Professionalisierung mittels Ambiguität. Die diskursive Konstruktion von Data Scientists in Wirtschaft und Wissenschaft - De Gruyter

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Zeitschrift für Soziologie 2021; 50(3–4): 193–210

Robert Dorschel*, Philipp Brandt

Professionalisierung mittels Ambiguität.
Die diskursive Konstruktion von Data Scientists
in Wirtschaft und Wissenschaft
Professionalization via Ambiguity. The Discursive
Construction of Data Scientists in Higher Education
and the Labor Market
https://doi.org/10.1515/zfsoz-2021-0014                               Abstract: This article studies the social construction of
                                                                      the emerging „data scientist” profession. Data science’s
Zusammenfassung: Der Beitrag fragt, welche Deutungs-
                                                                      ongoing institutionalization rests on the objectification of
muster mit der Konstruktion und Subjektivierung der
                                                                      social stocks of knowledge. A discourse analysis of job ads
aufsteigenden Berufsgruppe der ‚Data Scientists‘ einher-
                                                                      and university programs reveals an ambiguous logic in the
gehen. Aus soziologischer Perspektive beruht ihre fort-
                                                                      construction of data scientists. Initially, we show divergent
schreitende Institutionalisierung maßgeblich auf Objekti-
                                                                      classifications of data science work in the academic and
vierungsprozessen sozialer Wissensbestände. Anhand
                                                                      economic fields. We then reveal deeper interpretation pat-
einer diskursanalytischen Auswertung von Stellenan-
                                                                      terns across both fields that define data scientists as fron-
zeigen und Studiengangsbeschreibungen zeigen wir eine
                                                                      tierspersons, anti-nerds, and do-gooders. We present this
ambige Logik in der sozialen Konstruktion von Data Scien-
                                                                      simultaneous divergence and consensus as a strategic ad-
tists auf. In Wirtschaft und Wissenschaft besteht einerseits
                                                                      vantage for professionalization: the underlying meaning
Dissens über die Klassifikation und Einordnung von Data
                                                                      integrates varying expectations and ideas around data
Scientists, während andererseits basale Deutungsmuster
                                                                      scientists, who become broadly salient. The article thus
Data Scientists als GrenzgängerInnen, Anti-Nerds und
                                                                      presents the subjectivation of professionals in an objecti-
WeltverbesserInnen diskursivieren. Die ambige Logik aus
                                                                      fying digital economy.
Dissens und Konsens interpretieren wir als einen strate-
gischen Vorteil für die Professionalisierung: Ambiguität              Keywords: Data Science; Digitalization; Discourse Anal-
schafft Integrationsfähigkeit für unterschiedliche Er-                ysis; Professionalization; Professions; Knowledge Work;
wartungshaltungen und Imaginationen. Der Beitrag legt                 Tech Workers; Ambiguity; Bourdieu; Foucault.
die Subjektivierung ebenjener Professionals frei, die eine
Schlüsselposition in der objektivierenden Digitalwirt-
schaft einnehmen.
                                                                      1 Einleitung
Schlüsselwörter: Data Science; Digitalisierung; Diskurs-
analyse; Professionalisierung Professionen; Wissens-                  Die Soziologie widmet sich zunehmend der Erforschung
arbeit; Tech Workers; Ambiguität; Bourdieu; Foucault.                 des digitalen Wandels. Insbesondere gesellschaftstheo-
                                                                      retische Diagnosen, wie die eines sich ausbreitenden
                                                                      metrischen Wir (Mau 2017), eines digitalen Kapitalismus
Danksagung: Für Anregungen und konstruktive Kritik danken wir den
HerausgeberInnen, den drei anonymen GutachterInnen, sowie Jonas
                                                                      (Schiller 2000; Staab 2019), eines Überwachungskapitalis-
Ferdinand, Steffen Mau, Philippe Saner, Philipp Staab, Anna Thieser   mus (Zuboff 2019) oder eines Datenkolonialismus (Couldry
und Teresa Völker.                                                    & Mejias 2019), haben sich kritisch mit den Auswirkungen
                                                                      der Digitalisierung auf das Soziale auseinandergesetzt
*Korrespondenzautor: Robert Dorschel, University of Cambridge,        und damit ein lautes Echo innerhalb und außerhalb der
Department of Sociology, 16 Mill Lane, Cambridge, CB2 1SB,
                                                                      Soziologie hervorgerufen. In den deutschen wie auch den
E-Mail: rcd49@cam.ac.uk
Philipp Brandt, Sciences Po, Department of Sociology/Centre
                                                                      angloamerikanischen Debatten existieren jedoch bis dato
for the Sociology of Organizations, 19 rue Amélie, 75007 Paris,       kaum Studien über die berufliche Hinterbühne dieser ma-
E-Mail: philipp.brandt@sciencespo.fr                                  krosoziologischen Beobachtungen. Digitale Arbeit bzw.
194        Philipp Brandt, Professionalisierung mittels Ambiguität

Arbeit im digitalen Kapitalismus wurde bisher haupt-                 der Differenzierungs- und Herrschaftstheorie Bourdieus
sächlich im Hinblick auf die prekären Beschäftigungs-                weitergehend als soziale Felder mit Benennungsmacht
gruppen untersucht (Graham & Anwar 2018). Nur verein-                (Bourdieu 2004). Mittels einer wissenssoziologischen
zelt nehmen sich Studien der Berufsgruppen an, die den               Diskursanalyse von US-amerikanischen Data Science-
‚digitalen Informationsraum‘ (Boes et al. 2015) und seine            Stellenanzeigen und Studiengangsbeschreibungen, dem
Technologien konfigurieren, verwalten und ausweiten                  Entstehungsraum von Data Science, untersuchen wir die
(Marwick 2013; Mützel et al. 2018; Wajcman 2018).                    Diskursivierungen und Subjektivierungen von Data Scien-
     Wir wenden uns in diesem Artikel den ‚Data Scientists‘          tists innerhalb dieser Felder. Im Anschluss an Foucault
zu: einer im Kontext der Digitalisierung entstehenden Be-            begreifen wir diskursive Konstruktionen nicht primär als
rufsgruppe, die sozialstrukturell der neuen Mittelklasse             Repräsentationen, sondern als Akte des performativen
(Reckwitz 2019: 86) zuzurechnen ist und mittlerweile zen-            Mithervorbringens (Foucault 1981: 74). Aus dieser Perspek-
trale Funktionen innerhalb datenbasierter Organisationen             tive sind Diskurse nicht nur Ressourcen von Professionen,
erfüllt. Data Scientists nehmen die objektivierende Hin-             sondern sie gestalten die Subjektformen und Kapitalwech-
terbühne einer Digitalwirtschaft ein, deren Algorithmen              selkurse sowie damit verbundene Möglichkeiten der ‚Kom-
und KI-Systeme das private und soziale Leben zunehmend               petenzdarstellungskompetenz‘ (Pfadenhauer 2003) aktiv
beeinflussen. Der Beitrag fragt, welche Deutungsmuster               mit.
mit der diskursiven Konstruktion und Subjektivierung                      Im Zuge unserer Analyse von Data Science-Studien-
von Data Scientists einhergehen. In der Regel werden Data            gangsbeschreibungen und Stellenanzeigen wird ersicht-
Scientists schlicht rudimentär als Experten definiert, die           lich, dass die Konstruktion von Data Science einer
gute Statistikkenntnisse und grundlegende Programmier-               ambigen sozialen Logik folgt. Es besteht Dissens, aber
fähigkeiten vorweisen können; und somit geeignet dafür               auch Konsens bei der Konstruktion von Data Scientists
sind, die in digitalisierten Systemen fortlaufend anfallen-          in Wissenschaft und Wirtschaft. So wird in den Studien-
den Datenmengen nach ‚Mustern‘ (Nassehi 2019) zu ana-                gangsbeschreibungen ein Bild von Data Scientists gezeich-
lysieren. Intuitiv einleuchtend, legt diese Erklärung doch           net, welches deren multipolare akademische Expertise
implizit einen professionssoziologisch unbefriedigenden,             betont, sie als ‚leader‘ tituliert und ihnen eine kritische
funktionalistischen Erklärungsansatz nahe (Abbott 1988).             Datenethik attestiert. In den Stellenausschreibungen hin-
Die rudimentären Definitionen, die von praktizierenden               gegen werden Data Scientists als Schnittstellenprofession
Data Scientists über Data Science formuliert werden,                 beschrieben, die als ‚team player‘ agieren sollen und von
gehen mit Zelebrierungen und Warnungen in der media-                 denen in erster Linie eine Datenverwertungsethik ver-
len Öffentlichkeit einher. So wird Data Science im Harvard           langt wird. Parallel zu diesen kontrasthaften sozialfigura-
Business Magazine als ‘Sexiest Job of the 21st century’              tiven Feldkonstruktionen lassen sich jedoch gemeinsame
(Davenport & Patil 2012) gepriesen, während die ehema-               basale Deutungsmuster identifizieren. So werden Data
lige Mathematik-Professorin und Aktivistin Cathy O’Neil              Scientists von Wissenschaft und Wirtschaft als Grenzgän-
vor den ‘Weapons of Math Destruction’ (2016) von Data                gerInnen gedeutet: als entdifferenzierende Arbeitssub-
Scientists warnt. Wenn wir davon ausgehen, dass Berufs-              jekte, die heterogene Wissensgebiete oder Projektglieder
felder sich im Zuge ihrer Institutionalisierung auch mit             miteinander verkoppeln können, um dadurch zu neuen
externen Akteuren in ‚verbundenen Ökologien‘ (Abbott                 und innovativen Lösungen für Probleme zu gelangen. Und
2005) bewegen, kann von einem solchen Blickwinkel                    obwohl der Grenzgänger ein technisches Arbeitssubjekt
eine Reihe weiterer externer Akteure identifiziert werden,           impliziert, wird dieses Muster von beiden Feldern mit der
die an der sozialen Konstruktion von Data Science betei-             Deutung von Data Scientists als Anti-Nerds flankiert. Ob
ligt sind. Der Prozess, ein neues Arbeitsfeld zu definieren          sie nun als ‚leader‘ oder ‚team player‘ klassifiziert werden:
und zu okkupieren, wird dementsprechend nicht nur von,               beides fordert soziale Kompetenzen. Dieses Bild zeigt
sondern auch für Data Scientists vorangetrieben. Dieser              einen scharfen Kontrast zu bestehenden Code-versierten
Aufsatz untersucht die Phänomenklassifikationen und                  ExpertInnen, die mit Data Scientists um das Tätigkeitsfeld
Deutungsmuster, die mit ebendieser externen Konstruk-                der digitalen Datenarbeit buhlen, auf, insofern Computer-
tion und Subjektivierung von Data Scientists einhergehen.            arbeit als charakteristische Tätigkeit für ‚sozial unbehol-
     Wir analysieren die sozialfigurative Bestimmung und             fene‘ Nerds angesehen wird (siehe Kendall 1999: 262). Das
Ausbreitung von Data Scientists in zwei Arenen, die zen-             dritte gemeinsame Deutungsmuster ist die basale Klassifi-
trale Konsekrationsinstanzen für aufstrebende Berufs-                kation von Data Scientists als WeltverbesserInnen. Es wird
felder darstellen: Wissenschaft und Wirtschaft (Abbott               von beiden Feldern eine Welt konstatiert, die sich von zu-
1988: 55, 64). Wir konzeptualisieren diese Arenen im Licht           nehmenden Datenmengen überflutet sieht und in der Data
Philipp Brandt, Professionalisierung mittels Ambiguität   195

Scientists in solutionistischer Manier die Welt verbessern     Science etwa durch Entstehungsanekdoten in ihrer Exis-
wollen, können und sollen.                                     tenz zu erklären (siehe etwa Hammerbacher 2009). An
     Die hier beobachtete diskursive Ambiguität – eine         anderen Stellen bemühen sich Data Scientists, ihre neue
Subjektformation, die bisher nur vereinzelt für Professio-     Rolle zu erklären, wobei sie primär die technischen Grund-
nen in Anschlag gebracht wurde (z. B. Stichweh 1996 für        lagen betonen (siehe etwa O’Neil & Schutt 2013). Außen-
LehrerInnen) – verstehen wir im Anschluss an Foucault als      stehende Autoren, wie González-Bailón (2017), vermitteln
Professionalisierungsstrategie ohne Strategen (Foucault        eine historische Perspektive, die die Nähe zwischen Data
1978: 132). Ambiguität fungiert als eine spezifische Form      Science und den Sozialwissenschaften betont. Salganik
kulturellen Kapitals, womit die soziale Position verbessert    (2017) liefert den technisch und reflexiv umfangreichsten
werden kann. Die ambige diskursive Konstruktionsweise          Beitrag in seinem Versuch, Data Scientists und Sozialwis-
von Data Scientists ähnelt dabei der bekannten Logik eines     senschaftlern eine gemeinsame Zukunft zu skizzieren.
Kippbilds (Gregory 2000): sie vermag vom Standpunkt der        Andere Beiträge finden bezüglich dieser Causa größere
Betrachterin variierende ‚Data Science-Imaginationen‘          Spannungen bzw. schreiben Data Science weniger Legiti-
(Saner 2019) in einem Bild einzufangen. Wir theoretisie-       mation zu (Donoho 2015; Ribes 2019).
ren, dass so eine breite gesellschaftliche Anschlussfähig-
keit ermöglicht und damit ein zentraler Erklärungsfaktor       Dezidiert akademische Forschungen, die sich Data Science
für die fortschreitende Institutionalisierung und Professio-   als Untersuchungsgegenstand annehmen, sind rar. Eine
nalisierung von Data Science erkennbar wird. Dieses Ar-        Ausnahme stellt Philippe Saners (2019) Untersuchung
gument schließt an Befunde zur strategischen Effektivität      zur Implementierung von Data Science in die Schweizer
von Ambiguität in anderen Feldern an (Davenport & Leitch       Hochschullandschaft dar. Der Kernbefund seiner Analyse
2005) und unterstreicht im Fall der Data Scientists, dass      lautet, dass insbesondere ökonomische Rechtfertigungen
Ambiguität auch in Arbeitsfeldern, die eine vermeintli-        für die Implementierung von Data Science-Studiengängen
che datenbasierte oder anderweitig formale Objektivität        aufgeführt wurden. In einem anderen Beitrag nimmt sich
versprechen, Wirkung entfaltet. Diese Strategien, so ar-       Saner, zusammen mit Mützel und Unternährer, der prak-
gumentieren wir, finden insbesondere im Kontext techno-        tischen Arbeit von Data Scientists an. In Anlehnung an
logischer Transformationen reichhaltige Nährböden.             Science and Technology Studies (Latour & Woolgar 1986)
     Im Folgenden wird zuerst der Forschungsstand über         zeigen die AutorInnen auf, dass Daten niemals roh existie-
Data Scientists rekapituliert. Daran schließt die Erörterung   ren, sondern sozial produziert und sinnbehaftet weiterver-
unseres theoretischen Rahmens an, der sich, neben der          arbeitet werden (Mützel et al. 2018: 122). Dabei nehme der
Professionssoziologie, aus einer Verknüpfung von Pierre        Prozess der Datenaufbereitung bzw. -reinigung von ‚messy
Bourdieus Feldtheorie und der Diskurstheorie Michel Fou-       data‘ hin zu verheißungsvollen ‚tidy data‘ die meiste Zeit
caults speist. Im Weiteren erfolgt eine Einführung in die      der Data Science-Tätigkeit ein – dies spiegele sich in der
Wissenssoziologische Diskursanalyse als Methodik und           glanzvollen Außendarstellung des Berufes jedoch nicht
es wird die Datengrundlage unserer Untersuchung näher          wider.
erläutert. Der empirische Analyseteil gliedert sich in drei
Abschnitte, in denen die drei zentralen Deutungsmuster         Unklar bleibt in den diversen Abhandlungen, wie es sich
rekonstruiert werden. Die Herleitung erfolgt ausgehend         mit Data Scientists und der Professionalisierung verhält.
von den konfliktiven Klassifikationspraxen. Daran knüpft       Zwar weist Data Science eine noch sehr junge Entwick-
die Analyse der ambigen Logik, die den diskursiven Kon-        lungsgeschichte auf, trotzdem sehen wir bereits in den
struktionen zugrunde liegt, an. Abschließend diskutieren       wenigen Data Science-Abhandlungen bekannte Muster
wir die Bedeutung unserer Befunde für die Professions-         aus der Forschung zu Professionen in der Entstehung.
soziologie sowie für die soziologische Erforschung des         Wie etwa bei den von Stichweh (1984: 255) untersuchten
digitalen Wandels.                                             englischen Physikern zeigt sich eine Vermischung von
                                                               Experten und Amateuren. Des Weiteren erkennen wir
                                                               sowohl die von Abbott vorhergesagten Konflikte zwischen

2 Forschungsstand                                             benachbarten Expertengruppen über ‚Jurisdiktionen‘
                                                               (Abbott 1988: 40) als auch die tiefer liegenden, konstrukti-
                                                               vistischen Prozesse um Experten, Nichtexperten und ma-
Es überwiegt aktuell eine außerakademische Auseinan-
                                                               terielle Objekte, die sich sonst erst in der historischen und
dersetzung mit Data Scientists als einer neuen Berufs-
                                                               kulturellen Vielfalt von ‚Wissensarbeit‘ erkennen lassen
gruppe; medial wirksame Beiträge versuchen, Data
                                                               (Eyal 2013). Gleichzeitig stellt der Data Science-Fall eine
196        Philipp Brandt, Professionalisierung mittels Ambiguität

Herausforderung für die Professionssoziologie und ihre               3 Theoretischer Rahmen
Fokussierung auf historische Prozesse dar. Zwar hat sich,
seit Abbotts allgemeiner Theorie zum systemischen Zu-                Diese Untersuchung analysiert also die sozialen Logiken,
sammenhang von Professionen, eine wachsende Debatte                  die die diskursiven Konstruktionsweise und Subjektivie-
den Problemen von neueren Berufsgruppen im Organisa-                 rung von Data Scientists strukturieren. In der professions-
tionskontext gewidmet (Manske & Schnell 2010; Muzio et               soziologischen Literatur werden vor allem zwei Bereiche
al. 2011; Noordegraaf 2007; Suddaby et al. 2009), jedoch             wiederholt behandelt, von denen angenommen wird, dass
beziehen sich die von dieser Forschung hervorgebrachten              dortigen Klassifikations- und Deutungspraktiken eine be-
Befunde auf Probleme, denen Data Scientists erst begeg-              sonders hohe Relevanz bei der Institutionalisierung von
nen können, nachdem sie die ersten Schritte im (diskur-              Berufen zukommt: die Arena der Universitäten sowie die
siven) Professionalisierungsprozess bereits durchlaufen              Arena der Unternehmens- bzw. Arbeitswelt (Abbott 1988;
haben. Ein weiteres Defizit der dominanten Professions-              Freidson 1988). Wir ziehen weitergehend Pierre Bourdieus
soziologie ist eine Konzentration auf Professionals, ohne            Feldtheorie heran, um jene professionellen Arenen diffe-
deren Einbettung in einen weiteren gesellschaftlichen                renzierungs- und herrschaftstheoretisch in den Blick zu
Kontext systematisch in den Blick zu nehmen (Atzeni                  nehmen. Die Feldtheorie Bourdieus liefert einen Ansatz,
2016; Stichweh 2000). Abbotts Konzept der verbundenen                der auch an den Beziehungen zwischen den Feldern in-
Ökologien bietet einen wichtigen Referenzpunkt, ohne                 teressiert ist (Bourdieu 2004) und im Vergleich zu Abbotts
jedoch eine ausformulierte Differenzierungstheorie mit               Ansatz stärker auf die Analyse von Kapitalformen, Stra-
entsprechenden Analysekonzepten bereitzustellen, um                  tegien und sozialen Positionen geeicht ist (Liu & Emir-
die Emergenz einer neuen Profession rekonstruieren                   bayer 2016). Somit hilft er, die Genese von Data Science
zu können. Seine knappen Beobachtungen zur Institu-                  als Beruf innerhalb und zwischen dem ökonomischen
tionalisierung der benachbarten Computerwissenschaf-                 und akademischen Machtfeld zu verfolgen. Im Sinne
ten etwa stützen sich auf eine Kluft zwischen praktischer            der Feldtheorie werden Wissenschaft und Wirtschaft als
und wissenschaftlicher Arbeit (siehe Abbott 2005: 266),              akademisches und ökonomisches Konfliktfeld verstan-
eine Situation, die bei Data Science zu diesem frühen Zeit-          den (Bourdieu 2002, 2014), welches wiederum selbst in
punkt lediglich eines von unterschiedlichen möglichen                ein erweitertes, gesamtgesellschaftliches Konkurrenz-
Szenarien darstellt.                                                 feld eingebettet ist, das Feld der Macht (Bourdieu 2004).
                                                                     Soziale Felder sind eigenlogische Mikrokosmen, in denen
Um dem im Fall der Data Scientists fehlenden Verständ-               bestimmte Regeln und Werte gelten und Akteure mittels
nis der Fremdbeschreibung entgegenzuwirken, wählen                   verschiedener Kapitalformen versuchen, ihre Sichtwei-
wir den Ansatz der Diskursanalyse zur Untersuchung der               sen der Welt durchzusetzen, um so ihre soziale Position
Konstruktion von Data Science in zwei ihrer institutionel-           (welche auf der anerkannten Wertigkeit ihrer Kapitalfor-
len Entstehungskontexte: Wissenschaft und Wirtschaft.                men beruht) zu sichern oder zu verbessern (Bourdieu &
Fremdbeschreibungen haben auch für etablierte Berufs-                Wacquant 2013: 127). Felder sind also einerseits Horte des
gruppen wie die ärztliche Profession eine signifikante               Konflikts, andererseits aber immer auch des Konsenses.
Rolle gespielt (Atzeni 2016). Unser diskursanalytischer              Streit über eine Ressource kann nur entbrennen, wenn
Ansatz soll im Fall der Data Scientists ermöglichen, die             die Relevanz der Ressource von beiden Seiten anerkannt
frühen sprachlich-institutionellen Zuschreibungen von                ist, wenn also basale Wissensordnungen in Form eines
Kompetenzen in verschiedenen sozialen Feldern ein-                   gemeinsamen Glaubens für das Spiel (illusio) sowie un-
fangen zu können, die der Generierung einer professio-               hinterfragte Weltannahmen (doxa) existieren (Bourdieu
nalen Kompetenzdarstellungskompetenz vorausgehen.                    2015: 112).
Vereinzelte Studien haben einen diskursiven Ansatz zur                    Wie in der Einleitung skizziert, findet die Entstehung
Professionsanalyse bereits verfolgt – sowohl in neueren              von Data Science maßgeblich im Diskurs über Data Scien-
Erscheinungen, wie Managementberater (Schmidt-Wel-                   tists statt. Wir ziehen Michel Foucaults Diskurstheorie
lenburg 2009) oder Trennungs- und Scheidungsberater                  heran, um die Emergenz von Data Science hinsicht-
(Halatcheva-Trapp 2018), als auch etablierteren Berufen,             lich ihrer eigenlogischen, diskursiven Aushandlung im
wie der Medizin (Wetterer 2002; Atzeni 2016). Ziel dieses            akademischen und ökonomischen Feld zu beleuchten.
Beitrags ist es damit, auch weiter Aufschluss über die               Foucault (1981) definiert den Diskurs als eine Menge von
diskursive Beschaffenheit professionalisierter Felder zu             Aussagen, die in Beziehung zueinander stehen, die ein
geben.                                                               Netz bilden und deren Verbindungen durch Formations-
                                                                     regeln und eigendynamische Logiken bestimmt werden
Philipp Brandt, Professionalisierung mittels Ambiguität       197

(Foucault 1981: 39). Das sozialtheoretisch Relevante am              Aus dieser Perspektive nehmen wir Data Science als po-
Diskurs ist seine überrepräsentative Bedeutung, denn der             tenzielles Professionsfeld in den Blick, dessen Emergenz
Diskurs ist aufzufassen:                                             und Okkupation der Datenarbeit im Hinblick auf Diskur-
                                                                     sivierungen des akademischen und ökonomischen Feldes
    „nicht […] als Gesamtheit von Zeichen (von bedeutungstra-        untersucht werden müssen.
    genden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen ver-
    weisen), sondern als Praktiken […] die systematisch die Gegen-
    stände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese
    Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr
    als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie ir-
                                                                     4 W
                                                                        issenssoziologische
    reduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß        Diskursanalyse
    man ans Licht bringen und beschreiben.“ (Foucault 1981: 74)

                                                                     Zur Operationalisierung der Foucault’schen Methodo-
Als Ordnungen des Denk- und Sagbaren kreieren Diskurse
                                                                     logie ziehen wir das Forschungsprogramm der Wissens-
also aktiv den symbolischen gesellschaftlichen Bezugsrah-
                                                                     soziologischen Diskursanalyse (WDA) von Reiner Keller
men, durch den soziale Phänomene erst hervorgebracht
                                                                     (2011a, 2011b) heran.1 Dieses bietet sich nicht nur durch
werden (Diaz-Bone 2006; Keller 2011a: 127). Mit dem Dis-
                                                                     konkrete methodische Überlegungen zur Umsetzung der
kurskonzept und der korrespondierenden Diskursanalyse
                                                                     Foucault’schen Diskurstheorie an, sondern auch, weil es
sucht Foucault nach Grundmustern des Wissens, nach
                                                                     mit der Bourdieu’schen Sozialtheorie insofern vereinbar
den historisch spezifischen Wissensordnungen, die Sub-
                                                                     ist, als das Programm ebenfalls die Akteure systematisch
jektformen (re-)produzieren, indem sie die Grenzen des
                                                                     in den Blick nehmen möchte, die an der eigendyna-
Sagbaren ziehen. Foucault interessierte sich insbesondere
                                                                     mischen diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit betei-
in seinem Frühwerk dafür, wie historisch spezifische Sub-
                                                                     ligt sind (Keller 2011a: 49). Im Anschluss an Foucault geht
jekte, z. B. ‚der Wahnsinnige‘, durch diskursive Praktiken
                                                                     Keller davon aus, dass in den endlichen und verstreuten
bestimmter gesellschaftlicher Institutionen (etwa der Wis-
                                                                     Äußerungsereignissen von sozialen Akteuren Aussagen
senschaft) hergestellt wurden (Foucault 2003). Daran, und
                                                                     enthalten sind, die als Manifestation der strukturierten
an neuere Entwicklungen in der empirischen Subjekti-
                                                                     Prozessierung kontingenter gesellschaftlicher Wissens-
vierungsforschung (siehe Bosančić et al. 2021) angelehnt,
                                                                     vorräte von Interesse sind (Keller 2011a: 68). Äußerungen
interessieren wir uns für die Diskursivierung des Data
                                                                     bergen einen typisierbaren Inhalt, eine Aussage, die es zu
Scientist-Subjekts.
                                                                     entschlüsseln gilt. Diskurse entstehen demnach aus zu-
     Neben einer ähnlichen relationalen und machtfokus-
                                                                     sammenhängenden Aussagen in Aussagensystemen. Sie
sierten Epistemologie kann der gemeinsame Fluchtpunkt
                                                                     materialisieren sich im Kontext sozialer Felder in sprach-
der Foucault’schen mit der Bourdieu’schen Sozialtheorie
                                                                     lichen und nichtsprachlichen Interaktionen, visuellen
in der Frage lokalisiert werden, welche Subjektivierungs-
                                                                     Medien und Textdokumenten.
bzw. Habitualisierungsweisen zu einer spezifischen Zeit
                                                                          Die zwei Konzepte der Phänomenstruktur und
und an einem bestimmten Ort vorherrschen (Diaz-Bone
                                                                     Deutungsmuster stellen die Ankerpunkte in Kellers For-
2002; Kajetzke 2008; Maeße & Hamann 2016; Schmidt-
                                                                     schungsprogramm dar. Das Konzept der Phänomenstruk-
Wellenburg 2014). Zwar bestehen wichtige Differenzen
                                                                     tur verweist auf die unmittelbaren inhaltlichen Themen
in der Theoretisierung von Subjekt bzw. Habitus, grund-
                                                                     eines Diskurses sowie deren unterschiedliche Elemente
sätzlich jedoch zielen beide Konzepte auf die Analyse
                                                                     und Dimensionen. Es geht hier also um die Untersuchung
der Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die die Heraus-
                                                                     eines Korpus hinsichtlich der regelmäßig auftretenden
bildung von spezifischen Denk-, Wahrnehmungs- und
                                                                     Themen, Problemdimensionen und Wertungen (Keller
Handlungsweisen bedingen (Reckwitz 2015). Durch die
                                                                     2011a: 249). Eine Sondierung der Phänomenstruktur steht
Kombination der Theorien entsteht eine Heuristik, die
                                                                     insbesondere zu Beginn einer wissenssoziologischen Dis-
an der feldspezifischen Hervorbringung und Brechung
von Diskursen und einhergehenden Subjektivierungs-
bzw. Habitualisierungsweisen interessiert ist. Die Kom-
                                                                     1 Foucault erarbeitete in seiner archäologischen Phase zwar elabo-
bination aus Diskurs- und Feldtheorie eignet sich somit,             rierte methodologische und sozialtheoretische Überlegungen über
um das frühe Entwicklungsstadium von Professionen zu                 Diskurse, jedoch keine konkrete Handlungsanleitung zur prakti-
untersuchen, denn sie legt die diskursive Beschaffenheit             schen Umsetzung des diskursanalytischen Forschungsprogramms.
professionalisierter Felder frei und ergänzt damit das               Reiner Kellers Entwurf einer wissenssoziologischen Diskursanalyse
                                                                     stellt einen Verfahrensvorschlag im Anschluss an Foucault dar, an
existierende professionssoziologische Instrumentarium.
                                                                     dem sich diese Untersuchung orientiert.
198        Philipp Brandt, Professionalisierung mittels Ambiguität

kursanalyse an. Das Herzstück der WDA stellt das Konzept             port & Patil 2012; Hammerbacher 2009). Zwar haben sich
der Deutungsmuster dar. Der Zusatz ‚Muster‘ verweist                 seither Data Science-Studiengänge und Positionen global
bereits darauf, dass es hier um die sprachlich-materiale             verbreitet, es bleibt jedoch unklar, inwieweit die Rolle der
Gestalt mehrerer Sinngehalte geht. Ein Deutungsmuster                Data Scientists im Zuge dieser Verbreitung an lokale kul-
verknüpft und verdichtet mehrere Phänomenklassifika-                 turelle Kontexte angepasst wurde. Dieser Prozess selbst
tionen und Narrative in basalen Interpretationsschemata,             stellt einen relevanten Forschungsgegenstand dar. Für ein
die individuelle und kollektive Erfahrungen organisieren,            solches Vorhaben bedarf es allerdings in erster Instanz
indem sie Sinn stiften (Keller 2011a: 240). Während die              eines fundierten Verständnisses für die Diskursivierung
Phänomenstruktur also auf die thematischen Dimensio-                 von Data Scientists im Entstehungsraum.
nen eines Diskurses verweist und unmittelbar durch eine                   Die feldtheoretische Kontextualisierung verlangt ein
‚Oberflächenanalyse‘ erschließbar ist, ist das Konzept der           Vorgehen in der Datenerhebung, das Rücksicht auf die
Deutungsmuster auf einer tiefer liegenden Ebene zu ver-              Feldpositionen innerhalb der Arenen der Wissenschaft
orten und erfordert eine stärker interpretativ operierende           und Wirtschaft nimmt. Für das akademische Feld wurden
‚Feinanalyse‘ des Materials.                                         jeweils fünf hoch rangierende, fünf mittelhoch rangierende
                                                                     und fünf niedrig rangierende Universitäten (siehe Tab. 1)
                                                                     verwendet.2 So sollte eine partielle relationale Kontextua-

5 Datengrundlage und Auswertung                                     lisierung der diskursiven Konstruktionen mit der Struktur
                                                                     und dem Positionsgeflecht des akademischen Feldes er-
                                                                     möglicht werden. Innerhalb dieser drei Statuskategorien
Als Datenmaterial dieser Untersuchung fungieren Studien-
                                                                     wurden solche Universitäten für das Korpus ausgewählt,
gangsbeschreibungen und Stellenanzeigen. Hiermit wollen
                                                                     die das Data Science-Studium mit-diskursivieren anstatt
wir uns der Einbettung von Data Science-Professionals
                                                                     sich lediglich des neuen Begriffs zu bedienen. Dieses Ver-
innerhalb eines ausdifferenzierten Feldes der Macht zu-
                                                                     fahren ergab 15 Universitäten mit 25 Data Science-Studien-
wenden und die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen
                                                                     gangsbeschreibungen als Korpusmaterial (manche Univer-
einfangen. Aus diskurstheoretischer Perspektive werden
                                                                     sitäten3 bieten mehr als eine Data Science-Studienoption
die Materialien der akademischen und ökonomischen
                                                                     an). Für das ökonomische Feld fungieren Stellenanzeigen
Felder nicht nur als Repräsentation von sozial Gegebenem
                                                                     des führenden Internetportals ‚glassdoor‘ als Korpusma-
verstanden, sondern als Praktiken, die (mit) hervorbrin-
                                                                     terial. Da Stellenanzeigen um ein Vielfaches zahlreicher
gen, wovon sie sprechen. Hier wird maßgeblich definiert,
                                                                     auftreten als Studiengänge wurde hier das stratifizierte
wer dazugehört und wer nicht (z. B. Atzeni 2016; Duffy &
                                                                     Erhebungsverfahren mit Zufallsstichproben erweitert. Es
Schwartz 2017). Studiengangsbeschreibungen und Stellen-
                                                                     wurden zufällig jeweils vier Stellenanzeigen von den auf
anzeigen stellen demnach zentrale Instanzen der Wissens-
                                                                     dem Börsenmarkt höchstdotierten Technologie-Unterneh-
produktion und Subjektanrufung dar. Data Scientist-An-
                                                                     men ausgewählt. Neben diesen 16 Stellenanzeigen wurden
wärterInnen müssen durch diesen ‚obligatory passing
                                                                     16 weitere Annoncen von sechs führenden Start-up-Unter-
point‘ (Callon 1984) hindurch. Gleichwohl ist die Aussage-
                                                                     nehmen zufällig ausgewählt (siehe Tab. 1, zweite Spalte).4
kraft von den zwei Textmaterialien kritisch zu reflektieren:
                                                                     Die Erhebung der Stellenanzeigen sowie der Studiengangs-
Die Materialien stellen lediglich einen Ausschnitt der Dis-
                                                                     beschreibungen fand zwischen März und Mai 2019 statt.
kursaktivitäten in den jeweiligen Feldern dar (als weitere
Materialsorten könnten etwa Blogs, Podcasts, Mitteilungen
                                                                     2 Hierfür wurde auf das zwar durchaus umstrittene, aber dennoch
von Akkreditierungsinstanzen oder Lehrbücher fungieren).
                                                                     weitreichend saliente Hochschulranking von Times Higher Educati-
Des Weiteren sind die ausgewählten Materialien speziell              on zurückgegriffen. Als ‚high ranking‘-Universitäten wurden solche
in der Hinsicht, dass es sich um kuratierte Außenpräsen-             eingestuft, die innerhalb der ersten 30 Plätze des US-spezifischen
tationen von institutionalisierten Feldakteuren handelt.             Rankings kategorisiert wurden. Als ‚middle high ranking‘ solche, die
Zudem ist zu unterstreichen, dass dieser Beitrag lediglich           zwischen den Plätzen 31–100 rangierten. Als ‚low ranking‘ zählten
                                                                     schließlich alle Universitäten auf den dahinter liegenden Plätzen.
die Anrufung des Data Science-Subjekts untersucht, nicht
                                                                     3 Um die Statuskategorien trotz des frühen Zeitpunkts unseres Be-
aber seine nichtdiskursive Manifestierung. Unter Vorbehalt           obachtungszeitraumes ausgeglichen zu gewichten, haben wir eine
dieser Einschränkungen ist unser Ansatz relevant und aus-            Universität aus Kanada in unser Sample mit aufgenommen (Carleton
reichend robust, um eine Grundlage zur Erforschung des               University). Die geographische, kulturelle und institutionelle Nähe
Emergenzprozesses von Data Science aus diskurstheoreti-              im akademischen Bereich führen uns zu der Überzeugung, dass
scher Perspektive zu schaffen.                                       diese Beobachtung zu keiner Verzerrung der Analyse führt.
                                                                     4 Als Start-up wurden solche Unternehmen definiert, die im Erhe-
     Geografisch konzentrieren wir uns auf den US-ame-
                                                                     bungszeitraum jünger als 10 Jahre alt waren und mittels innovativer
rikanischen Kontext. Wie bereits erwähnt, wurde hier                 Technologien, Produkten und/oder Geschäftsmodelle versuchen,
erstmals die Data Science-Profession ausgerufen (Daven-              Märkte zu erschließen (Startup-Monitor 2018).
Philipp Brandt, Professionalisierung mittels Ambiguität   199

Tab. 1: US-Data Science Studiengangsbeschreibungen und Stellenanzeigen

                       Studiengänge                                                             Stellenausschreibungen

                       Brown University (2)                                                     –   Amazon (4)
                       – Master Data Science                                                    –   Apple (4)
                       Columbia University (3)                                                  –   Google (4)
Hochplatziert (N)

                                                                    Etablierte Techfirmen (N)
                       – Master Data Science                                                    –   Microsoft (4)
                       Duke University (2)
                       – Master Interdisciplinary Data Science
                       Harvard University (2)
                       – Master Data Science
                       Stanford University (2)
                       – Master Statistics & Data Science

                       Carleton University (1)
                       – Master Data Science
                       Boston University (2)
Mittelpatziert (N)

                       – Master Computer Science – Data Analytics
                       Georgetown University (2)                                                –   DoorDash (2)
                       – Master Data Science for Public Policy                                  –   InstaCart (2)
                       Northwestern University (1)                                              –   JUUL Labs (4)
                       – Master Data Science                                                    –   Slack (2)
                       University of Virgina (3)                                                –   Stripe (2)
                                                                    Start-up Techfirmen (N)

                       – Master Data Science                                                    –   WeWork (4)

                       DePaul University (1)
                       – Master Data Science
Niedrigplatziert (N)

                       Illinois Tech Institute (1)
                       – Master Computer Science in Data Science
                       Oklahoma University (1)
                       – Master Data Science and Analytics
                       San Francisco (1)
                       – Master Data Science
                       Southern Methodist University (1)
                       – Master Data Science

                       Gesamt N = 25                                                            Gesamt N = 32

Anmerkung: Die Erhebung der Materialien (n = 57) fand zwischen März und Mai 2019 statt.

Die Datenauswertung orientierte sich an Kellers (2011b)                                                  abschließenden Ergebnisaufbereitung erfolgte eine Sys-
Programm zum diskursanalytischen Forschungsvorgehen.                                                     tematisierung und Interpretation der herausgearbeiteten
In der Phase der Oberflächenanalyse wurden die Texte                                                     regelhaften Phänomenstrukturen und Deutungsmuster.
allesamt mehrmals gelesen, um insbesondere die Phäno-
menstruktur herauszuarbeiten. Parallel dazu wurden
Codes für Sinnabschnitte vergeben und im Laufe des
Forschungsprozesses unter abstrakteren Kategorien sub-
                                                                                                         6 Analyse und Ergebnisse:
sumiert. Memos dienten zur ersten Theoretisierung der                                                      Diskursivierung von Data
Befunde. Ausgehend von den ersten diagnostizierten Re-
gelmäßigkeiten zwischen den Aussagen wurden Schlüs-
                                                                                                           Scientists zwischen Kontrast
seldokumente bestimmt, in denen die Wissensmuster als                                                      und Konsens
Bündelungen von Klassifikationsschemata besonders kon-
zentriert auftraten. Diese Dokumente wurden dann einer                                                   Die empirische Analyse ist in drei Abschnitte gegliedert.
Feinanalyse unterzogen, mit dem Ziel, von den bestehen-                                                  Der erste Abschnitt befasst sich mit der diskursiven Kon-
den Codes auf zugrunde liegende Organisationsmecha-                                                      struktion der Fachexpertise, der zweite Abschnitt mit den
nismen und Deutungsmuster zu schließen. Während der                                                      sozialfigurativen Elementen sowie der zugeschriebenen
200           Philipp Brandt, Professionalisierung mittels Ambiguität

Arbeitsrolle und der dritte Abschnitt mit der postulierten               zielt also auf der einen Seite auf die Kombinierung von
Ethik der Data Scientists. Die Reihenfolge der Analyseab-                Programmierung mit statistischen Analysemethoden. Dies
schnitte korrespondiert mit einer Zunahme an Kontrasten                  soll angehenden Data Scientists ermöglichen, vor allem
zwischen den Konstruktionsweisen des akademischen                        zweierlei Aufgabenbereiche innovativ zu verknüpfen: (1)
und ökonomischen Feldes. Während bei der Benennung                       große Datenmengen aufzubereiten und systematisch nach
der Fachexpertise mit Hinblick auf die Phänomenstruk-                    Mustern zu durchforsten sowie (2) mittels ‚machine lear-
tur lediglich feine Unterschiede zutage treten, bestehen                 ning‘, ‚deep learning‘ und der Programmierung von Algo-
auf der ethischen Ebene grobe Unterschiede. In allen                     rithmen Produkte bzw. Programme aus den hergestellten
drei Bereichen stellen wir jedoch auf einer epistemischen                Erkenntnissen zu generieren.
bzw. doxischen Ebene gemeinsame Deutungsmuster                                Um diese Kombinierung von Programmier- mit Sta-
fest. Abschließend erfolgt eine Systematisierung der ver-                tistikkenntnissen in der Datenarbeit sinnvoll einsetzen
schiedenen Befunde, die verdeutlicht, dass externe Dis-                  zu können, sollen auf der anderen Seite neben den tech-
kursivierung von Data Scientists einer ambigen sozialen                  nischen und statistischen Fähigkeiten auch ökonomisches
Logik folgt.                                                             und kommunikatives Wissen vermittelt werden – etwa in
                                                                         Kursen, die ‚management skills‘ oder das ‚business thin-
                                                                         king‘ der Studierenden trainieren. Data Scientists sollen
6.1 Data Scientists als GrenzgängerInnen                                so in die Lage versetzt werden, Probleme nicht nur tech-
                                                                         nisch rigoros anzugehen, sondern in ihrer Arbeit betriebs-
Die Eingrenzung der Wissenskompetenz von Data Scien-                     wirtschaftliche Vorgaben oder Ziele nicht aus den Augen
tists ist einer der zentralen Themenkomplexe, um den Aus-                zu verlieren. Data Scientists sollen also nach ihrer Aus-
sagen in den untersuchten Dokumenten kreisen. Im aka-                    bildung, so versprechen und verkünden es zumindest die
demischen Feld lässt sich diesbezüglich eine Klassifikation              Universitäten, als multipolare AkademikerInnen auftreten
von Data Scientists als wissenschaftlich breit geschulten                können.5
Multitalenten finden. Der akademischen diskursiven                            Die Form der Multipolarität, mit der eine Singularisie-
Praxis nach sind Data Scientists in der Lage, die Vielzahl               rung der Fachexpertise angestrebt wird, korrespondiert
von Aufgaben, die in der professionalen Datenanalyse an-                 mit der Institutionalisierung von Data Science innerhalb
fallen, eigenständig und auf innovative Art und Weise zu                 der Universität als Organisation. Data Science ist in der
lösen. In allen drei Status-Schichten des akademischen                   Regel keine eigenständige Disziplin, sondern existiert ein-
Feldes wird das Data Science-Studium damit beworben,                     gebettet in bestehende Institute und Fakultäten. Anders
dass eine Vermittlung von tiefer Wissensexpertise für eine               als in den klassischen ‚interdisziplinären Projekten‘, in
Breite von Anforderungsprofilen erfolgt. Data Science, so                denen sich häufig bestehende Disziplinen als Selbstzweck
lässt es sich aus den beworbenen Studiengangsinhalten                    oder um spezielle inhaltliche Fragen zusammenschließen
und den Lehrplänen rekonstruieren, verbinde die Lehre                    (Abbott 2001), widmet sich Data Science keinem speziel-
von technischen, statistischen, kommunikativen und be-                   len Problem, und etablierte Disziplinen versuchen, ihre
triebswirtschaftlichen Kenntnissen:                                      Eigenständigkeit trotz der Emergenz von Data Science zu
                                                                         bewahren (z. B. Donoho 2015). An den meisten Universitä-
      „Students master subjects from computer science, statistics, and   ten ist Data Science innerhalb der Institute der Statistik,
      management such as regression, web scraping, SQL and NoSQL
                                                                         der Informatik (Computer Science) oder der Ingenieurs-
      database management, natural language processing, business
      communications, machine learning, cluster analysis, applica-       wissenschaften angesiedelt. Damit knüpft Data Science
      tion development, and interviewing skills.” (University of San     an die abwechslungsreiche Geschichte sowohl der US-
      Francisco 2019)                                                    amerikanischen Universitäten als auch der Statistik selbst
                                                                         an (Ben-David 1971). Es existieren bisher nur an einigen
Als technische Fähigkeiten werden immer wieder ‚data                     mittel- oder höher rangierenden Universitäten eigene Data
cleaning‘, ‚programming‘ und ‚data visualization‘ in den                 Science-Institute (siehe Columbia University 2019a) bzw.
Lehrplänen der Studiengänge erwähnt. Zusätzlich zu                       Data Science Schools (siehe University of Virginia 2019c).
diesen praktischen ‚skills‘ umfassen die statistischen Fä-
higkeiten, die vermittelt werden sollen, die Anwendung
                                                                         5 Den Terminus ‚Akademiker‘ ziehen wir als deutsches Pendant zum
und Entwicklung statistischer Modelle. Häufig müssen
                                                                         US-amerikanischen Terminus ‚professional‘ heran (Freidson 1986).
daher, um in die Studiengänge aufgenommen zu werden,                     Als Akademikerin ist in diesem Sinne eine universitär geschulte
Grundkenntnisse im Umgang mit Programmiersprachen                        Wissensarbeiterin gemeint, nicht aber eine Wissenschaftlerin oder
und Statistik vorgewiesen werden. Das Studium selbst                     ‚academic‘.
Philipp Brandt, Professionalisierung mittels Ambiguität          201

Diese mitunter schwache Form der Institutionalisierung                     erfolgt gewissermaßen in Abgrenzung zum ‚Fachidiot‘
wird als Stärke des Faches gerahmt. In den Studiengangs-                   oder ‚Nerd‘, obwohl sie die für diese Bezeichnungen cha-
beschreibungen präsentiert sich ein Narrativ, welches eine                 rakteristische Kompetenz in der Arbeit mit Computern
produktive Verbindung zwischen Data Science als Quer-                      (siehe Kendall 1999) auch für sich beanspruchen.
schnittsprogramm und der datenweltlichen Durchdrin-                             In den Stellenanzeigen, bei denen in der Regel kein
gung sämtlicher Bereiche der sozialen Welt proklamiert:                    spezielles Data Science-Studium vorausgesetzt wird,
                                                                           sondern lediglich ein Studium in einem quantitativen Fach,
    „Our faculty represents the fundamental multidisciplinary              finden wir eine etwas anders gelagerte Diskursivierung
    nature of the big data industry.” (University of San Francisco
                                                                           von Data Scientists. Hier dominiert anstelle des Bildes von
    2019)
    „Our core courses draw on expertise and involve faculty from           Data Scientists als multipolaren AkademikerInnen jenes
    different disciplines across Duke. By doing so, they reflect the       einer Schnittstellenprofession. Data Scientists werden bei
    multiple quantitative disciplines that contribute skill sets to data   den etablierten Techunternehmen wie auch den Start-ups
    science.” (Duke University 2019a)                                      als eine Art Mediatoren konstruiert, die sich dadurch aus-
                                                                           zeichnen, praktische Vermittlungs- und Übersetzungs-
Data Science durchziehe die Fakultäten in gleichem Maße,                   arbeit innerhalb und zwischen Arbeitsgruppen leisten zu
wie Daten die Wirtschaft und Gesellschaft durchziehen,                     können. Den Stellenanzeigen zufolge sollen Data Scien-
lautet die homologisierende Narration – eben, weil die                     tists primär über die berufliche Eignung verfügen, mit ver-
Kurse größtenteils von bestehenden Fakultäten angebo-                      schiedenen Abteilungen und Berufsgruppen – und somit
ten werden. Der Anspruch an Data Scientists ist somit ein                  auch zwischen unterschiedlichen Akteuren, Konzepten
anderer als an die ausbildenden Institutionen und Wissen-                  oder Zielen – zusammenarbeiten und zwischen ihnen ver-
schaftler selbst. Somit kann auch Wirtschaftsnähe als ein                  mitteln zu können. Es wird das Bild von Data Scientists als
Verkaufsargument eines Studiums dienen, ohne Anlass für                    ‚broker‘ bzw. einer Brücke konturiert:
Verlustängste wissenschaftlicher Autonomie zu bieten.6
                                                                                „Our team drives the cross-company strategy for healthcare and
Gleichzeitig ist die Bewerbung von Data Science als Quer-
                                                                                life sciences, and applies Microsoft’s deep technical assets on
schnittsprogramm wohl auf organisationsökonomische
                                                                                improving healthcare and health equity around the world. We
Aspekte zurückzuführen; es dürfte in vielerlei Hinsicht                         focus on impacting technology and the industry in the 3–10 year
unproblematischer sein, ein Programm in bestehende                              horizon, and act as a bridge [eigene Hervorhebung] between
Disziplinen einzugliedern, statt ihm eigene Organisations-                      Microsoft Research and product teams, and have landed nume-
einheit zukommen zu lassen. Diese Positionierung weist                          rous technical innovations into shipping products.” (Microsoft
                                                                                2019a)
für Data Science als Disziplin freilich das Risiko auf, eine
                                                                                „Work with cross-functional partners in product, engineering,
fachliche Selbstverwaltung nicht zu erreichen, sondern in                       design, and operations to achieve business goals.” (InstaCart
organisationaler Abhängigkeit zu verbleiben. Außer Frage                        2019a)
steht jedoch, dass die Positionierung von Data Science als
Querschnittsdisziplin einen konfliktärmeren Eintritt in
                                                                           Data Scientists werden also von den Unternehmen als
das akademische Feld ermöglicht hat.
                                                                           Schnittstellenprofession zwischen individuellen und
    Durch die oszillierende Diskursaktivität zwischen
                                                                           organisationalen Akteuren konstruiert. Diese zugeschrie-
Disziplinen entsteht also ein Bild von Data Scientists als
                                                                           bene Rolle geht einerseits mit Anforderungen im Betrieb
multipolaren AkademikerInnen. Data Scientists wird die
                                                                           einher, andererseits ist sie zugleich Anerkennung und
Rolle zugeschrieben, disparate Wissenssysteme ‚mastern‘
                                                                           Legitimation einer Verantwortung, die Data Scientists zu-
und kombinieren zu können. Data Scientists sollen die
                                                                           teilwerden soll.7
Arbeitswelt dadurch bereichern, dass sie eine methodisch
                                                                                Diese Figuration der Arbeitsrolle schließt zwar intuitiv
versierte Verbindung bestehender Fachexpertisen betrei-
                                                                           an den Befund von Data Scientists als multipolaren Aka-
ben, so das Mantra. Die Konstruktion von Data Scientists
                                                                           demikerInnen an, weicht jedoch in ihrer sozialen Form ab.

6 Womöglich manifestiert sich mit der Wirtschaftsnähe in dem aka-
demischen Diskurs auch der Umstand, dass das US-amerikanische              7 Im nächsten Abschnitt wird deutlich, dass sich trotz dieser Schnitt-
Hochschulsystem stark ökonomisiert ist. Entsprechende Befunden             stellenpositionierung nicht automatisch personelle Führungsverant-
beziehen sich auf die Hochschulverwaltung (z. B. Espeland & Sauder         wortung für Data Scientists ergibt. Womöglich dürfte eine Schnitt-
2007), wohingegen die wissenschaftlichen Disziplinen eine strecken-        stellenprofession ohne Führungsverantwortung für ein gewisses
weise kontraproduktive Opposition zur Ökonomisierung ihrer Arbeit          Maß an Anomie in bestehenden Organisationsstrukturen und -logi-
einnehmen (Owen-Smith & Powell 2001).                                      ken sorgen.
202        Philipp Brandt, Professionalisierung mittels Ambiguität

Es wird in den Stellenanzeigen weniger auf die Bündelung             ist also, temporäre Entdifferenzierungen zwischen hetero-
von Wissen auf einer höheren Ebene referiert, sondern                genen Entitäten innerhalb von Arbeitsprozessen herstel-
vielmehr auf die Funktion des vermittelnden Mitarbeiters             len zu können.
innerhalb eines datenökonomischen Projekts gepocht. Die
Stellenanzeigen küren Data Scientists als solche Akteure,
die Verbindungen herstellen und zwischen heterogenen                 6.2 Data Scientists als Anti-Nerds
TeammitgliederInnen ‚brokern‘. Während das akademi-
sche Feld Data Scientists ein multipolares Kompetenz-                Ein weiterer zentraler Aussagenkomplex in der unter-
profil zuschreibt und als Akteure positioniert, die scho-            suchten diskursiven Praxis betraf die Einordnung von
lastisch in mehreren Arenen des Wissens verankert sind,              Data Scientists in die Arbeitswelt sowie damit verbun-
führt das ökonomische Feld die Rolle von Data Scientists             dene sozialfigurative Charakteristika. Hier herrschte auf
als praktischen VermittlerInnen ins Feld, die Probleme               der Phänomenebene größerer Dissens als zuvor bei den
vielleicht nicht eigenständig lösen können oder in ‚saube-           Kenntnissen und Aufgaben. So werden Data Scientists in
rer‘ wissenschaftlicher Manier abarbeiten (Evans 2010), es           Studiengangsbeschreibungen über die Statusgrenzen des
dafür aber schaffen, grenzgängerisch Brücken zwischen                akademischen Feldes hinweg als ‚leader‘ tituliert, wobei
spezialisierten Akteuren bzw. Experten zu schlagen.                  die Führungsrolle hier in Bezug auf Expertise zu verste-
     Ob Data Scientists nun in der Praxis das Generalis-             hen ist und nicht in Bezug auf Personen. Die University of
tentum tatsächlich meistern können oder doch eher eine               Virginia beschreibt ihr Studienangebot etwa damit, dass
Berufsgruppe darstellen, die ‚von allem ein bisschen kann‘           „[n]ow more than ever, the field of data science demands
und wertvolle Mediatisierungsarbeit leistet, fällt aus dem           leaders“ (University of Virginia 2019b). Die Duke Univer-
Rahmen dieser diskursanalytischen Untersuchung. Was                  sity verspricht, mit ihrem Programm gar „a new type of
wir jedoch diskursanalytisch zeigen – indem wir die                  quantitative thought leader“ (Duke University 2019a) zu
Befunde der feldspezifischen Phänomenbeschreibung                    kultivieren.
interpretieren und abstrahieren –, ist eine gemeinsame                    Nun ist sicherlich zu erwarten, dass renommierte
basale Wissensstruktur, die auf der Deutung des Grenz-               Universitäten damit werben, Führungskräfte zu produ-
gängertums beruht. Data Scientists werden gewisserma-                zieren; allerdings verweist der Terminus ‚leader‘ unseres
ßen als ‚marginal man‘ (Park 1928: 881) diskursiviert, als           Erachtens auf eine etwas andere Sozialfigur. Der Begriff
GrenzgängerInnen, die durch die Überschreitung beste-                ist nicht mit dem gängigen Verständnis von Führungs-
hender Disziplinen und Organisationsrollen – mitsamt                 kräften gleichzusetzen, sondern zielt vielmehr auf die Be-
ihren behüteten Methoden, Expertisen und Verantwor-                  stimmung einer neuen Art von Führung – eine Führung,
tungsbereichen – zur Weiterentwicklung des Wissens bzw.              die weniger auf der Disziplinarmacht beruht (Foucault
Profits beitragen. Im akademischen Feld bewegt sich die              2014), sondern kollaborativ agiert und Autorität dement-
Data Scientist zwischen abgetrennten Fachgebieten hin                sprechend informeller und subtiler ausübt. So führt die
und her; hier wird die Entdifferenzierung gewissermaßen              Duke University im Anschluss an die Ausrufung eines
in das Arbeitssubjekt selbst hineinverlagert: Der Data               ‚thought leaders‘ aus: „Duke’s Master in Interdisciplinary
Scientist ‚meistert‘ und kombiniert eigenständig verschie-           Data Science combines rigorous computational and tech-
dene Fachexpertisen und entwickelt ein Querschnittsden-              nical training with field knowledge and repeated practice
ken. In der Konstruktion als Schnittstellenprofession im             in critical thinking, teamwork, communication, and col-
ökonomischen Feld ist die Data Scientist eher die Brücke;            laborative leadership to generate data scientists who can
doch auch hier wird sie als Grenzgängerin gedeutet,                  add value to any field” (Duke University 2019a). Letzt-
indem ihr die Expertise zugeschrieben wird, im Kollektiv             lich bleibt in den diskursiven Praktiken der Universitäten
von Arbeitssubjekten Übersetzungen und Entdifferenzie-               nebulös, ob mit der Rolle des ‚leader‘ etwa auch Personal-
rungen herstellen zu können. So wie die Grenzgängerin                verantwortung einhergehen muss (womöglich wird der
letztlich dank ihrer multiplen Erfahrungswelt eine eigene            ‚leader‘-Begriff als Update des Manager-Begriffes ins Spiel
Innovationsader verspricht (Bargatzky 1981: 155), wird               gebracht, der aufgrund einer inflationären Verwendung
nun die Data Scientist von Wissenschaft und Wirtschaft               zunehmend in Verruf gerät). Es ist aber feststellbar, dass
als solches Arbeitssubjekt konstruiert, das Wissensgebiete           eine Verbindung zwischen ‚leadership‘ und sozialen Kom-
oder arbeitsrelevante Projektglieder organisch verkoppeln            petenzen wie etwa ‚communication‘ oder ‚collaboration‘
könne, um so zu neuen und kreativen Lösungen für Pro-                im Diskursnetz gezogen wird.
bleme zu gelangen. Die grenzgängerische Fähigkeit, die                    Insbesondere die mittel- und höher prestigehaften
Data Scientists von beiden Feldern zugeschrieben wird,               Universitäten bewerben ihre Studiengänge mit verpflich-
Philipp Brandt, Professionalisierung mittels Ambiguität     203

tenden Kursen, die soziale Kompetenzen trainieren sollen.                  Hier wird also nicht nur, wie für immer mehr Berufsfelder
Um erfolgreich in die Rolle des Data Scientists schlüpfen                  üblich, ein Kreativitätsversprechen artikuliert (Reckwitz
zu können, benötigt es ‚hard skills‘ und ‚soft skills‘, so der             2012: 133), sondern auch ein affektueller Schwur an den
diskursive Kodex. An den weniger renommierten Univer-                      Teamgeist geleistet. Die Diskursaktivitäten versprechen
sitäten steht die Vermittlung von sozialen Kompetenzen                     eine spielerische Arbeitssituation mit der Aussicht auf
seltener in den Curricula. Das liegt gegebenenfalls daran,                 eine transformative Arbeit innerhalb eines kollabora-
dass die Studiengangsprogramme häufig nur online erfol-                    tiven – manchmal gar familiären – Teams. Besonders
gen und keine Präsenz vor Ort erfordern. Mit der diskur-                   junge Techunternehmen betonen diesen Gedanken. Data
siven Anrufung von Data Scientists als kommunikativen                      Scientists sind, so die diskursive Anrufung bzw. die dis-
Führungspersönlichkeiten kann also zeitgleich eine Dis-                    kursive ‚engineered culture‘, keine ‚unternehmerische
tinktion der renommierten von den weniger angesehenen                      Selbste‘ (Bröckling 2007), sondern passionierte Teamspie-
Instituten im akademischen Feld festgestellt werden –                      lerInnen. Auf der untersuchten Job-Plattform ‚glassdoor‘
eine Distinktion, die sich wohl bis zu nichtuniversitären                  etwa werden Führungskompetenzen in der Regel nur für
Anbietern von Data Science-Lernprogrammen, wie etwa                        Ausschreibungen sogenannter ‚Senior Data Scientists‘ ver-
datacamp, erstreckt. Die Phänomenbeschreibung von                          langt. In anderen Worten: Das subjektivierende Moment
Data Scientists als ‚leader‘ liegt dementsprechend nicht                   des ökonomischen Diskursfeldes ist, anstelle der indivi-
einheitlich über dem Feld – hier wird der Diskurs entlang                  duierenden Assoziierung von Data Scientists als ‚thought
der Positionen im Statusgefüge gebrochen.                                  leader‘, ein kollektivierendes.
     Das zumindest bei mittel- und höher prestigehaften                         Auf einer tieferen Ebene hegen diese zwei Rollen-
Universitäten verbreitete Bild vom Data Scientist als                      zuschreibungen, die augenscheinlich aneinander vorbei-
‚leader‘ ist in den Stellenausschreibungen der Digital-                    reden, ein gemeinsames epistemisches Profil.8 So bauen
konzerne kaum wiederzufinden. Stattdessen lässt sich                       beide Phänomenstrukturen auf dem Deutungsmuster auf,
ein Bild ausmachen, das auf einer anderweitig ‚enginee-                    dass Data Scientists eine ausgeprägte Sozialität besitzen
red culture‘ (Kunda 1992) aufbaut, dessen Elemente zwar                    sollen. Ob als ‚leader‘ oder kollegiale Teamspielerin,
keinen Antagonismus zu der universitär konstruierten                       beide Rollen setzen kommunikatives Talent voraus. Data
Rolle zeigen, allerdings in Konturen einer differenten So-                 Scientists, so wird in beiden Diskurssträngen impliziert,
zialfigur münden. Anstelle vom ‚leader‘ ist in den Stellen-                sollten kommunikativ sein, benötigen Empathie und eine
ausschreibungen viel häufiger vom ‚team player‘ die Rede,                  Verbindung von intellektuellem und sozialem Gespür.
dem nicht Führungskompetenzen, sondern ein spieleri-                            Aus diesem Befund leiten wir die Vermutung ab, dass
scher Habitus anhaftet. Data Scientists werden im öko-                     in beiden Feldern eine Distinktion des Data Scientists von
nomischen Feld als passionierte Arbeitssubjekte und Ent-                   benachbarten Sozialfiguren wie den StatistikerInnnen
decker in der datafizierten Welt konstruiert. Das Ziel des                 oder den InformatikerInnen erfolgt; jenen zwei etablierten
Spiels ist das Finden von Mustern und Regelmäßigkeiten                     Berufen, die als zentrale Konkurrenten um die Jurisdiktion
in großen Datenmengen. Dieses anspruchsvolle Ziel soll                     der Datenarbeit gelten dürften, auf die es Data Scientists
jedoch nicht innerhalb eines Terrains von Einzelkämpfern                   abgesehen haben. Die konkurrierenden Berufsgruppen,
verfolgt werden, sondern im Kontext eines ‚teams‘ und                      die seit den 1980er-Jahren das Bild des Nerds als solches
harmonischen Habitats. Die Arbeit des Data Scientists                      geprägt haben, werden mit hohem technischen und digi-
mag harte Arbeit beinhalten und technische Fähigkeiten                     talen Kapital, dafür aber wenigen sozialen Kompetenzen
voraussetzen, sie ist dafür kollaborativ und ‚spaßig‘ zu-                  in Verbindung gebracht (Kendall 1999). Data Scientists
gleich, so das Mantra:                                                     hingegen werden von beiden Feldern als selbstaktive
                                                                           Anti-Nerds diskursiviert, als Akteure mit einer Libido für
    „We’re working hard, having fun, and making history. Come join         Austausch und Interaktion; Data Scientists müssen dem
    our team! You will have an enormous opportunity to impact the
                                                                           Diskurs nach nicht mehr disziplinarisch geführt werden,
    customer experience, design, architecture, and implementation
    of a cutting edge product used every day by people you know.”          sie werden vielmehr als Verantwortungsträger und Ini-
    (Amazon 2019c)                                                         tiator ins Spiel gebracht.
    „Our mix of thoughtful, inventive and neighborly employees                  Im Anschluss an Foucault kann diesbezüglich von
    work together to deliver our common goal, to make grocery shop-        einem Übergang von disziplinarischen zu selbstkontrol-
    ping effortless, and give valuable time back to our customers. We
    believe that just as meals are best shared together, success is
    best shared together. If this excites you, then Instacart just might
    be the place for you. Welcome home.” (InstaCart 2019a)                 8 Damit will nicht gesagt sein, dass die Ebene der Deutungsmuster
                                                                           die ‚wahrere‘ oder ‚objektivere‘ Ebene darstellt.
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