Umwelt - Leben mit Naturgefahren 2/2015 - weADAPT

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Umwelt - Leben mit Naturgefahren 2/2015 - weADAPT
DOSSIER NATURGEFAHREN < umwelt 2/2015
 2/2015

umwelt
Natürliche Ressourcen in der Schweiz

 Leben mit Naturgefahren
Dossier:   Lehren aus den Hochwassern von 2005 > Schutzbauten haben ihre Grenzen > Gefahren-
           zonen meiden > Wissen schafft Sicherheit > Das nächste Erdbeben kommt bestimmt

Weitere Unser ökologischer Fussabdruck > Florierender Schmuggel mit bedrohten Arten
Themen: > Feinpartikel aus dem Luftverkehr > Forschen für eine nachhaltige Wassernutzung
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umwelt 2/2015 > EDITORIAL

          Gemeinsam für Sicherheit
                              Sicherheit ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Zwar wissen
                              wir alle, dass sie nie absolut sein kann. Dennoch sollen Ge­
                              fahren möglichst aus unserem Alltag gebannt werden. Dass die
                              Schweizer Bevölkerung in Wohlfahrt lebt, hat auch mit den
                              bedeutenden Fortschritten bei der Sicherheit vor Naturgefah­
                              ren zu tun, die in den letzten 150 Jahren durch gemeinsame
                              Anstrengungen verschiedener Bundesämter, der Kantone, der
                Gemeinden und Privater erzielt wurden.
                  Hochwasser, Lawinen, Steinschlag und Rutschungen wird es hierzulande
                immer geben. Auch dass wieder einmal ein schweres Erdbeben die Schweiz
                heimsucht, ist nur eine Frage der Zeit. Spätestens seit den Hochwassern
                von 1987 ist uns bewusst, dass sich die Schäden durch Naturereignisse mit
                technischen Massnahmen allein nicht ausreichend begrenzen lassen. Bereits
                vor Jahren wurde daher der Paradigmenwechsel von der reinen Gefahren­
                abwehr zum integralen Risikomanagement eingeleitet. Organisatorische und
                planerische Massnahmen zur Risikominderung haben seither an Bedeutung
                gewonnen. So wurden etwa die Vorhersage und die Warnung erheblich
                verbessert.
                  Diese Anstrengungen haben bereits wiederholt Früchte getragen. Die
                Erfolge bergen aber auch ein Problem: Schnell wähnt man sich in zu grosser
                Sicherheit. Oft wird zu spät klar, dass wir uns zu weit in gefährdete Räume
                vorgewagt haben. Selbst ein reiches Land wie die Schweiz kann die Kräfte
                der Natur nie völlig beherrschen. Wir tun gut daran, den Gefahren möglichst
                auszuweichen, anstatt sie mit immer höherem Aufwand zu bekämpfen.
                  Der Schutz vor Naturgefahren wird auch in den kommenden Jahren ­
                und Jahrzehnten neue Herausforderungen bringen und viele Ressourcen in
                Anspruch nehmen. Da ist nicht bloss der Klimawandel mit seinen schwer
                abschätzbaren Folgen für Naturprozesse. Mit der Siedlungsentwicklung
                wächst auch das Schadenpotenzial rasant. Nur eine vorausschauende Raum­
                planung und naturgefahrengerechtes Bauen können verhindern, dass die
                Risiken ebenso rasant wachsen und die Schäden untragbar werden.
                  Integrales Risikomanagement ist eine Verbundaufgabe, die alle in die
                Pflicht nimmt: vom Bund, den Kantonen und Gemeinden über die For­
                schungsinstitutionen, die Bauwirtschaft, die Versicherungen bis hin zu jeder
                Einzelperson. «Gemeinsam für Sicherheit» – für den Umgang mit Natur­
                gefahren ist dies zweifellos eine gültige Formel.

                                                                  Josef Hess, Vizedirektor BAFU

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INHALT
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umwelt 2/2015 > DOSSIER NATURGEFAHREN

                                        Hans Peter Willi
                                        Hans Peter Willi ist Wasserbau-
                                        ingenieur. Nach seinem Studium
                                        an der ETH Zürich arbeitete er
                                        zunächst in der Privatwirtschaft.
                                         1982 wurde er Projektleiter im
                                         Amt für Gewässerschutz und
                                         Wasserbau des Kantons Zürich,
                                         dem heutigen AWEL. Später
                                         leitete er während 18 Jahren die
                                         Sektion Wasser-Risiken im Bun-
                                          desamt für Wasser und Geologie
                                          (BWG). Seit 2006 ist er Chef der
                                          Abteilung Gefahrenprävention
                                          im BAFU.
                                                                                        U
                                            Bild: Christine Baerlocher, Ex-press/BAF

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10 JAHRE NACH 2005

«Wir haben bedeutend
an Sicherheit gewonnen»
Vor rund 10 Jahren brachen sintflutartige Regenfälle über den Alpenraum ein. Bäche und Seen traten über die
Ufer, Hänge kamen ins Rutschen. Es war das mit Abstand t­ euerste Unwetter der letzten 100 Jahre. Wären wir
heute besser gegen ein derartiges Ereignis ­ge­wappnet? umwelt stellte diese Frage an Hans Peter Willi, den
Chef der Abteilung Gefahrenprävention im BAFU. Interview: Hansjakob Baumgartner

                        umwelt: Herr Willi, das Unwetter vom August 2005       Zusammen mit den Kantonen unterstützt der
                         forderte hierzulande 6 Todesopfer, die Sachschäden    Bund die Ausbildung von lokalen Naturgefahren­
                         beliefen sich auf rund 3 Milliarden Franken. Welche   beraterinnen und -beratern. Diese sind fähig, die
                         Erkenntnisse brachte die nachträglich erarbeitete     Gefahrensituation vor Ort richtig einzuschätzen,
                         Ereignisanalyse?                                      und unterstützen im Ereignisfall die Führungs-
                        Hans Peter Willi: Sie bestätigte, was uns eigentlich   und Einsatzkräfte mit ihrem Fachwissen.
                        schon die Hochwasser von 1987 gelehrt hatten:            Bei bestehenden Bauten können die Eigen­
                        Es wird immer wieder Extremereignisse geben,           tümerinnen und Eigentümer in den Objektschutz
                        auf die unsere Schutzbauten nicht ausgelegt            investieren, die Nutzung anpassen oder gar auf­
                        sind. Die Schadenstatistik zeigt, dass der gröss­      geben, wenn die Risiken allzu gross sind. Bei Neu­
                        te Teil der Schäden durch solche sogenannten           bauten gilt es, gefährdete Flächen zu meiden oder
                        ­Überlastfälle verursacht wird. Um sie zu be­          so zu nutzen, dass keine inakzeptablen Risiken
                         wältigen, braucht es ein integrales Risiko­           entstehen. Auch können wir dafür sorgen, dass
                         management von Naturgefahren, das nebst               im Überlastfall Wasser kontrolliert ausströmt.
                         baulichen Massnahmen auch alle anderen
                                                                               Wie geht das?
                                                                               Über eingebaute Sicherheitsventile werden bei
   «Es wird immer wieder Extremereignisse geben,                               einem extremen Hochwasser zuerst Flächen
   auf die unsere Schutzbauten nicht ausgelegt sind.»                          geflutet, auf denen das abfliessende Wasser und
                                                                               Geschiebe weniger Schäden anrichten kann. An
                                                                               der Engelberger Aa vor der Mündung in den Vier­
                        ­ andlungsoptionen berücksichtigt. Diese Optio­
                        H                                                      waldstättersee bilden der Flugplatz, Sportplätze
                        nen wurden bisher noch zu wenig genutzt – aus          und die Badeanlage am See den Entlastungs­
                        dem einfachen Grund, weil dafür die notwendi­          korridor. Dieser hat 2005 sehr gut funktioniert,
                        gen Gefahrengrundlagen und organisatorischen           das besiedelte Gebiet von Buochs (NW) blieb
                        Strukturen fehlten.                                    deswegen verschont.
                                                                                 Für all dies braucht man allerdings verlässliche
                        Was haben wir denn für Handlungsoptionen?              Gefahrengrundlagen. Und auch hier sind wir
                        Wir können die Notfallplanung verbessern. Hier         heute viel weiter als 2005.
                        wurden in den letzten Jahren grosse Fortschritte
                        gemacht. Es gibt Kantone, in denen jede Gemein­        Inwiefern?
                        de, aufbauend auf den Gefahrenkarten, über             Mittlerweile existieren fast für das gesamte
                        eine Notfallplanung verfügt.                           Siedlungsgebiet der Schweiz Gefahrenkarten

                                                                                                                               5
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                               bezüglich Hochwasser, Lawinen, Felsstürzen                                                     Integrales
                               und Rutschungen. Wir wissen deshalb heute
                               viel besser, was wo passieren kann.                                                            Risikomanagement
                                                                                                                              hjb. Integrales Risikomanagement berücksichtigt
                               In der Ereignisanalyse von 2005 steht auch der Satz:
                                                                                                                              alle Naturgefahren, beteiligt alle Akteure und
                               «Längst nicht alle Betroffenen wussten genug, um
                                                                                                                              bezieht alle drei Dimensionen der Nachhaltig-
                               im Rahmen ihrer Möglichkeiten (…) rechtzeitig und
                                                                                                                              keit – Ökologie, Wirtschaft, Gesellschaft – ein. Es
                               eigenverantwortlich zu handeln.» Wäre dies heute
                                                                                                                              kombiniert Massnahmen zur Vorbeugung von Na-
                               anders?
                                                                                                                              turereignissen, zu deren Bewältigung wie auch für
                               Ja, denn seither wurde einiges getan, um die
                               Warnung und die Alarmierung zu verbessern                                                      die Regeneration danach. Im Zentrum stehen dabei
                               – sowohl für die Einsatzorgane wie auch für                                                    umfassende Gefahren- und Risikogrundlagen.
                               die Bevölkerung. Viele Akteure haben dafür                                                       Das angestrebte Sicherheitsniveau ist Gegenstand
                               intensiv mit dem BAFU zusammengearbeitet:                                                      eines permanenten Risikodialogs mit allen Betroffe-
                               MeteoSchweiz, die nationale Alarmzentrale                                                      nen. Dabei dürfen auch heikle Fragen nicht ausge-
                               (NAZ) des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz                                                   klammert werden: Welche Sicherheit ist zu welchem
                               (BABS), die Eidgenössische Forschungsanstalt                                                   Preis möglich? Welche verbleibenden Risiken müssen
                               für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) und                                                      in Kauf genommen werden? Wie viel sind wir bereit
                               das ihr angegliederte Institut für Schnee- und                                                 zu investieren, um einen Todesfall in einem bestimm-
                               Lawinenforschung (SLF) und der Schweizeri­                                                     ten Zeitraum zu vermeiden?
                               sche Erdbebendienst (SED). Dank der grossen
                               Anstrengungen aller Beteiligten ist man heute
                               viel rascher im Bild als vor 10 Jahren.
                                 So haben beispielsweise Fachleute auf allen
                               Ebenen über die Gemeinsame Informations­                                                  2014 mussten lokal wiederum extreme Ereignisse
                               plattform Naturgefahren (GIN) online Zugang                                               bewältigt werden. Was lehrte uns der verregnete
                               zu den Wetter- und Niederschlagsprognosen                                                 Sommer dieses Jahres?
                               sowie zu sämtlichen Messstationen. Und die                                                Es zeigt sich einfach, dass Unwetterereignisse
                               Bevölkerung kann sich dank der Internetseite                                              zur Natur gehören. Die Natur hat Sonnen- und
                               www.naturgefahren.ch jederzeit über die ak­                                               Schattenseiten, mit denen wir leben müssen.
                               tuelle Gefahrenlage informieren.                                                          Im Regensommer 2014 führte die sehr lange
                                 Wir sind gut unterwegs. Allerdings ist sicher­                                          Nässeperiode zu zahlreichen Erdrutschen. Bei
                               zustellen, dass die finanziellen Ressourcen zur                                           diesen Prozessen sind wir noch gefordert. Es gilt,
                               Aufrechterhaltung dieser Strukturen und Diens­                                            rechtzeitig zu erkennen, wann es mit Rutschun­
                               te auch künftig zur Verfügung stehen.                                                     gen wirklich kritisch werden kann. Andererseits

Von 1972 bis 2014 verursachten Hoch­
                                                     SCHÄDEN DURCH HOCHWASSER, MURGÄNGE, RUTSCHUNGEN UND STURZPROZESSE SEIT 1972
wasser, Murgänge, Rutschungen und
Sturzprozesse Schäden im Umfang von
                                                                                       3000
                                              Jährliche Schäden in Millionen Franken

insgesamt rund 13,7 Milliarden Franken.
Die Schadensbilanz ist stark durch ein-
zelne Grossereignisse geprägt. Allein die
                                                                                       2000
Hochwasser vom August 2005 schlugen
mit rund 3 Milliarden Franken zu Buche.

                                                                                       1000

                                                                                              1972   73   74   75   76   77      78    79   1980   81   82    83    84   85    86    87   88
                                                   Quelle: WSL

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Umwelt - Leben mit Naturgefahren 2/2015 - weADAPT
DOSSIER NATURGEFAHREN < umwelt 2/2015

                                                              WAS KANN PASSIEREN?

                                                                     Erfassen

            WAS IST ZU TUN?                                      BEOBACHTEN                                   WAS DARF PASSIEREN?

                                                                                              en
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                                                                                         w
                                                                     Risikodialog

         Das Risikomanagement ist vorausschauend. Es umfasst laufende systematische Erfassungen und Bewertungen von Risiken
         sowie die Planung und Realisierung von Massnahmen zur Reaktion auf festgestellte und künftig mögliche Risiken.

         hat sich manches bewährt, das seit 2005 unternommen                      vermindert die Hochwassergefahr für Visp. Am Sihlsee
         wurde. Wir haben deutlich an Sicherheit gewonnen,                        wird bei Bedarf durch eine Vorabsenkung das Volumen
         Verbesserungen sind jedoch immer noch möglich.                           vergrössert, um die Stadt Zürich besser zu schützen.

         Woran denken Sie dabei?                                                  Ein parlamentarischer Vorstoss hat das BAFU beauftragt,
         Zum Beispiel an ein optimiertes Bewirtschaften der Spei­                 einen Bericht «Naturgefahren Schweiz» zu erstellen. Er
         cherseen im alpinen Raum. Anstatt noch zu turbinieren,                   wird demnächst publiziert. Welches sind die wichtigsten
         wenn die Hochwasserwelle kommt, sollte durch eine                        Befunde?
         Vorabsenkung Volumen bereitgestellt werden. Letzteres                    Der Bericht zeigt, wo wir heute stehen und wo es
         geschieht heute schon mit dem Stausee Mattmark im                        Handlungsbedarf bei der Umsetzung des integralen
         Wallis. Ein permanent bereitgestelltes Stauvolumen                       Risikomanagements gibt. Eine anstehende Aufgabe

8   89   1990   91   92   93   94   95   96    97        98     99    2000   01     02   03    04   05   06     07   08   09   2010   11    12   13   14

                                                                                                                                                           7
Umwelt - Leben mit Naturgefahren 2/2015 - weADAPT
umwelt 2/2015 > DOSSIER NATURGEFAHREN

                                                                                   die frei werdenden Geschiebefrachten und die
                                        MITTELAUFWAND NACH AKTEUR
                                                                                   entsprechenden Bodenbewegungen. Hier geht es
                                                                                   darum, Problemzonen durch ein systematisches
                                                                                   Monitoring rechtzeitig zu erkennen.
                      Private                                        Bund 16 %
                      Versicherungen                            = 0,46 Mrd. CHF    Welche Rolle spielt der Schutzwald?
                      59 %
                      = 1,71 Mrd. CHF
                                                                                   Er hat in der Schweiz eine grosse Bedeutung
                                                                                   und ist als Teil der Schutzinfrastruktur ein Ele­
                                                                  Kantone 11 %
                                                                = 0,32 Mrd. CHF    ment des integralen Risikomanagements. Fast die
                                                                                   Hälfte des Schweizer Waldes schützt Siedlungen
                                                                Gemeinden 14 %     und Infrastrukturen, Strassen und Bahnen. Eine
                                                                 = 0,41 Mrd. CHF   nachhaltige Pflege ist zentral, wenn der Wald
                                                                                   seine Schutzfunktion langfristig erfüllen soll.
                                                                                   Und sie ist wesentlich kostengünstiger als das
                       Quelle: PLANAT
                                                                                   Erstellen von Schutzbauten.

                                                                                   Und was gilt es bei der übrigen Schutzinfrastruktur

                         Der Preis der Sicherheit                                  zu tun?
                                                                                   Der Unterhalt und das Sicherstellen der Funk­
                         hjb. Jährlich werden in der Schweiz rund                  tionsfähigkeit unserer Schutzbauten ist eine
                         2,9 Milliarden Franken für das Risikomanage-              Daueraufgabe. Wir müssen heute in Lebenszyklen
                         ment von Naturgefahren ausgegeben. Davon                  denken und handeln. Hier besteht Nachholbedarf.
                         werden 1,7 Milliarden Franken von Privaten                Die Bauten müssen selbst robust genug sein, um
                         aufgebracht, wovon 830 Millionen Franken von              einem Überlastfall standzuhalten. Die Erfahrung
                                                                                   zeigt, dass anderenfalls grosse Schäden zu erwar­
                         den Versicherungen getragen werden. Den Kosten
                                                                                   ten sind. Wir müssen die Schutzbautenkonzepte
                         steht ein enormer Nutzen gegenüber. Er lässt sich
                                                                                   überprüfen und die Bauten bei Bedarf anpassen,
                         generell schwer beziffern, denn Kosten, die vermie-
                                                                                   ergänzen und erneuern. Ein Inventar der relevan­
                         den werden, treten in keiner Bilanz auf. Hingegen
                                                                                   ten Schutzbauten wird zurzeit erarbeitet.
                         ist in Einzelfällen eine Abschätzung möglich. So
                                                                                      Neue Schutzbauten sollen so errichtet werden,
                         wurden zum Beispiel für die baulichen Massnah-
                                                                                   dass sie anpassbar sind. Das ist ein zentrales An­
                         men zum Schutz der Gemeinde Buochs (NW) vor
                                                                                   liegen. Nichts ist dümmer, als Werke zu bauen,
                         Überschwemmungen durch die Engelberger Aa
                                                                                   die bei veränderten Anforderungen abgerissen
                         (siehe Seite 5) 26 Millionen Franken investiert.
                                                                                   und neu erstellt werden müssen. Die Lösungen
                         Bereits beim ersten Ereignis im Jahr 2005 verhin-         von heute dürfen nicht zum Problem von morgen
                         derten diese Investitionen Schäden im Umfang von          werden. Auch späteren Generationen sollen noch
                         160 Millionen Franken.                                    Handlungsoptionen offenstehen. Dazu braucht
                            Die Vorstellung, wie die Schweiz ohne Natur-           es auch eine gewisse Grosszügigkeit beim Raum,
                         gefahrenprävention aussähe, übersteigt unser              den man den Gewässern überlässt.
                         Vorstellungsvermögen. Weite Teile des Landes,
                         namentlich im Berggebiet und in den Flusstälern,          Damit sprechen Sie ein strittiges Thema an. Gegen
                         wären wegen der fehlenden Sicherheit nicht nutzbar.       den gesetzlich vorgeschriebenen minimalen Gewäs-
                                                                                   serraum gibt es Widerstände vonseiten der Landwir-
                                                                                   te, die dafür ohnehin knapp gewordenes Kulturland
                                                                                   abgeben müssen.
                                                                                   Den zusätzlichen Raum braucht es ja nicht nur im
                       ist, die Gefahrengrundlagen zu vervollständigen.            Hinblick auf den Hochwasserschutz. Die Gewässer
                       Hier fehlen zum Beispiel noch die flächendeckend            sollen auch ihre Funktionen als Lebensräume,
                       ermittelten Oberfl ächenabfl üsse, die einen                Vernetzungselemente und Erholungsgebiete
                       wesentlichen Teil der Schäden ausmachen. Im                 erfüllen können. Die dafür nötigen Flächen
                       Hinblick auf den Klimawandel müssen wir zu­                 freizuspielen, ist sicher eine Herausforderung,
                       dem verschiedene Prozesse genauer beobachten:               aber ich bin überzeugt, dass hier sogar Win­win­
                       das Auftauen des Permafrostes in den Alpen,                 Lösungen mit der Landwirtschaft möglich sind.

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Umwelt - Leben mit Naturgefahren 2/2015 - weADAPT
DOSSIER NATURGEFAHREN < umwelt 2/2015

Wie das?                                                Die Finanzierung eines solchen Programms ist
Die Landwirte brauchen die Gewässer ja selber,          allerdings eine grosse Herausforderung.
einerseits um Wasser aus drainierten Flächen
einzuleiten, andererseits um die Kulturen zu            Und bei Neubauten?
bewässern. Und sie sind es vielfach auch, die den       Was Neubauten betrifft, müssen wir so weit kom­
Unterhalt besorgen. Sie erbringen damit eine Leis­      men, dass die Naturgefahrensituation in allen
tung im Interesse der ganzen Gesellschaft. Auch         Bau- und Planungsprozessen berücksichtigt wird.
revitalisierte Gewässer erfordern Unterhalt und         Es sollte überall nur noch naturgefahrengerecht
Pflege. Diese Arbeit soll fair entschädigt werden,      gebaut werden – egal in welcher Gefahrenzone.
sodass der Landverlust keinen Einkommensverlust         Dies gilt nicht zuletzt auch in Bezug auf die Erd­
bringt. Im Waldbereich unterstützen wir ja die          bebensicherheit.
Schutzwaldpflege auch finanziell.
   Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Vorfah­         «Generell ist der Umgang mit Naturgefahren
ren den Gewässern in den Talebenen Riesenflächen
entzogen haben. Davon sollen jetzt 2 bis 3 Prozent
                                                           eine Verbundaufgabe, bei der viele Akteure
zurückgegeben werden. Die Frage der Verhältnis­            Mit­­verantwortung tragen: Kantone, Gemeinden,
mässigkeit ist damit wohl beantwortet. Wichtig             Wirtschaft bis hin zu potenziell Betroffenen.»
ist, dass Härtefälle durch geeignete Massnahmen
gemildert werden.
                                                        Generell ist der Umgang mit Naturgefahren eine
Ein weiteres Handlungsfeld ist sicher die Umsetzung     Verbundaufgabe, bei der viele Akteure Mitverant­
der Gefahrengrundlagen in der Raumplanung. Was          wortung tragen: Kantone, Gemeinden, Wirtschaft
passiert mit den Menschen, die heute bereits in roten   bis hin zu potenziell Betroffenen. Alle haben ihre
Zonen wohnen, wo grundsätzlich Bauverbot herrscht?      Aufgaben und Pflichten. Der Staat beobachtet
Eine rote Zone zeigt einfach auf: Achtung, hier         die Wetterentwicklungen laufend, macht die
sind durch Naturereignisse Menschen in den              Grundlagen verfügbar, informiert, warnt mög­
Gebäuden an Leib und Leben bedroht. Da muss             lichst rechtzeitig und stellt auch einen gewissen
geprüft werden, ob ein normales Wohnen noch zu          Flächenschutz sicher. Aber die einzelnen Bürge­
verantworten ist. Vielleicht gibt es Möglichkeiten,     rinnen und Bürger müssen ihre Verantwortung
das Risiko in einem akzeptierbaren Rahmen zu            ebenfalls wahrnehmen. Wir arbeiten auf allen
halten. Doch es wird auch Fälle geben, in denen         Ebenen daran, die Gesellschaft gegenüber Natur­
man sagen muss: Hier bleibt nur der Abriss.             gefahren weniger verletzlich zu machen und das
  Ein Beispiel dafür ist die Luzerner Gemeinde          Wissen um die Risiken zu verbessern.
Weggis. Aufgrund des Felssturzpotenzials, das
mit vernünftigem Aufwand nicht in den Griff zu
                                                        Weiterführende Links zum Artikel:
kriegen ist, wurden 5 Wohn- und Ferienhäuser
                                                        www.bafu.admin.ch/magazin2015-2-01
abgerissen. Die Besitzerinnen und Besitzer wurden
zwar für den Hauswert entschädigt, nicht aber den
Landwertverlust. Es wird weitere Fälle geben, für
die faire Lösungen entwickelt werden müssen.

Und was kann jemand, der in einer blauen Zone wohnt,
wo künftig Bauen nur noch mit Auflagen erlaubt ist,
für die Sicherheit von Hab und Gut tun?
Die Eigentümerinnen oder Eigentümer bereits
bestehender Gebäude haben die Möglichkeit, diese
mit baulichen Massnahmen besser zu schützen. Es
gibt bereits einige kantonale Gebäudeversicherun­
gen, die eine Mitfinanzierung von Objektschutz­                      KONTAKT
massnahmen anbieten. Hier liesse sich mehr tun.                      Hans Peter Willi
                                                                     Chef Abteilung Gefahrenprävention
So könnte ein Naturgefahrensanierungsprogramm                        BAFU
aufgebaut werden, ähnlich wie es bei der ener­                       058 464 17 39
getischen Gebäudesanierung schon erfolgt ist.                        hans-peter.willi@bafu.admin.ch

                                                                                                                                   9
Umwelt - Leben mit Naturgefahren 2/2015 - weADAPT
umwelt 2/2015 > DOSSIER NATURGEFAHREN

INTEGRALES RISIKOMANAGEMENT KONKRET

Die Überschwemmungsgefahr
an der Sihl entschärfen
Nach dem Hochwasser von 2005 wurde klar: Die Sihl in Zürich birgt ein grosses Risiko bei Überschwem-
mungen. Bei einer Jahrhundertflut wären ausgedehnte Teile der Stadt und mit dem Hauptbahnhof auch
der wichtigste Verkehrsknotenpunkt der Schweiz betroffen. Mit einem systematischen Vorgehen lotet der
Kanton Zürich zusammen mit allen Akteuren sämtliche Möglichkeiten aus, wie sich das Risiko reduzieren
lässt. Text: Lukas Denzler

                                     Unsere Vorfahren wussten genau, wo es praktisch       So auch die Sihl, die kurz nach dem Zürcher
                                     war, sich niederzulassen. Beliebt waren unter an­     Hauptbahnhof, unter dem sie hindurchfliesst,
                                     derem Fluss- und Seeufer. Die Energie des Wassers     in die Limmat mündet. Im hochwasserreichen
                                     trieb Mühlen an, die Gewässer dienten als Verkehrs-   19. Jahrhundert verursachte sie 1846 und 1874
                                     und Transportwege, Fische besserten den Speiseplan    weiträumige Überschwemmungen. Doch damals
                                     auf. Die Kehrseite der Medaille: Flüsse und Seen      sah Zürich noch ganz anders aus.
                                     können auch über die Ufer treten. Und sie tun das       1910 ereignete sich das letzte grosse Sihlhoch­
                                     immer wieder mal.                                     wasser. Die Überflutungen reichten bis an die

1910 überflutete die
Sihl Teile der Stadt
Zürich. Weil ihr Fluss-
bett damals tiefer lag
als heute, reichte die
Abflusskapazität bei
den Durchlässen unter
dem Hauptbahnhof
noch knapp aus (linkes
Bild).

Zusammen­fluss von
Sihl (trübes Wasser)
und Limmat beim
Zürcher Hauptbahn-
hof im August 2005.
Damals verhinderte
einzig Wetterglück im
letzten Augenblick,
dass die Sihl erneut
über die Ufer trat
(rechtes Bild).
Bilder: AWEL, Kantonale
Baudirektion Zürich/Kantonspolizei
Zürich

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DOSSIER NATURGEFAHREN < umwelt 2/2015

westliche Stadtgrenze bei Schlieren. «Nach
diesem Ereignis legte man die Eingänge von
                                                    Schwere mögliche Folgen für
einigen neuen Häusern an der Löwenstrasse           den Zürcher Hauptbahnhof
beim Hauptbahnhof ein paar Dezimeter höher
und versah sie mit Treppenstufen», sagt Matthias    ld. Laut der SBB-Medienstelle könnte der Bahnknoten Zürich durch
Oplatka, Projektleiter beim Amt für Abfall, Was­    ein Hochwasser teilweise oder komplett lahmgelegt werden. Die Aus-
ser, Energie und Luft (AWEL) des Kantons Zürich.    wirkungen wären für den Bahnverkehr in der ganzen Schweiz massiv.
Das ist eine ä
             ­ usserst wirksame Massnahme gegen     Von den rund 1 Million Passagieren, die die SBB pro Tag befördert,
die Gefahr von Überschwemmungen. Doch diese         ist rund die Hälfte im Grossraum Zürich unterwegs.
Weisheit ging bald wieder vergessen. Heute sind        Die SBB rechnet damit, dass die Sihl ab einem Abfluss von 360 bis
die meisten Eingänge ebenerdig.                     400 Kubikmeter pro Sekunde in der Allmend Brunau über die Ufer tritt.
  1937 wurde für das Etzelwerk der Sihlsee bei      Eine halbe Stunde bis drei Stunden später würde die Flut den Bahnhof
Einsiedeln (SZ) aufgestaut. Das Kraftwerk liefert   Wiedikon erreichen und etwas später die Gleisanlagen des Hauptbahn-
Bahnstrom für die Schweizerischen Bundesbah­        hofs. Die unterirdischen Anlagen wären ebenfalls betroffen. Die eigent-
nen (SBB) und für Privatbahnen. Der Sihlsee hält    liche Verfüllung der unterirdischen Bahnhöfe und Tunnels würde sich
bei intensiven Niederschlägen Wasser zurück,        über eine Zeitspanne von mehreren Stunden bis zu einem Tag erstrecken.
und die Zürcher glaubten jahrzehntelang, die        Betroffen wären auch der neue Bahnhof Löwenstrasse, der S-Bahnhof
Hochwassergefahr der Sihl sei damit gebannt.        Museumstrasse und die Bahntunnels nach Oerlikon und Stadelhofen.
                                                       Die SBB geht im Falle eines Hochwassers von keinen Personenschäden
Dank Wetterglück keine Überschwemmungen             aus, weil im ganzen Hauptbahnhof eine Anlage für die Evakuierung
Doch im August 2005 war die Situation äusserst      installiert ist. Via Lautsprecher können die Menschen in den Hallen
kritisch. «Wäre der Sihlsee nur um vier Zenti­      und Passagen sowie auf den kommerziellen Flächen mit vordefinierten
meter mehr angestiegen, hätte man aus Gründen       Texten in Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch je nach Ereignis
der Stauanlagensicherheit so viel Wasser ablassen   informiert werden. Eine Evakuierung des Hauptbahnhofes würde vom
müssen, dass es in ­Zürich zu Überschwemmun­        Führungsstab der Stadt Zürich sowie vom Notfall- oder vom Krisenstab
gen gekommen wäre», weiss Matthias Oplatka,         SBB ausgelöst.

                                                                                                                                11
umwelt 2/2015 > DOSSIER NATURGEFAHREN

            denn dort war die Sihl zu jenem Zeitpunkt bereits         tremhochwasser mit einem Sihlabfluss von 550 m3/s auf­
            randvoll. Dank des günstigen Wetterverlaufs blieb die     5,5 Milliarden Franken. Bis zu 3600 Gebäude wären
            Stadt verschont. Zur gleichen Zeit wüteten im Kanton      betroffen, 4 bis 5 Quadratkilometer Stadtfläche würden
            Bern und in der Innerschweiz heftige Unwetter. Hätte      überflutet. Laut Experten sind in Extremfällen Spitzen­
                                                                      abflüsse von 550 bis 650 m3/s möglich.
                                                                        Hinzu kämen volkswirtschaftliche Kosten durch
     Eine 2010 durchgeführte Risikoanalyse schätzt                    Betriebsstörungen, Unterbrüche und den Ausfall oder
                                                                      die Zerstörung der Infrastruktur für Energie, Tele­
     das Schadenpotenzial bei einem Extremhoch-                       kommunikation und Verkehr. Stark ausgeprägt ist
     wasser auf ­5,5 Milliarden Franken.                              in Zürich die intensive Nutzung der Kellergeschosse.
                                                                      Bereits ab einem Sihlabfluss von rund 300 m3/s, der
                                                                      statistisch etwa alle 30 Jahre auftreten kann, sind die
            das Niederschlagszentrum etwas weiter östlich im Ein­     von der natio­nalen Plattform Naturgefahren (PLANAT)
            zugsgebiet der Sihl und ihrer Zuflüsse Alp und Biber      empfohlenen S   ­ icherheitsstandards an verschiedenen
            gelegen, wären grosse Teile der Zürcher Innenstadt samt   Stand­orten entlang der Sihl nicht mehr eingehalten.
            Hauptbahnhof überflutet worden.                           Und sollte der Zürcher Hauptbahnhof tatsächlich ein­
              2005 betrug der Abfluss der Sihl beim Sihl­-            mal längere Zeit lahm­gelegt sein, hätte dies enorme
            höl­zli in Zürich 280 Kubikmeter pro Sekunde (m3/s) –     Auswirkungen weit über die Zürcher City hinaus (siehe
            ein Wert, der in der damals über 90-jährigen Ab­          Kasten Seite 11).
            flussmessreihe der Sihl nur 1934 mit 340 m3/s über­         «Der Hochwasserschutz in Zürich hat für uns eine
            troffen worden war. 1910 waren es gar 450 m3/s            sehr hohe Priorität», betont Manuel Epprecht von der
            gewesen. Doch zu jener Zeit hatte das Sihlbett unter      Sektion Hochwasserschutz im BAFU, der den Bund im
            dem Hauptbahnhof noch etwas tiefer gelegen, und es        Lenkungsausschuss Hochwasserschutz Sihl, Zürichsee,
            hatte weder ein Shopville noch Tiefbahnhöfe unter dem     Limmat vertritt. Die besondere Herausforderung be­
            Flussniveau gegeben.                                      stehe in den urbanen Verhältnissen. Es gelte, Lösun­
                                                                      gen für diesen dicht bebauten Raum zu finden und
            Klumpenrisiko Zürich                                      umzusetzen.
            In Zürich befinden sich viele Gebäude und Infrastruk­       Nach dem Hochwasser von 2005, bei dem der Kanton
            turanlagen auf engem Raum, und der Hauptbahnhof ist       Zürich mit Schäden von lediglich 15 Millionen Franken
            der wichtigste Bahnknotenpunkt der Schweiz. Die Lim­      glimpflich davongekommen war, ergriff der Kanton
            matstadt ist ein Klumpenrisiko. Eine 2010 gemeinsam       Sofortmassnahmen. Im Rahmen der Realisierung der
            von der Stadt, dem Kanton, der Gebäudeversicherung        Durchmesserlinie (DML) liess sich unter dem Haupt­
            Kanton Zürich (GVZ) und der SBB durchgeführte Risi­       bahnhof die Sohle der Sihl etwas tiefer legen. Zudem
            koanalyse schätzt das Schadenpotenzial bei einem Ex­      entwickelte das AWEL gemeinsam mit Partnern ein

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DOSSIER NATURGEFAHREN < umwelt 2/2015

                                                                                          Anhand eines Modells testet die Versuchs-
                                                                                          anstalt für Wasserbau (VAW) der ETH Zürich,
                                                                                          wie viel Wasser die Sihldurchlässe unter
                                                                                          dem Zürcher Hauptbahnhof zu schlucken
                                                                                          vermögen (Bilder ganz links und Mitte). Die
                                                                                          gelben Stäbchen im rechten Bild (Aufsicht)
                                                                                          sind Modellschwemmholz. Damit soll die
                                                                                          Staugefahr untersucht werden.
                                                                                                Bilder: Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und
                                                                                                                          Glaziologie (VAW), ETH Zürich
                                                                                          

Prognose­modell für die Abflussmengen der Sihl. Zeich­      durchleiten». Das Ergebnis war eine Auslegeordnung
net sich eine kritische Situation ab, ist es möglich, den   mit 35 Lösungsansätzen, die in einem ersten Schritt auf
Sihlsee abzusenken, um Rückhaltevolumen für erwar­          5 Varianten reduziert wurden. Schliesslich kristallisier­
tete intensive Niederschläge zu schaffen. Im Mai 2013       ten sich 2 mögliche Lösungswege heraus: die Umleitung
und auch Ende Juli 2014 hat der Kanton dies aufgrund        von Sihlwasser bei Langnau am ­Albis/Gattikon (ZH)
der Prognosen angeordnet.                                   im Hochwasserfall durch einen Entlastungsstollen in
                                                            den Zürichsee bei Thalwil (ZH) sowie der Ausbau der
Lösungsansätze für mehr Schutz                              Pumpspeicherung am Etzelkraftwerk (siehe auch den
Mittelfristig sind weitere Massnahmen geplant: Ab 2017      Beitrag «Damit die Sihl das Zentrum nicht flutet» in
soll in Langnau am Albis (ZH) ein Rechen bei einem          umwelt 2/2012).
Hochwasser das Schwemmholz zurückhalten. (Anm. d.             Beide Varianten vermögen Zürich gegen ein Extrem­
Red.: Bei Redaktionsschluss stand die Bewilligung des       hochwasser zu schützen. Mit Investi­tionskosten von 70
erforderlichen Kredits im Umfang von knapp 26 Mil­          bis 130 Millionen Franken sind sie auch wirtschaftlich.
lionen Franken durch das Kantonsparlament noch aus.)        Laut Matthias O ­ platka ist Mitte 2015 mit einem Ent­
   Mit einem 30 Meter langen Modell des Hauptbahn­          scheid zum weiteren Vorgehen zu rechnen.
hofs im Massstab 1:30 wird an der Versuchsanstalt für
Wasserbau (VAW) an der ETH Zürich getestet, wie viel        Risikoanalyse zeigt Schwachstellen auf
Wasser die 5 Sihldurchlässe unter den Perrons tatsäch­      2009 setzte die Baudirektion des Kantons Zürich die
lich zu schlucken vermögen. Ziel ist es, Optimierungen      Gefahrenkarte Hochwasser für die Stadt fest. Damit
an den Bauwerken des Hauptbahnhofs und im Flussbett         wurde die Stadt gesetzlich verpflichtet, geeignete Mass­
vorzunehmen. Und schliesslich gilt es, das Wehrregle­       nahmen in der Raumplanung, beim Gewässerunterhalt,
ment des Sihlsees unter Einhaltung der Anforderungen
der Stauanlagensicherheit anzupassen und den Spiel­
raum im Sinne eines optimalen Hochwasserschutzes               Die Vorschläge orientierten sich an den
auszunützen.                                                   3 Leitideen «Wasser zurückhalten»,
   Doch all diese Anstrengungen vermögen das Risiko
in Zürich nicht auf ein akzeptables Mass zu reduzieren.        «Wasser umleiten» und «Wasser durchleiten».
Deshalb prüft der Kanton zusammen mit dem Kanton
Schwyz weitergehende Massnahmen. Beim Start des             im baulichen Hochwasserschutz und für die Notfallpla­
Prozesses 2011 hatten mehrere interdisziplinär zusam­       nung zu treffen. Innerhalb von 2 Jahren war zudem ein
mengesetzte Teams die Aufgabe, auch unkonventio­            Umsetzungskonzept zu erarbeiten.
nelle Lösungen zu präsentieren.                               «Bevor wir mit der Arbeit anfangen konnten, waren
   Die Vorschläge orientierten sich an den 3 Leitideen      die Zuständigkeiten zu klären», sagt Bernhard Kuhn, der
«Wasser zurückhalten», «Wasser umleiten» und «Wasser        bis im Herbst 2014 die Arbeiten im Bereich Naturgefah­

                                                                                                                                                  13
umwelt 2/2015 > DOSSIER NATURGEFAHREN

        ren koordinierte und nun für die Gemeinde Emmen (LU)         Das viergeschossige, komplett im Untergrund liegende
        tätig ist. Für die Umsetzung der Gefahrenkarte bildete die   Parkhaus wurde zwischen 2002 und 2004 gebaut. Laut
        Stadt Zürich 2010 eine Projektgruppe, in der 12 städtische   Richard Heierli, Alt-Stadtingenieur von Zürich und
        Dienstabteilungen aus 5 Departementen sowie das AWEL         Präsident der Baukommission der City Parkhaus AG,
        und die kantonale Gebäudeversicherung (GVZ) vertreten        war Hochwasser selbst an dieser exponierten Stelle da­
        sind. Als wichtigen Meilenstein wertet Bernhard Kuhn         mals kein Thema. Hätte der Wasserspiegel von Sihl und
        die städtische Risikoanalyse. Eine Gemeinde müsse wis­       Schanzengraben im ­August 2005 etwas höher gelegen,
        sen, wo im Ereignisfall die grössten Schadenpotenziale       wäre Wasser über die Lüftungsklappen ins Parkhaus
        bestehen. Die Ergebnisse hätten zudem zu einer starken       eingedrungen. Wie Geschäftsführer Andreas Zürcher
        Unterstützung durch die Stadtregierung geführt.              erklärt, war aufgrund der Gefahrenkarte und weiterer
           Das Stadtparlament entschied im Juni 2014, die städ­      Abklärungen offensichtlich, dass das Risiko reduziert
        tische Bauordnung mit einem Natur­gefahrenartikel zu         werden musste – ein Betriebsausfall von einigen Mo­
        ergänzen. Damit wird die Berücksichtigung der Gefah­         naten hätte Verluste in Millionenhöhe zur Folge gehabt.
        renkarte bei Baubewilligungen präziser geregelt. Die           Die Verantwortlichen entschieden sich nach Gesprä­
        Stadt informierte die rund 10 000 Hauseigentümerinnen        chen mit der GVZ für mobile Schutzmassnahmen, die
        und -eigentümer der potenziell hochwassergefährdeten         durch eigenes Personal innerhalb von 2 Stunden mon­
        Gebäude zweimal mit persönlich adressierten Briefen.         tiert werden können. So lassen sich die Lüftungsklappen
        «Obwohl die Eigenverantwortung von den Gebäudebe­            abdichten und die hochwassergefährdeten Bereiche bei
        sitzern im Prinzip anerkannt wird, ist es nicht einfach,     der Ausfahrt, dem Lift und dem Treppenzugang beim
                                                                     Ausgang Löwenplatz schützen. Doch alles nützt nichts,
                                                                     wenn die Abläufe im Notfall nicht funktionieren. Des­
 Aufgrund ihres seltenen Auftretens sind Hoch­                       halb wird die Montage dieser Elemente alle 2 Jahre geübt.
 wasserereignisse im Gedächtnis der Stadtzür-                        Die Kosten für diese Massnahmen betrugen lediglich
                                                                     130 000 Franken.
 cher Bevölkerung nach wie vor kaum präsent.
                                                                     Risikobasierten Ansatz stärken
        diese für Vorsorgemassnahmen zu gewinnen», resümiert         Manuel Epprecht vom BAFU erachtet die verschiedenen
        Bernhard Kuhn. Aufgrund ihres seltenen Auftretens s­ eien    Vorkehrungen in Zürich als beispielhaft, und er ist von
        Hochwasserereignisse im Gedächtnis der Stadtzürcher          deren Breite und Professionalität beeindruckt. Unter der
        Bevölkerung nach wie vor kaum präsent.                       Federführung des AWEL wurden Ende 2013 die wich­
                                                                     tigsten Elemente des Integralen Risikomanagements
        Beratung der Liegenschaftsbesitzer                           in einem Bericht aufgezeigt. Darin wird auf Wunsch
        Im Kontakt zu den Liegenschaftsbesitzerinnen und             des BAFU auch die Variante «Optimierte Durchleitung»
        -besitzern steht auch die GVZ. Sie versichert alle Liegen­   als Option offengehalten, für den Fall, dass die beiden
        schaften im Kanton gegen Feuer- und Elementarschäden.        anderen Varianten – der Entlastungsstollen in den
        «Wir haben unsere Beratungstätigkeit in den letzten          Zürichsee oder die Kombilösung mit dem Ausbau der
        Jahren intensiviert», sagt Claudio Hauser von der GVZ.       Pumpspeicherung im Etzelkraftwerk – sich als politisch
        Gerade bei umsatzstarken Geschäften erreiche man mit         nicht realisierbar erweisen.
        einer Sensibilisierung oft sehr viel, vor allem wenn einem     Der risikobasierte Ansatz im Hochwasserschutz – so
        Besitzer die fi
                     ­ nanziellen Konsequenzen bewusst würden,       zeigen die Erfahrungen in Zürich – muss weiter gestärkt
        die ein durch Hochwasserschäden bedingter Unterbruch         werden. Denn wo hohe Schäden zu erwarten sind, lohnt
        der Geschäftstätigkeit nach sich ziehen kann.                es sich, in den Hochwasserschutz zu investieren.
          Bei Neu- und Umbauten ist es laut Claudio Hauser
        wichtig, Hochwasserschutzmassnahmen frühzeitig in der
        Planung zu berücksichtigen. Bei bestehenden Gebäuden         Weiterführende Links zum Artikel:
        sind permanente Massnahmen mit verhältnismässigem            www.bafu.admin.ch/magazin2015-2-02
        Aufwand hingegen nicht immer möglich. Hier sind dann
        auch mobile Schutzvorkehrungen denkbar.
                                                                                 KONTAKT
        Hochwassersicheres City Parking                                          Manuel Epprecht
                                                                                 Sektion Hochwasserschutz
        Ein gutes Beispiel für mobilen Hochwasserschutz ist
                                                                                 BAFU
        das Zürcher City Parking. Es liegt nahe beim Haupt­                      058 464 17 50
        bahnhof zwischen der Sihl und dem Schanzengraben.                        manuel.epprecht@bafu.admin.ch

14
DOSSIER NATURGEFAHREN < umwelt 2/2015

Die Industriezone von
Preonzo wird verlegt
hjb. Dass das Gelände am Fuss des Valegión bei
Preonzo (TI) ein unsicherer Ort ist, war schon lange
bekannt. Die Felsformationen in diesem Steilhang
sind labil. 1702 verschüttete ein Bergsturz das Dorf.
   Preonzo wurde danach an anderer Stelle neu auf­
gebaut. Der Dorf kern ist deshalb nicht mehr gefähr-
det – wohl aber derjenige Teil der Gemeinde, in dem
sich in den 1960er-Jahren Industriebetriebe nieder-
liessen. Heute würden diese nicht mehr bewilligt: Das
Areal ist auf der Gefahrenkarte rot markiert.
   1990 bildete sich auf der Alpe di Ròscera direkt über
dem Valegión ein Riss. Seither steht der Hang unter
Dauerbeobachtung. Sonden messen die Erdbewegun-
gen und lösen Alarm aus, wenn sich diese beschleuni-
gen. In der Folge wurde die Industriezone wiederholt
evakuiert, und es ereigneten sich auch mehrere Berg-
stürze und Murgänge, die aber keine oder nur geringe
Schäden anrichteten.
   Im Mai 2012 kam erneut Bewegung in den
Valegión. Zur besseren Überwachung des Hangs­
­
wurde zusätz­lich eine Radaranlage installiert, die es
erlaubt, Be­wegungen aus der Ferne millimetergenau
zu beo­bachten – ohne dass Messgeräte in der Felswand
montiert werden mussten, was viel zu gefährlich
gewesen wäre. Am 13. Mai wurde die Industriezone
geräumt. Zwei Tage später donnerten 300 000 Kubik-
meter Fels zu Tal. Wiederum gab es keine Schäden.
   Eine Woche danach nahmen die ansässigen
Betriebe die Arbeit wieder auf – diesmal aber nur
noch vor­übergehend: Im April 2013 bewilligte die
Tessiner ­Kantonsregierung den Plan für einen frei-
willigen Umzug in die Industriezonen von Castione
und Carasso südlich von Preonzo. Bund und Kanton
bezahlen 70 Prozent der auf knapp 13 Millionen
Franken veranschlagten Kosten der Verlagerung. Der
alte Standort wird ausgezont. «Es handelt sich um
die erste Auszonung von Industrieland aufgrund von
Naturgefahren», weiss Arthur Sandri, Chef der Sektion
Rutschungen, Lawinen und Schutzwald im BAFU.
   5 Firmen mit insgesamt 80 Arbeitsplätzen nahmen
das Angebot an. 2 Betriebe, die zusammen 23 Perso-
nen beschäftigen, wollen vorläufig bleiben. Sie müssen     Valegión bei Preonzo (TI). Bilder oben: Ausschnitte aus
mit Arbeitsunterbrüchen rechnen, wenn die Situation        einem Video des Felssturzes vom 15. Mai 2012. Das zweite
wieder kritisch wird. Grossen Felsstürzen folgt in den     und das dritte Bild von oben zeigen die Anrissstelle unter-
Jahren danach meist eine Serie von Murgängen. Arthur       halb der Alpe di Ròscera kurz vor dem Ereignis. Unten: Blick
Sandri vermutet deshalb, dass auch die beiden letzten      auf die Industriezone Preonzo unterhalb des Schuttkegels.
Firmen Alternativstandorte prüfen werden.                                              Bilder: Giorgio Valenti, Kantonsgeologe, Tessin

                                                                                                                                          15
umwelt 2/2015 > DOSSIER NATURGEFAHREN

RAUMPLANUNG

Gute Karten für den
Umgang mit Risiken
Mittlerweile verfügen nahezu alle Schweizer Gemeinden über Gefahrenkarten. Jetzt gilt es, aufgrund
dieser wissenschaftlichen Grundlagen die notwendigen Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung und
erheblicher Sachwerte zu planen und die räumliche Entwicklung anzupassen. Was dies bedeuten kann,
zeigt ein Spaziergang durch das Gemeindegebiet von Ollon (VD). Text: Cornélia Mühlberger de Preux,
Bilder: Flurin Bertschinger/Ex-press

        Wer durch die Gegend von Ollon oberhalb von Aigle im      der Gemeinde besteht aus 23 Dörfern und Weilern. Alte
        Waadtländer Chablais spaziert, käme nicht im Traum        Chalets stehen friedlich neben neueren Ferienhäusern.
        auf den Gedanken, dass sich der Boden hier bewegt. Die
        Gefahr ist von blossem Auge nicht zu erkennen. Etwas      Umfassende Palette der Naturgefahren
        misstrauisch machen bloss ein paar Schutzbauten.          Die Gegend ist schön, die Aussicht grandios. Doch Vor­
          Ollon erstreckt sich von der Rhoneebene über den        sicht ist geboten, denn in dieser Region oder zumindest
        Col de la Croix bis zum Gipfel des 2112 Meter hohen       in Teilen davon droht die ganze Palette von Naturgefah­
        ­Chamossaire. Die flächenmässig sechstgrösste Waadtlän­   ren – Rutschungen, Felsstürze, Sackungen, Murgänge,

16
DOSSIER NATURGEFAHREN < umwelt 2/2015

                                                                          Im Gebiet Les Tailles wurde ein Rückhaltebecken für das
                                                                          ­Geschiebe des gleichnamigen Bachs gebaut und ein Auffang-
                                                                           zaun errichtet. Dank dieser Massnahmen ist die Gefährdung
                                                                           so weit gesunken, dass die fraglichen Flächen von der roten
                                                                           («erhebliche Gefährdung») in die blaue Zone («mittlere Gefähr-
                                                                           dung») zurückgestuft werden konnten.

                  Gefahrenkarte (Seite 16) für das Gebiet Villars-sur-Ollon (VD). Die Chalets (Bild Seite 16) stehen im rutsch­
                  gefährdeten Gelände von La Saussaz. Ein sogenanntes Inklinometer im Metallzylinder (kleines Bild links) misst
                  hier dauernd die Terrainbewegungen. Grosses Bild: Pierre-Alain Martenet von der Bau- und Planungsbehörde
                  der Gemeinde Ollon im Gebiet Arveyes, wo der Untergrund ebenfalls instabil ist.
                  

Überschwemmungen und Lawinen. «Bei uns gibt es sogar              das Gebiet von Villars-sur-Ollon erarbeiten – noch bevor
Gebiete, in denen sich drei Gefahrenarten überlagern»,            der Kanton Waadt 2008/09 die systematische Kartie­
berichtet Pierre-Alain Martenet von der kommunalen                rung an die Hand nahm. In der Folge wurden mehrere
Bau- und Planungsbehörde.                                         Schutzmassnahmen umgesetzt: Rutschhänge wurden
  Bereits in den 1970er-Jahren sei bei Les Tailles in der         stabilisiert, gefährdete Flächen ausgezont. Heute sind im
Nähe von La Saussaz eine grosse Rutschung niederge­               Bereich von La Saussaz keine Neubauten mehr möglich.
gangen, erzählt unser fachkundiger Begleiter. Zwischen            Dies, obschon das Gelände gesichert wurde und unter
2004 und 2007 liess die Gemeinde Gefahrenkarten für               ständiger Beobachtung steht.

                                                                                                                                            17
umwelt 2/2015 > DOSSIER NATURGEFAHREN

       Gelb, blau, rot                                               zusätzliche Abklärungen durchgeführt werden können.
       Bevor wir auf die Anhöhen steigen, breitet Pierre-Alain       Sie sollen es erlauben, die Gefährdung möglichst präzise
       Martenet die Gefahrenkarten von zwei besonders gefähr­        zu bestimmen und die Entwicklungen abzuschätzen. Je
       deten Teilen der Gemeinde aus: La Saussaz und Arveyes.        nach Ergebnis wird man entscheiden, ob die Grundstücke
       Zu sehen sind darin gelb, blau und rot markierte Flä­         hier noch überbaut werden dürfen oder nicht. Zusätzlich
       chen. In den roten Zonen gilt die Gefahr als «erheblich»,     muss der zukünftige Umgang mit dieser Zone in einem
       weshalb Neubauten verboten sind. Bereits existierende         Musterreglement festgelegt werden.
       Gebäude dürfen hingegen weiter bewohnt werden, sofern           Die Ergebnisse liegen frühestens 2016 bis 2018 vor. «Die
       ein Evakuierungsplan besteht.                                 Beurteilung der Rutschungen braucht viel Zeit», erklärt
          In den blauen Zonen («mittlere Gefährdung») sind beim      Pierre-Alain Martenet, «denn diese bewegen sich im Zenti­
       Bau besondere Massnahmen erforderlich. So müssen etwa         meterbereich.» Es steht viel auf dem Spiel: Die betroffenen
       Untergeschosse in Monoblockbauweise und Stahlbeton            Grundstücke sind überaus begehrt – einerseits, weil sie
       erstellt und angrenzende Grundstücke systematisch ent­        sehr leicht zugänglich sind, andererseits, weil sich von
       wässert werden. In den gelben Zonen («geringe Gefähr­         hier eine aussergewöhnliche Aussicht bietet. «Das kann
       dung») genügen meist einfache Massnahmen, welche die          zu Konflikten führen. Aber das Gesetz muss angewendet
       Grundeigentümerinnen und -eigentümer selbst ergreifen         werden: Alle bekannten Gefahren sind zu vermeiden»,
       können, um allfällige Schäden zu begrenzen.                   sagt der Fachmann.
          Zusätzlich zur Gefahrenstufe geben die Karten auch
       Auskunft über das Ausmass, die Intensität und die Ein­        Eingeschränkte Bebaubarkeit in La Saussaz
       tretenswahrscheinlichkeit der einzelnen Gefahrenarten.        In La Saussaz hingegen, wo wir mittlerweile angelangt
       «Die Gefahrenkarten sind ein unverzichtbares Hilfsmittel      sind, gehören die Nutzungsänderungen der Vergangenheit
       sowohl zum Schutz der Bevölkerung und der Infrastruk­         an. Gewisse Parzellen wurden ausgezont und sind heute
       turen als auch zur Schadensbegrenzung», erklärt Bernard       nicht mehr bebaubar. Gebäude, die in der roten Zone
       Loup von der BAFU-Sektion Rutschungen, Lawinen und            stehen, dürfen nicht erweitert und zerstörte Häuser nicht
       Schutzwald. Dabei müsse zwischen Risiko und Gefahr            wieder aufgebaut werden.
       unterschieden werden. Das Risiko hängt nicht allein von         In Les Tailles hingegen konnte die Gefahr dank eines
       der Gefahr ab, sondern wird massgeblich von der Nutzung       grossen Rückhaltebeckens stark eingedämmt werden. Das
       der fraglichen Flächen bestimmt. Je dichter bzw. intensiver   Becken fängt seit 2011 Material auf, das der gleichnamige
       diese bebaut, bewohnt und genutzt werden, desto höher         Bach heranführt. Das darunterliegende Gebiet wurde von
       ist das Schadenpotenzial und somit das Risiko. Deshalb ist    der roten in die blaue Zone zurückgestuft. Die bestehen­
       es wichtig, die Entwicklungen raumplanerisch zu steuern.      den Bauten konnten gesichert werden, und die noch freien
          «Die Erstellung der Gefahrenkarten erfordert viel Zeit     Grundstücke sind jetzt wieder bebaubar.
       und die Mitarbeit zahlreicher Partner», weiss Pierre-Alain      «In Ollon liessen sich die Risiken durch technische
       Martenet. Um den gesamten Kanton Waadt abzudecken,            Massnahmen deutlich verringern. Doch ein Restrisiko
       wurden rund 12 000 Karten erarbeitet, davon etwa 20 für       bleibt», betont Bernard Loup vom BAFU. Die effizienteste
       die Gemeinde Ollon. An diesem umfangreichen Projekt           Massnahme zur Verminderung von Risiken besteht darin,
       waren neben den Gemeinden 32 auf Geologie, Wasser             das Bauen auf gefährdeten Flächen zu vermeiden. Wird
       und Schnee spezialisierte Büros beteiligt.                    dennoch gebaut, lassen sich mögliche Gebäudeschäden
                                                                     durch eine widerstandsfähige Konstruktion begrenzen.
       Arveyes im Fokus                                              «Die Sicherheit der Bevölkerung kann zusätzlich durch
       Wir erreichen Arveyes. Im unteren Teil des Weilers            die Erarbeitung eines Notfallplans verbessert werden»,
       stehen etwa ein Dutzend Gebäude, darunter auch ein            fügt er hinzu.
       Bauernhof. Auch hier ist der Untergrund instabil. Es
       gibt zahlreiche tiefgründige, permanente Rutschungen,         Nichts dem Zufall überlassen
       und Quellen am Böschungsfuss weisen auf Grundwasser           Inzwischen sind die definitiven Gefahrenkarten für das
       hin. Im Weiler selbst und entlang der Kantonsstrasse          gesamte Gemeindegebiet von Ollon fertiggestellt oder wer­
       wird mit mehreren Pumpen, die 30 bis 60 Meter tief in         den es demnächst sein. Nun gilt es, die Bevölkerung über
       den Boden reichen, das ganze Jahr über Wasser aus dem         die Situation zu informieren und die Naturgefahren in die
       Untergrund gepumpt. Mithilfe dieses Systems, das in           kommunalen Richt- und Nutzungspläne zu integrieren.
       den 1980er-Jahren realisiert wurde, war es möglich, das         Gemäss den Bundesgesetzen über den Wasserbau und
       Ausmass der Erdbewegungen einzuschränken.                     den Wald sind die Kantone verpflichtet, Gefahrenkarten
         Momentan gilt das Gebiet Arveyes als «Planungszone».        zu erstellen und diese in der Richt- und Nutzungsplanung
       Jede Siedlungsentwicklung ist vorläufig gestoppt, damit       zu berücksichtigen. «Gefahrenkarten sind unentbehr­liche

18
DOSSIER NATURGEFAHREN < umwelt 2/2015

Instrumente, um die Entwicklung der Risiken in gefähr­
deten Gebieten zu steuern», bestätigt Roberto Loat von
                                                             Mehr Raum für Fliessgewässer
der Sektion Risikomanagement des BAFU. Sie erlauben          hjb. Bis vor wenigen Jahren f loss die Aire bei Genf durch einen
es den Behörden, Neubauten auf solchen Flächen zu            geradlinigen Betonkanal. Nach heftigen Regenfällen trat sie
beschränken oder zumindest dafür zu sorgen, dass ge­         wiederholt über die Ufer und bedrohte unter anderem vor ihrer
fahrengerecht gebaut und genutzt wird. Und sie weisen        Mündung in die Arve auch Quartiere der Stadt.
Hauseigentümerinnen und -eigentümer in Gefahren­                2002 begannen die Arbeiten an einem Hochwasserschutzprojekt,
zonen darauf hin, dass sie gut daran täten, die Sicherheit   das mit einer ökologischen Aufwertung des Gewässers verbunden ist.
ihrer Gebäude mit Schutzmassnahmen zu erhöhen.               Das Bachbett wurde dabei auf längerer Strecke massiv verbreitert.
  Dem BAFU-Experten zufolge sind zukünftig für alle
                                                             Damit verzögert sich der Abfluss, und die Hochwasserspitzen im
Gefahrenstufen, einschliesslich der tiefsten, Bauauflagen
                                                             Unterlauf werden gebrochen.
zu prüfen. Denn eine Analyse der Unwetter der letzten
                                                                Seit 2011 schreibt das Gewässerschutzgesetz einen minimalen
Jahre ergab, dass in den gelben und gelb-weissen Zonen
                                                             Gewässerraum für Bäche und Flüsse vor. Einerseits müssen die heute
(«Restgefährdung»), für die momentan keine Vorschriften
                                                             bereits bestehenden Pufferstreifen entlang der Ufer – besonders bei
gelten, grosse Schäden entstanden sind. Es ist deshalb
                                                             grösseren Fliessgewässern – erweitert werden. Hierzu braucht es
sinnvoll, auch für diese Zonen Anforderungen festzule­
                                                             schweizweit rund 20 000 Hektaren, hauptsächlich im Landwirt-
gen. Eine Raumplanung, die sich auf Risiken und nicht
                                                             schaftsgebiet. Diese Böden gehen der Landwirtschaft aber nicht
nur auf Gefahren abstützt, muss für alle Gefahrenstufen
eine risikogerechte Nutzung sicherstellen.                   verloren. Extensive Grünlandnutzung bleibt möglich.
                                                                Als Kulturland nicht mehr nutzbar werden hingegen die Flächen
Die ganze Schweiz kartografiert                              sein, die in den kommenden 80 Jahren für die Revitalisierung
Unterdessen ist mit ganz wenigen Ausnahmen praktisch         ein­geengter Bäche und Flüsse benötigt werden. Es sind schätzungs­
das ganze besiedelte Gebiet der Schweiz kartiert. Zwei       weise 2000 Hektaren (siehe auch umwelt 3/2011, Dossier Raum den
Drittel der Gemeinden haben ihre Gefahrenkarten bereits      Gewässern).
in die kommunalen Nutzungspläne integriert. Unser Land
ist in diesem Bereich im internationalen Vergleich sehr
weit fortgeschritten, und das hiesige Know-how stösst im
Ausland auf grosses Interesse (siehe auch Seiten 32–35).
   «Die Arbeit ist aber noch nicht abgeschlossen, und
sie wird es auch nie sein», räumt Roberto Loat ein. Die
Gefahren- und Risikogrundlagen müssen periodisch
aktualisiert und neue Phänomene, wie etwa der Ober­
flächenabfluss, der für rund die Hälfte aller Schäden
ursächlich ist, kartografiert werden. «Nur wenn wir
über vollständige und aktuelle Grundlagen verfügen,
können wir die richtigen Massnahmen ergreifen, um die
Sicherheit von Menschen und erheblichen Sachwerten
zu verbessern.»

Weiterführende Links zum Artikel:
www.bafu.admin.ch/magazin2015-2-03

             KONTAKTE
             Roberto Loat                                    Der revitalisierte Bach Aire bei Perly-Certoux (GE) südwestlich
             Stv. Sektionschef Risikomanagement
                                                             von Genf.                                              Bilder: Christof Angst
             BAFU
             058 464 16 57
             roberto.loat@bafu.admin.ch
                                                                            KONTAKT
             Bernard Loup                                                   Hugo Aschwanden
             Sektion Rutschungen, Lawinen und Schutzwald                    Sektionschef Revitalisierung und Gewässerbewirtschaftung, BAFU
             BAFU                                                           058 464 76 70
             058 465 50 98                                                  hugo.aschwanden@bafu.admin.ch
             bernard.loup@bafu.admin.ch

                                                                                                                                              19
umwelt 2/2015 > DOSSIER NATURGEFAHREN

WARNEN UND ALARMIEREN

Wenn der grosse
Regen kommt
Zeit ist Geld. Dies gilt auch bei der Bewältigung von Unwetterereignissen: Die Schäden lassen sich deutlich
vermindern, wenn alle Betroffenen rechtzeitig gewarnt werden. Bei den Unwettern von 2005 lag diesbezüglich
noch manches im Argen. Dank der Massnahmen, die seither im Rahmen des Projekts OWARNA getroffen
wurden, funktioniert das System der Warnung und Alarmierung heute erheblich besser. Text: Elsbeth Flüeler

20
DOSSIER NATURGEFAHREN < umwelt 2/2015

                                 2014 wird als Jahr ohne Sommer in die Geschich­      bei Naturgefahren (OWARNA). Das Ziel ist, die
                                 te eingehen. Anfänglich sah es zwar überhaupt        Schäden mit rechtzeitiger Information um 20 Pro­
                                 nicht danach aus, denn die ersten Juniwochen         zent zu verringern – vor allem bei Hochwasser,
                                 waren warm und trocken. Doch dann sanken             dem weitaus häufigsten Naturereignis.
                                 die Temperaturen, und der Regen setzte ein. Die        Martin Buser leitet das Teilprojekt «Durchhalte­
                                 meisten Regionen der Schweiz erhielten über          fähigkeit und Krisenmanagement». Am 9. August
                                 den gesamten Sommer Regenmengen zwischen             2007 trat er seine Stelle beim BAFU an. Drei Tage
                                 110 und 140 Prozent der Norm, lokal waren es         danach setzte ein zweitägiger Starkregen ein. Der
                                 gar 200 Prozent. Die anhaltenden Niederschläge       Pegel des Bielersees übertraf alle seit der zweiten
                                 führten zu Hochwassern, da und dort auch zu          Juragewässerkorrektion in den 1960er-Jahren beob­
                                 Überschwemmungen und Erdrutschen.                    achteten Werte – «wie um die Dringlichkeit von
                                   Mehrfach betroffen waren das Emmental (BE)         OWARNA zu bestätigen», bemerkt Martin Buser.
                                 und das Entlebuch (LU). Gesamtschweizerisch          In den darauffolgenden Jahren wurden Schritt
                                 hielten sich die Schäden aber in Grenzen. Gemäss     für Schritt die Organisation und die Strukturen
                                 Schätzungen der Eidgenössischen Forschungs­          der Krisenbewältigung definiert und umgesetzt.
                                 anstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) lag
                                 die Schadenssumme der Ereignisse im Juli 2015 bei    Besser und stärker vernetzt
                                 etwas mehr als 80 Millionen Franken.                 Die Naturgefahrenfachstellen auf Ebene Bund
                                   Es war auch eine Portion Glück dabei: Vielerorts   und Kantone wurden vernetzt. Zudem wurde eine
                                 gingen die Niederschläge im Einzugsgebiet von        Infrastruktur geschaffen, die es erlaubt, im Notfall
                                 bedrohlich angeschwollenen Fliessgewässern just      zu agieren. Im BAFU gibt es heute einen speziel­
                                 dann zurück, als die Lage kritisch wurde.            len Führungsraum, ausgerüstet mit modernster
                                                                                      Technik. Hier trifft sich bei grösseren Ereignissen
                                 Ereignisanalyse 2005                                 der Kernstab und schliesst sich mit den zustän­
                                 2014 kamen aber auch die Massnahmen zum Tra­         digen Stellen von Bund und Kantonen kurz. Der
                                 gen, die nach den Ereignissen vom August 2005        Stabschef informiert den Entscheidungsträger auf
                                 getroffen worden waren. Nach jenem Jahrhundert­      Bundesebene über die Lage und bereitet für ihn
                                 hochwasser hatte der damalige Bundesrat Samuel       die Entscheidungsgrundlagen für eine Warnung
                                 Schmid das Bundesamt für Bevölkerungsschutz          der kantonalen Behörden oder der Bevölkerung
                                 (BABS) mit einer Ereignisanalyse beauftragt. Des­    zeitgerecht vor.
                                 sen Bericht lag 2007 vor. «Die Behörden wussten        Unterstützt wird der Kernstab durch die Natur­
                                 mehr als die Bevölkerung, war seine zentrale         gefahrenfachstellen des Bundes. Nebst dem BAFU
                                 Aussage», sagt Martin Buser von der Sektion Risi­    sind dies: das Bundesamt für Meteorologie und
                                 komanagement im BAFU. Wäre die Bevölkerung           Klimatologie (MeteoSchweiz), die Forschungs­
Mobile Hochwasser-               besser und rechtzeitig informiert worden, hätten     anstalt für Wald, Schnee und Landschaft mit dem
sperren – sogenannte             sich viel Schaden und Leid verhindern lassen. Die    Institut für Schnee- und Lawinenforschung (WSL/
Beaver-Schläuche –               Schadenssumme von total 3 Milliarden Franken         SLF) sowie der Schweizerische Erdbebendienst
entlang der Reuss in             wäre um eine halbe Milliarde tiefer ausgefallen.     (SED). Sie beobachten und beurteilen laufend die
Luzern.                          So hätten zum Beispiel mehrere Tausend Autos in      Gefahrensituation in ihrem Fachbereich. Droht
Bild: Beaver Schutzsysteme AG,   Sicherheit gebracht werden können – allein dies      ein Ereignis, sprechen sie sich gemäss einem ein­
Grosswangen                      eine Ersparnis von 90 Millionen Franken.             gespielten Ablauf untereinander ab und schlies­sen
                                                                                      sich, sobald vordefinierte Kriterien erfüllt sind,
                                 Früher warnen und alarmieren                         zum Fachstab Naturgefahren zusammen. Die­
                                 Stürme, Lawinen und Überschwemmungen                 ser erarbeitet Prognosen, verfasst Bulletins und
                                 künden sich an, und zwar meist Tage oder zu­         Warnungen, gibt Verhaltensempfehlungen und
                                 mindest Stunden im Voraus. Es bleibt also Zeit,      verschickt Medienmitteilungen.
                                 um Sicherheitsvorkehrungen zu treffen: Keller
                                 und Erdgeschoss räumen, Autos umparkieren,           Gemeinsame Informationsplattform
                                 Sand­säcke abfüllen und verteilen oder sich in       «Die Kommunikation mit allen Ebenen ist heute
                                 Sicherheit begeben. Vorausgesetzt, man wird          sichergestellt», versichert Martin Buser. Eine zen­
                                 rechtzeitig gewarnt. Gestützt auf den erwähnten      trale Rolle für die Fachstellen der Kantone und
                                 Bericht lancierte der Bundesrat daher das Projekt    Gemeinden spielt dabei die Gemeinsame Informa­
                                 zur Optimierung von Warnung und Alarmierung          tionsplattform Naturgefahren (GIN). Hier sind zum

                                                                                                                                       21
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