POLITISCHE STUDIEN 476 - Hanns-Seidel-Stiftung
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POLITISCHE STUDIEN 476 Orientierung durch Information und Dialog 68. Jahrgang | November-Dezember 2017 | ISSN 0032-3462 /// IM FOKUS DEMOKRATIE ERFORDERT POLITISCHE BILDUNG Mit Beiträgen von Heinrich Oberreuter | Klaus Schroeder /// HANNS W. MAULL Politische-Studien-Zeitgespräch: Wie steht es um die Internationale Ordnung? /// ECKHARD JESSE AfD und Die Linke – wieviel Populismus steckt in ihnen? /// SIEGFRIED BALLEIS Kommunale Wege deutscher Entwicklungspolitik www.hss.de
„ Es braucht eine CHRISTLICH-SOZIALE Digitalstrategie! EDITORIAL DIE DIGITALE REVOLUTION – GESTALTUNGSANSPRUCH STATT AKTIONISMUS! „Konservativ heißt nicht, nach hinten blicken, konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts marschieren“ (Franz Josef Strauß). Schwerer tun sich andere vermeint- lich Konservative damals wie heute mit der „disruptiven Modernisierung“: Kaiser Wilhelm II. dachte, dem Pferd gehöre damals wie heute die Zukunft der Mobilität. US-Präsident Donald J. Trump hadert mit der digitalen Revolution: „Das hört sich böse an. Digital. Was soll das sein? Das ist sehr kompliziert, dafür muss man Albert Einstein sein […] digital ist schlecht.“ Beide fühlen sich überfahren von der Modernisierung, beiden geht es um die Bewahrung von Bewährtem. Beide fokussieren Gefahren, ohne die Ambivalenz der Entwicklung zu berücksichtigen, und scheitern damit an einer Zukunftsvision, wo der erlebte Wandel proaktiv gelenkt, zukunftsweisend kanalisiert und verantwor- tungsvoll reglementiert werden kann. Wie die französische und industrielle vor ihr, erschüttert die digitale Revolution ethische Konstanten, bestehende Gesellschaftsstrukturen und die wirtschaftliche Basis in den Grundfesten – kurz: Sie revolutioniert heute erneut das Verhältnis des Menschen zu seiner Wirklichkeit. Der Mensch wird durch Big Data immer durch- sichtiger, die Technologie indes undurchschaubarer. Blockchain, künstliche Intelli- genz, Internet der Dinge – das wird unsere allernächste Zukunft maßgeblich bestim- men, ohne dass alle politischen Bestimmer genau wissen, was das überhaupt ist. Beruhigend wie notwendig ist, dass die Koalitionsverhandlungen die Digitalisie- rung aktuell als Konsensthema für sich gefunden haben. Eine nachhaltige Gestal- tung des digitalen Wandels kann sich jedoch weder mit effektheischender Etikettie- rung mit „DIGITAL“ oder „4.0“ begnügen, noch auf die Gründung innovativer Hubs beschränken. Noch lässt sich diese Gesellschafts-, Arbeits-, Wirtschafts-, nicht zuletzt Bildungsrevolution auf Breitbandausbau reduzieren. Konservative dürfen eine menschendienliche Gestaltung der digitalen Revoluti- on nicht anderen überlassen. Es braucht eine christlich-soziale Digitalstrategie! Maximilian Th. L. Rückert ist Referent für Digitalisierung, Politik und Medien der Akademie für Politik und Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung, München. 476/2017 // POLITISCHE STUDIEN 3
52 INHALT 09 IM FOKUS POLITISCHE-STUDIEN- REZENSIONSESSAY ZEITGESPRÄCH 06 DEMOKRATIE ERFORDERT 74 ZWISCHEN RUSSLAND- POLITISCHE BILDUNG 34 WIE STEHT ES UM DIE VERSTEHERN UND RUSSLAND- Historisches Wissen in Zeiten INTERNATIONALE ORDNUNG? KRITIKERN des Wandels Nur Unordnung oder schon in Auflösung Deutsch-russische Beziehungen PAULA BODENSTEINER HANNS W. MAULL MANFRED GROSS 09 DEMOKRATIE UND DIKTATUR Was wissen deutsche Schüler darüber? ANALYSEN AKTUELLES BUCH KLAUS SCHROEDER 41 AFD UND DIE LINKE – WIEVIEL 82 SALAFISMUS UND CO … 20 20 O DER: WAS IM WANDEL BESTEHEN UND VOR DEM VERGESSEN BEWAHRT POPULISMUS STECKT IN IHNEN? Nach der Bundestagswahl 2017 Radikaler Islam SUSANNE SCHRÖTER WERDEN MUSS ECKHARD JESSE Wer ist das Volk? HEINRICH OBERREUTER 52 KOMMUNALE WEGE DEUTSCHER RUBRIKEN ENTWICKLUNGSPOLITIK Fluchtursachen bekämpfen und mehr 03 EDITORIAL nachhaltige Entwicklung 85 REZENSIONEN SIEGFRIED BALLEIS 90 JAHRESÜBERSICHT 94 ANKÜNDIGUNGEN 62 DIE KATAR-KRISE UND IHRE 98 IMPRESSUM FOLGEN Der Golfregion droht Instabilität MARTIN PABST 34 4 POLITISCHE STUDIEN // 476/2017 476/2017 // POLITISCHE STUDIEN 5
IM FOKUS /// Historisches Wissen in Zeiten des Wandels Quelle: ..... Schwarwel - Picture Alliance DEMOKRATIE ERFORDERT POLITISCHE BILDUNG PAULA BODENSTEINER /// Historische Kenntnisse sind unentbehrlich, um politische Entscheidungen richtig einzuschätzen, diverse Staatsformen in ihren Auswirkungen auf den Bürger und die wirtschaftliche Entwicklung zu beurteilen sowie Verführungs- künste von Populisten zu entlarven. Studien offenbaren hier aber immer wieder eklatante Lücken bei Schülern. Die Unkenntnis, was z. B. eine demokratische von einer diktatorischen Staatsform unterscheidet, ist leider keine Ausnahme. Umso verwunderlicher, da es in Deutschland sowohl durch die Schulpflicht als auch durch sonstige vielfältige Angebote Mittel und Wege gibt, „Jedermann“ mit politischer Bildung zu erreichen. Die Parole „Wir sind das Volk“ für beliebige Protestbewegungen in Anspruch zu nehmen, spiegelt nicht die Vielfalt an unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Haltungen wider, die ein Für die Hanns-Seidel-Stiftung als Politi- pluralistisch demokratisches System ausmachen. sche Stiftung zählt historisch-politische Bildung in allen Facetten zur Kernaufga- GESCHICHTE als Unterrichtsfach ist be. Dies war auch der Grund dafür, dass für die staatsbürgerliche Bildung sie sich gemeinsam mit dem Deutschen essenziell. tion von Menschen aus anderen Kultur- Konzepte, wie die demokratisch-frei- Lehrerverband (DL), der Arbeitsge- kreisen. heitliche Grundordnung angesichts von meinschaft bayerischer Lehrerverbände Gerade vor dem Hintergrund auf- politischen und religiösen Extremismen (ABL) und mit Unterstützung des Bun- kommender populistischer Tendenzen am besten an heutige und zukünftige des Freiheit der Wissenschaft der Veran- muss ein breites Wissen über die Grund- Schülergenerationen vermittelt werden staltung „Historische Bildung – in Zei- lagen des politischen Systems in kann zu richten. ten des Wandels“ widmete. Das Fach „Geschichte“ ist für die Deutschland gefördert werden. Auch Im Rahmen der Veranstaltung „His- Zumal es für den ehemaligen Präsi- kulturelle als auch für die individu - das Wissen über andere Religionen und torische Bildung – in Zeiten des Wan- denten des deutschen Lehrerverbands, elle Identitätsstiftung unerlässlich. Es Kulturen ist für alle gesellschaftlichen dels“ beleuchteten die Experten in ihren Josef Kraus, stets ein Anliegen war, auf schafft die Fähigkeit, wichtige histori- Gruppen von großer Bedeutung. Um die Vorträgen unterschiedlichste Aspekte den um sich greifenden „historischen sche Entwicklungen im Kontext ande- Vermittlung des politisch-historischen dieser Thematik. Eine Auswahl davon Analphabetismus“ hinzuweisen. Er rer Fächer einzuordnen und ist damit Wissens zu fördern, sollte auch in der ist nachfolgend abgedruckt. setzte sich nachhaltig dafür ein, Ge- ein unverzichtbares Element der staats- Lehrerbildung größerer Wert auf Zeitge- Der Politikwissenschaftler Klaus schichte als Unterrichtsfach keinesfalls bürgerlichen Bildung und zugleich not- schichte gelegt werden. Gleichzeitig ist Schroeder hat in den vergangenen Jah- zu vernachlässigen. wendige Voraussetzung für die Integra- die Aufmerksamkeit auch auf Ideen und ren in einer repräsentativen Befragung 6 POLITISCHE STUDIEN // 476/2017 476/2017 // POLITISCHE STUDIEN 7
IM FOKUS unter anderem den Kenntnisstand von wesen verdiene allerdings auch Respekt Schülern in Zeitgeschichte untersucht. und dürfe weder von der eigenen Bevöl- In seinem Beitrag stellt er seine For- kerung noch von „Dazukommenden“ schungen vor und weist insbesondere desintegriert werden. Durch Integration darauf hin, dass gute Kenntnisse in der werde sich die Bevölkerung verändern, zeitgeschichtlichen Materie direkt in Be- aber das sei ein natürlicher Prozess, der ziehung zu der Fähigkeit zur Einschät- schon immer stattgefunden habe. zung und Beurteilung der politischen Die Beiträge der Experten zeigen die Systeme im Deutschland des 20. Jahr- Vielschichtigkeit der Thematik und ver- hunderts stehen. Ohne ausreichendes deutlichen zudem, wie wichtig die Ver- Wissen gibt es danach auch keine Kom- mittlung einer zeitgeschichtlichen Ori- petenz, um ein demokratisches von ei- entierung ist, um künftige gesellschaft- nem repressiven System unterscheiden liche Entwicklungen verantwortungs- zu können. Zudem verdeutlicht der Au- voll mitgestalten zu können und um tor die Notwendigkeit, demokratisches unsere freiheitliche Demokratie zu er- Geschichtsbewusstsein bei jungen Men- halten. /// schen zu wecken. Er nimmt dabei die Politik, die Bildungsinstitutionen und die Medien in die Pflicht. „Wer ist das Volk?“, fragt hingegen Heinrich Oberreuter. Die Parole „Wir sind das Volk“ für beliebige Protestbe- wegungen in Anspruch zu nehmen, sei unangemessen, denn in einem pluralis- tischen demokratischen System existie- re eine Vielfalt an unterschiedlichen po- /// P AULA BODENSTEINER litischen und gesellschaftlichen Haltun- ist Referentin für Bildung, Hochschulen gen. Der Autor weist darauf hin, dass und Kultur, Akademie für Politik und sich Demokratie und Liberalismus da- Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung. durch auszeichnen, dass Oppositions- München. freiheit bestehe und auch die Freiheit, seine Meinung nicht nur zu denken, sondern auch auszusprechen. Jeder habe Anrecht auf Respekt. Das Gemein- Laut Schroeder muss bei den jungen Leuten das demokratische GESCHICHTSBEWUSSTSEIN geweckt werden. 8 POLITISCHE STUDIEN // 476/2017
/// Was wissen deutsche Schüler darüber? DEMOKRATIE UND DIKTATUR KLAUS SCHROEDER /// Anknüpfend an eine Befragung von Schülern zu ihren Kenntnissen und Urteilen über die DDR, die große mediale Wellen schlug,1 führten Wissenschaftler des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin von 2010 bis 2012 Befragungen von über 7.000 Schülern in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zu ihren Kenntnissen und Urteilen zum Nationalsozialismus, zur DDR und zur Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung durch.2 Die Ergebnisse bestätigten die Resultate der ersten Studie und ergaben zudem, dass vielen Schülern die Trennlinien zwischen Demo- kratie und Diktatur nicht geläufig sind.3 Zeithistorische Kenntnisse und Kenntnisse verfügt, kann die vier Syste- Urteile von Schülern me nicht angemessen einordnen und Ein direkter Zusammenhang von unterscheiden. Dieser Zusammenhang Kenntnisgrad und Urteilen zeigt sich wird statistisch eindrucksvoll bestätigt durchgängig für alle Fragen zu den vier durch die Ergebnisse der Regressions- Systemen sowie zu deren Gleichwertig- analyse. (Schaubild 1, S. 11) Erst se- keit. Je höher das systemspezifische kundär, nach den Kenntnissen, wirken Wissen ausfällt, desto häufiger werden die besuchte Schulart, das Geschlecht Nationalsozialismus (NS) und DDR als Diktaturen und die Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung (WV) als Demokratien eingestuft. Wer dage- gen wenig weiß, kommt öfter zu ande- Die Studie bestätigt den direkten ren Systembewertungen und setzt alle ZUSAMMENHANG von historischem vier Systeme auf die gleiche Stufe. Wer Wissen und Systembewertung. nicht weiß, was eine Demokratie aus- zeichnet oder eine Diktatur charakteri- siert und über nur wenige historische 476/2017 // POLITISCHE STUDIEN 9
IM FOKUS Quelle: Agentur Voller Ernst - Picture Alliance Quelle: Schroeder, Klaus / Deutz-Schroeder, Monika /Quasten, Rita /Schulze Heuling, Dagmar: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtli- Diktatur oder Demokratie? Viele Schüler können erschreckenderweise die BRD der Nachkriegszeit che Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen, Frankfurt / Main 2012, S. 417. nicht richtig zuordnen. oder die Herkunft der Eltern auf die Ur- 45 % richtiger Antworten ebenfalls un- teile der Schüler. terdurchschnittlich. Dieses Muster fin- det sich quer durch alle Schularten und Kenntnisstand zu den einzelnen Bundesländer (Schaubild 2). Systemen Neben der Aufschlüsselung nach Der Kenntnisstand zu den einzelnen Sys- Schulart und Wohnort wurde, erstmalig temen differiert deutlich. Am meisten in einer repräsentativen empirischen wissen die Schüler über den Nationalso- Untersuchung zu zeitgeschichtlichen zialismus, am wenigsten über das wie- Kenntnissen und Urteilen, auch die dervereinigte Deutschland. Die Kennt- Herkunft der Eltern in die Analyse mit nisse über die (alte) Bundesrepublik und einbezogen. Dabei stellt sich heraus, die DDR sind im Vergleich zu denen dass Jugendliche mit in der Bundesrepu- über den Nationalsozialismus ebenfalls blik geborenen Eltern mehr wissen als auffällig geringer. Unerwartet schwach ihre Altersgenossen mit in der DDR ge- fallen sie über das wiedervereinigte borenen Eltern. Besonders gering sind Deutschland aus. Nur gut ein Drittel der die Kenntnisstände bei Schülern mit Wissensfragen können die Jugendlichen DDR-Eltern, die im Westen zur Schule richtig beantworten (Nationalsozialis- gehen, während umgekehrt Schüler mit mus: knapp 61 % richtige Antworten). bundesrepublikanischen Eltern, die in Quelle: Schroeder, Klaus / Deutz-Schroeder, Monika /Quasten, Rita /Schulze Heuling, Dagmar: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtli- Das Wissen über die DDR ist mit knapp den neuen Ländern zur Schule gehen, che Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen, Frankfurt / Main 2012, S. 319. 10 POLITISCHE STUDIEN // 476/2017 476/2017 // POLITISCHE STUDIEN 11
IM FOKUS mit Abstand an der Spitze der kenntnis- antworten können sollten. Keinen Zwei- nisse für die Bundesrepublik vor und reichen Schüler stehen. Den geringsten fel kann es jedoch an der Notwendigkeit nach der Wiedervereinigung: Nur gut Kenntnisstand haben sogenannte Mi Immigrations- und Binnenwan- politisch-historischer Kenntnisse geben, die Hälfte beziehungsweise lediglich grantenkinder, d. h. Jugendliche mit min- derungseffekte VERSCHLECHTERN den denn erst das Wissen um grundlegende drei Viertel der befragten Schüler ant- destens einem ausländischen Elternteil. Kenntnisstand. Fakten ermöglicht ein fundiertes Urteil. worten, die alte bzw. die neue Bundesre- Das vergleichsweise schlechte Ab- Ohne ein Mindestmaß an Wissen blei- publik sei durch demokratische Wahlen schneiden der westdeutschen Schul ben Einschätzungen Vorurteile oder Be- legitimiert (Schaubild 3). standorte resultiert insbesondere aus kenntnisformeln. Insofern besteht ein Weitaus extremer fallen die Ergeb- den schlechten Ergebnissen der Migran- enger Zusammenhang zwischen dem nisse der Fragen nach einem allgemei- tenkinder, die im Westen einen großen Kenntnisgrad und der Angemessenheit nen Demokratie- bzw. Diktaturcharak- Teil der Schüler stellen, und den aus den chen mit Schülern nach der quantitati- der Urteile auf Basis der Werte der frei- ter der vier Systeme aus. Keinen Zweifel neuen Ländern zugezogenen Schülern. ven Befragung stellte sich heraus, dass heitlich-demokratischen Grundord- am Diktaturcharakter des Nationalsozi- Werden Binnenwanderungs- und Immi- die gewalttätige Dimension der 68er- nung. alismus hat lediglich gut jeder zweite grationseffekte außen vor gelassen, lie- Studentenbewegung und der Linksterro- Knapp jeder vierte Befragte hält den Schüler, bezogen auf die DDR sogar nur gen Schüler aus Bayern bei den Kennt- rismus überwiegend kein Thema im Nationalsozialismus für durch demokra- gut jeder dritte. Die anderen Jugendli- nisständen knapp vor Schülern aus Thü- Schulunterricht sind. Die 68er werden tische Wahlen legitimiert und etwa jeder chen – knapp die Hälfte beim NS und ringen. Der durchschnittliche Anteil von vielen Lehrern zumeist als Wegbe- dritte attestiert der DDR eine demokrati- knapp zwei Drittel bei der DDR – sind richtiger Antworten erhöht sich ohne die reiter der „wirklichen Demokratie“ in sche Legitimation. Dabei geht knapp je- sich unsicher, wie sie diese beiden Syste- Immigrations- und Binnenwanderungs- der Bundesrepublik charakterisiert. der dritte Schüler mit DDR-Eltern, aber me einordnen sollen, oder bewerten sie effekte in Bayern von 51,4 % auf 59,9 % Die Frage nach dem Volksaufstand in nur knapp jeder vierte mit BRD-Eltern ausdrücklich nicht als Diktaturen. Die und in Nordrhein-Westfalen und Baden- der DDR am 17. Juni 1953 beantwortet davon aus, dass es im SED-Staat demo- (alte) Bundesrepublik hält nur gut die Württemberg um 4 bis 5 Prozentpunkte. nur gut jeder dritte Befragte richtig. Die kratische Wahlen gab (Migrantenkinder: Hälfte für eine Demokratie und selbst In Sachsen-Anhalt und Thüringen dage- Mehrzahl der Schüler identifiziert mit gut 40 %). Noch auffälliger, um nicht zu das wiedervereinigte Deutschland wird gen ändert sich die Quote richtiger Ant- diesem Datum entweder die internatio- sagen, erschreckender, sind die Ergeb- lediglich von gut 60 % ausdrücklich als worten nur unwesentlich. nale Anerkennung der DDR als Staat, ei- Die Wissensfragen haben einen un- nen deutsch-sowjetischen Vertragsab- terschiedlichen Schwierigkeitsgrad. So schluss oder eine Währungsreform in der wurde zum Beispiel bezogen auf den DDR. Wer die Verantwortung für die so- Quelle: Schroeder, Klaus / Deutz-Schroeder, Monika /Quasten, Rita /Schulze Heuling, Dagmar: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Nationalsozialismus gefragt, was un- zialistische Diktatur trug, weiß nur eine mittelbar nach der Machtübernahme Minderheit der befragten Schüler. Inso- der Nationalsozialisten abgeschafft fern verwundert es nicht, dass jeder Fünf- wurde. Von den vier Antwortmöglich- te die SED für einen Zusammenschluss keiten (Grundrechte, Reichsmark, von KPD und NSDAP hält, und eine rela- Wehrpflicht und Reisefreiheit) entschei- tive Mehrheit der Hauptschüler glaubt, den sich knapp 46 % der befragten diese Partei sei aus SPD und NSDAP ge- Schüler für die richtige Antwort. bildet worden. Viele Gymnasiasten dage- Jugendlichen, Frankfurt / Main 2012, S. 369. Bezogen auf die alte Bundesrepublik gen verschmelzen SPD und PDS zur SED. fragten wir u. a. nach dem Begriff „Deut- Knapp jeder fünfte Schüler weiß, scher Herbst“. Die Antwort, nämlich das wodurch die rot-grüne Bundesregierung Vorgehen des Staates gegen den Links- das deutsche Sozialsystem reformierte – terrorismus in der Bundesrepublik Ende die Agenda 2010. Eine relative Mehrheit der 1970er-Jahre, kennt nur gut jeder nennt als Reformprojekt den Solidari- Zehnte; für knapp jeden Zweiten steht tätszuschlag. der Begriff für die letzten Wochen vor Man mag sich streiten, welche Fra- dem Fall der Berliner Mauer. In Gesprä- gen Jugendliche unbedingt richtig be- 12 POLITISCHE STUDIEN // 476/2017 476/2017 // POLITISCHE STUDIEN 13
IM FOKUS Eine nennenswerte Minderheit hält alle negatives Bild des Nationalsozialismus. Die (alte) Bundesrepublik erzielt bei vier Systeme gleichermaßen nicht für Überraschenderweise beurteilen Mi der Systembewertung ein überraschend Viele Jugendliche haben aufgrund Rechtsstaaten, sieht eine gleiche Ge- grantenkinder, insbesondere die mit schlechtes Ergebnis: Nur gut jeder dritte mangelnden Wissens Probleme, die währleistung individueller Menschen- türkischen oder kurdischen Eltern, den Befragte sieht sie durchgängig positiv. Trennlinien zwischen Demokratie rechte und eine gleiche individuelle Nationalsozialismus deutlich besser als Fast die Hälfte der Jugendlichen hat ein und Diktatur zu erkennen. Selbstbestimmung.5 (Schaubild 4) ihre Altersgenossen (knapp 13 % bzw. neutrales Bild von dem zwischen 1949 knapp 16 % positive Urteile). Jugendli- und 1990 existierenden Teilstaat. Ein Bewertung der Ergebnisse che mit Eltern aus dem Nahen Osten negatives Bild von der Bundesrepublik Die Systembewertungen der Schüler votieren sogar mit knapp 18 % positiv vor der Wiedervereinigung haben gut sind aber insgesamt und vergleichend über den Nationalsozialismus. 15 %. Kinder mit BRD-Eltern sehen die- betrachtet zumindest für eine Mehrheit Ein durchgängig positives Urteil ses System deutlich positiver als die mit Demokratie eingestuft.4 eindeutig: Nationalsozialismus und über die DDR gibt gut jeder zehnte DDR-Eltern. Einige Schüler kannten es Die Ergebnisse der Fragen, auf wel- DDR schneiden deutlich negativer als Schüler ab und mehr als jeder vierte Ju- überhaupt nicht, sondern glaubten, das chen Feldern die Systeme als gleichwer- die Bundesrepublik vor und nach der gendliche sieht die sozialistische Dikta- wiedervereinigte Deutschland sei direkt tig einzuschätzen sind, bestätigen die Wiedervereinigung ab. Allerdings gibt tur neutral; knapp 63 % haben ein nega- auf den Nationalsozialismus und die Annahme einer unzureichenden Fähig- es starke Minderheiten unter den befrag- tives DDR-Bild. Allerdings macht sich DDR gefolgt. keit zur Differenzierung zwischen De- ten Jugendlichen, die, wenn nicht durch- hier der Einfluss von in der DDR gebore- Das wiedervereinigte Deutschland mokratie und Diktatur bei überraschend gängig gute, so doch einige gute Seiten nen Eltern stark bemerkbar. Von ihren schneidet im Vergleich der Systembe- vielen Schülern. Knapp 40 % der Jugend- an den beiden Diktaturen entdecken. Kindern beurteilen nur gut 50 % die wertungen erwartungsgemäß eindeutig lichen (Migrationskinder: knapp 50 %) Ein durchgängig positives Bild vom DDR negativ, etwa 35 % fällen ein neu am besten ab. Knapp zwei Drittel der können nicht durchgängig zwischen den Nationalsozialismus hat knapp jeder trales und knapp 13 % ein positives Ur- befragten Jugendlichen haben ein posi- charakteristischen Merkmalen und Di- zehnte befragte Schüler und ein neutra- teil (Schüler mit BRD-Eltern: knapp 74 % tives und nur sehr wenige ein durchgän- mensionen von demokratischen und les Bild dieser Diktatur weist etwa jeder negativ, gut 21 % neutral und knapp 6 % gig negatives Bild von dem Land, in dem diktatorischen Systemen differenzieren. vierte auf. Etwa zwei Drittel haben ein positiv) (Schaubild 5). sie leben. Eine breite Mehrheit betrach- Quelle: Schroeder, Klaus / Deutz-Schroeder, Monika /Quasten, Rita /Schulze Heuling, Quelle: Schroeder, Klaus / Deutz-Schroeder, Monika /Quasten, Rita /Schulze Heuling, Dagmar: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Dagmar: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen, Frankfurt / Main 2012, S. 354. Jugendlichen, Frankfurt / Main 2012, S. 372 14 POLITISCHE STUDIEN // 476/2017 476/2017 // POLITISCHE STUDIEN 15
IM FOKUS befragten Migrantenkinder. Sie wissen zwischen den Vorstellungen und Urtei- eine Diktatur hält. Den Nationalsozia- im Durchschnitt besonders wenig, len im Hinblick auf die beiden Bundes- lismus klassifiziert knapp jeder vierte 3. Reich und DDR schneiden NEGATIVER dementsprechend können sie histori- republiken vor und nach der Wiederver- Schüler nicht als Diktatur und ebenfalls als die Bundesrepublik vor und nach sche Sachverhalte noch schlechter ein- einigung deutliche Differenzen. Demzu- jeder vierte hält das wiedervereinigte der Wiedervereinigung ab. schätzen als ihre Mitschüler. Zusam- folge gibt es unter den Jugendlichen kein Deutschland nicht für eine Demokratie. menfassend bewerten sie den National- verbreitetes Bewusstsein für die große Stärker noch als die vergleichsweise sozialismus (gut 40 % positiv oder neu- politisch-institutionelle Kontinuität bei- hohe Zustimmung für eine demokrati- tral) und die DDR (46,5 % positiv oder der Systeme. Für Jugendliche handelt es sche Legitimation der nationalsozialisti- neutral) positiver als der Durchschnitt sich bei der Bundesrepublik vor und schen und der sozialistischen Diktatur und die (alte) Bundesrepublik und das nach der Wiedervereinigung offensicht- überrascht der geringe Anteil der befrag- tet zweifelsohne das wiedervereinigte wiedervereinigte Deutschland dagegen lich um zwei verschiedene (Lebens-) ten Jugendlichen, die die alte Bundesre- Deutschland als „ihr“ Land. Allerdings deutlich negativer als die anderen Schü- Welten. Die Unterschiede, die sie etwa publik für durch demokratische Wahlen fällt das positive Urteil bei Schülern mit ler. Migrantenkinder votieren selbstver- hinsichtlich der demokratischen Legiti- legitimiert halten. Wenn Schüler zu die- BRD-Eltern deutlich höher aus als bei ständlich ebenso wie einheimische mation von Regierungen oder der Ge- sem Urteil gelangen, stellt sich die Frage, denen mit DDR-Eltern oder bei Migran- nicht geschlossen, sondern geben ein währleistung von Meinungsfreiheit was eigentlich im Geschichts- und / tenkindern (knapp 72 %; gut 57 %; mitunter stark differenziertes Urteil ab. empfinden, lassen sich in der Realität oder Sozialkundeunterricht vermittelt knapp 60 %); von nicht einmal der Hälf- So lehnen z. B. nur gut 40 % der Kinder nicht wiederfinden. Insgesamt entsteht wird (Schaubild 7, S. 18). te der Jugendlichen mit DDR-Eltern, die türkischer oder kurdischer Eltern eine der Eindruck, dass die befragten Schü- im Westen zur Schule gehen, erhält das Gleichwertigkeit der Systeme ab, aber ler in den vier Systemen nicht zwei De- Fazit wiedervereinigte Deutschland eine posi- fast 63 % der Jugendlichen mit Eltern mokratien und zwei Diktaturen erken- Zeitgeschichtliche Urteile der Schüler tive Bewertung (Schaubild 6). aus Mittel- und Osteuropa. nen, sondern ein gutes und drei mehr resultieren nicht nur aus dem Schulun- Der Zusammenhang von Kenntnis- Die Systembewertungen der Jugend- oder weniger schlechte Systeme. terricht, sondern sind in etwa gleichem sen und Urteilen zeigt sich auch bei den lichen zeigen insbesondere zwei überra- Der zweite Befund bezieht sich auf Maße Ausdruck privater, zumeist fami- Systemeinschätzungen der knapp 1.500 schende Ergebnisse: Erstens bestehen die Bewertungen des geteilten Deutsch- liärer Gespräche über Zeitgeschichte. lands. Die Differenz zwischen der DDR Eltern und Großeltern erzählen über und der alten Bundesrepublik fällt über- das „gelebte Leben“ und beeinflussen raschend gering aus. Die Gegensätzlich- mehr oder weniger bewusst junge Men- keit der beiden deutschen Teilstaaten schen in ihrem Urteil. Bereits Friedrich Quelle: Schroeder, Klaus / Deutz-Schroeder, Monika /Quasten, Rita /Schulze Heuling, Dagmar: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von auf nahezu allen politischen, wirtschaft- Nietzsche erkannte jedoch, dass Men- lichen und sozialen Feldern ist vielen schen dazu neigen, vornehmlich das Po- Schülern nicht geläufig. So überrascht sitive der Vergangenheit zu erinnern auch nicht, dass knapp jeder zweite die und das Negative zu verdrängen: „Das Jugendlichen, Frankfurt / Main 2012, S. 331, 344, 354 und 365. Bundesrepublik vor der Wiedervereini- habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. gung nicht für eine Demokratie und Das kann ich nicht getan haben, sagt knapp jeder dritte die DDR nicht für mein Stolz und bleibt unerbittlich. End- lich – gibt das Gedächtnis nach.“6 Inso- fern ist die Weichzeichnung diktatori- scher Verhältnisse eher die Regel als die Ausnahme.7 Wenn Jugendliche über Das wiedervereinigte Deutschland kein oder wenig eigenes historisches schneidet im Vergleich der System- Wissen verfügen, wirken die Gespräche bewertungen AM BESTEN ab. in besonders prägender Weise. Bezogen auf die DDR wird ihre diktatorische Di- mension ausgeblendet und die soziale Alltäglichkeit in den Vordergrund ge- 16 POLITISCHE STUDIEN // 476/2017 476/2017 // POLITISCHE STUDIEN 17
IM FOKUS hen oder die „richtige Gesinnung“ zu ner zivilen Gesellschaft, auf die wir zu vermitteln.8 Recht stolz sein können. /// Demokratisches Geschichtsbe- wusstsein insbesondere bei jungen Menschen zu wecken und auszubilden, ist Aufgabe von Politik, Bildungsinstitu- tionen und Medien. Kenntnisse und Wissen um zeithistorische Zusammen- hänge sind hierfür eine unbedingte Vor- aussetzung, die zu vermitteln nicht nur dem Schulunterricht, sondern auch der Gedenkkultur obliegen. Hier spielen /// P ROF. DR. KLAUS SCHROEDER Narrative – mündlich und / oder schrift- ist Leiter des Forschungsverbundes SED- lich als Familienerzählung und durch Staat der FU Berlin sowie der Arbeits- Zeitzeugen – eine wichtige Rolle. Sie stelle Politik und Technik des Otto-Suhr- vermitteln und interpretieren die Erin- Institutes. nerung an die Vergangenheit und geben auf lebendige Weise insbesondere jun- gen Menschen Auskunft über die kol- Anmerkungen 1 Vgl. Deutz-Schroeder, Monika / Schroeder, Klaus: lektiv geteilten Werte, Normen und Vor- Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild stellungen einer bestimmten Epoche. von Schülern – ein Ost-West-Vergleich, München / Quelle: Schroeder, Klaus / Deutz-Schroeder, Monika /Quasten, Rita /Schulze Heuling, Dagmar: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Stamsried 2008. Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen, Frankfurt / Main 2012, S. 370. Eine Gesellschaft sollte sich nicht 2 Vgl. Schroeder, Klaus / Deutz-Schroeder, Monika / Quas- nur an negativen Erinnerungen9 abar- ten, Rita / Schulze Heuling, Dagmar: Später Sieg der Dik- taturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von rückt. Dies bleibt nicht ohne Folgen für der Gesamtgesellschaft sein. Es bildet beiten, sondern auch positive kollektive Jugendlichen, Frankfurt/Main u. a. 2012. 3 Ursprünglich sollte die Befragung in allen Bundes- das historische und aktuelle Selbstver- die Grundlage von Werten, Interessen, Vergangenheitsbezüge schaffen. An de- ländern erfolgen. Leider lehnten die meisten Län- ständnis einer Gesellschaft. Erwartungen und Handlungen. Somit nen mangelt es weiterhin im vereinten der eine Teilnahme ab. Offenbar befürchteten sie, Um dem durch Nichtwissen gepräg- ermöglicht Geschichtsbewusstsein die Deutschland. „Befreiung“ bzw. „Frei- mit ernüchternden Ergebnissen, mangelndem zeitgeschichtlichen Wissen und schrägen Urteilen ten Urteilen entgegenzuwirken, bedarf Interpretation der Vergangenheit und heit“ könnte ein derartiger positiver Be- konfrontiert zu werden. 4 S chroeder / Deutz-Schroeder / Quasten / Schulze es in der Gesellschaft eines Bewusstseins bietet gleichzeitig Gegenwarts- und Zu- zugspunkt sein. Die unterschiedliche Heuling: Später Sieg der Diktaturen?, S. 368 ff. für (gemeinsame) Vergangenheiten – ne- kunftsorientierung. Befreiung von zwei Diktaturen und die 5 Ebd., S. 371 ff. 6 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse gative, aber auch positive –, die Orientie- Aus der Geschichte lässt sich lernen, dadurch gewonnene Freiheit – im Wes- IV, München 1978, S. 86. rung für Gegenwart und Zukunft geben allerdings nicht ohne grundlegende ten nach der Gründung der Bundesre- 7 Vgl. auch Mitscherlich, Margarete: Erinnern, Ver- können. Ein derartiges Geschichtsbe- Kenntnisse über sie. Historische Kennt- publik, im Osten nach der Wiederverei- gessen und Verdrängen, in: Die Radikalität des Alters, Frankfurt 2010, S.62 f. wusstsein muss Teil des gegenwärtigen nisse sind unverzichtbar und wesentlich nigung – schufen die Voraussetzungen 8 Zum Bildungswert der Historie vgl. auch Kraus, Selbstverständnisses des Einzelnen und für die historische Urteilsbildung. Ohne für die Entstehung und Entwicklung ei- Josef: Der historische Analphabetismus greift um sich, in: FAZ, 21.6.2012. sie sind Bewertungen des historischen 9 S elbstverständlich ist es weiterhin notwendig, die Geschehens lediglich Vorurteile, Kli- Einzigartigkeit des Zivilisationsbruchs durch die Nationalsozialisten und die Menschenrechtsver- schees, Bekenntnis- oder Gesinnungs- letzungen der DDR zu erinnern. Die beiden Dikta- formeln oder öffnen Legenden Tür und turen sollten zudem nicht gleichgesetzt werden. Der gewaltige Unterschied zwischen den Verbre- Die zeitgeschichtlichen Urteile der Tor. Erst die Vermittlung von grundle- Es BRAUCHT mehr und besseres chen des NS- und des SED-Staates darf nicht aus Schüler sind geprägt von außerschu- genden historischen Kenntnissen und historisches Wissen sowie dem Blick geraten: Die DDR hat weder Millionen Menschen nahezu fabrikmäßig umgebracht noch lisch SCHÖNGEFÄRBTEN Erzählungen. der Werte eines freiheitlich-demokrati- Geschichtsbewusstsein. entfesselte sie einen Weltkrieg. Die rechtstotalitä- schen Gemeinwesens konstituiert ein re Diktatur war zudem „hausgemacht“, die links- totalitäre fremdbeherrscht. Weder dürfen die nati- Geschichtsbewusstsein, das mehr ver- onalsozialistischen Verbrechen relativiert noch mag, als nur Fakten aneinander zu rei- das Unrecht im SED-Staat banalisiert werden. 18 POLITISCHE STUDIEN // 476/2017 476/2017 // POLITISCHE STUDIEN 19
IM FOKUS /// Wer ist das Volk? ODER: WAS IM WANDEL BESTEHEN Quelle: mauritius images / imageBROKER / Jochen Tack UND VOR DEM VERGESSEN BEWAHRT WERDEN MUSS HEINRICH OBERREUTER /// Wenn die Herrschaft im Staat wie ehedem in der DDR ihre ohnehin schüttere Legitimität verspielt hat, ist die Parole „Wir sind das Volk“ nachvollziehbar, selbst wenn sie seinerzeit nicht von jedermann geteilt wurde. Diese Parole aber für eine beliebige Protestdemonstration in Anspruch zu nehmen, ist Protest, Opposition, Ausdruck der Meinungsvielfalt … aber nicht Volkes Stimme! anmaßend. Warum? Weil die Legitimität dieser Demokratie außer Zweifel steht, weil ihre Normen selbst das Recht auf Kritik und Protest einräumen, und weil Gegensätze in Richtungs- wie Detailentscheidungen längst keine Situation begründen, in der wegs nur die regierende Mehrheit. Dem Wir bewegen uns im Kernbereich – im Kern revolutionär – „das“ Volk gegen „die“ Macht aufsteht. gehen in der Gesellschaft die Freiheit der Demokratie, besser, des demokrati- der Gedanken und die Freiheit, sie aus- schen Verfassungsstaats. Denn worauf zusprechen, voraus, also auch das beruht das ihn tragende Prinzip der legi- Recht, Unsinn zu reden und zu denken, timen Vielfalt? Es beruht auf der in „Das“ Volk? Volk heißt Pluralität und zu wählen. Menschenwürde und Menschrechten Wir haben es in jüngster Zeit mit einer Es mag befremdlich klingen, ist aber gründenden Freiheit des Individuums. Bewegung zu tun, deren Sympathisan- Volk heißt PLURALITÄT. doch banal: Der Grundrechtschutz un- Daraus folgt alles andere – liberale, offe- ten sich im Wesentlichen gesellschafts- tersagt dem Staat, Qualitäten von Mei- ne Gesellschaft, Staatsordnung und po- politisch herausgefordert oder unbehag- nungen zu bewerten, er gewährleistet litische Willensbildung. Pluralismus ist lich fühlen, die aber weder „die“ Politik, vielmehr ihre öffentliche Äußerung. Der also alles andere als wertrelativistisch. noch gar „das“ Volk repräsentieren. Für bewertende, streitige Diskurs kommt Wenn aber über die Identität der „das“ Volk kann solch eine Bewegung aber sehr wohl der Gesellschaft zu. Rede Deutschen – wieso eigentlich nicht? – schon deswegen nicht stehen, weil sie sein. Real existiert es nur in seiner Viel- und Gegenrede haben uns letztlich auch diskutiert werden soll, dann gehören selbst in sich höchst heterogen ist. Da- falt, solange man ihm nicht ideologische aktuell das vielfältig differenzierte Volk mit ist sie freilich wie das Volk. Einheitlichkeit aufzwingt. In seiner vor Augen geführt. Wenn die Meinungs- Denn die Frage „Wer ist das Volk?“ Vielfalt wird es auch politisch repräsen- freiheit für die freiheitliche Demokratie lässt sich nur mit Blick auf dessen Plura- tiert. Dafür steht etwa, vom Bundesver- „schlechthin konstituierend“ ist, ist die lität beantworten. Exakt aus dieser Plu- fassungsgericht so definiert, zentral die Erwartung durchaus verständlich, diese Vielfalt ist NICHT wertrelativistisch. ralität erwächst wiederum die Kritik an Oppositionsfreiheit, weil selbstver- Freiheit möge informiert und rational solchen Bewegungen wie PEGIDA. Das ständlich auch Opposition dem Volk ausgeübt werden. Gleichwohl ist diese Volk mag eine staatsrechtliche Größe gleichberechtigt Ausdruck gibt, keines- Erwartung oft genug eitel. 20 POLITISCHE STUDIEN // 476/2017 476/2017 // POLITISCHE STUDIEN 21
IM FOKUS nicht nur Geschichte, Kultur und Spra- nen, ist ebenso wenig neu. Gerade die Abbildung 1: Vertrauen der Bürger in die politischen Parteien che dazu. Zu dieser Identität gehört Demokratie beruht auf aktueller Legiti- auch jener schmale Grundkonsens über mitätsgewinnung durch Kommunikati- Menschwürde und Freiheit, ohne den es on. Wie soll auch ohne sie Vertrauen keine Vielfalt gäbe. Wir sehen, dass ein gewonnen werden? Teil unserer Gesellschaft, herausgefor- dert durch andere Kulturen, sich vor- nehmlich in dem findet, was er nicht will und nicht sein möchte. Zu wissen, Quelle: European Commission was man nicht will, führt aber keines- KOMMUNIKATION ermöglicht wegs zu einem positiven Konsens und Integration und Selbstentfaltung. sei er noch so schmal. Wer Identität, wer Patriotismus verteidigt, muss stets die Menschwürde mitdenken. Solange er das tut, kann er kaum ein Extremist sein. Tut er es nicht, verlässt er den Bo- den unseres Verfassungsverständnisses. Dessen Verfall erleben wir seit etwa Zugespitzt könnte man sagen: Er bür- zwei Jahrzehnten in allen liberalen De- gert sich aus. Und: Wer zu uns kommt, mokratien, nicht zuletzt in Europa mit hat Anspruch auf humanen Respekt. rechter und linker Populismusresonanz Aber umgekehrt hat dieses Gemein- in den Parteiensystemen, übrigens in Abbildung 2: Mitgliederentwicklung CDU und SPD seit 1990 wesen auch einen Anspruch auf Respek- weit größerem Umfang als in Deutsch- tierung seiner eigenen wertgebundenen, land in Frankreich, Österreich, Belgien, Diagramm1tel 1200 säkularen Freiheitsordnung. Deren De- Niederlande, Dänemark, England, Itali- montage, die Demontage von Pluralität, en, Spanien, Griechenland usw. Zynis- 1.022 ist niemandem erlaubt, weder zugewan- mus und Verachtung gegenüber der poli- 991 997 987 1000 derten, noch einheimischen Extremis- tischen Elite „within the beltway“, die 954 926 913 943 ten. Aber ich kann auch nicht erkennen, also innerhalb des Washingtoner Auto- 875 886 847 847 dass die Anregung zur Integration in bahnrings agiert, sind z. B. gerade auch 820 818 779 776 diese Freiheitsordnung eine Zumutung in den USA seit langem tief verwurzelt – 800 736 733 790 755 710 718 wäre, solange Pluralismus selbst nicht nicht erst seit Trump. Auch in Großbri- 701 685 678 751 Mitglieder in Tausend 650 719 730 714 651 als Zumutung empfunden wird – wie tannien gibt es Vertrauensbrüche zwi- 607 612 634 647 675 693 677 714 685 606 589 633 658 von Fundamentalisten jeglicher Cou- schen „London“ und dem Land, 600 652 632 638 561 SPD 590 604 521 CDU leur. Das heißt, auch Integrierte werden und entsprechende Vertrauenseinbrüche 587 572 502 477 531 537 460 zum Volk gehören. Und „das“ Volk wird kennen wir hierzulande ebenso. Grund- 521 490 442 433 467 444 sich um Nuancen verändern – wie je. legende Veränderungen der Politik, ihre 400 457 423 432 zunehmende Komplexität (Internationa- 360 356 Kommunikation stiftet Legitimität lisierung, Globalisierung, Euro- und Fi- 245 254 329 304 288 286 Es ist eine alles andere als neue Erkennt- nanzkrise, Systemumbrüche) und damit 200 244 248 220 nis, dass Kommunikation der Kitt ist, verbundene Erklärungs- und Verständ- 210 der ein zuträgliches Maß gesellschaftli- nisschwierigkeiten sind dafür verant- cher Integration bewirkt, der im Grunde wortlich, Kommunikationsdefizite also. 0 auch eine Selbstentfaltung des Individu- Antibewegungen und Antiparteien 1946 1948 1950 1952 1954 1956 1958 1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 ums ermöglicht. Dass Kommunikati- zogen daraus Nutzen. Hierzulande herr- Quelle: Eigene Darstellung, Daten: Niedermayer, Oskar: Parteimitglieder in Deutschland: Version 2017. Arbeitshefte aus dem Otto- onsdefizite Politikkrisen bewirken kön- schen schon seit einer ganzen Weile An- Stammer-Zentrum, Nr. 27. 22 POLITISCHE STUDIEN // 476/2017 476/2017 // POLITISCHE STUDIEN 23
IM FOKUS tistimmungen. Was in jüngster Zeit aus- Abbildung 4: Fähigkeiten der Abgeordneten gebrochen ist, ist keineswegs neu. Neu ist aber die Artikulations- und Organi- Die Bürger bringen ihren sationsbereitschaft. Das kritische Bild zunehmenden VERTRAUENSVERLUST von den Eliten „within the beltway“ lie- in die Politik und die Parteien fert uns einen Erklärungsansatz wie zum Ausdruck. gleichermaßen das Bild von der Bonner Käseglocke oder der Berliner Glaskup- pel, welche den Politik- und Medienbe- trieb überwölben. Es ist der Unterschied zwischen den „Ins“ und „Outs“, zwi- schen „Oben“ und „Unten“, zwischen Als sich die Mitgliederzahlen von elitär abgehobenem Establishment und CDU und SPD im Absturz schnitten, „einfachen“, in ihren Interessen sich ver- ließ sich die Vorsitzende der CDU zu der nachlässigt fühlenden Bürgern. Es ist erstaunlich analysearmen Bemerkung wie im Westen nach 1968, aber ohne die hinreißen, ihre Partei sei jetzt auf Augen- damalige Ideologie, eine Systemkritik, höhe mit der SPD angekommen. Umge- die das politische Personal, Institutio- kehrt: Als in der alten, kleineren BRD nen und auch die traditionellen Medien die Parteien mehr als 2 Millionen Mit- einschließt. Sie alle verdienen nach die- glieder hatten und über 90 % der Wahl- ser Sicht kein Vertrauen. (Abb. 1, S. 23) berechtigten sich an Wahlen beteiligten, Den politischen Parteien wird es seit war in der Politikwissenschaft die These jeher entzogen, in jüngster Zeit aber be- von der Legitimationskrise en vogue. Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen in Deutschland bis 2017 Quelle: Thomas Petersen: Die Sehnsucht nach politischer Orientierung, in: FAZ v. 23.5.2012. sonders heftig, sowohl allgemein als Auch das politische Führungspersonal Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen in Deutschland von 1949 bis auch speziell, wie sich im Absturz der steht in keinem gutem Ruf, weder bezüg- 2017 Mitgliederzahlen der Volksparteien seit lich seiner Gemeinwohlfähigkeit noch sei- Abbildung 5: Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen seit 1949 1990 zeigt (ohne dass die kleineren den ner (intellektuellen, kommunikativen, po- Trend umkehren). (Abb. 2, S. 23) litischen) Fähigkeiten. (Abb. 3 u. 4, S. 25) 95 91,1 90,7 88,6 89,1 90 87,8 87,7 86,8 86,7 Abbildung 3: Abgeordnete als Interessenvertreter der Wähler 86 84,3 85 82,2 78,5 79 79,1 80 77,8 77,7 Wahlbeteiligung in Prozent 76,2 75 71,5 70,8 70 65 Quelle: FAZ v. 18.05.2016, S. 8. 60 55 50 '49 '53 '57 '61 '65 '69 '72 '76 '80 '83 '87 '90* '94 '98 '02 '05 '09 '13 '17 Jahre von 1949 bis 2017 Quelle: Statista, Der Bundeswahlleiter/ Statistisches Bundesamt 24 POLITISCHE STUDIEN // 476/2017 Hinweis: Deutschland 476/2017 // POLITISCHE STUDIEN 25 Weitere Angaben zu dieser Statistik, sowie Erläuterungen zu Fußnoten, sind auf Seite 8 zu finden. Quelle: Bundeswahlleiter ID 2274
IM FOKUS Abbildung 6: Abbildung 7: Ergebnisse der Landtagswahlen 2016 in Baden-Württemberg, Zeichnen die Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt Medien ein zutreffendes Bild der Flüchtlinge? Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 11049 Die Daten signalisieren eine System- Bekanntlich hat die AfD bei den Quelle: Der Landeswahlleiter Baden-Württemberg distanz, die sich auch in der rapide ge- Nichtwählern besonders mobilisiert sunkenen Wahlbeteiligung nieder- und eine erhebliche Anzahl an die Ur- schlägt. Deren Anstieg unter skeptischer nen zurückgeholt. Dies ist an sich er- Distanz im Bund 2013 (0,7 %) und 2017 freulich, aber nicht als Resonanz auf die (4,7 %) dürfte auch auf die Kandidatur von ihr vertretenen Inhalte. Gleichwohl der AfD zurückzuführen sein, die die, hat sie vielen Bürgern das Gefühl ver- Abbildung 8: Wahlergebnis der Landtagswahl Baden-Württemberg 2016 in Wahlabstinenz Abgeglittenen wieder mittelt, mit ihren Positionen wieder ge- umgerechnet auf Wahlberechtigte mobilisierte. (Abb. 5, S. 25) hört zu werden.1 Und dennoch ist die Nach verbreiteter Ansicht sprach die (äußerst heterogene) Gruppierung der AfD vernachlässigte Themen an und Nichtwähler in allen drei Ländern im überbrückte dadurch Kommunikations- Vergleich zu den politischen Parteien Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg defizite. Letztere führten auch zu einem umgerechnet auf die Wahlberechtigten Vertrauensentzug gegenüber den Medi- en. (Abb. 6) Offensichtlich befindet sich die Legi- timität stiftende Kommunikation in der Krise. Ihre Promotoren in Politik und Die AFD hat sowohl Nicht- als auch Medien haben Schwierigkeiten, viele Wechselwähler mobilisiert. Teile des Volkes überzeugend zu errei- chen. Dies zeigen mit dem Aufstieg der AfD, der vielleicht trotz der absoluten Höhe in den neuen Bundesländern in den eigentlich stabilisierten „alten“ Bun- desländern doch überraschend er- die jeweils größte geblieben, bei der scheint, die drei Landtagswahlen im Bundestagswahl 2017 ist sie gleichstark März 2016, erst recht die Bundestags- wie die stärkste Partei. (Abb. 8, S. 27, wahl 2017. (Abb. 7, S. 27) Abb. 9 und 10, S. 28) 26 POLITISCHE STUDIEN // 476/2017 476/2017 // POLITISCHE STUDIEN 27
IM FOKUS Abbildung 9: Wahlergebnis der Landtagswahl Rheinland-Pfalz 2016 umgerechnet auf Wahlberechtigte Große Vorsicht ist angebracht mit Ex- Die Daten zeigen, Unzufriedenheit tremismus- und Nazismusvorwürfen. Sie und Vertrauenseinbrüche verteilen sich werden von denen erhoben, deren Kom- im Parteiensystem durchaus mit Schwer- munikations- und Gestaltungsversäum- punkten, aber keineswegs nur auf der nisse Segmente unserer Gesellschaft in konservativen oder „rechten“ Seite. den hier belegten Skeptizismus getrieben Typisch für die Bewusstseinslage des haben, eine Art Selbstverteidigung durch kritischen Potenzials ist die Auskunft Diffamierung also, welche die Gefahr in zahlreicher AfD-Wähler, u. U. eine sich birgt, erst recht Distanz der Skepti- Wahl der CSU in Erwägung gezogen zu ker zu den Etablierten zu provozieren. haben, hätte diese nur in ihrem Land Denn die AfD hat ja nicht nur von frühe- kandidiert. Dass dieser Wert in Rhein- ren Nichtwählern profitiert, sondern von land-Pfalz am höchsten ist, spricht Bän- CDU, SPD, Grünen, Linken und dem de über die dortige Kommunikations- Rest, wenn auch in unterschiedlichem und Wahlkampfführung der CDU und Ausmaß. Greifen wir hierzu Baden- deren bundespolitische Implikationen. Württemberg heraus, nicht weil es be- (Abb. 12, S. 30) sondere Akzente setzte, sondern weil es Ignorieren und Dämonisierung sei- von den drei Ländern am meisten mit tens der klassischen Parteien haben die- Bürgerlichkeit und Wohlstand gesegnet se Wählerpotenziale nicht einge- Quelle: Infratest dimap ist und deswegen weniger „verführbar“ schränkt. Ganz im Gegenteil haben sie erschien. (Abb. 11) deren Einschätzung, nicht ernst- und Abbildung 10: Wahlergebnis der Landtagswahl Sachsen-Anhalt 2016 umgerechnet auf Wahlberechtigte Abbildung 11: Wählerwanderung von und zu der AfD bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 13. März 2016 Quelle: Infratest dimap Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg 28 POLITISCHE STUDIEN // 476/2017 476/2017 // POLITISCHE STUDIEN 29
IM FOKUS Abbildung 12: AfD-Wähler: “Es wäre gut, wenn man die CSU auch hier wählen könnte.” man muss keineswegs alles verstehen (Zustimmung in %) wollen“, aber im gleichen Atemzug dem Vorsitzenden der SPD die zuhörende, Es braucht kommunikative Demo- unscheinbare Präsenz bei einer Dresd- kratie, die fortwährende DISKURSIVE ner Debatte der Landeszentrale für poli- Überzeugungsarbeit leistet. tische Bildung zu PEGIDA verübelt.3 Als ob es nicht auch ein Signal sein könnte zuzuhören, wo der Vorwurf er- hoben wird, die Politik höre nicht mehr zu, ein Signal, das durchaus zur Diffe- renzierung zwischen der „widerwärti- ausmacht, nämlich, über die kommuni- gen Minderheit“ von „Nazis, Hooli- kative Demokratie hinaus, eine wertge- gans, Fremdenfeinden und ähnlichem bundene politische Ordnung, die aus völkischen Volk“4 und den Enttäusch- der Würde des Menschen und der dar- ten und Entfremdeten beigetragen ha- aus folgenden individuellen Entfal- ben könnte. tungsfreiheit samt aller Chancen und Nach den Untersuchungen der Risiken, die diese Freiheit birgt, erfolgt. Dresdner Kollegen 5 grenzen diese sich Das ist die Maxime für alle politische ohnehin von Rechtsextremen und Hoo- Ordnung und für alle, die sich am poli- ligans ab. Allerdings genau diesen eine tischen Leben dieses Landes beteiligen Quelle: Infratest dimap Kulisse für dramatische kommunikative wollen. Zu verstehen und zu bewahren Resonanz gegeben zu haben, ist ande- ist die „säkulare Freiheitsordnung“6 von rerseits zu Recht zu kritisieren. Denn weltanschaulicher Neutralität (aber blinde oder auch opportunistische Mit- nicht Wertneutralität!). Im Gegensatz wahrgenommen zu werden, nur bestä- sche Theologe und Bürgerrechtler Fried- läuferei bei Radikalen überbrückt Grä- zu weltanschaulichen Zwängen eröffnet tigt. Bevor er auf die Straße drängte, rich Schorlemmer. Aber gehören diese ben nicht, und es entwertet in der öf- sie die Chance zur Pluralität. Deswegen hatte sich der Furor gegen etablierte Po- „Idioten“ nicht auch zum Volk? Und fentlichen Resonanz die eigene Position. z. B. die Trennung von Religion und Po- litik und Medien „längst online“ formu- sind sie nicht grundsätzlich einen Argu- Die Radikalen demaskieren, die Besorg- litik bzw. Staat. Was in Klöstern und liert, simplifizierend, diffamierend, aber mentationsversuch wert? Verfassungs- ten und Enttäuschten informieren – das Moscheen geglaubt wird, besitzt keinen Sorgen und Ängste von Bürgern aufgrei- rechtlich jedenfalls ist effektive Aus- ist die Aufgabe politischer Führung an- öffentlichen Herrschaftsanspruch. Die- fend, welche „die“ Politik ignorierte, die grenzung nur ein Mittel gegen explizite gesichts derartiger Bewegungen. Vor ser schmale, eine individuelle und öf- sich gelegentlich auch als alternativlos Verfassungsfeinde und es liegt in den Jahrzehnten habe ich den Begriff „kom- fentliche Entfaltungsfreiheit des Indivi- und erklärungsschwach darstellte.2 Händen der Justiz. Im Alltag sollte man munikative Demokratie“ geprägt. Sie duums gewährleistende Basiskonsens Das alles rechtfertigt nicht dumpfe zumindest abwägen, ob Ausgrenzung verlangt diskursive Überzeugungsar- definiert allein das Maß allgemeiner Fremdenfeindlichkeit und Islamopho- von Mitbürgern im Namen der Toleranz beit, fortwährend, nicht nur jetzt ange- Verbindlichkeit in einem offenen, demo- bie. Es scheint aber doch nach Kommu- und des Respekts vor Andersdenkenden sichts besonderer (vermeidbarer?) Her- kratischen Rechtsstaat. Öffentliche nikation zu verlangen, denn man kann prinzipiell ein logisches Instrument ist ausforderungen und auf allen Themen- Wirksamkeit, politische Repräsentati- in einer zivilisierten Gesellschaft derlei und ob sie nicht Gräben zusätzlich ver- feldern, nicht nur bei Zuwanderung und on, verlangen seine Beachtung. Primitivitäten nicht unbearbeitet lassen tieft. Integration. Normative Orientierungen können oder übergehen. Angela Merkel hat z. B. Ist das bloßstellende Argument sich immer nur auf einen relativ schma- jüngst gesagt, wir wüssten zu wenig nicht angemessener? Anscheinend Zur Irreversibilität der säkularen len Grundkonsens richten. In der Tat über den Islam – ein Appell an Nachar- meint das z. B. auch der Chefredakteur Freiheitsordnung verläuft die zentrale Scheidelinie zwi- beit und besser informierten Diskurs. der Süddeutschen Zeitung, Kurt Kister Das Fazit von all dem ist, dass wir im schen Pluralismus und Antipluralismus, Nur zu! „Man muss nicht mit jedem Idi- der schreibt, man müsse „mit ihnen de- Gespräch halten müssen, was uns histo- wobei Pluralität nicht wertneutral, son- oten reden“ sagt dagegen der evangeli- battieren, man muss mit ihnen streiten, risch und nach leidvollen Erfahrungen dern das wohl wichtigste Strukturprin- 30 POLITISCHE STUDIEN // 476/2017 476/2017 // POLITISCHE STUDIEN 31
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