Pro 4 | 2016 - pro Medienmagazin

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Pro 4 | 2016 - pro Medienmagazin
pro    Christliches Medienmagazin
                                                          4 | 2016
                                               www.pro-medienmagazin.de

                                       Aufstand
                                im Kinderzimmer
                                   Warum sich „Tyrannenkinder“
                                        nach Erziehung sehnen

Wolfgang Thierse          Pokémon Go           Cristiano Ronaldo
          SPD-Politiker           Kleine                  Fußball-Star
          sorgt sich              Monster                 teilt seinen
          um die                  machen                  Reichtum
          Demokratie              süchtig
Pro 4 | 2016 - pro Medienmagazin
EDITORIAL

Liebe Leserin, lieber Leser!
Kinder sind etwas Wunderbares! Es ist ein Wunder, wie ein
Mensch entsteht, und ein Privileg, ein Kind beim Aufwachsen
begleiten zu dürfen. Gleichzeitig ist das anstrengend, heraus-
fordernd – und manchmal auch überfordernd. Wie oft kom-
men Eltern an den Punkt, an dem sie sich fragen: Was läuft
hier falsch? Und was kann ich tun, um meinem Kind die rich-
tigen Werte in der richtigen Art und Weise weiterzugeben?
                                                                                                                          32
Mehr als je leben Eltern heute in einer Spannung zwischen
Anforderungen im Beruf, gesellschaftlichen Erwartungen und
                                        den eigenen Ansprü-
                                        chen bei der Kinder-
                                        erziehung. Gleichzei-
                                        tig stellen Psychologen
                                        und Pädagogen fest,
                                        dass es Kindern immer
                                        schwerer fällt, sich über
                                        längere Zeit zu konzen-
trieren, sich an Regeln zu halten oder auch Mitgefühl mit an-
                                                                                                                          43
deren Menschen zu empfinden. Für die Titelgeschichte dieser
Ausgabe des Christlichen Medienmagazins pro hat unsere Re-
dakteurin Swanhild Zacharias mehrere Experten dazu befragt,         Inhalt                                                  2
wo die Gründe für diese Entwicklung liegen und wie wir Er-          Meldungen                                               4
wachsenen den Kindern zu einem verantwortungsvollen Leben           Leserbriefe                                            13
verhelfen können.                                                   Kolumne: prost!                                        43

Der Pädagoge Wilhelm Faix hat uns gesagt: Entscheidend ist,         PäDAg Og I K
dass Eltern Zeit mit ihren Kindern verbringen. Das hat mich an      Titel: Kleiner Tyrann im Haus
Jesus erinnert. Er hatte selbst keine Kinder. Aber er stellte sie   Warum Kinder erzogen werden wollen                      6
in die Mitte, „herzte sie“, suchte ihren Blickkontakt, nahm sich    Titel: „Zeit für die Kinder ist entscheidend“
Zeit für sie. „Lasset die Kinder zu mir kommen“, sagte er zu sei-   ... sagt der Pädagoge Wilhelm Faix im Interview         9
nen Jüngern. Wir möchten nicht nur Eltern ermutigen, sich die-
sen Satz zu eigen zu machen. Kinder sind kleine, faszinierende      P OLI T I K
Menschen, die Gott uns anvertraut hat.                              Mit Gebet und Bibel durch den US-Wahlkampf
                                                                    Wie sich die Kandidaten der US-Präsidentschaftswahl
Auf bewegende Weise verdeutlicht das auch die Lebensge-             als Christen präsentieren                         14
schichte von Bernd Hocks: Er wurde mit verkürzten Armen
geboren. Er heiratet eine nicht-behinderte Frau und sie wün-        g eSeLLS Ch AFT
schen sich Kinder – trotz des Risikos einer vererbten Behinde-      Gelinde gesagt, getan
rung. Ihr Sohn kommt tatsächlich ohne Arme zur Welt. Wie die        Mit Paulus für ein freundliches soziales Klima         17
Familie damit umgeht, lesen Sie auf Seite 20.

Familie ist auch für den sächsischen evangelischen Landesbi-
schof Carsten Rentzing ein zentrales Thema. Er sieht im Modell
von Vater-Mutter-Kind einen Wert, den er bewahren und för-
dern möchte. Ab Seite 32 lesen Sie in unserem Interview, wa-
rum „konservativ“ für ihn beutet, sich der Zukunft zuzuwen-
den.
                                                                    Bleiben Sie jede Woche auf dem Laufenden! Unser pdf-
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2 pro | Christliches Medienmagazin                                                                                      4 | 2016
Pro 4 | 2016 - pro Medienmagazin
INHALT | IMPRESSUM

                                                                         22                                                                              14

                                           Die Jazz-Sängerin Sarah
                                           Kaiser widmet sich in
                                           ihrem neuen Album der
                                44         Reformation
                                                                                                                                                        28

  „Christen streiten zu viel“                                                      M eD I en
  Über evangelikale, ihre Stärken und Schwächen                            18      Bild-Journalist geht mit Gott
  „Jeder hat seine kurzen Arme“                                                    Wie Daniel Böcking zum glauben kam                                     35
  Familie hock zeigt: ein Leben mit Behinderung                                    Pokémon Go: Schnitzeljagd mit Taschenmonstern
  ist nicht weniger wert                                                  20       Das neue Trend-Spiel ist nicht ungefährlich                            36
  Die Mehrkämpferin Gottes                                                         „Das Internet ist ein globaler Stammtisch“
  eine ehemalige Leistungssportlerin macht als                                     Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse über
  Ordensschwester Furore                                                  22       Talkshows und Social Media                                             38
  Selbstdarsteller mit sozialer Ader                                               Also sprach der Bot
  Fußballstar Cristiano Ronaldo                                                    Im Internet reden nicht nur Menschen                                   40
  hat ein herz für sich und andere                                        26
  Grün und fair steht jedem gut                                                    KU LT U R
  Fair gehandelte Mode aus christlicher Überzeugung                       28       Die Gedanken sind frei
  „Konservativ ist kein Makel“                                                     Was Sängerin Sarah Kaiser alte Lieder bedeuten                         44
  Der sächsische evangelische Landesbischof                                        Musik, Bücher und mehr
  Carsten Rentzing im Interview                                            32      neuerscheinungen kurz rezensiert                                       46

  IMPReSSUM                                                 christlicher
                                                            medienverbund
                                                            kep

  herausgeber Christlicher Medienverbund KeP e.V.                                Lesertelefon (0 64 41) 9 15 171 | Adressverwaltung (0 64 41) 9 15 152
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  Telefon (0 64 41) 9 15 151 | Telefax (0 64 41) 9 15 157                        Internet www.pro-medienmagazin.de
  Vorsitzende Margarete hühnerbein | geschäftsführer Christoph Irion             Satz/Layout Christlicher Medienverbund KeP
  Redaktion Martina Blatt, Moritz Breckner (CvD), nicolai Franz, Daniel Frick,   Druck Dierichs Druck+Media gmbh & Co Kg, Kassel
  elisabeth hausen, Anne Klotz, Michael Müller, norbert Schäfer,                 Bankverbindung Volksbank Mittelhessen eg | Kto.-nr. 40983201, BLZ 513 900 00 |
  Jörn Schumacher, Jonathan Steinert (Planer dieser Ausgabe),                    IBAn De73 5139 0000 0040 9832 01, BIC VBMhDe5F
  Dr. Johannes Weil, Swanhild Zacharias                                          Beilage Israelnetz Magazin (16 Seiten)
  e-Mail info@pro-medienmagazin.de | kompakt@pro-medienmagazin.de                Titelfoto yuryimaging/fotolia

4 | 2016                                                                                                       pro | Christliches Medienmagazin 3
Pro 4 | 2016 - pro Medienmagazin
MELDUNgEN

                                                          Fernsehen und
                                                          Handyvideos: Eine Frage
                                                          der Glaubwürdigkeit
                                                          S    eitdem jeder Handynutzer eigene Videos in Sekundenschnelle live ins
                                                               Internet übertragen kann, hat das Fernsehen seine Vormachtstellung
                                                          verloren, als einziges Medium bewegte Bilder in Echtzeit zeigen zu kön-
                                                          nen. Kai Gniffke, Redaktionsleiter bei ARD-aktuell, sieht das Fernsehen je-
                                                          doch nicht in einem Wettbewerb zu den Videos auf Twitter und Facebook.
                                                          „Schneller als live geht nicht“, sagte er in einem Gespräch mit der Frank-
                                                          furter Allgemeinen Zeitung. Doch müssten die Sozialen Medien im journa-
                                                          listischen Alltag immer „mitgedacht“ werden. „Auch das Fernsehen nutzt
                                                          sie ja“, erklärte Gniffke. „Aber es zeigt auch, was die Funktion von Jour-
Mittendrin und live dabei: nicht immer sind handyvideos   nalismus in der Abgrenzung zu den Sozialen Medien sein muss: zu verifi-
glaubwürdig. Die ARD prüft solche Filme, bevor sie sie
sendet.
                                                          zieren, zu recherchieren, einzuordnen und auszuwählen.“ Derzeit wachse
                                                          das Bedürfnis nach der Dienstleistung von etablierten Medien. Menschen
                                                          suchten nach einer Einordnung von Informationen durch ihnen bekannte
                                                          Institutionen. Daher übernehme die ARD auch nicht bedenkenlos Handy-
                                                          videos aus dem Netz. Eine Verifikationseinheit prüft, ob das vorliegende
                                                          Material authentisch ist. Bestehen Zweifel an der Echtheit, macht die ARD
                                                          das in den Nachrichten deutlich oder verzichtet gar auf das Material. „Un-
                                                          ser Weg wird im Zweifel ein Weg der Zurückhaltung sein. Wir leisten der
                                                          Gesellschaft keinen Dienst, wenn wir einfach draufhalten und in einen
                                                          Wettbewerb um das spektakulärste Bild eintreten“, sagte Gniffke. | anne
                                                          klotz

                  73 prozent
der Teilnehmer einer wissenschaftlichen Studie kamen keine zehn Minuten ohne ihr Handy aus. Wis-
senschaftler der Universitäten Würzburg und Nottingham haben für ein Experiment die Probanden
mit deren Smartphones in einen leeren Raum geschickt mit der Aufgabe, einfach zehn Minuten zu
warten. Die männlichen Teilnehmer schauten im Durchschnitt schon nach 21, die Frauen nach 57 Se-
kunden auf ihr Handy. Der Durchschnittswert lag insgesamt bei 44 Sekunden. Der schnelle Griff zum
Smartphone hängt laut den Wissenschaftlern mit der Angst zusammen, etwas zu verpassen, wenn
sie nicht online sind. „Es ist aber schwierig zu sagen, wo hier Ursache und Wirkung liegen“, sagte
Astrid Carolus von der Universität Würzburg. Die Teilnehmer selbst gingen davon aus, sie hätten zwei
bis drei Minuten ohne Smartphone ausgehalten. „Das Experiment belegt, dass uns viel mehr an die-
sen Geräten liegt, als wir glauben“, erklärte Jens Binder von der Nottingham-Trent-Universität. Den
Zugang zu Information und Interaktion empfänden die Menschen als digitalen Begleiter und Tor zur
Welt. Im Schnitt nutzten die Teilnehmer ihr Gerät knapp fünf Minuten lang. Der Stressfaktor Smart-
phone habe aber keinen Einfluss auf das subjektive Wohlbefinden der Probanden. Die Studie wurde
von dem Softwareunternehmen Kaspersky Lab in Auftrag gegeben. | johannes weil

Foto: bloomua, fotolia

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Pro 4 | 2016 - pro Medienmagazin
MELDUNgEN

                                              Drei Fragen an ...
                                              ... Lars Allolio-Näcke, Geschäftsführer des Kompetenzzentrums für Religion an
                                              der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. Das Zentrum wurde in diesem
                                              Frühjahr gegründet und ist das erste seiner Art. Knapp 50 Wissenschaftler bieten
                                              dort eine Anlaufstelle für Bürger, Verbände, Behörden und Medien, wenn diese
                                              fachliche Fragen zu einer bestimmten Religion haben.
                                              pro: Ist den Deutschen die Kompetenz für Religion abhanden gekommen?
                                              Lars Allolio-Näcke: Das würde ich nicht sagen. Aber natürlich sind die Menschen
                                              mit der eigenen Religion besser vertraut als mit einer fremden. Gerade die Situati-
                                              on der Flüchtlinge zeigt, dass das Wissen über Muslime und deren Glauben nicht
                                              sehr ausgeprägt ist. Im Fastenmonat Ramadan bekamen wir etwa einige Anfragen
                                              zum Thema Fasten. Als die Gastarbeiter nach Deutschland kamen, war der Islam
                                              in der Gesellschaft nicht so präsent. Deutsche hatten nicht so viel Kontakt zu Mus-

                                                                                                                                                                                           Foto: privat
                                              limen. Heute kommen die Menschen daran nicht mehr vorbei. Deswegen ist es
                                              wichtig, dass sie über die Religionen Bescheid wissen.
                                              Wie laufen die Anfragen konkret ab?                                                     Der habilitierte Religionspsychologe Lars Allolio-
                                                                                                                                      näcke ist geschäftsführer des „Kompetenz-
                                              Die Interessenten können aus 50 Wissenschaftlern ihren konkreten Experten aus           zentrums Religion“ an der Friedrich-Alexander-
                                              einem von acht Fachgebieten auswählen. Er beantwortet die gestellte Frage dann          Universität in erlangen. Auf der Internetseite
                                              telefonisch oder schriftlich. Die meisten Anfragen kommen aus der Praxis. Ein           kompetenzzentrum-religion.fau.de können
                                              Arzt wollte etwa wissen, ob im Ramadan eine Akupunktur erlaubt ist. Dies hat die        Interessenten für ihre Fragen mit 50 Wissen-
                                              islamische Theologin Maha El Kaisy ausführlich und theologisch begründet. Die           schaftlern Kontakt aufnehmen.
                                              Vorstellung der Muslime ist, dass man nichts Unreines in den Körper reinbringen
                                              darf. Durch eine Akupunktur wird der Körper aber nicht verunreinigt.
                                              Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Kompetenzzentrums?
                                              Weil in den Medien häufig nicht die besten Antworten zu Fragen über die Religi-
                                              onen gegeben werden, wünschen wir uns, dass das Kompetenzzentrum eine feste
                                              Größe wird. Die Leute sollen wissen, dass sie hier anrufen können und eine kom-
                                              petente Antwort bekommen.
                                              Vielen Dank für das gespräch. | die fragen stellte johannes weil

                                                                                                               Olympioniken erhalten
                                                                                                               geistlichen Beistand
                                                                                                               Z   u den Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro entsenden die Kir-
                                                                                                                   chen Seelsorger zur Unterstützung der deutschen Sportler. Für
Foto: Mario Roberto Durán Ortiz (CC BY 3.0)

                                                                                                               die katholische Kirche sind Diakon Rolf Faymonville und der deut-
                                                                                                               sche Auslandspfarrer in Rio de Janeiro, Georg Pettinger, vor Ort,
                                                                                                               von evangelischer Seite die Pfarrer Thomas Weber und Christian
                                                                                                               Bode. Als Seelsorger sollen die Geistlichen den Athleten jederzeit
                                                                                                               zur Verfügung stehen, Gottesdienste im Athletendorf und im Deut-
                                                                                                               schen Haus anbieten und „für vertrauliche Gespräche“ bereitste-
                                                                                                               hen. Die deutschen Sportler haben auch ein geistliches Begleitheft
                                                                                                               mit dem Titel „Mittendrin“ erhalten, das beide Kirchen gemein-
                                                                                                               sam erstellten. Es ist „als geistliches Trainingsbuch“ gedacht, so
                                              Die Olympischen Sommerspiele finden vom 5. bis zum 21. August    die Herausgeber, und bietet den Sportlern biblische Texte, Gebete
                                              unter den segnenden Armen der Christusstatue in Rio de Janeiro
                                              statt – und mit geistlicher Begleitung von Seelsorgern
                                                                                                               und Meditationen. Außerdem haben die Athleten die Sportlerbibel
                                                                                                               „MORE“ bekommen, herausgegeben von der christlichen Organi-
                                                                                                               sation SRS (ehemals „Sportler ruft Sportler“) in Zusammenarbeit
                                                                                                               mit der Deutschen Bibelgesellschaft. Eine Mitarbeiterin von SRS
                                                                                                               wird in Rio ebenfalls als Ansprechpartnerin für die Athleten vor Ort
                                                                                                               sein. | norbert schäfer

                                              4 | 2016                                                                                     pro | Christliches Medienmagazin 5
Pro 4 | 2016 - pro Medienmagazin
6 pro | Christliches Medienmagazin
Pro 4 | 2016 - pro Medienmagazin
pädagogik

                                                           Übergewichtig, leistungsverweigernd, verhal-
                                                           tensoriginell: Wer der Diskussion um „Tyran-
                                                           nenkinder“ anhängt, sieht häufig schwarz für
                                                           die Zukunft. Müssen wir uns wirklich Sorgen
                                                           um die nachwachsende Generation machen
                                                           oder wird das Thema viel zu heiß gekocht? Eine
                                                           Spurensuche unter Psychologen und Erziehern.
                                                           | von swanhild zacharias

                                                           M
                                                                     ax ist sauer. Er fühlt sich ungerecht behandelt. In der
                                                                     Schule guckt ihn die Lehrerin dauernd streng an und
                                                                     sagt: „Max, ich beobachte dich.“ Oder sie schimpft ihn
                                                           aus. Dabei hat er doch nur seine Milchschnitte aufs Deutschheft
                                                           geschmiert. Und neulich hat ihn Sergejs Mutter vor der Schule
                                                           angebrüllt, er sei gefährlich. Dabei hat er Sergej doch nur eine
                                                           Platzwunde beigebracht, als sie sich stritten. Zum Glück hat
                                                           sich Max‘ Mama dann gleich bei der Direktorin beschwert. Und
                                                           sein Papa hat mit dem Anwalt gedroht. Dann war die Sache er-
                                                           ledigt. Unwohl fühlt Max sich trotzdem und er ist irritiert. Was
                                                           wollen die eigentlich alle von ihm? Er macht doch nur, was sei-
                                                           ner Meinung nach richtig ist.
                                                             Auch Anna fällt in der Schule unangenehm auf. Sie hat im
                                                           zarten Alter von 13 Jahren mit ihren Freundinnen im Gymnasi-
                                                           um einen handfesten Prostitutionsbetrieb eingerichtet, um sich
                                                           ihr Shopping zu finanzieren. Wegen der guten Nachfrage und
                                                           der limitierten Pausenzeiten weiteten die Mädchen ihr Geschäft
                                                           auf den Nachmittag und die elterliche Wohnung aus. Da ist so-
                                                           wieso niemand zu Hause. „Sex ist einfach etwas, auf das die Ty-
                                                           pen stehen und mit dem sich super Kohle machen lässt“, sagt
                                                           Anna.
                                                             Diese Geschichten von Max und Anna beschreibt Psycho-
                                                           therapeutin Martina Leibovici-Mühlberger in ihrem Buch „Wenn
                                                           die Tyrannenkinder erwachsen werden“. Max und Anna stellen
                                                           dabei die Prototypen der jungen Generation dar, wie die Autorin
                                                           sie sieht: Übergewichtig, essgestört, chillbewusst, leistungsver-
                                                           weigernd, verhaltensoriginell und tyrannisch. Die Österreiche-
                                                           rin betreibt eine Praxis in der Wiener Innenstadt und nimmt bei
                                                           ihren Schilderungen kein Blatt vor den Mund. Nicht wenige ih-
                                                           rer kleinen Patienten sind Sprösslinge der Wiener Oberschicht,
                                                           in der Geld kaum eine Rolle spielt.
                                                             Materiell lebten diese Kinder häufig im Überfluss, schreibt sie.
                                                           Es fehle aber eine gute Eltern-Kind-Beziehung. Aus dem „Erzie-
                                                           hungsmodell“ sei ein „Begleitmodell“ geworden. Den Eltern sei
Viele Kinder werden heutzutage zu kleinen Tyrannen erzo-   es wichtiger, von ihren Kindern als „Kumpel“ wahrgenommen
gen, behaupten einige Psychologen. Stimmt das wirklich?    zu werden anstatt als Autoritätsperson. Die Eltern wollten, dass
                                                           sich das Kind „entfaltet“ und möglichst viel ausprobiert, ohne
                                                           jedoch die Konsequenzen des eigenen Handelns tragen zu müs-
                                                           sen, erklärt Leibovici-Mühlberger. Kinder seien für viele Eltern
                                                           heute „ein Objekt, das man sich aus persönlichen Motiven an-
                                                           geschafft hat“.
Foto: Rachel, lightstock

4 | 2016                                                                            pro | Christliches Medienmagazin 7
Pro 4 | 2016 - pro Medienmagazin
pädagogik

kinder einer „erkalteten gesellschaft“                           keit und soziale Inkompetenz. Die Kinder verfügten nicht über
                                                                 eine altersgemäße Psyche, könnten zum Beispiel ihre eigenen
Mit der Einschulung, spätestens aber ab dem Besuch einer wei-    Bedürfnisse nicht zurückstellen und die Gefühle anderer nicht
terführenden Schule sei für die Kinder Schluss mit dem „sich     wahrnehmen und einordnen. Vielen Jugendlichen fehle später
Ausprobieren“. Dann würden gute Noten und positives Auftre-      der eigentlich normale Antrieb, „Ich-Leistungen“ zu erbringen,
ten erwartet. Das Kind hingegen wisse damit nicht umzugehen,     also sich selbst in Schule und Berufsleben weiterentwickeln zu
habe es doch nie Ausdauer, Durchhaltevermögen oder Sozial-       wollen. Stattdessen seien sie lustorientiert und es komme ih-
kompetenz trainiert. Der Nachwuchs fühle sich überfordert,       nen nur darauf an, ihre Bedürfnisse unmittelbar zu befriedigen.
unverstanden durch die neuen Ansprüche, die an ihn gestellt
werden, und komme im Schulalltag nicht zurecht. Enttäusch-       kritik: Empirische Belege fehlen
te Eltern, aufmüpfige und widerspenstige Kinder seien die Fol-
ge. Die Bindung in der Familie, die sowieso nie sehr eng gewe-   Beide Psychiater sind überzeugt, dass die Tyranneien der Kin-
sen sei, bröckele weiter. Der Nachwuchs suche sich stattdessen   der ein Hilferuf an die Eltern sind: „Erzieht uns endlich!“ Ist
Gleichgesinnte in seinem Alter, auf die er Bedürfnisse wie das   die Lage tatsächlich so ernst? Oder übertragen Winterhoff und
nach Orientierung überträgt, die eigentlich die Eltern stillen   Leibovici-Mühlberger ihren Praxisalltag zu Unrecht auf die ge-
sollten. Das Problem: Die etwa gleichaltrigen Bezugspersonen     samte junge Generation? Und sind wirklich hauptsächlich die
befänden sich selbst noch in der Pubertät und seien kaum reif    Eltern schuld?
genug, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Leibovici-          Kritik an Winterhoffs Thesen gab es in den vergangenen Jah-
Mühlberger berichtet von zwei-                                                               ren häufig. Seine Thesen seien „po-
felhaften Mutproben wie Koma-                                                                pulistisch“ und entbehrten jegli-
saufen oder einem Pokerspiel
mit aus dem häuslichen Arznei-            „In einer                                          cher empirischer Belege, meinte
                                                                                             Stern-Autorin Doris Scheyink. In
schrank geklauten Tabletten,
das im Krankenhaus endete.            multikulturellen                                       seinem Artikel „Wir sind keine Sor-
                                                                                             genkinder“ schrieb Martin Spie-
  Sie zieht besorgniserregende
Schlüsse aus ihren Beobach-           Gesellschaft ist                                       wak in der Wochenzeitung Die Zeit,
                                                                                             der Arzt stütze sich ausschließlich
tungen: Anna und Max seien
die „Protagonisten einer erkal-     Frustrationstoleranz                                     auf Fälle seiner eigenen therapeu-
                                                                                             tischen Arbeit und generalisiere die-
teten Gesellschaft, die ihre Kin-
der instrumentalisiert und be-       das, was man am                                         se: „Das ist etwa so, als schriebe ein
                                                                                             Gefängnisdirektor ein Buch über die
trügt“. Die heranwachsende Ge-
neration sei später als erwachse-   meisten braucht. Ich                                     Moral der Gesellschaft und führte
                                                                                             als Nachweis die Verbrechenskar-
ne nicht in der Lage, die Zukunft
zu gestalten. „Die Alten werden    muss aushalten können,                                    rieren seiner Häftlinge an.“ Auch
                                                                                             gegenüber pro äußerten verschie-
auf diese junge Generation nicht
mehr zählen können.“ Ange-          dass andere anders                                       dene Psychologen, die Thesen von
                                                                                             Leibovici-Mühlberger und Winter-
sichts der demografischen Ent-
wicklung sei das ein Problem.          leben als ich.“                                       hoff seien unhaltbar. Zitiert werden
                                                                                             wollten sie jedoch nicht.
  Der Kinder- und Jugendpsy-                                                                    Der Erziehungswissenschaftler Al-
chiater Michael Winterhoff stellt                                                            bert Wunsch teilt grundsätzlich die
ähnliche Thesen zur nachwach-                                                                Sorge um die nachwachsende Gene-
senden Generation auf. Er ist unter anderem Autor des Buches     ration, weist aber darauf hin, dass nicht pauschalisiert und der
„Warum unsere Kinder Tyrannen werden“. Auf das bezieht sich      Blick nicht zu stark auf bestimmte Phänomene gerichtet wer-
Leibovici-Mühlberger zwar nicht ausdrücklich, ein Anklang an     den dürfe. „Wir dürfen nicht vergessen, dass ein großer Teil der
Winterhoffs Aussagen ist aber zu finden. Der Psychiater prägte   jungen Menschen mit Optimismus und Engagement ins Leben
mit seinen Thesen die Rede von „Tyrannenkindern“: Das Kind       startet.“ Wunsch ist Dozent an der FOM – Hochschule für Öko-
werde von den Eltern wie ein kleiner Erwachsener und damit       nomie und Management in Essen und an der Heinrich-Heine-
als Partner behandelt; damit sei das Kind überfordert. Außer-    Universität in Düsseldorf. In seinem Buch „Die Verwöhnungs-
dem entwickele der Erwachsene ein übermäßiges Bedürfnis,         falle“ beschäftigt er sich mit der Frage, wie Kinder zu mehr Ei-
vom Kind um jeden Preis geliebt zu werden. Eltern begäben        genverantwortlichkeit erzogen werden können.
sich dadurch in eine Abhängigkeit von ihrem Kind. Aus diesen
Punkten folge, dass das Kind Macht und Kontrolle über die El-    kinder fördern und fordern
tern ausübe und sie zwinge, sich komplett nach seinen Wün-
schen und Bedürfnissen auszurichten – daher der Begriff „Ty-     Der jungen Generation möchte Wunsch die Schuld für ihr Ver-
rannenkinder“.                                                   halten nicht geben. Er sieht das als Folge von geringeren Le-
  Erwachsene seien ihren Kindern damit kein angemessenes         bensanforderungen und „lascher Erziehung“. Auch dass jun-
Gegenüber, kritisiert Winterhoff. Stattdessen kompensierten      ge Menschen heute weniger Verpflichtungen und Aufgaben
sie mit ihrem Verhalten eigene Defizite. Wie auch Leibovici-
Mühlberger beobachtet er als Folge daraus Beziehungsunfähig-     Lesen Sie weiter auf Seite 11                                >>

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Pro 4 | 2016 - pro Medienmagazin
pädagogik

„Zeit für die Kinder
ist entscheidend“
Die individualisierte und sich               pro: Was ist wichtig, damit Kinder zu
stets im Wandel befindende                   verantwortungsvollen und sozialkom-
                                             petenten Persönlichkeiten heranwach-
Gesellschaft stellt Eltern vor               sen können?
Herausforderungen, wenn                      Wilhelm Faix: Die Grundlage dafür ist
es um die richtige Erziehung                 und bleibt die Eltern-Kind-Beziehung
ihrer Kinder geht. Der Pädago-               verbunden mit einer wahrgenommenen
                                             elterlichen Autorität von der Geburt bis
ge und Theologe Wilhelm Faix                 zum jungen Erwachsenenalter. Das wird
erklärt, warum es dabei vor                  an den Beispielen im Buch von Leibovici-
allem auf die Zeit ankommt,                  Mühlberger auch sehr deutlich beschrie-
die Eltern mit ihren Kindern                 ben. Soziale Kompetenz wird im Mitei-
                                             nander des Familienalltags gelernt. Lei-
verbringen. | die fragen                     der erwartet die gegenwärtige Gesell-
stellte swanhild zacharias                   schaft diesbezüglich wenig von den El-
                                             tern, man setzt fast ausschließlich auf
                                             Fremdbetreuung – und das ist ein Trug-
                                                                                          Foto: Rachel, lightstock

                                             schluss.
                                             Müssen Eltern in Erziehungsfragen um-
                                             denken?
                                             Ein Umdenken ist in der Hinsicht not-
                                             wendig, als dass man erkennt, dass Fa-
                                             milie, Erziehung und alle Inhalte über                                  Eine gute Eltern-Kind-Beziehung ist die
                                                                                                                     Grundlage für eine gesunde Entwicklung
                                             eine gesunde psychische Entwicklung                                     des Kindes, sagt Pädagoge Wilhelm Faix
                                             gelernt werden müssen. Jeder bildet sich
                                             heute beruflich fort. Aber kein Mensch
                                             kommt auf die Idee, dass Eltern das auch    psychischen Problemen beim Kind füh-
                                             brauchen. Es ist überhaupt keine Selbst-    ren. Ganz wichtig ist die Gestaltung des
                                             verständlichkeit mehr, dass Eltern erzie-   Familienlebens. Dabei geht es um die
                                             hen oder Familie gestalten können, weil     Tagesstruktur, Rituale, Regeln und Kon-
                                             Elternsein lediglich eine Option unter      sequenzen. Auch gemeinsame Freizeit-
                                             vielen anderen ist. Es werden zwar viele    gestaltung – vorlesen, miteinander re-
                              Foto: privat

                                             unterschiedliche Kurse – bis hin zum El-    den, spielen, lachen, streiten, arbeiten,
                                             ternführerschein – angeboten, aber die      etwas unternehmen – und gemeinsame
                                             werden nur von wenigen Eltern in An-        Mahlzeiten sind wichtig für ein Kind und
  Wilhelm Faix ist Dozent für Päda-          spruch genommen, weil das gesellschaft-     für das Miteinander. Ein gemeinsames
  gogik und Psychologie am Theolo-           liche Bewusstsein dafür fehlt. Die Fami-    Abendritual hilft bei der Entschleuni-
  gischen Seminar Adelshofen. Neben          lienpolitik vermittelt uns, dass für die    gung nach einem stressreichen Tag –
  seiner Dozententätigkeit ist der Vater     Erziehung am besten professionelle Er-      auch den Eltern. In der Apostelgeschich-
  von drei erwachsenen Kindern auch          zieher in Kita, Kindergarten und Schule     te lesen wir: „Sie blieben beständig in
  in der Ehe- und Erziehungsberatung         zuständig sind, was ich für eine Fehlent-   der Gemeinschaft“ (Kapitel 2,42). Das gilt
  tätig. Er ist Autor verschiedener Bü-      wicklung halte.                             auch für die Familie. Damit sind wir bei
  cher in den Bereichen Pädagogik und        Was müssen Eltern konkret in Sachen         der Frage Familie und Beruf. Es ist ein Irr-
  Praktische Theologie. Zusammen mit         Erziehung lernen?                           tum zu glauben, dass Familie und Beruf
  Dr. Siegfried Bäuerle veröffentlichte      Die Bindungsforschung zeigt, dass ein       ohne weiteres vereinbar sind. Das stän-
  er vor kurzem den Erziehungsaufruf         Kind von Geburt an eine sichere Bindung     dige Gerede, dass Kinder viel kosten, ist
  „Christen, kümmert euch mehr um            braucht, um ein gesundes psychisches        dabei keine Hilfe. In unserer Wohlstands-
  Familie und Erziehung“.                    Leben aufzubauen. Die Vernachlässi-         gesellschaft müssen Eltern lernen, um
                                             gung der Eltern-Kind-Beziehung kann zu      der Kinder willen zu verzichten.

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Pro 4 | 2016 - pro Medienmagazin
PäDAgOgIk

Die     Psychotherapeuten      Martina        hat. Dazu gehört sehr viel Mut und Ehr-
Leibovici-Mühlberger und Michael Win-         lichkeit. Jede Verhaltensstörung des Kin-
terhoff zeichnen ein sehr negatives           des hat einen Grund. Die alles entschei-
Bild der jungen Generation: Egoistisch,       dende Frage ist, wie viel Zeit Eltern für
sozial inkompetent, lustorientiert, kein      ihr Kind haben, besonders die Väter. Wie-
Durchhaltevermögen, keine Frustrati-          viel Zeit nimmt sich der Vater, um Sorgen
onstoleranz. Sehen Sie die Entwick-           und Probleme seines Kindes anzuhören?
lungen auch so dramatisch?                    Macht die Familie miteinander Unterneh-
Sowohl Leibovici-Mühlberger als auch          mungen, kann man zusammen spielen
Winterhoff sprechen aus ihrer therapeu-       und lachen? Da wird dann oft deutlich,
tischen Praxis. Das ist natürlich immer       dass der Wille zwar da ist. Praktisch wird
zugespitzt. Die Beispiele, die sie bringen,   aber vieles nicht umgesetzt – zum Bei-
vermitteln dann den Eindruck: So sind         spiel aus Zeitgründen.
alle. Das kann man natürlich nicht pau-       Welche Unterschiede fallen Ihnen auf,
schalisieren. Ich finde es aber wichtig,      wenn Sie verschiedene Elterngenerati-
dass man hinhört, was die beiden zu sa-       onen miteinander vergleichen? Haben
gen haben. Wir dürfen ihre Feststellungen     sich Werte, Moralvorstellungen und
nicht ignorieren, das wäre fahrlässig.        Prinzipien gewandelt?
Als Folge fehlender Sozialkompetenz           Ein grundlegender Unterschied ist, dass
und fehlender Bindung zu den Eltern           in der Vergangenheit die Wertvorstel-
befürchtet Leibovici-Mühlberger, dass         lungen vom Staat vorgegeben waren und
die junge Generation später nicht in          eingefordert wurden. Heute sind die Fra-
der Lage sein wird, für die Alten zu          gen, die das Familienleben angehen, der
sorgen. Aufgrund des demografischen           Familie selbst überlassen. Es steht Eltern
Wandels sei das ein großes Problem.           frei, nach welchen Werten sie ihr Leben
Teilen Sie diese Sorge?                       und ihre Erziehung ausrichten und ob sie
Ja, die teile ich. Allerdings nicht in der    diese Werte auch leben. In dieser indivi-
Weise, dass die nachfolgende Genera-          dualisierten Gesellschaft sind viele El-
tion nicht mehr für die Alten sorgt. Die-     tern nicht in der Lage, das alleine zu be-
se Zuspitzung halte ich für etwas proble-     wältigen. Die Gesellschaft steht in einem
matisch. Unter anderem deswegen, weil         ständigen Veränderungsprozess. Damit
die gesellschaftliche Situation immer im      ist die Gefahr verbunden, dass man die
Wandel ist. Ich sehe vielmehr die narziss-    Vergangenheit glorifiziert und die Ge-
tische Gesellschaft als Problem. Die Men-     genwart als Verfall bezeichnet. Das ist
schen drehen sich immer mehr um sich          nicht hilfreich. Man muss fragen, was die
selbst. Dadurch werden das Miteinander        neuen Herausforderungen sind gegen-
und das Füreinander-da-sein immer we-         über denen der Vergangenheit. Denn ei-
niger. Hier sehe ich ein grundsätzliches      nen Idealzustand in der Erziehung gab es
Problem. Die psychischen Störungen wer-       noch nie. Diese Verantwortung zu über-
den außerdem immer mehr zunehmen.             nehmen, ist das, worauf es ankommt.
Die „Tyranneien“ der Kinder seien ein         Das ist schwierig. Daran scheitern die
Hilferuf: „Erzieht uns endlich!“, meint       meisten Eltern.
Leibovici-Mühlberger.                         Unterscheiden sich die Erziehungsme-
Das sehe ich auch so. Jede Verhaltensauf-     thoden und Orientierungen von christ-
fälligkeit ist immer auch ein Schrei des      lichen und nicht-christlichen Familien?
Kindes: Helft mir doch. Die große He-         Christliche Eltern stehen vor den glei-
rausforderung dabei ist, wie diese Hilfe      chen Herausforderungen wie andere El-        Immer mehr Kinder seien
aussehen kann.                                tern, etwa bei Fragen zur gesellschaft-      verhaltensauffällig, leistungsver-
Was sind Ansatzpunkte für Eltern, die         lichen Entwicklung im Hinblick auf Be-       weigernd und sozial inkompetent,
einen kleinen „Tyrannen“ zu Hause             ruf und Familie und Zeiteinteilung. Dazu     schreibt Psychiaterin Martina Lei-
haben und das Gefühl haben, mit dem           kommt, dass wir eine Milieu-Gesellschaft     bovici-Mühlberger in ihrem Buch
Kind nicht zurechtzukommen?                   geworden sind. Die Sinus-Milieu-Stu-         „Wenn die Tyrannenkinder erwach-
Man muss natürlich die Situation vor          die zeigt, dass christliche Familien am      sen werden“. Verantwortlich für die
Ort im Detail besprechen. Aber ein all-       stärksten im bürgerlichen Milieu veran-      Fehlentwicklungen sei eine falsche
gemeiner Hinweis wäre, dass Eltern ih-        kert sind. Und das bürgerliche Milieu im     Erziehung von Seiten der Eltern,
ren Lebensstil und ihren Familienalltag       säkularen Bereich hat etwa die gleichen      Schulen und Kitas.
überdenken sollten. Sie müssen sich fra-      Wertvorstellungen wie Christen in ihrem      160 Seiten, 21,90 Euro, Edition a,
gen, was im Familienleben dazu beiträgt,      Milieu.                                      ISBN 9783990011386
dass sich ein kleiner Tyrann entwickelt       Vielen Dank für das Gespräch!

10 pro | Christliches Medienmagazin                                                                                      4 | 2016
Kinder müssen lernen, die Konsequenzen ihres Handelns zu
                           tragen. Davor sollten Eltern sie nicht bewahren, empfehlen
                           Pädagogen.
Foto: Rachel, lightstock

                           >>
                                                                           „Es ist keine                                     Eltern müssen Eltern sein

                           hätten, als es vor 30 oder 50 Jah-
                           ren der Fall gewesen sei, spiele
                                                                      Selbstverständlichkeit                                 Wunsch bestätigt Leibovici-Mühl-
                                                                                                                             berger und Winterhoff, wenn sie
                           dabei eine Rolle. „Heute höre ich
                           von Eltern von Jugendlichen, dass
                                                                        mehr, dass Eltern                                    fordern, Kinder müssten ihre Frus-
                                                                                                                             trationstoleranz intensiver trainie-
                           ihre Kinder noch nie eine Wasch-
                           maschine bedient haben und auch
                                                                        erziehen können.“                                    ren: „In einer multikulturellen Ge-
                                                                                                                             sellschaft ist Frustrationstoleranz
                           keine Aufgaben im Haushalt über-                                                                  das, was man am meisten braucht.
                           nehmen müssen.“ Schon in der                                                                      Ich muss aushalten können, dass
                           Grundschule werde häufig keine Disziplin mehr eingeübt, wenn        andere anders leben als ich.“ Mit Grenzen und Konsequenzen
                           zum Beispiel das Trinken während des Unterrichts erlaubt sei,       leben zu können, sei ebenfalls essenziell. Eltern dürften Kinder
                           anstatt die Kinder daran zu gewöhnen, das in den Pausen zu          nicht vor allen Konsequenzen des eigenen Handelns bewahren
                           tun. Und: „Ein Kind, was regelmäßig zur Schule gefahren wird,       – sofern keine unmittelbare Gefahr bestehe. Man solle das Kind
                           lernt nicht laufen“, kritisiert der Erziehungswissenschaftler.      zum Beispiel ausprobieren lassen, im Winter ohne Winterklei-
                             Trotz vielfältiger Bemühungen, die Talente ihrer Kinder aus-      dung rauszugehen, meint der Pädagoge. „Wenn Kinder aus ei-
                           zuschöpfen, förderten Eltern sie häufig nicht in den richtigen      genen Erfahrungen lernen, dass etwas gut war, machen sie es
                           Bereichen. „Ein Sprachtherapeut sagte mir, dass seine Pati-         öfter. Wenn es schlecht war, lassen sie es.“ Je intensiver ein Kind
                           enten zu 90 Prozent Kinder sind, die nicht richtig sprechen kön-    die Erfahrung mache, bei Grenzüberschreitungen in Problem-
                           nen, weil ihre Eltern keine klare deutsche Sprache mit ihnen        zonen zu geraten, desto besser lerne es, Grenzen zu akzeptie-
                           sprechen und sich auch viel zu wenig mit ihnen unterhalten“,        ren. Bestrafungen seien für Kinder deswegen auch äußerst sel-
                           sagt Wunsch. Viele Kinder lernten heute zudem nicht mehr            ten nötig. „Eltern müssen begreifen, dass sie Eltern sind und
                           schwimmen, weil Eltern seltener mit ihnen ins Schwimmbad            sich nicht alles gefallen lassen müssen“, fordert Wunsch des-
                           gingen. Das bestätigt auch die Deutsche Lebens-Rettungs-Ge-         halb. Ein Kind tyrannisiere auf Dauer nie von sich aus. Die Vo-
                           sellschaft (DLRG): Die Hälfte aller Viertklässler könne heutzu-     raussetzung für dieses Verhalten gäben die Eltern. „Das Kind
                           tage nicht schwimmen.                                               muss mehrmals die Erfahrung gemacht haben, dass es mit Ty-
                             Mit Schuldzuweisungen hält sich Wunsch aber zurück, „da-          ranneien weiter kommt.“ Die elterliche Haltung, das Kind mei-
                           mit habe ich als Christ Probleme“, sagt er. Lieber spreche er       ne es doch nicht so, verstärke das tyrannische Verhalten des
                           von „Ursachen und Wirkungen“. Nicht nur Kitas beeinflussten         Kindes.
                           die Erziehung heute stärker, weil viele Kinder dort einen Groß-
                           teil ihrer Zeit verbrächten. Auch die vielfältigen Botschaften in   Die Sehnsucht nach Erziehung
                           den Medien und in der Werbung wirkten sich auf das Verhalten
                           der Kinder aus. „Wir haben heute viel mehr stille und laute Mit-    Dass die Verhaltensauffälligkeiten vieler Kinder das Bedürfnis
                           erzieher als früher.“                                               nach Halt und Orientierung ausdrücken, fand eine Studie des

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PäDAgOgIk

Magazins Stern im vergangenen Jahr heraus. „Die Kinder erle-           in der Schule zählten, keine Hausaufgaben zu machen, rein-
ben ihre Welt zunehmend als labil und brüchig. Auch über ei-           zureden, sich in der Klasse zu schlagen, sich untereinander zu
ner noch intakten Familie schwebt das Damoklesschwert einer            beschimpfen und zu versuchen, andere Kinder mit in Streite-
möglichen Trennung“, erklärte Stephan Grünewald, Leiter des            reien hineinzuziehen. Auch wenn es diese Auffälligkeiten frü-
Rheingold-Instituts, das die Studie durchführte, nach der Veröf-       her auch gegeben habe – jetzt kämen sie deutlich häufiger vor
fentlichung. Kinder bräuchten wieder Eltern, die ihre Elternrol-       und mehr Schüler machten dabei mit. „Ich muss richtig rödeln,
le annehmen, eine klare Position beziehen und ihre Kinder Kin-         damit ich in den fünften Klassen als Autorität wahrgenommen
der sein lassen, ist das Fazit der Untersuchung.                       werde“, sagt die 60-Jährige. „Nach einer Doppelstunde bin ich
  Für die Studie, die im Stern anschließend den Titel „Eltern,         manchmal genauso fertig wie nach sechs Stunden Unterricht
erzieht uns!“ erhielt, wurden 28 Mädchen und Jungen im Alter           am Stück.“
zwischen acht und 15 Jahren intensiv über ihr Leben befragt.             Eine Herausforderung seien dabei oft die Eltern, die zum Bei-
Die Kinder mussten auf Fragen antworten wie: Was macht dich            spiel nicht einsähen, dass ihr Kind in zu knapper Kleidung in
glücklich? Was setzt dich unter Druck? Was genießt oder ver-           der Schule erscheine. Es sei auch nicht ungewöhnlich, dass
misst du? Wie fühlst du dich in der Welt? Diese Gespräche wur-         mit dem Anwalt gedroht werde, wenn die Ansichten der Leh-
den mit 200 weiteren Interviews mit Kindern und Eltern der vo-         rer nicht denen der Eltern entsprächen. Nicht selten seien El-
rangegangenen zwei Jahre abgeglichen. Die Studie zeigt, dass           tern zudem der Meinung, die Lehrer seien für die Erziehung zu-
Kinder heute mehr denn je zur Ausdrucksform ihrer Eltern ge-           ständig. Auch mit dem Durchhaltevermögen mancher Kinder
worden und viele Eltern verunsichert sind, wie sie ihrem Kind          sei es nicht weit her. Am Wandertag fünf Kilometer zu wandern,
richtig gegenübertreten. Der Nachwuchs solle „vorzeigbar“              schafften nur die wenigsten. „Denn sie werden ja zur Schule ge-
sein, brillieren und gleichzeitig uneingeschränkt Kind sein dür-       fahren und wieder abgeholt. Die bewegen sich gar nicht mehr.“
fen, heißt es.
  Das Gefühl der Kinder, ihre Lebensordnung sei labil, rühre da-       Es ist nicht alles schlecht
her, dass sie mindestens im Freundeskreis Scheidungen der El-
tern oder Patchworkfamilien kennenlernten. Durch veränderte            Die Lehrerin fordert aber, das Problem differenziert zu sehen.
Rollenbilder von Mann und Frau seien für viele Kinder außer-           Jedes Kind müsse individuell betrachtet werden. Sie sieht die
dem Ansprechpartner und Zuständigkeiten in der Familie nicht           Verhaltensauffälligkeiten vor allem als ein Problem einer sich
klar. Eltern würden daher als „nicht verlässlich“ erlebt. Als Fol-     immer schneller verändernden Gesellschaft mit diversen He-
ge dessen bestätigt die Untersuchung das, was Leibovici-Mühl-          rausforderungen. „Kinder sind früher reif und Eltern sind sehr
berger aus ihrer Praxis berichtet: Die Kinder suchen Zusammen-         stark multi-tasking-mäßig eingebunden“, sagt sie. Viele Mütter
halt in ihren Cliquen und Freundeskreisen. Orientierung für            wollten und müssten heute schon früh nach der Geburt ihrer
große und kleine Entscheidungen gäben nicht mehr die Eltern,           Kinder wieder in den Beruf einsteigen. Beide Elternteile seien
sondern vor allem die Gleichaltrigen.                                  durch die Arbeit oft sehr eingebunden, sagt die Mutter von zwei
                                                                       erwachsenen Söhnen, die sich in einer Kirchengemeinde enga-
„Ich muss rödeln, damit ich als Autorität                              giert.
gelte“                                                                   Es sei jedoch falsch, den Eltern allein die Schuld zu geben. Es
                                                                       sei zum Beispiel nicht leicht, als Eltern mit einer „Generation
Dass diese Entwicklung zu einem Problem für den Arbeitsmarkt           Smartphone“ konfrontiert zu sein und selbst dafür noch keine
werden kann, fand die Ausbildungsumfrage 2016 des Deutschen            Vorbilder aus früheren Generationen zu haben. Eine besondere
Industrie- und Handelskammertages (DIHK) heraus. Mehr als              Herausforderung stelle auch die Unterhaltungsindustrie mit ih-
11.000 Unternehmen äußerten sich zu ihren Erfahrungen mit              ren diversen Angeboten dar: „Die bindet Kinder ganz stark.“ Die
Auszubildenden. Das Ergebnis zeigt, dass die Belastbarkeit,            heutige Kindergeneration verhalte sich deshalb grundlegend
Disziplin und Leistungsbereitschaft vieler junger Menschen ab-         anders als die vor zehn Jahren: „Sie wollen nicht mehr auf der
nimmt. Fast die Hälfte der Betriebe sind mit der Belastbarkeit         Straße spielen, nur noch vor ihrem PC sitzen.“ Wer heute Leh-
der Jugendlichen unzufrieden. 2006 waren das 39 Prozent. 58            rer werden wolle, müsse am besten vorher als Pfadfinder oder
Prozent kritisieren außerdem die mangelnde Leistungsbereit-            in der Brennpunkt-Arbeit tätig gewesen sein. Denn: „Es geht
schaft, zuvor waren das 53 Prozent. Bei der Disziplin stellten 48      nicht mehr nur um Wissensvermittlung, sondern ganz viel um
Prozent der Unternehmen Mängel fest im Gegensatz zum Jahr              das Vermitteln sozialer Kompetenz.“ Und da brauche man ei-
2006, als dies 38 Prozent so einschätzten.                             nen „langen Atem“.
  Eine Lehrerin aus Mittelhessen, die namentlich nicht ge-               Ab und zu macht sie aber auch positive Erfahrungen. „Ich
nannt werden möchte, beobachtet ebenfalls, dass heute mehr             treffe manchmal ehemalige Schüler, die in der Schule sehr
Kinder als zu Beginn ihres über 20-jährigen Schuldienstes              schwierige Kandidaten waren, die sich aber mittlerweile ganz
verhaltensauffällig sind. In einer Klasse von 27 Kindern seien         positiv entwickelt haben.“ Sie seien oft nicht wiederzuerken-
das bei ihr derzeit fünf. Sie unterrichtet an einer Integrierten Ge-   nen.
samtschule in der Mittelstufe. An der Schule habe sich der Be-           Zu diesen Kandidaten gehören in zehn Jahren hoffentlich auch
reich der Erziehungshilfe stark ausgeweitet: Speziell geschulte        Max und Anna, wenn sie ins Berufsleben starten. Wünschen wir
Kollegen arbeiten mit auffälligen Kindern regelmäßig in einem          ihnen bis dahin, dass ihre Eltern den Mut haben, ihnen richtige
besonderen Trainigsraum. Sie lernen dort, über ihr Verhalten           Eltern zu sein. Und einige Annas und Maxe sind wahrscheinlich
nachzudenken, und überlegen gemeinsam mit dem Trainer,                 weder essgestört noch chillbewusst oder leistungsverweigernd,
was sie falsch gemacht haben könnten. Zu den Auffälligkeiten           sondern durchleben einfach die Pubertät.

12 pro | Christliches Medienmagazin                                                                                            4 | 2016
LESERbRIEfE

Leserreaktionen zu pro 3/2016                                                                           pro-Lesertelefon
                                                                                                        (0 64 41) 91 51 71

zu: „Peter Hahne                            und damit dann im Nachrichtenmagazin         zu: „Nicht perfekt,
regt sich auf“                              Der Spiegel wochenlang unter den Top-        aber vollkommen“
                                            Ten bleibt?! Man muss Hahne ja nicht
In der Rezension „Peter Hahne regt sich     mit Samthandschuhen anfassen oder            Die Reportage stellt den Geigenbauer Mar-
auf“ schreibt der Autor kritisch über       auf einen Sockel heben – aber ihn und        tin Schleske vor, der in seinem Handwerk
Hahnes Buch „Finger weg von unserem         sein Buch mit ein paar Sätzchen in dem       Bilder findet, die das menschliche Leben,
Bargeld“.                                   angeblichen „Mehr Evangelium in den          Beziehungen und Gott beschreiben.
                                            Medien“-Blatt so „abzumeiern“, das ge-
Beim Lesen Ihrer Zeilen meint man wo-       hört sich nicht.                             Der Artikel ist das Beste, was ich bisher
möglich, dass es sich nicht sehr loh-       Otto Bubeck, per E-Mail                      in pro gelesen habe. Der Geigenbau-
nen würde, das Buch zu lesen. Jedoch                                                     er Martin Schleske besitzt eine große
nennt Peter Hahne gerade die Themen         Ich wundere mich sehr, dass pro sich zu      Weisheit im Umgang mit Menschen,
beim Namen, die viele Menschen aktu-        so einer einseitigen, negativen Buchbe-      was er durch den Geigenbau gelernt
ell beschäftigen. Er wagt es, Gedanken      urteilung hergibt. Hahnes neues Buch         hat. Ich denke da vor allem an die Zei-
aufzuschreiben, die viele Menschen tei-     zeigt durch die enormen Verkaufszahlen,      len: „Wer sich Zeit nehme, auf das Ge-
len, aber wegen „politischer Korrekt-       dass er den Nerv unserer Zeit trifft. Er     gebene – das Holz oder die Eigenschaf-
heit“ nie wagen würden, so klar auszu-      kritisiert zu Recht die Ansätze zu neuen     ten und Persönlichkeiten eines Men-
sprechen. Und diese Themen, wie jetzt       (gottlosen) Gesellschaftsformen und eine     schen – zu hören, sich auf dessen ganz
bezüglich der Volkswagen-Diesel-Pro-        schwache Kirche, verweist aber umso          individuelle Eigenheiten, seine Fasern,
blematik, sind ja nicht immer diesel-       mehr auf eine Neubesinnung auf Jesus         einzulassen, könne einen Menschen
ben, insofern hat Peter Hahne in die-       Christus. Er tut etwas, was eigentlich die   zum Klingen bringen. Und nicht etwa
sem Buch viel Neues vorgebracht. Ich        Kirche tun sollte. Von diesem Anliegen       ihn benutzen, um die eigenen Ziele zu
möchte das Buch wärmstens empfeh-           Hahnes ist aber keine Spur in der Buch-      erreichen.“
len, vor allem auch als Lektüre zum         besprechung. Schade!                         Siegfried Ledwon, Feilitzsch
Wachrütteln und zum Weitergeben an          Adolf Hägel, Bobengrün
Menschen, die wir zum Glauben einla-                                                     zu: „Keine Angst
den möchten.                                zu „Eine gestörte                            vor Muslimen“
Petra Pientka, Iserlohn                     Beziehung“
                                                                                         In seinem Buch „Keine Angst vor dem Is-
Beim Christustag in Leinfelden rissen       Ein seinem Buch „Mainstream – Warum          lam“ möchte der amerikanische Autor
sich die Leute um Hahnes Buch. Nen-         wir den Medien nicht mehr trauen“ er-        Patrick Nachtigall Vorurteile und Äng-
nen Sie mir einen Autor, der das bringt     gründet der Journalist und Sozialwissen-     ste von Christen gegenüber Muslimen ab-
                                            schaftler Uwe Krüger die Vertrauenskrise     bauen.
                                            zwischen Medien und Publikum.
                                                                                         Wir brauchen keine Angst vor Musli-
Zu jeder Ausgabe erreichen uns viele Le-    Mir fehlt auch der investigative Journa-     men zu haben, denn wir haben mit dem
serbriefe und E-Mails. Aus Platzgründen     lismus, der sich eingehend mit einem         Herrn Jesus Christus den einzigen Kö-
können wir nur eine Auswahl davon in        Sachverhalt auseinandersetzt, so wie         nig, dem alle Mächte zu Füßen liegen
gekürzter Fassung abdrucken. Dies bein-     das Herr Kleber vom ZDF in der Sende-        werden. Und alles, was in dieser Welt
haltet keine Wertung oder Missachtung.      reihe über atomare Rüstung getan hat,        geschieht, muss an unserem Vater, dem
Wir freuen uns in jedem Fall über Ihre      indem er Originalplätze besucht und          einzig heiligen und lebendigen Gott,
Zuschriften. Und wenn Sie lieber telefo-    Leute interviewt hat. Kaum jemand stellt     vorbei. Jeder, der sich durch Gottes Geist
                   nieren, wählen Sie die   hierzulande kritische Anfragen, z.B. an      leiten lässt, braucht keine Angst zu ken-
                   nummer unseres Le-       Saudi-Arabien, das gleich von Beginn         nen, denn er weiß sich unter dem Schutz
                   sertelefons. Anrufe zu   an die Rebellen von Assad logistisch         des Allmächtigen geborgen. Weil aber
                   dieser Ausgabe beant-    und finanziell unterstützt hat. Aber den     die Muslime, wie aber auch viele andere
                   wortet pro-Redakteur     Folgen, die in unschuldigen Flüchtlin-       Mitmenschen, den Herrn Jesus nicht als
                   norbert Schäfer.         gen zutage getreten sind, zeigt man die      den einzigen König aller Welt anerken-
Christliches Medienmagazin pro              kalte Schulter, obwohl man die Infra-        nen, sollten wir Mitleid mit all diesen
Postfach 1869 | 35528 Wetzlar               struktur hätte, um 100.000 Flüchtlinge       Menschen haben, die für die Ewigkeit
leserbriefe@pro-medienmagazin.de            unterzubringen und zu versorgen. Aber        verloren gehen, und ihnen durch unser
Lesertelefon: (0 64 41) 91 51 71            das überlässt man lieber sogenannten         Leben den einzigen Weg zur Ewigkeit im
Telefax: (0 64 41) 91 51 57                 „christlichen“ Ländern.                      Himmel weisen.
                                            Dieter Loest, per E-Mail                     Reinhard Bahr, per E-Mail

4 | 2016                                                                                 pro | Christliches Medienmagazin 13
POLITIk

        Mit Gebet und Bibel
      durch den US-Wahlkampf
         In den USA kann niemand Präsident werden, ohne sich zum christlichen Glauben zu
         bekennen. Auch die Demokratin Hillary Clinton und der Republikaner Donald Trump,
          die sich im November zur Wahl stellen, äußern sich mehr oder weniger klar dazu –
         sicherlich nicht ohne politisches Kalkül. Die Wähler sind von der Religiosität beider
                       Kandidaten nicht wirklich überzeugt. | von ansgar graw

E
       r sammelt Bibeln, die er nach eige-         Beide sind Protestanten, die darum        der sich im November auf dem Ticket der
       nen Worten in großer Zahl von An-         kämpfen, Präsident eines Landes zu wer-     Republikaner fürs Weiße Haus bewerben
       hängern geschickt bekommt. Und            den, in dem die christliche Religion im-    wird, 2012 dem Sender Christian Broad-
obwohl er, Donald Trump, nicht jede              mer noch die Kultur prägt, auch wenn die    casting Network: „Ich denke, Religion ist
Briefsendung aufbewahren könne, „wür-            Bindekraft ein wenig abnimmt: Donald        eine wunderbare Sache. Ich denke, meine
de ich auf keinen Fall eine davon weg-           Trump, der Bibelsammler, bekennt sich       Religion ist eine wunderbare Religion.“
werfen, nein, ich würde nie irgendwas            zum presbyterianischen Glauben, der ur-       Hillary Clinton, die Betende, gehört der
Negatives mit einer Bibel machen, darum          sprünglich schottischen Variante der re-    methodistischen Kirche an, für die so-
behalten wir alle diese Bibeln“.                 formierten Kirche. Er habe „über die Jah-   ziales Engagement wichtiger ist als der
  Sie bekennt sich augenzwinkernd zum            re eine gute Beziehung zur Kirche aufge-    Disput um theologische Feinheiten. Ihr
gelegentlichen Stoßseufzer: „Oh Herr,            baut“, sagte der Immobilienmilliardär,      Glaube leite sie, so die Kandidatin der
warum hilfst du mir nicht, abzuneh-
men?“, und versichert, deutlich ernst-
hafter, der Versuch der Kommunikation
mit Gott via Gebet sei ihr wichtig, und das
habe sich seit ihrer Kindheit nicht geän-
dert, sagt Hillary Clinton.

Präsidentschaftskandidat Donald Trump
findet seine christliche Religion „wunderbar“.
Mit Bibelwissen konnte der Republikaner
bislang jedoch nicht aufwarten.

14 pro | Christliches Medienmagazin                                                                                           4 | 2016
politik

                                                                                                      den USA weiterhin nicht führen. John F.
                                                                                                      Kennedy hatte 1960 immense Schwie-
                                                                                                      rigkeiten, weil er, der Katholik, nicht als
                                                                                                      „echter Christ“ angesehen wurde; und
                                                                                                      Kennedy musste darum per Statement
                                                                                                      versichern, er kandidiere als Amerikaner,
                                                                                                      nicht als Katholik, und er werde als Präsi-
                                                                                                      dent gänzlich ungebunden sein in seinen
                                                                                                      Entscheidungen. Und noch 2008 muss-
                                                                                                      te Barack Obama, der den Mittelnamen
                                                                                                      „Hussein“ trägt und als Kind einige Jahre
                                                                                                      in Indonesien zur Schule gegangen war,
                                                                                                      mit viel Energie gegen das Gerücht kämp-
                                                                                                      fen, er sei Muslim. Zudem trat er nach ei-
                                                                                                      ner erbitterten Kontroverse aus der Trini-
                                                                                                      ty United Church in Chicago aus, weil de-
                                                                                                      ren pensionierter Pastor Jeremiah Wright
                                                                                                      in mehreren Predigten angedeutet hatte,
                                                                                                      die Terroranschläge auf das World Trade
                                                                                                      Center 2001 seien eine gerechte Strafe für
                                Hillary Clinton kennt das Weiße Haus bereits                          amerikanische Verbrechen in der Welt
                                aus ihrer Zeit als First Lady an der Seite von                        gewesen.
                                Bill Clinton. Jetzt will die Methodistin und                            Darum ist es für Trump und Clinton
                                Demokratin selbst Präsidentin werden.                                 wichtig (und möglicherweise ja auch ehr-
                                                                                                      lich), dass sie sich als gläubige Christen
                                                                                                      präsentieren. Allerdings hat Trump den
                                                          Demokraten und ehemalige Außenminis-        Glauben Clintons in Zweifel gezogen.
                                                          terin 2015 beim Jahrestreffen der Frauen-   „Wir wissen nichts über Hillary in Bezug
                                                          bewegung United Methodist Women As-         auf ihre Religion“, behauptete der Unter-
                                                          sembly, „eine Anwältin zu sein für Kinder   nehmer im Juni vor einer Gruppe christ-
                                                          und Familien, für Frauen und Männer         licher Meinungsführer in New York City.
                                                          weltweit, die unterdrückt und verfolgt      Er beschrieb das Christentum als eine Re-
                                                          werden, und denen die Menschenrechte        ligion, die in den USA massiv angegriffen
                                                          und Menschenwürde bestritten werden“.       werde, und er trete an, um die Religions-
                                                            In den USA ist seit einigen Jahren eine   freiheit zu verteidigen – gegen die Terror-
                                                          Schwächung des religiösen Gedankens         organisation ISIS, Hillary und andere.
                                                          zu beobachten. Zwischen 2007 und 2014
                                                          ging laut einer repräsentativen Umfrage     Clinton:
                                                          des Pew Research Center die Zahl der Er-    Vom Methodismus geprägt
                                                          wachsenen, die sich als „religiös gebun-
                                                          den“ bezeichneten, sich also einer kon-     Doch Trumps These, Clinton habe sich
                                                          kreten Kirche oder Glaubensrichtung zu-     selten bis nie über ihren Glauben geäu-
                                                          rechneten, von 83 auf 77 Prozent zurück.    ßert, ist schlicht falsch. Bekannt ist, dass
                                                          Unter den religiös ungebundenen Ame-        sie in einem methodistischen, durch-
                                                          rikanern sagten 2007 sieben von zehn,       aus konservativen Elternhaus aufwuchs.
                                                          dass sie „an Gott glauben“. 2014 waren      Dass sie als Kind in Chicago die First Uni-
                                                          das nur noch sechs von zehn.                ted Methodist Church von Park Ridge be-
                                                                                                      suchte. Dass ihre Mutter an der dortigen
                                                          Christliches Bekenntnis                     Sonntagsschule lehrte, während Hillary
                                                          als Strategie                               in der Jugendgruppe aktiv war. Dort wur-
                                                                                                      de in der Bibel gelesen, Altardienst ver-
                                                          Trotz dieser veränderten Quoten leben in    richtet, und in der Erntesaison betreuten
                                                          den USA weiterhin mehr Christen als in      die Jugendlichen die kleinen Kinder von
                                                          jedem anderen Staat der Welt. Rund 70       Wanderarbeitern in der Kommune.
                                                          Prozent der Amerikaner bekennen sich          Der junge Priester Donald Jones hatte
                                                          grundsätzlich zum christlichen Glau-        einen starken Einfluss auf den Teenager
                                                          ben. Darum lässt sich ohne ein Bekennt-     Hillary. Er besuchte mit ihr und anderen
                                                          nis zur christlichen Religion ein erfolg-   Jugendlichen im Herbst 1961 eine Predigt
                                                          reicher Präsidentschaftswahlkampf in        seines Kollegen Martin Luther King Jr.
Fotos: Jake Ingle/unsplash, picture alliance

4 | 2016                                                                                              pro | Christliches Medienmagazin 15
politik

Nicht alle Eltern ließen ihre Kinder zu      Soll heißen: Wäre der aus Argentinien           In diesem April entschied sich Trump
dem „Unruhestifter“, schreibt Carl Bern-     stammende Papst aufgeklärt, würde er          dann doch für eine bevorzugte Bibelstel-
stein in seiner Hillary-Clinton-Biografie    den Bau der Mauer zu Mexiko befürwor-         le: „Auge um Auge“, davon „können wir
„A Woman in Charge“. King erklärte den       ten. Geschadet hat die Papst-Bemerkung        so viel lernen“, sagte er im Interview mit
Jugendlichen damals in seiner Predigt:       Trump in einem Wahlkampf mit ständig          dem Radio-Moderator Bob Lonsberry.
„Die Eitelkeit fragt: Ist das populär? Das   neuen Themen sicher nicht. Gleichwohl         Trump mag übersehen haben, dass Je-
Gewissen fragt: Ist das richtig?“            werden die Kandidaten beider Großpar-         sus in der Bergpredigt exakt diese Auf-
  Laut Bernstein ist der „Methodismus,       teien von den Wählern als eher areligiös      rechnung von „Auge um Auge, Zahn um
abgesehen von ihrer Familie, vielleicht      angesehen.                                    Zahn“ für obsolet erklärt und stattdessen
die wichtigste Grundlage ihres Charak-         Bei Clinton sind 44 Prozent der Ame-        fordert, „dass ihr nicht widerstreben sollt
ters“. Aber er erwähnt auch, dass wäh-       rikaner dieser Ansicht, ergab eine Erhe-      dem Übel, sondern: wenn dich jemand
rend Clintons Jahren als First Lady im       bung des Pew-Instituts. Knapp die Hälfte      auf deine rechte Backe schlägt, dem biete
Weißen Haus mehrere Mitarbeiter der          (48 Prozent) halten sie für religiös. Doch    die andere auch dar“.
Meinung waren, „dass sie ihre Religion       laut einer weiteren Pew-Umfrage gehen           Für die republikanische Basis ist die
nutzte, um ihre Fehler zu verdecken. Ei-     diese Werte zurück. Selbst Barack Oba-        christliche Verortung ihres Kandidaten
nige sahen es als eine Maske an in ihrer     ma, den vermeintlichen Muslim, schät-         besonders wichtig. Darum hat die Grand
Beziehung zum Ehemann“ Bill, von dem         zen mehr Menschen als „sehr oder eini-        Old Party Mitte Juli in Vorbereitung des
bekannt ist, dass er ein sehr tentatives     germaßen“ religiös ein als Clinton.           Nominierungsparteitags ein Parteipro-
Verhältnis zur ehelichen Treue pflegte.        Und Trump? Trotz seiner Versiche-           gramm mit dezidiert konservativen In-
Bis heute ist die einstige Senatorin Mit-    rung bei einer Pressekonferenz im Janu-       halten erarbeitet. Dazu gehört die For-
glied der Bibel-Gruppe des Senats und        ar, „Ich bin ein Christ, ich bin ein guter    derung, Politiker müssten sich bei der
besucht häufig den Gottesdienst in der       Christ“, galt Trump in jenem Monat als        Gesetzgebung durch die Religion leiten
Foundry United Methodist Church in           der am wenigsten religiöse Kandidat im        lassen, damit „von Menschen beschlos-
Washington.                                  damals noch größeren Bewerberaufgebot         sene Gesetze konsistent sind mit den von
  Die religiöse Überzeugung Trumps wur-      der Republikaner. Nur drei von zehn US-       Gott gegebenen Naturrechten“. Trotz der
de von Papst Franziskus angezweifelt. Im     Bürgern hielten ihn laut Pew für „sehr“       strikten Trennung von Staat und Religi-
Februar sagte das Oberhaupt der Katho-       oder zumindest „einigermaßen religiös“.       on solle die Bibel auch in öffentlichen
liken bei einem Besuch in Mexiko: „Je-       59 Prozent schätzen ihn hingegen als          Schulen studiert werden, weil das Ver-
mand, der nur an den Bau von Mauern          „nicht besonders“ beziehungsweise             ständnis ihrer Inhalte „unverzichtbar ist
denkt, wo immer sie auch sein mögen,         „überhaupt nicht“ religiös ein. Am bes-       für die Entwicklung einer gebildeten Bür-
und nicht an das Bauen von Brücken, ist      ten schnitten in der Erhebung die dama-       gerschaft“.
nicht christlich. Dies ist nicht das Evan-   ligen Mitbewerber Ben Carson, Ted Cruz          Der republikanische Kandidat Trump,
gelium.“ Der Attackierte, dessen Sieg in     und Marco Rubio ab.                           das ist anzunehmen, wird mit einem sol-
den republikanischen Vorwahlen damals                                                      chen Programm gut leben können. Denn
noch nicht sicher war, schoss scharf zu-     Ein wenig                                     selbst sein Bestseller „The Art of the
rück. „Kein Führer, vor allem kein religi-   bibelfester kandidat                          Deal“ (Die Kunst des Geschäfts) sei „nur
öser Führer, sollte das Recht haben, die                                                   die Nummer zwei nach der Bibel“, räum-
Religion oder den Glauben eines anderen      Trumps Image mag nicht nur auf seine          te er im Januar an der Liberty University
in Zweifel zu ziehen“, erklärte Trump und    harschen Forderungen etwa zum Bau der         in Lynchburg/Virginia ein. Für alle Bü-
fügte hinzu: „Wenn und falls der Vatikan     Mauer, zur Deportierung der elf Millio-       cher gelte: „Die Bibel pustet alles weg.
angegriffen werden sollte durch ISIS, was    nen illegalen Einwanderer oder zum Ein-       Nichts kommt ihr gleich, der Bibel.“
bekanntlich das ultimative Ziel von ISIS     reiseverbot für alle Muslime zurückzu-
ist, dann, das kann ich versprechen, wür-    führen sein. Für ebenso viel Skepsis un-
de der Papst nur wünschen und beten,         ter Christen sorgen auch Einlassungen,
dass Donald Trump Präsident wäre.“           die auf eine weitgehende Unkenntnis
                                             der Bibel hindeuten. So wusste er keine
Bewerber überzeugen                          Antwort, als er im August 2015 in einem
mit Religion kaum                            Bloomberg-Interview seine Lieblingsstel-
                                             le aus der Bibel benennen sollte. „Ich
Bereits am nächsten Tag entschied sich       möchte mich dazu nicht äußern“, sagte
der Präsidentschaftsbewerber für eine        der Unternehmer darauf, „weil das für
moderatere Tonlage. Der Papst, den er        mich sehr persönlich ist.“ Und weiter:
sehr bewundere, hätte sicher anders ge-      „Die Bibel bedeutet mir sehr viel, aber ich
urteilt, wenn er ausreichend informiert      möchte nicht spezifischer werden.“ Auf
gewesen wäre: „Niemand hat ihn auf-          die Frage, ob er das Neue Testament dem         Ansgar Graw, Jahrgang 1961,
geklärt über die Kriminalität, niemand       Alten vorziehe, reagierte Trump erneut          ist seit 2009 für die Zeitungen Die
hat ihn aufgeklärt über die Drogen, die      wenig konkret. „Wahrscheinlich gleich.          Welt und Welt am Sonntag Aus-
reinkommen, und über die Wirtschaft,         Ich denke, das ist einfach unglaublich“,        landskorrespondent in den USA.
und eigentlich war er sehr freundlich.“      ließ er ratlose Interviewer zurück.

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