aus 15 Gebieten schen (Stand 2012). Noch 1989 zung wurde in Alma-Ata 1994 das Deutsche Kasachstans beteiligt. Das Thema war: Ver- lebten ca. 960.000 Deutsche in der Kasa- Haus als Kulturzentrum und Sitz der Asso- wendung deutscher Volks- und Kinderlie- chischen SSR und waren die drittgrößte ziation der gesellschaftlichen Vereinigun- der beim Deutschunterricht in Kasachstan. ethnische Gruppe der Republik. Sie präg- gen der Deutschen der Republik Kasachs- Alle Seminarteilnehmer wurden mit Texten ten nachhaltig die Entwicklung Kasach- tan „Wiedergeburt“ eröffnet. und Noten versorgt. Es wurde viel und flei- stans in allen Bereichen des Lebens. Im Oktober 2017 hat sich die deutsche ßig gesungen! Nach dem Zerfall der UdSSR gelang es Minderheit in Kasachstan organisatorisch Zwei Tage lang war ich Juryvorsitzen- der „Wiedergeburt“ in Kasachstan, unter und personell neu ausgerichtet. Sie firmiert der beim Wettbewerb ‚Neue Namen‘. Es neuen Bedingungen weiterzubestehen. Im jetzt unter dem Namen Gesellschaftliche Stif- gab viele gute Beiträge in den Bereichen Juni 1989 wurde in Kasachstan die repub- tung „Vereinigung der Deutschen Kasach- Gesang, Instrumentalmusik und künstleri- likweite Vereinigung der Sowjetdeutschen stans – Wiedergeburt“ und wird vom Abge- sches Wort. Besonders beeindruckt war ich „Wiedergeburt“ gegründet. Später entstan- ordneten des kasachischen Parlaments und von der Beziehung der jungen Menschen den Zweigstellen der „Wiedergeburt“ in Al- langjährigen stellvertretenden Wirtschafts- zur deutschen Kultur. Auf den beiden gro- maty, Astana, Kustanai, Atyrau, Karaganda, minister Kasachstans, Dr. Albert Rau, geleitet. ßen Konzertveranstaltungen, bei der Eröff- Pawlodar, Uralsk, Tschimkent, Aktjubinsk Die Stiftung vereinigt die regionalen nung des Festivals und beim Galakonzert, und anderen Orten. Gesellschaften der Deutschen Kasachs durfte ich mit mehreren deutschen Volks- Im Oktober 1992 wurde der Rat der tans. Sie beteiligt sich an wichtigen Staats liedern auftreten.“ Deutschen Kasachstans gegründet, der spä- programmen und ist ein bedeutender Be- Gerade mit Blick auf die rund 800.000 ter in Assoziation der gesellschaftlichen standteil der kasachischen Zivilgesellschaft. Kasachstandeutschen in Deutschland und Vereinigungen der Deutschen der Repub- Sie erfüllt auch eine Brückenfunktion zwi- die etwa 180.000 Deutschen in Kasachstan lik Kasachstan „Wiedergeburt“ umbenannt schen Kasachstan und Deutschland und eröffnen sich Chancen für eine gute Zusam- wurde. Zum Vorsitzenden wurde Alexander trägt damit wesentlich dazu bei, die Spra- menarbeit, bei der nicht zuletzt intensive Dederer gewählt, der die „Wiedergeburt“ bis che, die Kultur und die Traditionen der Kontakte zwischen Verwandten und Freun- 2017 leitete. Deutschen Kasachstans zu bewahren. den eine wichtige Rolle spielen. Die Lands- mannschaft legt großen Wert darauf und ist dabei, die grenzüberschreitende Zusam- betonen, die ihnen als Bindeglied zwischen nahme der „Wiedergeburt“ in Kasachstan menarbeit mit der Deutschen in Kasachstan Deutschland und Kasachstan zukommt. mit, Sprachassistenten und Multiplikatoren und deren Stiftung zu intensivieren. In diesem Jahr wurden mehrere Maß- aus ihren Reihen unterstützten die Sprach- Vor allem bei der Sprach-, Kultur- und nahmen gefördert im Rahmen eines von und Identitätsprojekte der Deutschen in Jugendarbeit wäre eine Ausweitung der ge- der GIZ im Auftrag der deutschen Bundes- Kasachstan. meinsamen grenzüberschreitenden Maß- regierung bezuschussten Projektes reali- Bis Ende des Jahres sind weitere grenz nahmen förderlich. Bei der Pflege des siert, die ein gutes Zeichen für die Zukunft überschreitende Maßnahmen vorgesehen. kulturellen, gesellschaftlichen und ge- sind. So haben Referenten der LmDR beim So sollen Vertreter aus Kasachstan am „Tag schichtlichen Erbes haben beide Organi- Theaterfestival der Jugendgruppen in Ast- der Deutschen aus Russland“ in Berlin, am sationen ebenfalls gemeinsame Ziele und ana mitgewirkt. Weitere ihrer Referenten Liederfestival der LmDR in Duisburg und Aufgaben. Zusammen mit der „Wiederge- waren am Fortbildungsseminar für Sprach- am Austausch im Rahmen der Zusammen- burt“ sind die LmDR und ihr Jugendver- kuratoren und Deutschlehrer im Bereich arbeit der „Deutschen Allgemeinen Zei- band bestrebt, die Akzeptanz ihrer Lands- Kinderspracharbeit beteiligt. Und es hat tung“ in Kasachstan und der Verbands- leute in Deutschland in Kasachstan zu ein Lehreraustausch Kasachstan-Deutsch- zeitung der LmDR, „Volk auf dem Weg“, steigern, ihnen ihre Identität in vollem Um- land stattgefunden. Referenten des Ver- teilnehmen. fang zurückzugeben und die Bedeutung zu bandes wirkten bei einer Fortbildungsmaß- VadW Georg Lauer, „Am Ufer des Flusses“ – Geschichten, die das Leben schreibt Die Kurzgeschichten von Georg Lauer in seinem Buch „Am Ufer des Flusses“ (Übersetzung ins Deutsche von Agnes Gossen und Stephanie Lauer) sind direkt aus dem Leben gegriffen. Es sind seine Geschichten, seine Erlebnisse und Erfahrungen, es ist seine Fantasie – erzählt in zugänglicher, ungekünstelter und authentischer Sprache. Lauer schreibt, was er fühlt, was er denkt, was er sieht – kompromisslos persönlich, auf seine ganz eigene, anrührende Weise. Wie er seine Erfahrungen in Kasachstan und in Deutschland beschreibt, spricht er vielen Deutschen aus Russland seiner Generation aus der Seele. Auch dem einheimischen Leser vermitteln diese Geschichten zwar fremde Welten, die allerdings auf den zweiten Blick alles andere als fremd erscheinen. Und sie transportieren außerdem Gefühle, die universell sind, ob die Handlung nun in den Weiten Kasachstans oder irgendwo in Bayern spielt. Georg Lauer wurde kurz vor dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges am 26. März 1941 im Gebiet Orenburg, Russland, geboren. Südural und Kasachstan waren seine weiteren Lebensstationen. Nach Abschluss einer Baufachschule arbeitete er als Zimmerman, LKW- und Busfahrer sowie Bienenzüchter. Seit 1995 lebt er in Deutschland, wo er bis zur Rente im Jahr 2006 als Hausmeister in einem Meditationszentrum arbeitete. Auf Russisch sind seine Kurzgeschichten unter dem Titel „Aus den Tagebüchern eines Russlanddeutschen“ (2018) erschienen. Er veröffentlichte seine Texte in Almanachen des Literaturkreises der Deutschen aus Russland und in „Volk auf dem Weg“. ISBN 978-3-7481-8336-5, Verlag Books on Demand, Norderstedt 2019, 183 Seiten, Preis 9,- Euro, zu beziehen über Buchhandlungen oder beim Autor: E-Mail: lauergeorg@mail.ru, Tel.: 0824-79976061. VOLK AUF DEM WEG Nr. 11/2019 5
Grenzüberschreitende Massnahmen Niedersachsen: Grenzüberschreitendes Projekt „Herbstfarben“ in Perm Teilnehmer der deutschen Delegation beim Perm-Besuch. Gäste aus Deutschland beim Besuch der Permer Administration. V om 8. bis 13. Oktober 2019 hielt sich eine Delegation der Landesgruppe Niedersachsen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland unter der Leitung der Vorsitzen- den Lilli Bischoff in Perm auf. Die Reise fand im Rahmen des gren- züberschreitenden Projektes des Landes Niedersachsen und der Regionen Perm und Tjumen unter dem Titel „Herbstfarben“ statt. Die landsmannschaftlichen Partnerschaften mit den russland- deutschen Organisationen in den Regionen Tjumen und Perm sind in die landesweiten Partnerschaften des Landes Niedersachsen mit den beiden russischen Regionen eingebettet. Die Russlanddeutschen auf beiden Seiten betrachten sich als Bindeglied zwischen Deutsch- land und Russland und die Partnerschaft auch als Mittel zur Festi- gung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Das Kooperationsabkommen zwischen der Landesgruppe Nie- dersachsen der Landsmannschaft und der regionalen Organisation „Gemeinnützige Gesellschaft der Russlanddeutschen ‚Wiederge- burt‘“ (Vorsitzende: Tatjana Laut) der Stadt Perm wurde 2013 un- Die Gastgeber aus Perm waren besonders kreativ bei der Aus- terzeichnet und 2018 nochmals bekräftigt. In den vergangenen Jah- wahl der handwerklichen Workshops, die das Projekt „Kraski oseni“ ren ist es mehrfach zum kulturellen Austausch und zu gegenseitigen („Herbstfarben“) ergänzten. So wurden z.B. eine Filztechnik vorge- Besuchen gekommen. stellt und ein bunter Obstsalat kreiert. Diesmal setzte sich die deutsche Delegation aus Mitgliedern des Damit der kulturelle Teil nicht zu kurz kam, veranstaltete man Chores „Heimatmelodie“ der Ortsgruppe Hannover, der Hobby- mehrere Auftritte vor geladenem Publikum. Die Chormitglieder Tanzgruppe Wolfsburg und der Folklore-Tanzgruppe aus Gifhorn unter der Leitung von Emmanuel Kaufmann aus Gifhorn, der auch zusammen. Dank der guten Vorbereitung und Organisation ent- für die musikalische Begleitung sorgte, konnten einen durchschla- stand ein vielseitiges Programm mit vielen Facetten: Geschichte, genden Erfolg feiern. Die Zuschauer konnten gar nicht genug be- Soziales, Ethnografie, Kultur, Kunst, Religion, nationale Fragen und kommen von ihrem Programm; sie applaudierten und verlangten vieles mehr. nach immer weiteren Zugaben. Im Mittelpunkt des Projektes standen unter anderem ein Besuch Einen ebenso großen Zuspruch erntete die Hobby-Tanzgruppe der regionalen gesellschaftlichen Organisation „Wiedergeburt“ der aus Wolfsburg unter der Leitung von Jakob Krämer, die den Zu- Deutschen in Perm und die Intensivierung der Beziehungen, Be- schauern mit stimmungsvollen Tänzen aus verschiedenen euro- gegnungen mit leitenden und verantwortlichen Personen aus Politik päischen Ländern einen Einblick in die europäische Kultur ver- und Kultur der Stadt Perm und Umgebung, kultureller Austausch, schaffte. gemeinsame künstlerische Auftritte und kreative Workshops. Als weiteres Highlight kann das Treffen mit den Vertretern der In diesem Rahmen konnten die Teilnehmer das Wirken des russ- nationalen Minderheiten aus dem Kreis Perm bezeichnet werden. landdeutschen Künstlers Anatolii Kaltais kennenlernen und besuch- Diese Begegnung erinnerte an ein Volksfest: Deutsche und Juden, ten die Evangelische St. Maria-Kirche in Perm sowie das Architektur Komi-Permjaki und Georgier saßen Seite an Seite an einem Tisch ethnografische Museum „Chochlowka“, in dem das ursprüngliche und tauschten intensiv ihre Geschich- Leben in der Region Perm beleuchtet wird. Die bemerkenswerte Ar- ten und Erfahrungen aus. chitektur kam dabei beim Anblick eines Hauses, das vor 150 Jahren Auch hier verbreiteten die Sänger ohne einen einzigen Nagel gebaut wurde, deutlich zum Ausdruck. im Anschluss an die Gespräche gute Höhepunkte der Woche waren zwei Begegnungen mit deutschen Stimmung und die Hobby-Tanzgruppe Bewohnern in den Städten Krasnokamsk und Perm. Wie der Zufall aus Wolfsburg sorgte mit ihren Tänzen so spielt, stellte sich heraus, dass einige der Gäste aus Deutschland für eine angeregte Atmosphäre. und die Gastgeber miteinander weitläufig verwandt sind, was sehr Ein emotionaler Moment war der emotional aufgenommen wurde. Besuch eines Kindersprachkurses, bei 6 VOLK AUF DEM WEG Nr. 11/2019
Grenzüberschreitende Massnahmen Kindersprachkurs – Geschenke werden verteilt. dem die Gäste aus Deutschland von der Motivation, mit der die Kin- Man sprach auch über die besondere Bedeutung des kulturel- der Deutsch lernen, beeindruckt waren. Im Gegenzug konnten sich len Austausches zwischen den Russlanddeutschen in Perm und in die Kinder über Süßigkeiten und kleine Geschenke freuen. Niedersachsen. Dieser Austausch, so die Teilnehmer, biete nicht nur Nicht zu vergessen sind mehrere wichtige Begegnungen mit Ver- eine gute Basis zur Bewahrung und Weiterentwicklung der deut- tretern der kommunalen Politik und der Besuch des Administ schen Sprache und Kultur, sondern würde auch wichtige Brücken rationsleiters des Kreises Perm, Leonid Politow. Bei diesen Treffen zwischen den Ländern bauen und damit zur Bewahrung des Frie- standen Gespräche über die Wünsche und Bedürfnisse der Deut- dens beitragen. schen in Perm und Umgebung im Mittelpunkt. Des Weiteren wurde Der Vorstand ein weiteres Mal auf die große Bedeutung der Kooperation zwischen der Landesgruppe Niedersachsen der „Wiedergeburt“ und LmDR hingewiesen. der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Die Landsmannschaft Tag der Deutschen aus Russland in Ingolstadt – Gedenkfeier der Landesgruppe Bayern E twa 60 Teilnehmer versammelten sich am 28. August 2019 in Ingolstadt zum landesweiten „Tag der Deutschen aus Russland” der Landesgruppe Bayern der LmDR (Vorsit- zender: Ewald Oster), darunter Vertreter der Kommunalpolitik und anderer Vertriebenenverbände sowie Landsleute aus ver- schiedenen Ortsgliederungen der LmDR in Bayern. Zu den Ehrengästen gehörten unter anderem der Oberbürger- meister von Ingolstadt, Dr. Christian Lösel (CSU), der stellvertre- tende Vorsitzende der Landesgruppe Bayern des BdV, Dr. Johannes Hörner, und der Leiter des Bayerischen Kulturzentrums der Deut- schen aus Russland, Waldemar Eisenbraun. Mit der Gedenkfeier erinnerte die Landesgruppe an den schwar- zen Tag aus Russland. Der schändliche Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Übersiedlung der Deut- schen, die in den Wolgarayons leben“ vom 28. August 1941, der die Vertreibung der Deutschen in der Sowjetunion aus den europä- Teilnehmer der Gedenkfeier der Landesgruppe Bayern in Ingolstadt. ischen Gebieten nach Sibirien, Kasachstan und Mittelasien einlei- tete, markierte durch die nachfolgenden einschneidenden Diskri- 1941 ein: „Es war der Beginn einer Verfolgung, der Demütigung minierungen das Ende des Deutschtums in der Sowjetunion. Mit und des grausamen Terrors gegen die Deutschen in der damaligen der Gedenkfeier wurde vor allem der russlanddeutschen Opfer der UdSSR. Für uns Deutsche aus Russland stellt dieser Tag einen be- Deportation und der anschließenden Zwangsarbeit gedacht. sonderen Einschnitt in unserer Geschichte dar. Der Erlass bedeu- Die Organisation der Gedenkfeier lag in den Händen der Kreis- tete den Beginn einer Leidenszeit, wobei die Vorwürfe der Kollabo- und Ortsgruppe Ingolstadt der LmDR mit ihrem Vorsitzenden Dr. ration mit Nazi-Deutschland jeder Grundlage entbehrten.“ Johannes Hörner und der Kulturreferentin Ida Haag, die von Akti- Oberbürgermeister Christian Lösel griff den Gedanken auf ven der Landsmannschaft in Ingolstadt tatkräftig unterstützt wur- und verurteilte das stalinistische Regime. Damit die zahlreichen den. Den musikalischen Rahmen der Gedenkfeier gestaltete der In- Opfer nicht vergessen würden, müsse die Erlebnisgeneration ihre golstädter Chor „Singende Herzen“ unter der Leitung von Ida Haag. schmerzvollen Erfahrungen an die jüngeren Generationen weiter- Nach dem Grußwort und der Begrüßung durch den Vorsitzen- geben. den der Kreis- und Ortsgruppe Ingolstadt, Dr. Johannes Hörner, Der Gedenkakt wurde mit einer Kranzniederlegung im Luit- ging Ewald Oster als Hauptredner auf das leidvolle Schicksal der poldpark am Brückenkopf in Ingolstadt abgeschlossen. Deutschen in der Sowjetunion nach dem Erlass vom 28. August Der Landesvorstand VOLK AUF DEM WEG Nr. 11/2019 7
Soziales Konferenz zur sozialen Gerechtigkeit für Spätaussiedler Fabritius drängt auf Korrekturen für deutsche Aussiedler und Spätaussiedler im Rentenrecht D er Beauftragte der Bundesregie- rung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Prof. Dr. Bernd Fabritius, hat am 11. Oktober 2019 in Nürnberg an einer Multiplikato- renkonferenz zu aktuellen Entwicklun- gen im Rentenrecht mit dem Titel „So- ziale Gerechtigkeit für Aussiedler und Spätaussiedler“ teilgenommen. Ver- anstaltet wurde die Konferenz von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, dem Verband der Siebenbürger Sachsen in Deutschland und der Lands- mannschaft der Banater Schwaben. Im Austausch mit Dr. Rolf Schmachten- berg, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, ging Fabritius auf zahlreiche Fragen aus dem Publikum ein. Er erinnerte in seinem Eingangsstatement daran, dass die Aufnahme deutscher Aus- siedler und Spätaussiedler wegen ihrer vor- teilhaften demographischen Struktur ein Gewinn für die Renten- und Sozialkassen sei, und verwies auf die Ergebnisse einer Der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Prof. bereits 1996 unter dem Titel „Punktation Dr. Bernd Fabritius (2. von rechts), mit (von links nach rechts) dem Vorsitzenden der Lands- zur Versachlichung der Aussiedlerdebatte“ mannschaft der Deutschen aus Russland, Johann Thießen, Staatssekretär Dr. Rolf Schmachten- veröffentlichten Untersuchung. berg, der Bundesvorsitzenden des Verbandes der Siebenbürger Sachsen, Herta Daniel, und Pe- Teilnehmer kritisierten hauptsächlich ter-Dietmar Leber, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Banater Schwaben. einen weitgehenden Ausschluss der älte- Bild: Kreisverband Nürnberg des Verbandes der Siebenbürger Sachsen. ren Aussiedlergeneration aus der Solidar- gemeinschaft Rente durch die 1996 einge- desbeauftragte großes Verständnis für den sondere Kriegsfolgeschicksal der deutschen führten substanziellen Rentenstreichungen deutlich artikulierten Unmut der Teilneh- Aussiedler und Spätaussiedler stehe und er bei gleichzeitiger voller Einbeziehung der mer in dem bis auf den letzten Platz gefüll- auch einer wieder stärkeren Berücksichti- arbeitenden Generation zur Beitragszah- ten Genossenschaftssaalbau in Nürnberg. gung der persönlichen Lebensleistung und lung, die Abkopplung der Rentenhöhe von Fabritius sicherte zu, sich weiterhin mit der besonderen Biografie dieses Personen- der eigenen Lebensarbeitsleistung durch aller Kraft dafür einzusetzen, dass festge- kreises bei der Sicherung des Lebensun- eine biografieunabhängige Deckelung der stellte Benachteiligungen bei der Einbezie- terhaltes im Alter große Bedeutung bei- Renten auf Grundsicherungsniveau sowie hung der älteren Generation in die Solidar- messe. Er habe der Bundesregierung daher administrative Hürden und Anrechnungs- gemeinschaft Rentenversicherung wieder vier konkrete Korrekturvorschläge unter- nachteile bei Durchsetzung von Rentenzah- beseitigt werden. Dies gebiete schon das breitet und werde sich mit Nachdruck für lungen aus den Herkunftsgebieten. Prinzip gelebter und generationenübergrei- deren Umsetzung einsetzen. Dafür werbe Unter Bezugnahme auf Grundsätze des fender Solidarität in unserer Gesellschaft. er derzeit im politischen Raum, weil eine dem deutschen System der gesetzlichen Fabritius betonte auf Nachfrage, dass entsprechende Entscheidung eine Mehrheit Rentenversicherung zu Grunde liegenden die Bundesregierung unverändert zur im Deutschen Bundestag benötige. Generationenvertrages äußerte der Bun- Einstandspflicht Deutschlands für das be- Pressemitteilung des Aussiedlerbeauftragten Eleonora Hummel, „Die Wandelbaren“ – Roman zur Geschichte des Deutschen Schauspieltheaters Temirtau ISBN 978-3-9901-4196-0, 462 Seiten, Preis 24,- Euro, zu beziehen über den Verlag, Buchhandlungen und online. Sowjetunion, Mitte der 1970er Jahre. In Orten, in denen Deutsche nach ihrer Deportation in Kasachstan und Sibirien leben, wird nach talentierten deutschen Jugendlichen gesucht – für ein deutsches Theater. Die jungen Deutschen sollen in Moskau an einer renommierten Theaterhochschule ausgebildet werden. Schließlich entsteht mitten in der kasachischen Steppe das Deutsche Schauspieltheater Temirtau, das sich zur Insel der deutschen Kultur und Sprache mit allen Grenzen und auch Freiheiten der späten Sowjetunion entwickelt. Die jungen Schauspieler schmieden politische Pläne, wetteifern, spielen um ihr Leben. Nach Jahrzehnten treffen sich die Protagonisten wieder, um festzustellen, was aus ihren Träumen geworden ist. Die 1970 in Zelinograd, Kasachstan, geborene Eleonora Hummel präsentiert in ihrem neuen Roman „Die Wandelbaren“ (Ver- lag müry salzmann, Salzburg-Wien 2019) eindrucksvoll die Welt der deutschen Minderheit in der zu Ende gehenden Sowjet- union. Aufschlussreich erzählt sie von Sorgen, Nöten und Freuden des einzigen deutschen Theaters der Nachkriegssowjetunion. Eleonora Hummel kam 1982 nach Dresden und ist seit 2001 schriftstellerisch tätig. Im Steidl Verlag erschienen ihre Romane „Die Fische von Berlin", „Die Venus im Fenster" und „In guten Händen, in einem schönen Land". 8 VOLK AUF DEM WEG Nr. 11/2019
Öffentlichkeitsarbeit DEUTSCHE AUS RUSSLAND. Aktuelle Termine finden Sie auf unserer Internetseite GESCHICHTE UND GEGENWART www.LmDR.de/WA-Termine/ WANDERAUSSTELLUNG DER LANDSMANNSCHAFT – WWW.DEUTSCHEAUSRUSSLAND.DE Wesendorf, Niedersachsen Bis 12. November: Rathaus Wesendorf, Alte Heerstr. 20, 29392 Wesendorf. Organisation: Achim Perner. Drolshagen, NRW 5. bis 12. November: Heimathaus, Annostr. 3, Tel.: 02761-790027. Organisation: Ina Rudi, Tel. 0160-97965520. Mainz, Rheinland-Pfalz 13. November bis 5. Dezember: Landtag von Rhein- land-Pfalz, Kaiser-Friedrich-Str. 3. Eröffnung am 13. November um 19.30 Uhr mit Grußworten, Vortrag und Film. Grußworte: - Hendrik Hering, Präsident des Landtages von Rheinland-Pfalz; - Valentina Dederer, Vorsitzende der Landesgruppe Rheinland- Pfalz und Mitglied des Bundesvorstandes der LmDR. Organisation: Frau Stephan, Tel.: 06131-2082323; Frau Eifler, Tel.: 06131-2082496. Hamburg 15. November: Rathaus Altona, Platz der Republik 1. Eröffnung am 15. November, um 15 Uhr mit Grußwor- ten, Vortrag, Film und Kulturprogramm. Organisation: Dr. Otto Horst, Tel.: 0174-2909052, 040-8811941. Duisburg, NRW 16. November: Clauberg-Halle, Kampstr. 23. Präsenta- tion am 16. November von 13 bis 18 Uhr im Rahmen eines Liederfestivals mit Vortrag, Film und umfangrei- chem Kulturprogramm. Organisation: Emma Brull, Tel.: 0203-93308562, 0151-27196495. Künzelsau, Baden-Württemberg 21. November: Georg-Wagner-Schule, Ernst-Schmid- Str. 11, Tel.: 07940-982900. Schulunterrichtsprojekt Migration und Integration im Rahmen der Ausstellung. Organisation: Elvira Schmidt. Projektleiter Jakob Fischer, Ilja Fedoseev und Dr. Eugen Eichelberg Mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat und gefördert als Projekt über das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, präsentiert von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. Zuständig für die acht parallel laufenden Exemplare der Ausstellung sind die Projektleiter der LmDR, Jakob Fischer, Ilja Fedoseev und Dr. Eu- gen Eichelberg, die Sie unter den Telefonnummern 0711-166590 bzw. 0171-4034329 (Jakob Fischer) oder der E-Mail-Ad- resse J.Fischer@LmDR.de erreichen können. Bei allen Eröffnungs- und Abschlussveranstaltungen der Ausstellung und bei Begegnungstagen führen die Projekt- leiter in die Ausstellung ein, präsentieren Filme auf Großleinwand und halten Vorträge zum Thema „Geschichte und Kultur der Deutschen in Russland und ihre Integration in Deutschland“. Sie organisieren nach Vereinbarung auch Führungen für Gruppen und Schulklassen. Der Eintritt zu allen Veranstaltungen im Rahmen der Ausstellung ist frei. VOLK AUF DEM WEG Nr. 11/2019 9
Die Volksgruppe Tatjana Schmalz „Russland-Deutsche“ unter Generalverdacht1 T atjana Schmalz erforschte die Darstellung der russlanddeutschen Bevölkerungs- gruppe in den Medien – ab dem „Fall Lisa“ bis zur Bundestagswahl 2017 (VadW berichtete). Nach der Analyse von über 300 Artikeln und Fernsehberichten – al- lein für den deutschsprachigen Raum – waren nur wenige Beiträge übriggeblieben, die wahrheitsgetreu und ausgewogen waren. Einige Berichte, die beispielhaft für die hane- büchene Skandalisierung der Russlanddeutschen sind, hat Tatjana Schmalz in einem Internet-Artikel polemisch kommentiert. Die Reaktionen auf der Internetseite und auf Facebook sind überwiegend positiv. Eine Diskussion des Artikels fand vor allem in der Facebook-Gruppe „Russlanddeutsche Gruppe“ statt. Doch lesen Sie selbst: Gut 20 Jahre sind vergangen seit den letzten ternacht“ bekannt und erreichte ein dubioser handgreiflichen Alkoholexzessen kleinkri- Protestaufruf zahlreiche mobile Endgeräte, mineller „Russen“ in dreigestreiften Trai- so dass die russlanddeutschen Demonstra- ningsanzügen. Nun bevölkern sie wieder tionen gegen die Flüchtlingspolitik in meh- die Schlagzeilen, doch nennen sie sich in- reren deutschen Städten Nachahmer fanden. zwischen „russlanddeutsche Spätaussied- Das war der „Fall Lisa“ – kurz erklärt. ler“. Indem Spätaussiedler im Alltag oft sy- Während die Polizei die Bevölkerung zu nonym mit dem Begriff „Deutsch-Russen“ Besonnenheit mahnte, überschlugen sich vor verwendet oder in einem Atemzug mit jü- allem die Meldungen der Nachrichtendienste. dischen Kontingentflüchtlingen aufgezählt Im „Tagesspiegel“ berief sich die Publi- Tatjana Schmalz, geb. 1994 in Irkutsk, kam werden, versteht Otto Normalverbrau- zistin Elke Windisch auf geheimnisvolle mit ihrer Familie 1996 nach Deutschland. Sie cher unter „Russlanddeutschen“ meist die „Experten“ und namentlich nicht überlie- promoviert derzeit an der Europa-Universität Summe aller Einwanderer aus den Nachfol- ferte „Soziologen“, die in den Russlanddeut- Viadrina Frankfurt (Oder). gestaaten der Sowjetunion.1 schen regelrechte Schlüsselfiguren in „Wla- Dabei entstand der Begriff unmittelbar dimir Putins Informationskrieg“ sahen. Einen vermeintlichen Widerspruch nach der Oktoberrevolution von 1917, als Darum nutze der Kreml den Vorfall als wollte die „Deutsche Presseagentur“ geist- emigrierte Angehörige der deutschen Min- „Retourkutsche am Westen“, um endlich reich entlarven, etwa auf „Welt Online“ mit derheit, deren Familien seit dem Ende des einmal Kritik an der bundesdeutschen In- der süffisanten Schlagzeile „Russlanddeut- 18. Jahrhunderts im Russischen Reich be- nenpolitik üben zu können. Die studierte sche demonstrieren gegen ‚Ausländerge- heimatet waren, sich ausdrücklich vom Turkologin, Iranistin und Slawistin Elke walt‘“.4 Bolschewismus distanzierten. Windisch muss in ihrer Freizeit als Psycho- Die Mittelbayerische variierte das sogar Was die 250-jährige Aus- und Einwan- therapeutin aktiv sein, denn sie entdeckt plakativ zum „Migrantenprotest gegen derungsgeschichte der Russlanddeutschen ein verletztes Ego im bislang verdeckt ge- ‚Ausländergewalt‘“.5 und die historischen Umstände ihres mas- führten Wettkampf um Humankapital: Unterm Strich sprechen beide Formulie- senhaften Zuzugs in den 1990er Jahren an- „Dazu kommt, dass Moskau bis heute den rungen einer ganzen Bevölkerungsgruppe geht, überspielen zahlreiche Journalisten gern Massenexodus der Russlanddeutschen nach eben das Deutschsein ab, für das sie noch ihr Unwissen. Anstatt sich zuvorderst Hinter- dem Ende der Sowjetunion nicht verwun- bis zum Ende der Sowjetunion diskrimi- grundwissen anzueignen, suchen sie sich den den hat und als schwere politische Nieder- niert wurden und bei der Aussicht auf so- geringsten Widerstand und erproben im Um- lage verbucht.“2 zialen Aufstieg bereitwillig ihre Wurzeln gang mit den Russlanddeutschen eine neue Auf „Spiegel Online“ liefert der stu- verleugneten. Ein prominentes Beispiel Dimension der Medienberichterstattung. dierte Nordamerikanist Fabian Reinbold war die international erfolgreiche Sängerin Ihre Charakteristika sind Desinteresse, man- eine umfassende Analyse zu den mögli- Anna German (1936–1982). gelhafte Recherche und der pathologische chen Manipulationsversuchen, die Moskau Wunsch nach einem intakten Weltbild. Das während der bevorstehenden Bundestags- Erzkonservative AfD-Anhänger? ist Haltungsjournalismus in Reinform. wahl 2017 unternehmen könnte. Freilich darf in diesem wilden Potpourri von Mut- In neueren Studien zur Spätaussiedler- Des Kremls fünfte Kolonne? maßungen auch der Verdacht der fünften migration und -integration begegnet mir Kolonne nicht fehlen: wiederholt der Begriff der „Überassimila- Im Januar 2016 lockte eine russische Zei- „Unabhängig von einzelnen Einschät- tion“. Der nirgends eindeutig bestimmte tungsente einige hundert russischsprachige zungen und Spekulationen sind sich die Be- Begriff wird auch in Bezug auf andere Per- Demonstranten auf die Straßen von Ber- hörden beim Gesamtbild einig: Russland lin-Marzahn und vor das Bundeskanzleramt. verfolgt strategische Interessen in Deutsch- netzwelt/web/bundestagswahl-2017-debat- Die minderjährige Lisa F. aus Berlin-Mar- land, auch mittels Taktiken der Desinforma- te-um-moegliche-manipulationen-durch-russ- zahn hatte wegen Schulproblemen behaup- tion und der Spaltung. Wie sehr dafür etwa land-a-1165520.html tet, von mehreren „südländisch aussehen- Teile der Community der Russlanddeutschen den Männern“ entführt und missbraucht empfänglich sein können, zeigte der Fall Li- 4 Link zum Artikel: https://www.welt.de/politik/ worden zu sein. Parallel wurde das Ausmaß sa.“3 deutschland/article151420833/Russlanddeut- von Straftaten während der „Kölner Silves- sche-demonstrieren-gegen-Auslaendergewalt. 2 Link zum Artikel: https://www.tagesspiegel. html de/politik/angeblich-vergewaltigte-13-jaeh- 1 Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Web- rige-russland-nutzt-fall-lisa-fuer-retourkut- 5 Link zum zweiten Artikel: https://www.mit- log „Achse des Guten“. Link zum Text: https:// sche-am-westen/12900562.html telbayerische.de/politik/asyl/regensburg-nach- www.achgut.com/artikel/russlanddeutsche_ richten/migrantenprotest-gegen-auslaenderge- unter_generalverdacht 3 Link zum Artikel: https://www.spiegel.de/ walt-23491-art1333757.html 10 VOLK AUF DEM WEG Nr. 11/2019
Die Volksgruppe sonen mit Migrationshintergrund ange- onserfahrung von der Migrationserfahrung Westen in den Osten drängten, unter ihnen wendet. Gemeint ist eine Strategie von der Flüchtlinge ab. Im Vergleich zu den Zu- auch Kriminelle, geflohene Sträflinge, ge- Migranten, mittels Verleugnung der ei- gewanderten aus den arabischen Regionen scheiterte Kaufleute, Abenteurer. Die russi- genen Herkunft und Liquidation mitge- habe man schließlich deutsche Wurzeln und schen Behörden waren vom Andrang völlig brachter Kulturtraditionen in die Mehr- einen christlichen Glauben. Darüber hinaus überfordert. heitsgesellschaft hineinzufinden. Indem der fühlen sie sich häufig schlecht behandelt und Der Wille zur Integration war bei den absolute Gegensatz von Assimilation und benachteiligt im Vergleich zu den Flüchtlin- Neurussen mit deutschem Migrationshinter- Segregation noch gesteigert wird, verkehrt gen und den Leistungen, die diese erhielten.“7 grund nur wenig ausgeprägt. Die Einwande- sich die positive Konnotation von „Assimi- rer sprachen deutsch, bauten protestantische lation“ ins Pejorative (Abwertende). „Als die Deutschen Flüchtlinge Kirchen, pflanzten Kartoffeln und bestick- Doch kann man zu sehr assimiliert sein? ten Geschirrtücher mit deutschen Sinnsprü- Wo liegen die Grenzen der Assimilation, waren und sich nach Russland chen wie „Arbeit ist des Lebens Zierde“. Ihre wenn es doch gar keine Leitkultur gibt? retteten“ Orte nannten sie Mariental und Lilienfeld Wer schützt unsere Kultur vor der Aneig- Unlängst stieß ich auf einen Beitrag der und Unterwalden, als lebten sie immer noch nung durch Zuwanderer? Stoppt die feind- „stern“-Reportage-Reihe „Reise durch in Hessen oder im Schwarzwald. Sie bauten liche Übernahme und hört auf, euch zu in- das WM-Land“ (Russland) aus dem Som- Windmühlen, brauten Bier. tegrieren! mer 2018. In der Folge „Als die Deutschen Mehr als hundert deutsche Dörfer ent- Die Teilnahme von Vertretern der AfD, Flüchtlinge waren und sich nach Russland standen so an der Wolga, und den Unter- von Pegida und der NPD an den russland- retteten“ orientierte sich die Journalistin gang der russischen Zivilisation fürchtete deutschen Demonstrationen wäre ein Bei- Bettina Sengling auf den ersten Blick an trotz des Massenandrangs der arbeitswüti- spiel für „Überassimilation“. Die Diagnose den drei klassischen Wegmarkern der russ- gen Protestanten damals niemand. Im Ge- der schizophrenen Loyalität zwischen Russ- landdeutschen Geschichtsschreibung: genteil: Die russische Regierung hielt eisern land und den Rechten ist bis heute nicht lo- • Auswanderung deutscher Kolonis- an ihrer Willkommenskultur fest.“ gisch aufgearbeitet worden. Immerhin wird ten ins Russische Reich ab der zweiten sie nicht vergessen, und es wird den Russ- Hälfte des 18. Jahrhunderts, „Geschichte eines glänzenden landdeutschen bis heute eine ausgeprägte • Deportation per Stalin-Erlass 1941 AfD-Affinität nachgesagt. • und Normalisierung der Lebenssitu- gesellschaftlichen Aufstiegs“ Dass diese Haltung unberechtigt ist, ation in der Nachkriegs-Sowjetunion Diese vor soziopolitischem Missionie- belegt die „Immigrant German Election trotz ethnisch-kulturell motivierter Dis- rungseifer nur so strotzende Schilderung Study“ der Universitäten Köln und Duis kriminierung. einer scheinbar segregierten Minderheit burg-Essen. Demnach weicht das russ- Doch gerade die Darstellung der Inte- kulminiert in einem Absatz, der sich als landdeutsche Wahlverhalten bei der grationsphase unmittelbar nach der Aus- besonders grotesk und kontraproduktiv Bundestagswahl 2017 kaum vom Bevöl- wanderung ließ mich stutzen. Zu den für das intendierte Argumentationsmus- kerungsdurchschnitt ab – einzig die über- Motiven, Versprechen und Zielen der Sied- ter erweist. Unfreiwillig bietet die Autorin proportionale Präferenz für DIE LINKE ist lerwerbung nach Russland gehörte zu kei- eine Steilvorlage für die plakativ bekämpf- bemerkenswert. Doch dieser Befund er- ner Zeit das interkulturelle Zusammenle- ten Asylkritiker und ist das sprichwörtliche scheint einigen Zeitgenossen als umso ver- ben, sondern die Peuplierung (planmäßige „Wasser auf den Mühlen der Rechtspopulis- dächtiger.6 Besiedlung) und Urbarmachung frucht- ten“, die eine Islamisierung des Abendlands Zu den Zweiflern gehört Anna Gorskih barer Grenzregionen zum Osmanischen und einen Islamischen Staat in Deutsch- von der „linksjugend [‚solid] Sachsen“. Die Reich. Gebeutelt von Steuerlasten und Reli- land fürchten: studierte Sozialwissenschaftlerin veröffent- gionskriegen, bevorzugten etliche Kolonis- „Während russische Bauern noch Leib- lichte einen Beitrag über das Verhältnis zwi- ten aus den deutschen Landen die Ko-Exis- eigene waren, bekamen die deutschen Sied- schen der AfD und „Spätaussiedler:innen“ tenz ethnisch und konfessionell homogener ler Land umsonst, brauchten keinen Kriegs- im „Ost-Journal“, einer Freundschaftszei- Enklaven auf dem Territorium des russi- dienst zu leisten und zahlten keine Steuern. tung vom „Neuen Deutschland“. Gorskih schen Vielvölkerstaats. Die Geschichte der Russlanddeutschen war – Jahrgang 1992, offenkundig erst seit kur- Anstatt es damit bewenden zu lassen, ist länger als ein Jahrhundert lang die Ge- zem über die Existenz von russlanddeut- die Passage zum Leben nach der Auswan- schichte eines glänzenden gesellschaftlichen schen Bundesbürgern informiert – bemerkt derung durch Sprachbilder und Termino- Aufstiegs. Sogar in den frühen Sowjetjah- die Ironie nicht, als sie rund 2,5 Millionen logien angereichert, die eindeutig dem seit ren erkämpften sie sich einen Sonderstatus: Menschen, deren Eltern und Großeltern 2015 in der Bundesrepublik geführten Dis- Sie lebten in der „Autonomen Sozialistischen während des Zweiten Weltkriegs aufgrund kurs zur Flüchtlingspolitik entnommen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“.8 eines kollektiven Kollaborationsverdachts sind. So liest sich die nachfolgende Pas- An dieser Stelle endet abrupt der hane- mit den Nationalsozialisten vom europä- sage wie ein plumper Appell an die heuti- büchene Vergleich mit der Flüchtlingspoli- ischen in den asiatischen Teil der Sowjet- gen Asylkritiker: tik der Bundesregierung. Denn Stalin ließ union deportiert und jahrzehntelang ein- „Im 18. Jahrhundert rollten regelrechte die ASSR der Wolgadeutschen nach dem zig wegen ihrer deutschen Ethnie in ihren Flüchtlingswellen aus Westeuropa an die Überfall der Wehrmacht auflösen, und alle Karrieren und ihrer Sprach-, Glaubens- Wolga. Einige, besonders die Mennoniten, Deutschen wurden „nach Sibirien und Ka- und Kulturpflege behindert wurden, kur- wollten in der Fremde ihre Religionen frei sachstan deportiert, wo Tausende starben.“ zerhand Intoleranz unterstellt: ausüben. Die meisten jedoch flohen vor der Laut ihrer Autorenseite studierte Bettina „Dabei grenzen sie ihre eigene Migrati- Armut. Manche deutsche Kleinstaaten ver- Sengling Slawistik in Frankfurt (welches hängten sogar Auswanderungsverbote und Frankfurt, wird nicht genannt) und berich- drohten den Werbern mit der Todesstrafe, tet seit über 20 Jahren für den „stern“ aus 6 Link zur Studie: https://www.portal.uni-ko- eln.de/9015.html?&tx_news_pi1%5B- weil so viele Wirtschaftsflüchtlinge aus dem der ehemaligen Sowjetunion. news%5D=4829&tx_news_pi1%5B- controller%5D=News&tx_news_pi1%- 7 Link zum Artikel: https://www.ost-journal.de/ 8 Link zum Artikel: https://www.stern.de/politik/ 5Baction%5D=detail&cHash=c236f- gescheiterte-integration-das-verhaeltnis-zwi- ausland/russland-vor-der-wm--als-die-deut- 044f9569a839ae4585ee2372daa schen-afd-und-spaetaussiedlerinnen/ schen-fluechtlinge-waren-8000526.html VOLK AUF DEM WEG Nr. 11/2019 11
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