Report - Im Blickpunkt Wie kann der Fußverkehr sicherer werden? - Deutscher Verkehrssicherheitsrat (DVR)
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report DV R 4/2020 Fa c h m a g a z i n f ü r Ve r ke h rs s i c h e r h e i t Im Blickpunkt Wie kann der Fußverkehr sicherer werden? Rundschau Aktuell Journal DVR-Hauptgeschäftsführer Aktueller Stand der Aufbauseminare für übergibt das Steuer StVO-Reform Fahranfänger
Liebe Leserinnen, liebe Leser, wir stehen am Ende eines außergewöhnlichen Ferner stellen wir den umfassenden DVR- Jahres, das uns alle bewegt, belastet und vor Beschluss zum Thema „Sicherer Fußverkehr“ vor, große Herausforderungen gestellt hat, unser der konkrete Empfehlungen zur Verbesserung alltägliches Leben in Zeiten der Pandemie zu der Infrastruktur beinhaltet. Das in der letzten meistern. Besonders der erste Lockdown im Ausgabe für den 3. Dezember 2020 angekündigte Frühjahr hat sich auch auf unsere Mobilität aus- DVR-Kolloquium „Sichere Mobilität beginnt zu gewirkt. Diese war besonders in den Monaten Fuß – Auf dem Weg zu fußgängerfreundlichen März und April deutlich eingeschränkt, was sich Städten“ ist übrigens aufgrund der pandemischen auch auf das Unfallgeschehen ausgewirkt hat. Entwicklung auf den 5. März 2021 verschoben Von Januar bis September 2020 erfasste die Poli- worden. Es wird rein virtuell stattfinden. zei nach Angaben des Statistischen Bundesamtes insgesamt rund 1,68 Millionen Straßenverkehrs- Ich wünsche Ihnen in diesem Jahr ein besonders unfälle. Das waren 15,4 Prozent weniger als im frohes und besinnliches Weihnachtsfest und alles entsprechenden Vorjahreszeitraum. Darunter Gute für ein hoffentlich besseres neues Jahr, vor waren rund 203.100 Unfälle mit Personenschaden allem beste Gesundheit! EDITORIAL (-11,0 Prozent), bei denen 2.101 Menschen getötet wurden. Damit ging die Zahl der Verkehrstoten im Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre, Vergleich zu den ersten neun Monaten des Jahres herzlichst, Ihr 2019 um 10,3 Prozent beziehungsweise 240 Per- sonen zurück. Die Zahl der Verletzten im Straßen- verkehr sank um 13,7 Prozent auf 251.500. Coronabedingt sind nicht nur mehr Menschen Sven Rademacher, Chefredakteur wieder in ihr Auto gestiegen, um Busse und rademacher@vkm-dvr.de Bahnen wegen erhöhter Ansteckungsgefahr zu meiden, viele sind auch auf dem Fahrrad oder Pedelec unterwegs gewesen. Es ist davon auszu- gehen, dass sich das auch in den Unfallzahlen für 2020 widerspiegeln wird. Rad- und Fußverkehr waren in diesem Jahr Schwerpunktthemen in der Arbeit des DVR. Das findet sich auch in dieser Ausgabe wieder. Neben dem Blick auf zentrale Aspekte der Zweirad sicherheit, die DEKRA im aktuellen Verkehrs sicherheitsreport anschaulich zusammengefasst hat, und wichtige Voraussetzungen in der Infra- struktur, erläutert Radprofessorin Jana Kühl in einem Interview, wie moderne Mobilitätskonzepte umgesetzt und ein besseres Miteinander im Stra- ßenverkehr erreicht werden könnten. 2 DVR-report 4/2020
„Gaffer setzen das Leben der Unfallopfer aufs Spiel“ Ein Lkw fährt ungebremst in das Stauende und Fall sogar die Zufahrt zur Unfallstelle“, erläutert schiebt mehrere Pkw ineinander. Als wäre ein Kellner. Außerdem bremsen Gaffer ihre Autos solch schwerer Unfall nicht schon tragisch genug, oder Lkw an der Unfallstelle deutlich ab, um fil- erschweren vorbeifahrende Personen, die ihr men oder fotografieren zu können. Dadurch ent- Handy zücken und Aufnahmen von Verletzten und steht ein Rückstau, Rettungsfahrzeuge erreichen RUNDSCHAU Rettungskräften machen, die Situation erheblich. den Unfallort verspätet, es können Folge- und In besonders schlimmen Fällen bleiben sie an der Auffahrunfälle verursacht werden. Für die Unfall Unfallstelle stehen und behindern die lebensret- opfer endet das im schlimmsten Fall tödlich, denn tende Arbeit der Helferinnen und Helfer. „Solche für sie zählt jede Minute. Reanimationen oder Gaffer sind ein großes Ärgernis für die Polizei die Versorgung stark blutender Wunden müssen und die Einsatzkräfte, denn sie setzen das Leben schnellstmöglich erfolgen. der Unfallopfer aufs Spiel und missachten deren Persönlichkeitsrechte“, kritisiert DVR-Hauptge- Deshalb sollte das Handy nur aus der Tasche schäftsführer Christian Kellner. Sie handelten genommen werden, um die 112 zu wählen. menschenverachtend und sollten sich zudem klarmachen, dass sie oder ihre Angehörigen selbst einmal Opfer eines Verkehrsunfalls werden könnten. Darüber hinaus missachten Gaffer die laut Straf- gesetzbuch geltende Verpflichtung, Erste Hilfe zu leisten. „Oft behindern oder verzögern sie mit ihrem Verhalten die schnelle Fahrt der Ret tungskräfte zum Unfallort. Sie bilden keine Rettungsgasse und blockieren im schlimmsten Mit ihrem Verhalten erschweren Gaffer die Arbeit der Polizei und Einsatzkräfte. Foto: ©RioPatuca Images - stock. adobe.com Inhaltsverzeichnis EDITORIAL2 RUNDSCHAU3 AKTUELL6 MITGLIEDER8 INTERVIEW 14 IM BLICKPUNKT 16 JOURNAL20 E U RO PA 27 WISSENSCHAFT28 IMPRESSUM 29 4/2020 DVR-report 3
DVR-Hauptgeschäftsführer Christian Kellner übergibt das Steuer Nach 17 Jahren verabschiedet er sich in den Ruhestand Zu seiner Bilanz und seinen Zukunftsaussichten haben wir ihn befragt. DVR-report: Herr Kellner, wenn Sie auf die zurückliegenden Jahre blicken: Welche Herausforderungen, aber auch Erfolge, bleiben Ihnen besonders in Erinnerung? Kellner: Ein besonderer Moment war für mich, als der DVR beschlossen hat, sich für ein Alkoholverbot am Steuer einzusetzen. Dem war eine intensive Diskussion in allen Ausschüssen und im Vorstand vorausgegangen und es wurde intensiv und vehement debat- tiert. Als Hauptgeschäftsführer besteht die Aufgabe darin, dass sich der Ver- band durch ein gutes Ergebnis hin zu mehr Verkehrssicherheit profiliert und dass er inhaltlich sauber und transpa- rent arbeitet, aber auch, dass solche Diskussionen fair verlaufen und die Christian Kellner sieht für den DVR weiterhin viele wichtige Aufgaben. Foto: DVR Koordination zwischen den Gremien stimmt. Das hatte in diesem Fall gut Mit dem Jahresende steht im DVR ein sowie die Leitung der Referate „Betrieb- geklappt. Ein ähnliches Erfolgserleb- Führungswechsel an. Nach 17 Jah- liche Verkehrssicherheitsarbeit“ und nis bescherte uns in der Geschäfts- ren verabschiedet sich DVR-Hauptge- der Abteilung „Verkehrserziehung und führung, die ich ja mit Ute Hammer schäftsführer Christian Kellner in den Aufklärung“. teilte, der erfolgreich verlaufene Pro- Ruhestand. Seine Nachfolge tritt zum zess zur Entwicklung des DVR-Leit- Januar 2021 der bisherige Leiter des Nach zehn Jahren machte sich der bilds und – getrennt davon – dass sich Berliner DVR-Hauptstadtbüros Stefan Diplom-Pädagoge auf zu neuen beruf- der DVR auf die Strategie Vision Zero Grieger an. lichen Ufern, zunächst als Trainer von einigen konnte. Alles drei waren echte Führungskräften, Autor und freier Mit- Highlights. Kellner begann seine berufliche Lauf- arbeiter eines Verlages. Von 1995 bis bahn nach einem Studium der Erzie- 1997 fungierte Kellner als Leiter der Die Diskussion zum Thema „Tempoli- hungswissenschaften 1983 beim DVR Öffentlichkeitsarbeit beim Verband mits auf Bundesautobahnen“ verlangte als Projektleiter des Programms „Ältere Forschender Arzneimittelhersteller uns viel ab; wir arbeiteten fast zwei Menschen als Fußgänger im Straßen- in Bonn und Berlin. Anschließend war Jahre in unseren Gremien, in Arbeits- verkehr“. Es folgte die Leitung des Pro- er Geschäftsführender Gesellschafter gruppen und natürlich im Vorstand. gramms „Sicherheit auf allen Wegen“ einer Kommunikationsagentur in Köln, Auf den Kompromiss, den wir gefunden in enger Zusammenarbeit mit den bevor er 2004 als Hauptgeschäftsführer haben, bin ich stolz, weil er modern gewerblichen Berufsgenossenschaften zum DVR zurückkehrte. ist und unserer Strategie Vision Zero 4 DVR-report 4/2020
entspricht. Der Wermutstropfen besteht Anregungen für diejenigen, die gestal- nicht alles, aber es ist immer wieder darin, dass ich dem Ergebnis der Arbeit ten und entscheiden. Es wird oft um schön zu erleben, wie sehr das Ziel – eine noch größere Mehrheit gewünscht Formulierungen gerungen; das ist Leben zu retten – alle eint. Ich wünsche hätte. Aber das ist bei diesem Thema anstrengend und macht gleichzei- dem DVR weiterhin ein gutes Standing. vielleicht nicht anders zu erwarten. tig Freude. Kompromisse sind unser Es gibt so viel zu tun, wenn ich allein tägliches Brot. Ich würde sagen, der an die Technik denke oder an die infra- Es ist ebenfalls gut gelungen, dass DVR wird immer profilierter, aber strukturellen Herausforderungen. sich der DVR trotz so vieler Einzelinte- dabei nicht einseitiger. Eine besondere ressen fokussiert. Dass sich der DVR in Entwicklung tut sich im Bereich der DVR-report: Wie werden Sie ab Januar seiner Heterogenität auf zehn Top-For- Zusammenarbeit mit den gesetzlichen 2021 Ihre persönliche Zukunft gestal- derungen einigen konnte und dabei Unfallversicherungsträgern: Sie wird ten? Gibt es bereits konkrete Pläne? den Schlüsselfaktor „Geschwindigkeit“ immer differenzierter, praxisnaher und Kellner: Ich freue mich sehr auf deut- nicht ausspart, finde ich großartig. effektiver. Hier liegt noch viel Potenzial. lich mehr freie Zeit, in der das Lesen Die Zusammenarbeit mit dem BMVI und das Klavierspiel einen festen DVR-report: Wie hat sich der DVR in hat sich enorm weiterentwickelt. Das Platz haben werden. Mit einer kleinen diesen Jahren verändert? war zu Beginn meiner Dienstzeit span- Gruppe von Freunden wollen wir den Kellner: Der DVR hat seine Bandbreite nungsreich und ist jetzt von Vertrauen Bootsführerschein machen, um dann vergrößert; er ist noch heterogener und Respekt geprägt. gemeinsam zu schippern. Und: Ich geworden. Die Diskussionen in den werde mich mehr um unseren Famili- Gremien sind farbiger und inhaltsrei- DVR-report: Was wünschen Sie dem enzuwachs kümmern können. cher geworden. Beschlüsse des Vor- DVR für die Zukunft? stands haben großen Gehalt; sie sind Kellner: Der DVR ist auf einem sehr Interview: Sven Rademacher differenziert und bieten eine Fülle an guten Weg. Natürlich gelingt längst „Roll ohne Risiko!“ Erste bundesweite Kampagne zum sicheren Fahren mit E-Scootern Mit der neuen Kampagne „Roll ohne E-Scooter-Fahrende die gleichen Pro- hält, kann Unfälle für sich und andere Risiko!“ macht der DVR, mit Unter- millegrenzen wie für Fahrende ande- vermeiden“, sagt DVR-Präsident Prof. stützung des Bundesministeriums rer Kraftfahrzeuge gelten. Mehr als ein Dr. Walter Eichendorf. Um dieses Ziel für Verkehr und digitale Infrastruktur Viertel der Befragten schätzte die Pro- zu erreichen, kooperiert die Kampagne (BMVI) und der Deutschen Gesetzli- millegrenze falsch ein, rund 25 Prozent auch mit den E-Scooter-Anbietern Tier, chen Unfallversicherung (DGUV), auf gaben an, sie nicht zu kennen. Lime, Voi und Bird. die Gefahren von Regelverstößen beim Fahren mit E-Scootern aufmerksam. Um die Regelkenntnisse zu verbes- Mehr Informationen zur Kampagne und sern und sie und andere Verkehrs zur Umfrage unter: E-Scooter fahren? Ja! Regeln bekannt? teilnehmende vor Unfallrisiken im www.dvr.de/roll-ohne-risiko Jein! Eine repräsentative Umfrage* des Straßenverkehr zu schützen, setzt die *Im August 2020 wurden insgesamt 1.003 Meinungsforschungsinstituts Forsa neue Kampagne „Roll ohne Risiko!“ E-Scooter-Fahrende ab 14 Jahren über das im Auftrag des DVR zeigt, dass viele verstärkt auf Aufklärung. „Die Regel- Verhalten und die Erfahrungen bei der Nut- E-Scooter-Fahrerinnen und -Fahrer kenntnis der E-Scooter-Fahrenden zu zung von E-Scootern befragt. Insbesondere die Kenntnis von Regeln sowie deren Befol- die geltenden Regeln nicht kennen. erhöhen, ist unabdingbar, um die Ver- gung oder Missachtung standen dabei im Gerade einmal die Hälfte der Befrag- kehrssicherheit zu erhöhen. Nur wer Fokus. ten (49 Prozent) wusste, dass für die Regeln kennt und sich an diese 4/2020 DVR-report 5
StVO-Novelle – Ein Drama in fünf Akten Zähes Ringen um Sanktionen für zu schnelles Fahren AKTUELL Beim Überholen von Radfahrenden muss laut StVO-Novelle innerorts ein Mindestabstand von 1,5 Metern eingehalten werden. Foto: David.Sch - stock.adobe.com Von Tanja Hohenstein eine Überprüfung der StVO mit dem Ziel der Rad- verkehrsförderung und gegebenenfalls eine fahr- Eigentlich ist die sogenannte fahrradfreundliche radgerechte Überarbeitung vereinbart. Die Ver- Novellierung der Straßenverkehrsordnung (StVO) kehrsministerkonferenz (VMK) begrüßte dieses bereits Ende April dieses Jahres in Kraft getre- Vorhaben und gründete die Ad-hoc-Arbeitsgruppe ten. Doch Stand Ende November wird wieder der „Radverkehrspolitik“, die konkrete Vorschläge für alte Bußgeldkatalog angewendet, während das eine fahrradfreundliche Novellierung der StVO Bundesministerium für Verkehr und digitale Infra- und der zugehörigen Allgemeinen Verwaltungs- struktur (BMVI) und die Länder um eine gemein- vorschrift (VwV-StVO) erarbeitete. Im Frühjahr same Position zu angemessenen Bußgeldhöhen 2019 legte die Arbeitsgruppe ihre Ergebnisse vor, und Fahrverboten bei zu schnellem Fahren ringen auf die sich die Verkehrsministerinnen und Ver- – bei Redaktionsschluss ohne jede Aussicht auf kehrsminister aller Länder einstimmig geeinigt Einigung. Der DVR hat diesen Prozess von Beginn hatten. an begleitet. Was bisher geschah, wirkt wie ein Drama in fünf Akten. Im Herbst 2019 ging dann der Entwurfstext des BMVI für die StVO-Novelle in die Verbändeanhö- 1. Akt: Entstehung der Novelle rung, an der auch der DVR teilnahm. Der Entwurf Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD für enthielt einige gute Ansätze zur Verbesserung die 19. Legislaturperiode vom März 2018 wurden der Sicherheit Radfahrender, ging aber nicht so 6 DVR-report 4/2020
weit wie die Vorschläge der Arbeits- 3. Akt: Höhepunkt des Dramas sie nur vor Schulen, Kitas oder Pflege- gruppe der VMK. Auch Änderungen oder Verletzung des Zitiergebots einrichtungen greifen sollen; außerorts im Bußgeldkatalog waren Teil der Doch schon kurze Zeit später war die an Autobahnbaustellen. Sonst hätte Novelle. Dazu zählten die Einführung StVO-Novelle wieder in den Schlag- ein Fahrverbot erst beim zweiten Ver- neuer Tatbestände und die Anhebung zeilen: Anfang Juli stellte sich heraus, stoß innerhalb eines Jahres gegriffen. bestehender Bußgelder. Im Februar dass in der Novelle nicht die Ermäch- Daneben hätte es eine Erhöhung der 2020 stimmte dann der Bundesrat der tigungsgrundlage genannt wurde, die Bußgelder geben sollen. StVO-Novelle unter Maßgabe einer für die Regelung der Fahrverbote erfor- Reihe von Änderungen zu. Eine davon derlich ist. Durch das Fehlen einer ein- Zuletzt fand im November auch der war eine Verschärfung der Grenze, ab zelnen Ziffer lag nun ein Verstoß gegen folgende Kompromissvorschlag, der der Geschwindigkeitsüberschreitungen das rechtsstaatliche Zitiergebot vor. durch das Saarland vorbereitet worden künftig mit einem Fahrverbot geahn- Damit war die Neuregelung des Buß- war, keine Mehrheit: Nahezu eine Ver- det werden sollten. Ende April trat die geldkatalogs als Teil der StVO-Novelle dopplung der Geldbußen für Geschwin- StVO-Novelle mit diesen Änderungen in nichtig. digkeitsverstöße, dafür aber eine Kraft. Anhebung der Geschwindigkeitsüber- Daraufhin gingen die Länder dazu über, schreitung, ab der bei einem erstmali- 2. Akt: Streit um Fahrverbote für den Bußgeldkatalog wieder in der Fas- gen Verstoß ein Fahrverbot droht. Statt zu schnelles Fahren sung anzuwenden, die vor der Novelle ab 21 km/h Überschreitung innerorts Bereits Mitte Mai entbrannte eine hef- galt. Das führte dann nicht nur zu einer sollte ein Fahrverbot ab 26 km/h grei- tige Diskussion um die verschärften Rückkehr zur bisherigen Regelung zu fen; außerorts statt ab 26 km/h Über- Fahrverbote: Die eine Seite, zu der Fahrverboten bei Tempoverstößen, schreitung erst ab 36 km/h. auch Bundesverkehrsminister Andreas sondern auch dazu, dass es für Ver- Scheuer zählte, erklärte die Fahrver- stöße gegen die neuen Verkehrsregeln 5. Akt: Katastrophe des Dramas bote bei einer Geschwindigkeitsüber- in der StVO plötzlich keine anwendba- Und wie geht es nun weiter? Wir haben schreitung ab 21 km/h innerorts und ren Sanktionen mehr im Bußgeldkata- eine StVO-Novelle, mit der insbeson- 26 km/h außerorts für unverhältnis- log gab, zum Beispiel für das Überholen dere die Verkehrssicherheit von Rad- mäßig und forderte eine Rücknahme Radfahrender mit zu geringem Abstand fahrenden erhöht werden sollte. Doch dieser Verschärfung. Dagegen warnte oder für das Halten auf Schutzstreifen. für die neuen Regelungen können aktu- die andere Seite davor, die neuen Sank- ell gar keine Verwarn- und Bußgelder tionen zurückzunehmen und verwies 4. Akt: Suche nach verhängt werden. Für die Sicherheit auf die wichtige Rolle, die zu hohe Kompromissen Radfahrender hat sich kaum etwas Geschwindigkeiten für das Unfallge- Damit gab es nun zwei Baustellen: Die verändert und das Vertrauen der Ver- schehen spielen. Frage, ob die Verschärfung bei den kehrsteilnehmenden in den Verord- Fahrverboten gelockert werden sollte, nungsgeber dürfte deutlich gelitten Der DVR wies in der Öffentlichkeit und und den Formfehler beim Zitierge- haben. Eine Einigung von Bund und in zahlreichen politischen Hintergrund- bot. Bisher scheiterten zwei Anläufe Ländern auf eine gemeinsame Lösung gesprächen darauf hin, dass die in Rede des Bundesrates, dem BMVI einen noch in der laufenden Legislatur stehenden massiven Überschreitungen Vorschlag vorzulegen, der diese bei- periode scheint sehr unwahrscheinlich. der höchstens zulässigen Geschwin- den Baustellen beseitigen könnte, in Auch eine Änderung der Allgemeinen digkeiten nicht als „lässliche Sünde“ zu der entscheidenden Abstimmung im Verwaltungsvorschrift zur StVO steht betrachten seien, sondern zu erhebli- Plenum der Länderkammer. noch aus, die Anwendungsfragen der chen Gefährdungen anderer Verkehrs neuen Regelungen beantworten soll. teilnehmender mit möglicherweise Im September standen dort zwei Vor- So kommt man nicht umhin, Bertolt schwersten gesundheitlichen Folgen schläge zur Abstimmung: Derjenige Brecht zu zitieren: „Wir stehen selbst führen könnten. Von daher sei es für die des Umweltausschusses besagte, dass enttäuscht und sehn betroffen/Den Mehrzahl der sich an die Regeln hal- nur der Formfehler geheilt werden, die Vorhang zu und alle Fragen offen“ (Der tenden Verkehrsteilnehmenden absolut Novelle sonst aber unverändert bleiben gute Mensch von Sezuan). plausibel, dass der Verordnungsgeber sollte. Der Vorschlag von Verkehrs- und hier zu schärferen Sanktionen greifen Innenausschuss hätte den Geltungsbe- Die Autorin ist Referentin Public Affairs – müsse. reich für Fahrverbote beim ersten Ver- Rad- und Fußverkehrspolitik beim DVR. stoß eingeschränkt: innerorts hätten thohenstein@dvr.de 4/2020 DVR-report 7
Verkehrsklima 2020 – Corona beeinflusst grundsätzliche Einstellungen kaum UDV-Studie zum Sicherheitsempfinden im Straßenverkehr MITGLIEDER Ein gelassener Fahrer lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Foto: DVR Das geringere Verkehrsaufkommen in Zeiten des Fremdwahrnehmung zieht sich auch durch die Corona-Lockdowns hat das Sicherheitsempfin- gemessenen Werte zu aggressiven Verhaltens- den der Deutschen im Straßenverkehr gering- weisen vor den Corona-Maßnahmen. fügig verbessert: 58 Prozent der in der Studie „Verkehrsklima 2020“ der Unfallforschung der Für die Studie wurden Ende 2019 rund 2.000 Per- Versicherer (UDV) Befragten gaben Mitte des sonen und Mitte 2020 von diesen noch einmal Jahres an, sich sicher oder sehr sicher zu fühlen. 1.300 Personen repräsentativ befragt. „Diese Das war eine Steigerung um vier Prozentpunkte unterschiedliche Selbst- und Fremdwahrneh- zu den Werten am Ende des Jahres 2019. Dazu mung war auch schon in den vorherigen Studien gehören auch leicht günstige Veränderungen klar erkennbar“, erläutert UDV-Leiter Siegfried bei Begriffen wie „stressig“ oder „erfordert Auf- Brockmann. So hätten 92 Prozent der Befragten merksamkeit“. Auf der anderen Seite wird bei den zu dichtes Auffahren, um ein Einscheren eines Kategorien „zu schnelles Fahren“ und „Aggres- anderen Fahrzeugs zu verhindern, bei anderen sivität“ bei der Wahrnehmung anderer Verkehrs gesehen, aber nur jeder Vierte gibt an, dies gele- teilnehmender eine Verschlechterung gesehen. gentlich auch selbst zu tun. „Strafandrohungen Bei der Beurteilung des eigenen Verhaltens oder Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung lau- gaben demgegenüber drei Viertel aller Befrag- fen so ins Leere, da die Adressaten sich gar nicht ten an, dass sich durch Corona nichts verändert angesprochen fühlen“, skizziert Brockmann das habe. Diese Diskrepanz zwischen Selbst- und Problem. 8 DVR-report 4/2020
Welche Maßnahmen unterstützen die Deutschen? Quellenangabe: Verkehrsklima in Deutschland 2020, Unfallforschung der Versicherer (UDV) Aggressives Verhalten wenn sie im Stau stehen oder im Stop- berichteten Regelverstößen beim Insgesamt haben sich die Werte zu and-go-Verkehr unterwegs sind. Thema Fahren unter Alkoholeinfluss aggressivem Verhalten gegenüber eine seit Jahren positive Tendenz: den Vorgängerstudien nicht gravie- Alkoholverbot und Tempolimit Inzwischen sagen 93 Prozent der rend verändert, sind aber nach wie Die UDV wollte auch wissen, welche Befragten, dass sie nicht unter Alkohol vor besorgniserregend: Fast die Hälfte Maßnahmen die Deutschen für sinnvoll einfluss fahren würden. Dies ist beson- der Autofahrenden gab an, sich sofort halten, um die Verkehrssicherheit zu ders bemerkenswert, als die gefühlte abreagieren zu müssen, wenn sie sich verbessern. Drei Viertel aller Befragten Entdeckungswahrscheinlichkeit zurück- ärgern. Das geschieht offenbar häu- halten danach Alkohol am Steuer für gegangen ist. „Hier zeigt sich die große fig über das Gas geben, da 47 Prozent sehr gefährlich und wünschen sich ein Wirkung einer sozialen Norm“, sagt der Befragten sagen, dass sie bei Ärger absolutes Alkoholverbot. Mehr als zwei UDV-Chef Brockmann. Fahren unter viel schneller fahren als erlaubt. Ange- Drittel der Deutschen sprechen sich für Alkohol sei zunehmend von der Gesell- sichts der Gefährlichkeit des Verhaltens einen verpflichtenden Sehtest alle 15 schaft nicht mehr toleriert. Das müsse ist es auch keine Beruhigung, wenn nur Jahre aus. Gut die Hälfte der Befrag- bei anderen Delikten, vor allem beim jeder Vierte gelegentlich Gas gibt, wenn ten hält ein Tempolimit von 130 km/h Thema Geschwindigkeit, auch gelingen. er überholt wird. auf Autobahnen für richtig (53 Prozent), knapp die Hälfte auch ein Tempoli- Die „Verkehrsklima“-Studie der UDV Auf den ersten Blick hat die öffentliche mit von 80 km/h auf Landstraßen (47 wird seit 2008 in regelmäßigen Abstän- Debatte über das zu enge Überholen Prozent). Tempo 30 in Städten würden den wiederholt und ist eine repräsenta- von Radfahrenden gewirkt: 96 Pro- dagegen nur 39 Prozent unterstützen. tive Querschnittsbefragung zur wahr- zent der Autofahrenden sagt von sich genommenen Verkehrssicherheit und selbst, dass sie besonders viel Rück- Im Kontrast zu den gewünschten dem Verkehrsverhalten in Deutschland. sicht nehmen, wenn sie Radfahrende Maßnahmen zeigt sich bei den selbst überholen. Allerdings scheint auch das eher eine sozial erwünschte Antwort zu Innerorts Außerorts (ohne Autobahn) Autobahn Tempo 30: 39 Prozent dafür 80 km/h: 47 Prozent dafür 130 km/h: 53 Prozent dafür sein. Gleichzeitig beobachten nämlich 93 Prozent bei anderen ein zu enges Überholen. Nutzung des Smartphones Auf die Frage, in welchen Situationen sie das Smartphone nutzen, gaben 35 Prozent der Befragten an, wenn sie an einer roten Ampel warten, 27 Prozent, Unterschiedliche Bewertung von Tempolimits Grafik: VKM 4/2020 DVR-report 9
Der Mensch bleibt im Fokus der Sicherheitsforschung Ergebnisse der 13. Internationalen Motorradkonferenz können, das beschränkte Wahrneh- zum Beispiel in ihre jeweiligen Naviga- mungsfeld des Fahrers beträchtlich tionsgeräte eingespielt werden kann. erweitern und ihn damit frühzeitig vor einer Kollisionsgefahr warnen“, erläu- Flankiert werden diese Ansätze von tert ifz-Forschungsleiter Matthias Konzepten, die bei der Verkehrs Haasper. Attraktivität und Akzeptanz infrastruktur ansetzen, um auch diese solcher Systeme hingen dabei auch sicherheitstechnisch weiterzuent- von der klugen Gestaltung der Schnitt- wickeln. Eine Idee dabei seien soge- stelle zwischen Assistenzsystem und nannte „Safestrips“. Dabei handelt es Mensch ab. So deuteten beispielsweise sich um sensorbestückte Messstreifen, Befragungen und Feldversuche mit die in die Fahrbahn eingelassen wer- Motorradfahrenden darauf hin, dass den. Diese können dann vorab defi- es hinsichtlich der Übermittlung der nierte Gefährdungsszenarien erkennen Gefahrenwarnungen unterschiedliche (zum Beispiel Geisterfahrer, wetterbe- Erstmals wurde die Internationale Motorrad- Vorlieben gibt. Genannt werden hier in dingt verschlechterte Straßenzustände, konferenz rein virtuell durchgeführt. Fotos: ifz erster Linie das Vibrationsarmband und beschädigte Straßenbeläge) und Motor- Von der sicheren Ausstattung über das Head Up-Display, aber auch das radfahrenden eine entsprechende au Fahrtrainings und elektronische Assis- Smartphone im Cockpit wird als geeig- diovisuelle Nachricht/Warnung via App tenzsysteme bis hin zur Unfallanalyse, net angesehen. übermitteln. intelligenten Verkehrssystemen und Aspekten der Elektromobilität reichte Noch einen Schritt weiter bei der Kol- „Ungeachtet der rasch voranschreiten- die Bandbreite der 13. Internationa- lisionsvermeidung gehen Bemühun- den Entwicklung neuer Technologien len Motorradkonferenz des Instituts gen, die Fahrenden in Gefahrensituati- stehen aber weiterhin auch die Motor- für Zweiradsicherheit (ifz). Über 3.700 onen nicht nur zu warnen, sondern sie radfahrerinnen und -fahrer im Fokus Interessierte aus mehr als 90 Natio- bei einer unmittelbaren Gefährdung der Sicherheitsforschung“, betont nen hatten sich an der Veranstaltung durch regelnde Eingriffe zu unterstüt- Haasper. Die Bandbreite der Experi- beteiligt, die diesmal pandemiebedingt zen. So seien etwa Bemühungen, die mente und Untersuchungen reiche rein virtuell durchgeführt wurde. Unter im Automobilsektor bereits etablierten dabei von der Analyse des Fahrstreifen- dem Titel „Future Mobility“ sorgten 27 Notbremsassistenten auf motorisierte wechsels von Motorrädern über Mes- wissenschaftliche Beiträge und eine Zweiräder zu übertragen, technisch sungen der Lenkmomente, die für eine konzentrierte Online-Expertendiskus- bereits weit fortgeschritten. Richtungsänderung benötigt werden, sion dafür, neueste Erkenntnisse aus bis hin zu dem Versuch, der Schrägla- der Forschung zur Motorradsicherheit Digitale Unfall-Risiko-Karten genschwelle auf die Spur zu kommen, zusammenzutragen. Ein weiterer vielversprechender Ansatz die Motorradfahrende auch in Gefah- bestehe in der Erstellung von digitalen rensituationen aus Angst nicht über- Neue Technologien Unfall-Risiko-Karten, in denen durch schreiten und damit das mögliche (und Das zeigen zum Beispiel die neuen Testfahrende ermittelte fahrdynamisch womöglich entscheidende) Schrägla- Ansätze zur Unfallvermeidung. „Das anspruchsvolle oder gefährliche Stre- genpotenzial nicht ausnutzen. große Thema hier ist die Crash-Erken- ckenverläufe sowie Unfallschwer- nung beziehungsweise -Vermeidung punkte abgespeichert sind. Hier Weitere Informationen zur 13. Inter- im Vorfeld, bei der digitale Technolo- zeichne sich laut Haasper eine ebenso nationalen Motorradkonferenz unter: gien, wie Radar und Fahrzeugvernet- einfache wie funktionale Präventions- www.ifz.de zung, die quasi um die Ecke gucken lösung ab, die den Motorradfahrenden 10 DVR-report 4/2020
Hohes Unfallrisiko auf zwei Rädern DEKRA präsentiert Verkehrssicherheitsreport 2020 mangelnde Rücksichtnahme in hohem Maße mitverantwortlich. Durch verant- wortungsbewusstes Verhalten, Interak- tion und Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmenden sowie die richtige Einschätzung der eigenen Fähigkeiten lasse sich hier effizient gegensteuern. Ein zentraler Sicherheitsfaktor sei zu- dem das Tragen eines geeigneten Helms, Präsentierten den DEKRA Verkehrssicherheitsreport 2020: der Vorstandsvorsitzende Stefan insbesondere auch für Radfahrende. Kölbl (rechts) und Vorstandsmitglied Clemens Klinke (links). Foto: DEKRA Ob motorisiert oder nicht: Mit dem Mobilität auf zwei Rädern Assistenzsysteme und Zweirad unterwegs zu sein, ist bei vie- nimmt zu Infrastruktur len Verkehrsteilnehmenden beliebt. Weltweit machen seit Jahren die Fah- Speziell bei motorisierten Zweirä- Begleitet wird die Mobilität auf zwei renden von motorisierten und nicht dern rücken auch Systeme der akti- Rädern allerdings von einem deutlich motorisierten Zweirädern rund 25 Pro- ven Sicherheit immer stärker in den erhöhten Risiko schwerer Unfälle. „Um zent der getöteten Verkehrsteilneh- Fokus. Schon seit 2017 darf EU-weit nachhaltig gegenzusteuern, gibt es menden aus. Ähnlich ist die Situation kein Motorrad ohne Antiblockier- eine ganze Reihe von Ansatzpunkten“, in der EU, wobei 2019 zum Beispiel in system (ABS) mehr neu zugelas- sagte Clemens Klinke, Mitglied des Deutschland etwa ein Drittel der Ver- sen werden. Inzwischen gibt es auch Vorstands DEKRA SE, bei der Vorstel- kehrstoten bei Unfällen mit dem Fahr- schon technische Weiterentwicklun- lung des DEKRA Verkehrssicherheits- rad oder dem Kraftrad zu verzeichnen gen der ABS-Technik für Motorrä- reports 2020. waren. Schon diese wenigen Zahlen der in Richtung einer elektronischen zeigen nach Auffassung von DEKRA, Stabilitätskontrolle. Der DEKRA Verkehrssicherheitsreport dass beim Thema Verkehrssicher- 2020 betone zu Recht die Bedeutung heit von Zweiradfahrenden nach wie Neben der Fahrzeugtechnik und dem von menschlichem Fehlverhalten bei vor großer Handlungsbedarf besteht, Faktor Mensch trägt auch die Infra- Unfällen mit Zweirädern, sagte EU-Ver- zumal die Mobilität auf zwei Rädern in struktur einen großen Teil zur Ver- kehrskommissarin Adina Vălean in den nächsten Jahren tendenziell noch kehrssicherheit bei. Optimierungspo- einer Videobotschaft. „In der Tat spie- weiter zunehmen werde. Das gelte für tenzial bieten etwa die Entschärfung len solche Fehler eine große und oft- Krafträder – ob als Freizeitgefährt oder von Gefahrenstellen, ein verkehrssi- mals tragische Rolle. Aber wir müs- für den Weg zur Arbeit – und vor allem cherer Zustand der Fahrbahndecke, sen bedenken, dass es menschlich ist, auch für Fahrräder und Pedelecs. gezielte Geschwindigkeitsüberwachung Fehler zu machen. Fehler sollten nicht an Unfallschwerpunkten, die Instal- zum Tod oder schweren Verletzungen Verantwortungsbewusstes lation geeigneter Schutzplanken, der führen“, betonte sie die Bedeutung von Verhalten Ausbau von Radwegen und vieles mehr. sicherer Infrastruktur und Fahrzeug- Für Unfälle von und mit Zweiradfahren- technik. „Wir dürfen nicht nachlassen, den sind mangelndes Risikobewusst- Der aktuelle DEKRA Verkehrssicher- bis wir unser Ziel erreichen: Null Ver- sein, Missachtung der Verkehrsregeln, heitsreport steht online unter www. kehrstote und null Schwerverletzte auf überhöhte Geschwindigkeit, Fahren dekra-roadsafety.com zum Download den Straßen der EU bis 2050.“ unter Alkoholeinfluss, Ablenkung und zur Verfügung. 4/2020 DVR-report 11
ADFC: Wir brauchen den schnellen Infrastrukturausbau Drastischer Anstieg der Pedelec-Unfälle im ersten Halbjahr 2020 die Zahl der Pedelec-Unfälle aber hat sich drastisch erhöht: von 4.252 im ers- ten Halbjahr 2019 auf 6.227 in diesem Jahr, das bedeutet eine Zunahme von 48 Prozent. Während bei allen anderen Verkehrsarten die Anzahl der Getöteten sank, kamen 2020 fast sieben Prozent mehr Pedelecfahrerinnen und -fahrer ums Leben als zuvor. Bei den Schwer- verletzten nahm die Zahl sogar um 50 Prozent zu. Hohes Unfallrisiko auf Fahrrad und Pedelec Foto: DVR Viele Neuaufsteiger auf dem Die Sicherheit für Radfahrende hat sich schnellen Infrastrukturausbau jetzt“, Pedelec nach Angaben des Statistischen Bun- fordert Stork. Nach Einschätzung des ADFC ist die desamtes (Destatis) im ersten Halbjahr Zunahme der Pedelec-Unfälle auch im 2020 weiter verschlechtert. Besonders 48 Prozent mehr Zusammenhang mit den stark ange- drastisch ist die Zahl der Pedelec-Un- Pedelec-Unfälle stiegenen Verkaufszahlen seit der fälle angestiegen. Der Fahrradclub Laut Destatis ist die Zahl der Unfälle Corona-Krise zu sehen. Laut Zwei- ADFC warnt vor diesem Hintergrund mit Fahrrädern ohne elektrische Unter- rad-Industrie-Verband (ZIV) ist der Ver- vor wachsenden Unfallrisiken durch stützung im ersten Halbjahr gering- kauf sogenannter E-Bikes im ersten überkommene Fahrradinfrastruktur. Er fügig von 34.858 auf 33.343 gesunken, Halbjahr um 16 Prozent gestiegen. appelliert an die Kommunen, die Rad- wegenetze schnell dem gestiegenen Die meisten Schulwegunfälle passieren mit dem Rad Bedarf entsprechend auszubauen. Laut Statistik der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) ereigne- ten sich 2019 rund 62.000 Schulwegunfälle im Straßenverkehr. Rund die Hälfte „Die seit der Corona-Krise neu ent- davon (29.960) waren Unfälle mit dem Fahrrad. Damit liegen Radunfälle weit fachte Begeisterung für das Rad- und vor anderen Formen der Verkehrsbeteiligung wie Pkw-Fahrten (10.165), zu Fuß Pedelecfahren darf nicht in Rekord-Un- gehen (5.680), Fahrten mit dem Tretroller, Inline-Skates etc. (3.606), mit dem fallzahlen münden. Rad fahren darf motorisierten Zweirad (3.435), mit dem Schulbus (3.137) oder anderen öffentli- kein Risikosport sein – es muss kom- chen Verkehrsmitteln (1.205). fortabel und sicher für Menschen aller Altersgruppen und Fitnesslevel wer- Vor diesem Hintergrund appellieren DGUV und DVR an alle Eltern, das Rad den“, sagt ADFC-Bundesgeschäfts- gemeinsam mit ihren Kindern auf seine Verkehrstüchtigkeit zu prüfen und führer Burkhard Stork. Der Ausbau stets einen Fahrradhelm zu tragen. Zudem sollte der Schulweg eingeübt und der Radinfrastruktur gehe quälend über Risiken gesprochen werden. Dazu gehöre auch der Hinweis, Smartphone langsam voran, weil Politik meist ins- und Kopfhörer beim Fahren nicht zu benutzen. Zudem sollten die Kinder nicht geheim weiter am Ideal der auto-opti- überschätzt werden: Oft sehe es danach aus, als ob die Kleinen sich ganz sicher mierten Stadt festhalte. Fahrrad fahren auf dem Fahrrad bewegen. Aber der Straßenverkehr erfordert eine besondere sei gesund und solle es auch bleiben. Aufmerksamkeit. Es sei deshalb ratsam, Kinder nicht vor Abschluss der Fahr- „Die Fahrradnation in spe kann nicht radprüfung in der vierten Klasse selbstständig den Schulweg mit dem Fahrrad zehn Jahre auf zeitgemäße Radwe- zurücklegen zu lassen. genetze warten – wir brauchen den 12 DVR-report 4/2020
ADAC: Jeder dritte Radweg zu schmal Radrouten in zehn Großstädten untersucht Der ADAC hat in einer Stichprobe geprüft, ob bestehende Radwege den immer größer werdenden Radver- kehrsströmen gewachsen sind. Das Ergebnis: Jeder dritte Radweg ist zu schmal und erfüllt nicht einmal die Mindeststandards. Untersucht hatte der ADAC 120 Rou- ten in zehn deutschen Großstädten. Als Maßstab dienten die geltenden Stan- dards für Regel- und Mindestbreiten, die in den „Empfehlungen für Radver- kehrsanlagen“ (ERA 2010) festgelegt Nicht zurückgeschnittenes Grün macht es für den Radverkehr gefährlich. Fotos: ADAC sind. Nach den Empfehlungen sollen zum Beispiel Radwege, die nur in einer „sehr gut“ oder „gut“. Anders in Mainz Fahrrad sind auch breite Lastenräder Richtung befahren werden dürfen, min- und Hannover: Beide Städte fielen mit oder Anhänger und seit vergangenem destens 1,6 Meter breit sein, im Regel- „Mangelhaft“ durch den Test. In Mainz Jahr auch E-Scooter auf den deutschen fall zwei Meter. waren 70 Prozent der Routen mangel- Radwegen unterwegs. „Daher sollte haft oder sehr mangelhaft, in Hannover nach Ansicht des ADAC beim Bau neuer Kiel mit einer guten Gesamtnote 58 Prozent. Die weiteren Städte im Test Radwege auf die Einhaltung der Regel- Über alle Radwege hinweg konnten (Bremen, Dresden, Erfurt, München, breiten geachtet werden und die Min- im ADAC-Test 36 Prozent nicht einmal Saarbrücken, Stuttgart und Wiesbaden) destbreite nur eine Ausnahme sein“, die jeweilige Mindestbreite erfüllen. erhielten die Testnote „ausreichend“. sagt ADAC-Verkehrspräsident Gerhard Die Regelbreiten erreichte oder über- Hillebrand. Für viel genutzte Radwege schritt sogar nur jeder fünfte Radweg. Mehr Sicherheit durch breitere sollten bei der Planung außerdem Brei- Nur Kiel konnte ein gutes Gesamturteil Radwege tenzuschläge eingerechnet werden, um aufweisen. Hier sei keine der befah- Breitere Radwege erhöhen die Sicher- etwa sicheres Überholen auch breiterer renen Routen durchgefallen, knapp heit für den immer stärker wachsenden oder unterschiedlich schneller Fahr- die Hälfte war nach ADAC-Angaben Radverkehr. Neben dem klassischen zeuge zu ermöglichen. Neben oft unzureichend breiten Radwe- gen stellten die Tester des ADAC beim Abfahren der Strecken auch andere Behinderungen fest: In einigen Städ- ten werden Radfahrende durch falsch geparkte Autos, wuchernde Pflanzen, Bäume, Masten oder schlecht ange- brachte Verkehrsschilder behindert. Auch hier liege es an den Städten und Kommunen, auf frei befahrbare Radwege zu achten und Verstöße zu Vorübergehend und dennoch lästig: Mülltonnen verengen den Raum für Radfahrende. ahnden. 4/2020 DVR-report 13
„Die Sicherheit ist ein Kern der Radverkehrsförderung“ Radprofessorin Jana Kühl über Verkehrsmanagement, moderne Mobilitätskonzepte und das Miteinander im Straßenverkehr INTERVIEW „Wenn ein Tempolimit dazu beitragen kann, die Gefahr von Unfällen zu reduzieren, sollte man es einführen.“ Foto: Privat DVR-report: Frau Kühl, herzlichen Glückwunsch deshalb, dass neben der objektiven auch die sub- zu Ihrer Berufung. Sie sind die Eine unter insge- jektive Sicherheit gegeben ist. Dabei muss man samt sieben Radprofessoren in Deutschland. Ihr beachten, dass diese bei jedem Menschen unter- Schwerpunkt lautet Radverkehrsmanagement. schiedlich ausgeprägt ist. Viele Menschen haben Was genau verbirgt sich dahinter? zum Beispiel Schwierigkeiten, den Straßenver- Prof. Kühl: Radverkehrsmanagement ist eine kehr in komplexen Situationen wie Kreuzungen neue Wortschöpfung. Dahinter verbirgt sich Mobi- zu überblicken. Wichtig ist es dann, Verkehre zu litätsmanagement mit einem Schwerpunkt auf der separieren. Radverkehrsförderung. Unter Mobilitätsmanage- Ein anderes Beispiel: Wenn ein Tempolimit dazu ment versteht man die Frage, wie man Menschen beitragen kann, die Gefahr von Unfällen zu redu- dazu bewegen kann, sich künftig umweltfreund- zieren, sollte man es einführen. Es ist meiner Mei- lich fortzubewegen. Dazu zählen neben dem Rad- nung nach überkommen, erst einmal nachweisen verkehr auch der Fußverkehr und der ÖPNV. zu müssen, dass eine Situation gefährlich ist, bevor sie entschärft wird. DVR-report: Welche Rolle spielt dabei die Sicherer wird der Verkehr auch, wenn sich die Verkehrssicherheit? Wahrnehmung des Radverkehrs ändert. Radfah- Prof. Kühl: Die Sicherheit ist ein Kern der Radver- rende sind gleichberechtigte Verkehrsteilneh- kehrsförderung. Wenn ich mich unsicher fühle, mende, die ihren Platz im Straßenverkehr bean- steige ich nicht aufs Rad. Das absolute Basic ist spruchen dürfen. Dadurch kann und darf es auch 14 DVR-report 4/2020
zu einer Neuaufteilung des Straßen- Städte durch eine neue Nahmobilität gegebenenfalls auch nachjustiert wer- raums kommen. anders aussehen können, dass durch den. Infrastruktur ist kein statisches eine geringere Verkehrsbelastung Konstrukt, sie lässt sich durchaus DVR-report: Wie kann Ihre Professur mehr Ruhe einkehrt, zum Beispiel wie anpassen, wie man am Beispiel der dazu beitragen, dass wir im Straßen- bei verschiedenen Neubaugebieten Pop-up-Radwege sieht. Aber sichtbare verkehr ein stärkeres Miteinander statt in Freiburg im Breisgau, die autoarm Zeichen sind das Wichtigste, um Men- ein Gegeneinander erleben? gehalten wurden und mehr Spielraum schen auch zu ermutigen, alternative Prof. Kühl: Mehr Miteinander im Stra- für Kinder bieten. Das hat Wert und Mobilitätsformen zum Auto zu wählen. ßenverkehr ist für mich ein großes Qualität. Anliegen. Dadurch, dass der Radver- DVR-report: Was wünschen Sie sich kehr an der Ostfalia Hochschule in DVR-report: Häufig wird das nieder- für die Zukunft des Radverkehrs in unterschiedlichen Kontexten thema- ländische Kreuzungsdesign als beson- Deutschland in zehn Jahren? tisiert wird, kann es gelingen, dass ders sicher hervorgehoben. Sollten wir Prof. Kühl: Ich wünsche mir, dass wir wir den Radverkehr als legitime Ver- unsere Infrastruktur nun so gestalten das Thema konsequent angehen und kehrsform stärker in die Köpfe bringen. wie in den Niederlanden? insbesondere auf kommunalpolitischer Das ist Teil des Prozesses, der dazu Prof. Kühl: Nein, wir können nicht alles Ebene nicht die Köpfe einziehen, wenn führen kann, dass wir von den gegen- genauso tun. Die Anforderung, das zu es mal Gegenwind gegen infrastruktu- seitigen Vorwürfen wegkommen. tun, wäre zwar ein konsequenter Weg, relle Maßnahmen für den Radverkehr Ich möchte den Blick für verschiedene würde uns aber überfordern. gibt. Optionen der Mobilität öffnen. Mobilität Hinzu kommt, dass Kreuzungen unter- Argumente, dass wir den Autover- kann auch vom ÖPNV, dem Rad- oder schiedliche Bedingungen haben. Sie kehr für den Einzelhandel brauchen, Fußverkehr aus gedacht werden. unterscheiden sich im Platzangebot, sind althergebracht. Wir brauchen die Ich bin sicher, dass es viele Menschen wie stark sie frequentiert werden. Des- Offenheit, den Gegenbeweis erbrin- gibt, die sich nicht an diesem Gegen halb gibt es auch nicht die Lösung für gen zu dürfen, die Offenheit, einfach einander beteiligen, sondern primär ein Kreuzungen. loszulegen. Das bedeutet nicht, dass Interesse daran haben, gut und sicher Bei Straßen, die weniger frequentiert alle sofort Fahrrad fahren sollen. Die- von A nach B zu gelangen. Sie würden werden, helfen vielleicht schon kleinere ser Prozess benötigt Zeit. Aber wir auch das Rad nutzen, wenn man ihnen Maßnahmen wie farbliche Markier brauchen das Zugeständnis, dem Rad- die Möglichkeit dazu gibt. ungen. Das ist ohnehin die allererste verkehr eine Chance zu geben, seine Möglichkeit, wie man die Sicherheit Potenziale sichtbar zu machen. DVR-report: Was empfinden Sie per- steigern kann. Das kann jede Kom- sönlich als größte Herausforderung, mune tun. Eine längere Fassung dieses Interviews um in Städten eine Gleichberechtigung Darüber hinaus muss man manchmal gibt es unter: der Verkehrsarten herzustellen? Lösungen auch erst suchen. Wichtig ist www.dvr.de Prof. Kühl: Ich habe das Gefühl, dass aber, dass wir Maßnahmen ausprobie- wir immer wieder über die Konflikte ren, die die Infrastruktur sicher gestal- Interview: Julia Fohmann sprechen, die sich durch eine Verkehrs- ten und nicht warten. Natürlich müssen wende ergeben. Wir sprechen noch diese Maßnahmen dann evaluiert und nicht genug über die Lösungen und den Gewinn, wenn wir Mobilität anders Zur Person: Prof. Dr. Jana Kühl denken. Mobilität vom ÖPNV, Rad- und Jana Kühl, 1984 in Lübeck geboren, studierte Geografie an der Universität Kiel Fußverkehr aus gedacht, würde eine und promovierte an der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund. Von 2017 bis Verbesserung der Lebensqualität – 2020 war sie am Geografischen Institut der Universität Kiel tätig. Hier unter- gerade in den Städten – bedeuten. suchte sie die Akzeptanz autonom fahrender Busse im ÖPNV. Gegenwärtig Wir sprechen auch immer wieder von widmet sie sich in ihrer Postdoc-Forschung den Potenzialen des Radverkehrs den Gefahren des Autoverkehrs. Es ist zur Transformation gesellschaftlicher Mobilität. Dabei betrachtet sie die Wir- für uns selbstverständlich, uns daran kung von Infrastrukturmaßnahmen auf die Veränderung von Mobilitätspraktiken anzupassen und zum Beispiel regel- sowie die gesellschaftliche Wahrnehmung des Radverkehrs als Mobilitätsform. konform den Gehweg zu nutzen. Im November 2020 hat sie eine Professur für Radverkehrsmanagement an der Meine und unsere Aufgabe ist es, das Ostfalia Hochschule Salzgitter angetreten. Bewusstsein dafür zu schärfen, dass 4/2020 DVR-report 15
Wie kann der Fußverkehr sicherer werden? DVR-Beschluss mit Verbesserungsvorschlägen IM BLICKPUNKT Sichere Mobilität beginnt zu Fuß. Foto: Pixabay / B_Me Zu Fuß unterwegs zu sein, ist die natürlichste Querungsmöglichkeiten seien so zu gestalten, Form der Mobilität und momentan – genau wie dass auch geh- oder sehbehinderte Menschen das Radfahren – sehr beliebt. Die meisten Men- sicher die Straßenseite wechseln können. Hierzu schen nehmen täglich zu Fuß am Straßenver- gehörten der Einbau von taktilen Elementen, kehr teil, sei es auf dem Weg zur nächsten Hal- Bordsteinabsenkungen und eine kontrastreiche testelle, vom Parkplatz zum Ziel oder bei einem Verkehrsraumgestaltung. An Ampeln sollten Spaziergang. ergänzend akustische Signalgeber installiert und mindestens die langsamere Gehgeschwindig- Der DVR empfiehlt in einem aktuellen Beschluss keit für ältere Menschen bei der Ampelschaltung konkrete Maßnahmen, um die Sicherheit für Fuß- berücksichtigt werden. gängerinnen und Fußgänger zu verbessern. Unfälle beim Überqueren verhindern Um Straßen sicher überqueren zu können, sei es notwendig, ausreichend sichere Querungshilfen einzurichten. Das könnten zum Beispiel Ampeln, Fußgängerüberwege (Zebrastreifen), Mittelin- 21 h seln oder vorgezogene Fahrbahnränder sein. Wo immer es möglich sei, sollten Mittelinseln mit Fußgängerüberwegen kombiniert werden. Alle 21 Stunden wurde 2019 ein/e Fußgänger/in getötet. 16 DVR-report 4/2020
Anteil der zu Fuß Gehenden an den Getöteten 1.364 605 Jede/r siebte Getötete war eine Fußgängerin motorisierte Zweiräder oder ein Fußgänger (13,7 %). 44,8 % der Verkehrstoten kamen in einem 445 Pkw zu Schaden. einschließlich Pedelecs 19,9 % der Getöteten waren Fahrende von motorisierten Zweirädern. 417 14,6 % benutzten ein Fahrrad oder Pedelec. Bezugsjahr 2019 Ampelschaltung sicherer oder hohen Abbiegegeschwindigkeiten er mindestens zehn Meter zum Schnitt- gestalten sowie zweispurigem Abbiegen. punkt der Fahrbahnkanten betragen. An Ampeln sollte zudem der Fußver- kehr möglichst konfliktfrei mit eigenen Sichtbeziehungen verbessern Sichthindernisse müssten an Que- Signalphasen geführt werden; ins- Für bessere Sichtbeziehungen und rungsstellen entfernt und das Halten besondere dann, wenn erforderliche zum Schutz des Fußverkehrs an Kreu- von Fahrzeugen verboten und entspre- Sichtfelder auf Fußgängerinnen und zungen und Einmündungen müsse der chend konsequent überwacht werden. Fußgänger nicht freigehalten werden Bereich ausgeweitet werden, in dem Das Haltverbot könnte durch baulich können, zum Beispiel bei Häuservor- nicht geparkt werden darf. Statt der vorgezogene Seitenräume oder Poller sprüngen, häufigem Abbiegeverkehr aktuell vorgesehenen acht Meter sollte unterstützt werden. Statistik-Booklet zu Unfällen im Fußverkehr 2019 Mit einem neuen Format informiert der DVR kompakt und Mit Blick auf das Fehlverhalten der Fußgängerinnen und anschaulich über wichtige Kennzahlen des Jahres 2019 zu Fußgänger fällt auf, dass falsches Überschreiten der Fahr- Unfällen im Fußverkehr. bahn ohne auf den Fahrzeugverkehr zu achten, der häu- figste Fehler war. Aber auch Alkoholeinfluss bei zu Fuß Insgesamt kamen im vergangenen Jahr 417 Fußgängerin- gehenden Personen war in 584 Unfällen mit 44 Getöteten nen und Fußgänger auf unseren Straßen ums Leben, das und 237 Schwerverletzten ursächlich. Weitere zahlreiche entspricht einem Anteil von 13,7 Prozent an allen im Stra- schwere Unfälle ereigneten sich durch plötzliches Hervor- ßenverkehr Getöteten. Insgesamt gab es 31.312 Fußgänger treten hinter Sichthindernissen beim Überschreiten der unfälle. Dabei verunglückten 34.815 Menschen, 7.341 wur- Fahrbahn. den schwer verletzt. Mit 56 Prozent war über die Hälfte der Getöteten, die zu Fuß unterwegs waren, 65 Jahre und älter. 308 Personen verloren bei Unfällen innerorts ihr Leben. Auffällig war, dass in den Monaten November, Dezember und Januar durchschnittlich rund ein Drittel mehr Fußgän- gerinnen und Fußgänger verunglückten als im Schnitt des übrigen Jahres, mehr als die Hälfte starben bei Unfällen bei Dämmerung und Dunkelheit. Mit Abstand die meisten von Verkehrsunfälle in Zahlen ihnen verunglückten bei Zusammenstößen mit Pkw tödlich, 2019: Fußverkehr Das Statistik-Booklet des DVR am häufigsten waren dabei Fehler beim Abbiegen. 4/2020 DVR-report 17
Nur wer sichtbar ist, ist sicher Besonders in der dunklen Jahreszeit sind Fußgängerinnen Beim Kauf sollte darauf geachtet werden, dass die Klei- und Fußgänger gefährdet, sie sind bei schlechten Sichtver- dungsstücke den europäischen EN-Normen (ISO 20471 hältnissen durch Regen, Nebel oder Schnee oft erst spät für Bekleidung und Warnwesten) entsprechen. Sie sorgen erkennbar. dafür, dass Personen bereits aus 150 Metern Entfernung erkannt werden. Mit der richtigen Bekleidung können sie, genauso wie Radfahrende, ihre Sichtbarkeit erhöhen. Am besten sind Dabei gilt es, auf den Unterschied zwischen fluoreszieren- Fußgängerinnen und Fußgänger mit retroreflektierenden, dem und reflektierendem Material zu achten. Fluoreszie- möglichst großen Flächen entweder auf der Kleidung oder rendes Material wandelt unsichtbares in sichtbares Licht auf Taschen und Rucksäcken zu sehen. um. Auch bei trübem Wetter leuchtet deshalb eine Warn- weste heller. Bei Dunkelheit ist diese Funktion aber nicht gegeben. Dagegen wirft sogenanntes retroreflektierendes Material – ebenfalls großflächig in Streifen auf Warnwesten enthal- ten – Lichtstrahlen in die Richtung zurück, aus der sie kom- men. Reflektormaterial an Jacken oder Rucksäcken schützt so im Dunkeln besonders gut, weil es für Autofahrende im Scheinwerferlicht aussieht, als ob es leuchtet. Darüber hinaus sollten Querungsstellen und Gehwegberei- che angemessen beleuchtet werden. Verkehrsberuhigung Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung Forschung zur Vorrangregelung Niedrige Fahrgeschwindigkeit könne ergriffen werden. Es sollten Forschungsprojekte initi- laut DVR helfen, Verkehrsunfälle zu iert werden, um zu überprüfen, ob die vermeiden oder zumindest die Ver- Damit die Sicherheit der Fußgängerin- Sicherheit an Kreuzungen und Ein- letzungsschwere zu reduzieren. In nen und Fußgänger nicht gefährdet sei, mündungen durch Veränderung der Bereichen mit vielen Personen, die zu müssten Verkehrsverstöße konsequent Vorrangregelung für Fußgängerinnen Fuß unterwegs sind, sollten deshalb überwacht und geahndet werden. und Fußgänger entlang übergeordneter Beteiligte zu Fuß Gehende an Unfällen In den Monaten November, Dezem- mit Personenschaden nach Monaten ber und Januar verunglückten durch- schnittlich rund ein Drittel mehr zu Fuß Gehende als im Schnitt des übrigen Jahres. Januar – Dezember November – Januar Februar – Oktober 32.602 9.920 22.682 Ø 2.717/Monat Ø 3.307/Monat Ø 2.520/Monat Bezugsjahr 2019 18 DVR-report 4/2020
Straßen verbessert werden kann. Der- rückwärtigen Verkehrsraums für alle zeit müssen nur Fahrzeuge, die von der Fahrzeugkategorien. bevorrechtigten in eine untergeordnete Straße abbiegen, dem Fußverkehr Vor- Passive Schutzmaßnahmen der Fahr- rang einräumen. Der Fußverkehr hat zeugfronten von Pkw bieten bereits aber, anders als der Radverkehr, keinen heute einen umfassenden Schutz für Vorrang gegenüber den aus der unter- ungeschützte Verkehrsbeteiligte und geordneten Straße einbiegenden oder werden zukünftig durch höhere Anfor- den hier kreuzenden Fahrzeugen. derungen der GSR erweitert. Die Wahr- nehmbarkeit leiser Elektrofahrzeuge Rolle der Fahrzeugtechnik und von Plug-in-Hybriden wird bereits Auch die Fahrzeugtechnik könne einen seit 2019 gesetzlich sichergestellt. wesentlichen Beitrag zur Sicherheit des Fußverkehrs leisten. Bereits durch Mobilitätserziehung die Anforderungen der General Safety Nicht nur für den sicheren Weg zur Kita Regulation (GSR) werden die Hersteller oder Schule zu Fuß sei die Mobilitäts- verpflichtet, ihre Neufahrzeuge zukünf- und Verkehrserziehung von elementa- Sicher auf dem Schulweg tig mit einer Vielzahl neuer Fahreras- rer Bedeutung. Länder und Kommunen Foto: manu - stock.adobe.com sistenzsysteme (FAS) auszustatten. werden aufgefordert, diese Mobilitäts- Darin enthalten sind beispielsweise und Verkehrserziehung für alle flä- dass die Kinder den Weg zu Fuß alleine automatisierte Notbremssysteme für chendeckend sicherzustellen. bewältigen können. Pkw und leichte Nutzfahrzeuge inklu- sive der Erkennung von Fußgänge- An alle Eltern richtet sich der Appell, Um die Sicherheit des Fußverkehrs zu rinnen und Fußgängern sowie Rad- gemeinsam mit den Kindern die sichere erhöhen, sollte in allen Städten über fahrenden, Abbiegeassistenzsysteme Teilnahme am Verkehr zu Fuß zu üben 100.000 Einwohnern eine ausschließ- und Anfahr-Warnsysteme für Lkw und und, wo es möglich ist, auf das Eltern- lich für den Fußverkehr verantwortliche Omnibusse sowie die Überwachung des taxi zu verzichten, wenn sie sicher sind, Stelle eingerichtet werden. „Jetzt Straßen für alle schaffen“ „Es ist grotesk, dass wir einen Fußverkehrskongress 2030 sollen 500 lebendige und verkehrsberuhigte Ortsmit- durchführen, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen“, sagte ten geschaffen werden. der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann zur Begrüßung der rund 1.200 Teilnehmen- Auch der Bund habe die Förderung des Fußverkehrs klar den des 3. Fußverkehrskongresses, der diesmal corona im Blick, erläuterte Bundesverkehrsminister Andreas bedingt rein digital stattfinden musste. Tagungsort wäre Scheuer. Derzeit werde in seinem Ministerium eine Fuß- eigentlich die Landeshauptstadt Stuttgart gewesen. verkehrsstrategie erarbeitet, die unter anderem vorsehe, sichere Schnittstellen zum Beispiel zwischen Fuß- und Der begeisterte Wanderer Kretschmann sprach sich für Radverkehr zu schaffen. Insgesamt stehe eine gerechtere breite Gehwege und barrierefreie Möglichkeiten des Fußver- Verteilung des Straßenraums im Fokus. kehrs aus, weil damit soziales Leben gefördert werden könnte. Es gebe bereits gute Beispiele in den Kommunen, es müss- Den Stellenwert des Fußverkehrs zu erhöhen, forderte ten aber noch viel mehr werden. Vorteilhaft sei der Aufbau auch der baden-württembergische Verkehrsminister Win- eines Best-Practice-Netzwerks. fried Hermann. „Fußgänger dürfen nicht das Gefühl haben, auf einem Hindernisparcours unterwegs zu sein oder auf Weitere Themen des Kongresses waren Konflikte zwischen Wegen, die im Nirwana enden“, stellte Hermann klar. Das Fuß- und Radverkehr, sicheres Queren, Flächenaufteilung, sei auch das einstimmige Votum aller Verkehrsministerin- die besondere Rolle von Kindern und Jugendlichen im Fuß- nen und -minister. Er erwähnte die Initiativen des Landes verkehr sowie Barrierefreiheit, rechtliche Fragen rund um Baden-Württemberg, unter anderem ein Projekt zur Schaf- die Straßenverkehrsordnung (StVO) und verkehrspolitische fung fußgänger- und fahrradfreundlicher Ortsmitten. Bis Diskussionen. 4/2020 DVR-report 19
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