Verkehrswende: Chancen und Hemmnisse - Schwerpunkt - vhw
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
3/2021 Heft 3 Mai – Juni 2021 G 3937 D FORUM WOHNEN UND STADTENTWICKLUNG Schwerpunkt Verkehrswende: Chancen und Hemmnisse Stadtentwicklung Zeit für die Verkehrswende • Warum Deutschland ein Bundesmobilitätsgesetz braucht • Die räumliche Planung muss zur „Verkehrswende“ beitragen • Verkehrswende in Baden-Württemberg • Haupt- straßen als Bühne der Verkehrswende • Die Umsetzung der Verkehrswende in den Kommunen • Pop-up-Radwege in Berlin • Verkehrswende in Karlsruhe • Wohnstandortbezogene Mobilitätskonzepte • Die Verkehrswende ist weiblich • Technikinnovationen als trügerische Hoffnung in der Verkehrs- wende?! • Gehen als Alltagsmobilität Fortbildung Bundesrichtertagung des vhw erstmals online Nachrichten Fachliteratur WohnungsMarktEntwicklung Der Stellenwert der Verkehrsflächen in Deutschland Verbandszeitschrift des vhw
Inhalt Schwerpunkt Wohnstandortbezogene Mobilitätskonzepte – Verkehrswende: Chancen und Hemmnisse ein neuer Standard in der Quartiersentwicklung 147 Christian Bitter, Luise Schnell, Editorial stattbau münchen GmbH Schluss mit Pillepalle Mehr als eine Verkehrswende – denken wir Die Verkehrswende ist weiblich, oder: Stadt und Land neu 113 Was hat Gender Planning damit zu tun? 151 Michael Adler, tippingpoints, Agentur für Juliane Krause, plan & rat, Büro für kommunale nachhaltige Kommunikation, Berlin/Bonn Planung und Beratung, Braunschweig Stadtentwicklung Mobilitäts- und Verkehrswende – Technik- Zeit für die Verkehrswende 115 innovationen als (trügerische) Hoffnung?! 155 Dr. Axel Stein, KCW GmbH in Berlin Prof. Dr. Klaus J. Beckmann, KJB.Kom – Kommunalforschung, Beratung, Moderation Ein neuer Rechtsrahmen für die und Kommunikation, Berlin Verkehrswende – warum Deutschland ein Bundesmobilitätsgesetz braucht 120 Gehen als Alltagsmobilität – da geht noch mehr 159 Burkhard Horn, Berlin Bertram Weisshaar, Atelier Latent, Leipzig Die räumliche Planung muss zur Fortbildung „Verkehrswende“ beitragen! 125 Digital First: Dr. Friedemann Kunst, Berlin die traditionelle vhw-Bundesrichtertagung 2020 erstmals online 163 Klimaschutz geht auch auf Landesebene: Dr. Diana Coulmas, vhw e.V., Berlin Verkehrswende in Baden-Württemberg 129 Christoph Erdmenger, Ministerium für Verkehr Nachrichten Baden-Württemberg, Stuttgart Fachliteratur 167 Wohin nur mit dem ganzen Verkehr? WohnungsMarktEntwicklung Hauptstraßen als Bühne der Verkehrswende – Der Stellenwert der Verkehrsflächen in ein Blick nach Berlin 131 Deutschland 168 Dr. Cordelia Polinna, Urban Catalyst GmbH, Berlin Robert Kretschmann, vhw e.V., Berlin Die Umsetzung der Verkehrswende in den Kommunen – die Mühen der Ebene! Erfahrungen und Erkenntnisse aus 25 Jahren in der Verwaltung 135 Siegfried Dittrich, Berlin „Wenn es gut läuft, entsteht eine Dauerlösung – wenn nicht, wird nachjustiert.“ 141 Ein Interview zu Pop-up-Radwegen in Berlin mit Olaf Rabe aus dem Bezirk Friedrichshain- Kreuzberg Verkehrswende in Karlsruhe durch erfolgreiche Nahmobilität – Vorhaben, Chancen und Herausforderungen 143 Prof. Dr. Anke Karmann-Woessner, Stefan Schwartz, Stadt Karlsruhe
Editorial Schluss mit Pillepalle Mehr als eine Verkehrswende – denken wir Stadt und Land neu Ich will, dass wir endlich Und die neue Stadt, das neue Dorf, sind modern und zeitge- angemessen handeln. Mit mäß. Ich widerspreche allen, die mich vorschnell zum Nos- Blick auf die Klimaerhitzung, talgiker stempeln wollen. Mir geht es um eine neue Zeit – auf Schadstoffe, auf Lärm, eine Zeit, in der die Errungenschaften der Technik durchaus auf die Unfallgefahr, auf die eingesetzt werden, aber eben nicht wie in den Siebzigern Platzverteilung in unseren des letzten Jahrhunderts mit blinder Technikbegeisterung, Städten und Dörfern will ich, sondern klug mit Blick auf den Ressourceneinsatz und die dass wir Stadt, Dorf und Mo- Verhältnismäßigkeit. Wir werden Pedelecs und Cargobikes bilität ganz neu denken. Es sehen, in Formen, die wir heute erst ahnen, leise Bahnen geht um mehr als die „Ver- und Busse und kleine autonom fahrende Elektrovehikel. Ich kehrswende“. Es geht um scheue mich, sie „Autos“ zu nennen – so, wie ich auch nicht eine Wende im Kopf. Das von „autofreien“ Innenstädten reden will. Auch wer autofrei Michael Adler Ziel ist eine zukunftsfähige, sagt, denkt Auto – und schon sind wir wieder im alten Au- nachhaltige Stadt. Damit ist toframe. klar: Ein bisschen schrauben an den Motoren unserer Au- Ich sehe Radschnellwege, die das ganze Stadtgebiet, aber tos wird nicht reichen. Die Antriebswende ist viel zu kurz auch den ländlichen Raum vernetzen – überall! Einen öf- gedacht. Auch wenn Autos elektrisch angetrieben werden, fentlichen Verkehr, der aus erneuerbaren Energiequellen stimmt die Transport-Energie-Bilanz hinten und vorn nicht. gespeist, das Rückgrat der neuen Mobilität bildet, in der Wir haben mit der StVO den Straßenraum aufgeteilt, mit Stadt und auf dem Land. Wir bauen Mobilstationen, flächen- dem Löwenanteil für den fließenden und ruhenden Kfz-Ver- deckend, Logistikhubs für die emissionsfreie Güterversor- kehr. Und wir haben mit dem Modernismus den Stadtraum gung im Quartier. Wir reanimieren unsere Dorfkerne und aufgeteilt – nach Funktionen. Und das meiste zwischen reorganisieren unsere Städte polyzentrisch. Dazu besetzen den Funktionen ist „Motorisierter Individualverkehr“ (MIV). wir den Begriff „Stadtentwicklung“ neu. Es mangelt nicht Wir haben diese Irrwege noch immer nicht korrigiert. Wo an aktuellen Vorschlägen. Anne Hidalgo, die Bürgermeis- fangen wir also an? Am besten in unserem Hirn. Wir müs- terin von Paris, nennt es „15-Minuten-Stadt“, Barcelona sen buchstäblich die Stadt neu denken lernen. Die Neu- denkt die dicht besiedelte Stadt in Superblocks neu, die rowissenschaftlerin Maren Urner hat ihrem klugen Buch Schweiz baut Quartiere zu Begegnungszonen um. „Schluss mit dem täglichen Weltuntergang“ folgendes Zitat Wir brauchen ein disruptiv neues Denken von Stadt, Dorf und von William James, dem Begründer der Psychologie, vor- Mobilität. Und: Wir brauchen diesen Aufbruch sehr schnell, angestellt: „Unser Leben ist nichts anderes, als das, worauf weil wir sonst das 1,5-Grad-Ziel von Paris nicht mehr schaf- wir unsere Aufmerksamkeit richten.“ Richten wir unsere fen können und weil wir sonst weiterhin Kinder und Alte an Aufmerksamkeit also auf die zukunftsfähige, nachhaltige Leib und Leben gefährden oder einsperren. Ferdinand von Stadt. Schirachs Plädoyer für eine neue EU-Grundrechtscharta schafft den rechtlichen Rahmen für dieses neue Denken. § Denken Sie an eine Stadt oder ein Dorf für Menschen. Was 1: Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und ge- kommt Ihnen in den Sinn? Bäume, Bänke und andere Sitzge- schützten Umwelt zu leben. legenheiten, schattige Plätze, Straßencafés, Fußgänger, Rad- fahrer, Kinder, Alte, Mittelalte, jedenfalls sehr viele Menschen Fangen wir heute damit an. Wir haben keine Zeit zu verlieren. im öffentlichen Raum, Menschen, die miteinander reden, sich austauschen, Geschäfte machen, offene Häuser zur Straße hin – die Stadt als Sozialraum, als Ort des guten Lebens, als Arbeitsraum. Die Stadt für Menschen ist leise, die Luft ist sau- ber, sie ist sicher und entspannt uns nervlich. Sie ist Freiheit und Autonomie auch für Schwächere. Jim Walker, der Be- gründer der Walk21-Konferenzen, sagte mir in einem Inter- Michael Adler view: „Städte, in denen du viele Kinder und alte Menschen in Gründer und Geschäftsführer von tippingpoints, der Öffentlichkeit siehst, haben vieles richtiggemacht.“ Agentur für nachhaltige Kommunikation, Berlin/Bonn vhw FWS 3 / Mai–Juni 2021 113
vhw 12:30 Uhr Eintreffen der Teilnehmer 1946 bis 2021 – 75 Jahre vhw ber 2021 in Berlin Digitalisierung: Treiber in der Stadtentwicklung tegien – Potenziale Transformation – Strategien – Potenziale iber in der Stadtentwicklung vhw-Verbandstag 2021 | 7. Oktober 2021 in Berlin w 12:30 Uhr Eintreffen der Teilnehmer 13:00 Uhr Begrüßung Dr. Peter Kurz, Oberbürgermeister der Stadt Mannheim, Verbandsratsvorsitzender vhw e.V. Prof. Dr. Jürgen Aring, Vorstand vhw e.V. 13:15 Uhr Digitalisierung und Stadtgesellschaft – von der Smart City zur Digitalen Region Gerald Swarat, Fraunhofer Institut für Experimentelles Software Engineering IESE 13:45 Uhr Stadtentwicklung und digitalerVeranstaltungsort Wandel Input I: Perspektive Wirtschaft und Wissenschaft Dr. Alanus von Radecki, Daten-Kompetenzzentrum für Städte und Regionen (DKSR), Berlin Input II: Kommunen und Smart City Diana Hoffmeister, Stadt Goslar Input III: Zivilgesellschaft und transparente Stadt Dr. Anna Becker, vhw e.V., Berlin anschließend: Diskussion mit den Impulsgebern 15:00 Uhr Kaffeepause Das Dezentralisierungspotenzial von Digitalisierung – 15:30 Uhr neue Attraktivität für Suburbia und ländliche Räume? Prof. Dr. Stefan Siedentop, ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung, Dortmund Hauptstadtrepräsentanz der Deutschen Telekom Französische Straße 33a-c, 10117 Berlin 16:00 Uhr https://www.telekom-hauptstadtrepraesentanz.com/hsr-de Kommunale Digitalisierungsstrategien Moderierte Diskussionsrunde mit: Ilona Benz, Gemeindetag Baden-Württemberg, Stuttgart Diana Hoffmeister, Stadt Goslar Hinweise zur Anmeldung Tobias Schulze, Mitglied des Abgeordnetenhauses (MdA) Berlin, Die Linke Digitalisierung: Treiber in der Stadtentwicklung 16:45 Uhr Wie können wir die Digitalisierung nachhaltig gestalten? Transformation – Strategien – Potenziale Dr. Reinhard Messerschmidt, Helmholtz Open Science Office, Potsdam BG210101 | 7. Oktober 2021 17:40 Uhr Ende der Veranstaltung und Ausklang Die Veranstaltung ist kostenfrei. Hinweis: Die Maßnahm men das Format des V Die Veranstaltung wird von einem Fotografen dokumentiert Präsenzveranstaltung und im Ton aufgezeichnet. Bei Teilnahme an der Veranstaltung zur Eindämmung von erfolgt das unter Zustimmung. einer Hybridveranstal Veranstaltungsort: Anmeldung: Fritschestraßeund werden Ende Aug 27–28 Alle Infos und Anmeldung unter Alle Angemeldeten we Hauptstadtrepräsentanz Alle Infos und Anmeldung unter https://www.vhw.de/va/bg210101 10585 Berlin der Deutschen Telekom https://www.vhw.de/va/bg210101 oder über den QR-Code. Telefon: 030 390473-110 Große Bitte: Beim Nic Französische Straße 33a–c oder über den QR-Code. Fax: 030 390473-190 erfolgte Anmeldung bi 114 vhw FWS 3 / Mai–Juni 2021 10117 Berlin Es fällt keine Teilnahmegebühr an E-Mail: bund@hw.de um keine Speisen vern zu können.
Stadtentwicklung Zeit für die Verkehrswende Axel Stein Zeit für die Verkehrswende Neu ist die Diskussion über die Verkehrswende nicht – bereits in den 1980er Jahren wurde der Begriff genutzt, um an- knüpfend an die damals eingeleitete Energiewende auch im Verkehrsbereich eine Umkehr diskutieren zu können (vgl. Hesse 2018). Geändert hat sich allerdings inzwischen die Dringlichkeit einer Wende – unterstrichen durch Ziele, die auf Ebene der EU und des Bundes verbindlich formuliert wurden und die eine klare Zeitperspektive mitsamt Zwischen- zielen haben: Europa und auch Deutschland wollen im Jahr 2050 klimaneutral sein. In diesem Beitrag geht es darum, was dieses konkrete, quantifizierte und verbindliche Ziel für die bis dahin aufgestellten und hoffentlich umgesetzten Konzepte rund um Mobilität und Verkehr bedeutet. Grundlage bilden die Ergebnisse eines kürzlich für das Umweltbun- desamt (UBA) erarbeiteten Gutachtens (KCW 2020). Das Ziel besteht in Klimaneutralität bis 2050 Die Mobilitätswende braucht eine Vision Seit über die Verkehrswende diskutiert wird, ist der Treib- für 2050 hausgasausstoß im Verkehrssektor praktisch unverändert Klimaneutralität im Jahr 2050 setzt ein ehrgeiziges Ziel, geblieben. Erst die verschieden intensiv ausgefallen Lock- das nicht allein durch den Vollzug einer Energiewende im downs im Zuge der Coronapandemie führten zu einer spür- Verkehr zu bewerkstelligen ist.2 Sie lässt sich im Verkehrs- baren Abnahme. Sie geben einen Eindruck davon, welche sektor nur erreichen, wenn ein Wechsel der Antriebstech- Intensität die Verkehrswende annehmen kann, wird sie sehr nologie einhergeht mit einer Mobilitätswende, d. h. einem kurzfristig und abrupt vollzogen. Aus dem strikten Ziel der Umstieg vom Pkw auf die Verkehrsmittel des Umweltver- Klimaneutralität, die bis zum Jahr 2050 erreicht werden soll, bunds und einem Stopp des Verkehrswachstums. Vielerorts ergibt sich für die kommenden knapp dreißig Jahre ein steiler resultiert das Ziel einer Verkehrsverlagerung in der Visi- Pfad der Treibhausgasausstoßreduktion. Für Strategien, die on einer Verdopplung des öffentlichen Verkehrs, so wie es auf verschiedenen Ebenen für den Verkehrssektor zu entwi- die Verkehrsministerkonferenz in einer Sondersitzung am ckeln sind, ist es deshalb wichtig, dass gleichzeitig und auf- 26. Februar 2021 beschloss: „Gemeinsames Ziel von Bund einander abgestimmt Mittelfristziele für das Jahr 2030 sowie und Ländern ist es, […] gemeinsam die Vorbereitungen Langfristziele für die Jahre 2040 und 2050 gesetzt werden.1 zu treffen, um bis 2030 zur Erreichung der Klimaziele des 1 Vgl. das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Unvereinbarkeit von Teilen Bundes die Fahrgastzahlen gegenüber dem Jahr 2019 zu des Bundes-Klimaschutzgesetzes mit den Grundrechten (BVerfG, Beschluss verdoppeln.“3 des Ersten Senats vom 24. März 2021 – 1 BvR 2656/18 , Rn. 1-270). Einen wirksamen Beitrag 2017 +127 % zur Verkehrswende kann Metropolen 2050 -86 % ein solches Wachstum des öffentlichen Verkehrs Stadtregionen Regiopolen und 2017 +136 % Großstädte 2050 -66 % (ÖV) aber nur dann leis- ten, wenn die zusätzli- Mittelstädte, 2017 +116 % städtischer Raum 2050 -32 % chen Fahrgäste und die zusätzliche Beförderungs- kleinstädtischer, 2017 dörflicher Raum 2050 -10 % +39 % leistung durch Umstieg vom Pkw zustande kom- 2017 +106 % men. Handelt es sich um ländliche Regionen zentrale Städte -35 % 2050 Neuverkehr (induzierter Mittelstädte, 2017 -10 % +40 % Verkehr), führt das ÖV- städtischer Raum 2050 Wachstum zu einem stei- kleinstädtischer, 2017 +53 % dörflicher Raum 2050 -10 % 2 Vgl. den Beitrag von Burkhard -700 700 -550 550 -400 400 -250 250 100 -100 50 200 350 500 Horn in diesem Heft. Verkehrsleistung in Mio. Pkm 3 https://www.verkehrsminister- MIV Umweltverbund konferenz.de/VMK/DE/termine/ sitzungen/21-02-26-sonder- vmk-telefonschaltkonferenz/21- Abb. 1: Modellierte Verlagerung eines Drittels der MIV-Verkehrsleistung auf den Umweltverbund in einer räumlichen 02-26-beschluss.pdf?__ Differenzierung (räumliche Differenzierung nach RegioStaR7; Quelle: KCW 2020, S. 78) blob=publicationFile&v=3 vhw FWS 3 / Mai–Juni 2021 115
Stadtentwicklung Zeit für die Verkehrswende genden ÖV-Anteil auf einem insgesamt wachsenden Markt. fristigen Mobilitäts- und Verkehrsstrategie. Sie muss ein Und Fahrgastgewinne zulasten von Rad- oder Fußverkehr Verständnis von Netzentwicklung und infrastrukturellem würden nur zu einer Umverteilung im Umweltverbund füh- Ausbaubedarf bis 2050 entwickeln, auf das die Maßnah- ren und die Verkehrsbelastung durch den motorisierten In- men in der bis dahin vergehenden Zeit auszurichten sind. dividualverkehr (MIV) unangetastet lassen. Das Handlungsziel einer Verdopplung der Beförderungs- Entsprechend wurde im eingangs erwähnten Gutachten für leistung im ÖV ist nur mit einer erheblichen Steigerung der das UBA eine Verdopplung der Verkehrsleistung des Um- Betriebsleistung vorstellbar und bedarf deshalb massiver weltverbundes bis zum Jahr 2050 unter der Bedingung ei- Investitionen in Infrastruktur und Fahrzeuge des ÖV. Das ner unveränderten Gesamtverkehrsleistung modelliert. Aus Maßnahmenspektrum enthält deshalb auch langlaufende Abb. 1 kann abgelesen werden, dass dann zwar der größte Maßnahmen mit erheblichem Realisierungsvorlauf (vgl. Abb. Teil der Verkehrsverlagerung auf die Bevölkerung der Groß- 3).4 Umso wichtiger ist es, die Schritte zur Mobilitätswende städte entfällt, allerdings ein relevanter Beitrag zum Ver- „vom Ende her“ zu konzipieren. Welche Maßnahmen bis 2030 lagerungsvolumen auch in ihren Nachbargemeinden und begonnen werden müssen, ergibt sich aus ihrem Zeitbedarf dem ländlichen Raum geleistet werden muss. Die Vision und der Rückrechnung vom Zieljahr 2050. Zur Bedienung der einer Mobilitätswende muss Lösungen für alle Raumtypen Zwischenziele, z. B. für die Jahre 2030 und 2040, sind jene bereithalten und bedarf mit Blick auf fristgerechte Zielein- Maßnahmen umzusetzen, die bereits planerisch weit gedie- haltung und abgestimmte Netzentwicklung einer bundes- hen, mit geringem Investitionsaufwand und wenig Prozess- weiten Koordination. risiko versehen sind. Sollten sich jedoch Politik und Planung in der kommenden Dekade ausschließlich auf diese „low Die Darstellung in Abb. 1 differenziert nicht zwischen den hanging fruits“ konzentrieren, würde die Inbetriebnahme der Verkehrsträgern des Umweltverbundes. Wie im weiteren größeren und komplexeren Projekte bis 2050 in Gefahr ge- Verlauf dieses Beitrages gezeigt werden wird, wird der er- raten. hebliche Ausbau des ÖV dadurch unterstützt, dass auch im nichtmotorisierten Verkehr ein Leistungsaufwuchs statt- findet. Naheliegenderweise wird sich dieser auf relativ 4 Kürzlich gab die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und einzelner Abgeordneter an, dass in kurze Distanzen konzentrieren, wobei mit dem Fahrrad den vergangenen elf Jahren Planung und Bau von Schieneninfrastrukturab- bei entsprechender Fahrradinfrastruktur und vermehr- schnitten, die mindestens dreißig Kilometer lang sind, von der Grundlagener- mittlung bis zur Inbetriebnahme im Mittel über zwanzig Jahre gedauert haben tem Einsatz von Pedelecs und E-Bikes auch Strecken von (vgl. Bundestagsdrucksache 19/25752 zur Situation der Infrastrukturplanung zwanzig Kilometern bewältigbar erscheinen. in Deutschland, S. 3). Aus Abb. 2 lässt sich ablesen, dass Verdopplung Rad ( der größte Teil der Verkehrsleistung Verdopplun g Fuß ( bis 20 km) 6,3 % bis 5 km) im Pkw-Verkehr auf mittleren und => +4,7%-Pkt 11,0 % N Ö weiten Distanzen stattfindet, wo nur Verd M oppl Bus und Bahn ihm größere Verkehrs- 18,8 % ung ÖV ( M => + ab 5 M anteile abgewinnen können. Insofern 18,0 km) %-Pk M t sollten Verlagerungsstrategien auf M einer „Arbeitsteilung“ zwischen den Verdopplung Rad ( 36,8 % Verdopplun g Fuß ( bis 20 km) 6,3 % bis 5 km) NMIV Verkehrsträgern des Umweltverbun- => +4,7%-Pkt 11,0 % ÖV des aufbauen. 32,9 % 18,8 % Verd oppl ung MIV ab 50 km MIV 20 km bis + b r5dko MIV 10 km bis MIV 5 km bis -1 50 k MIV bis -1 (> 50 = km) > km) Ziel und Vision der Mobilitätswende 0,8% -Pkt -3,5% -Pkt 22,1 % bestehen in einem arbeitsteilig und Verdop 17,9 % plung Ö V (20 -50 km 14,4 % bundesweit vergleichbar organisier- 11,9 % => -3,5 V-Pekrd ) % t opplung V + Rad (5 ten Umweltverbund, der über ein => -2,2%-P -20%km) 14,4 11,9 % Verdoppl P kt bzw. 2,7% 9,2 % attraktives Angebot, ausreichende 7,0 % ung V + Ra d (5-2 -Pkt => -2,2%-PPk Ver 0 km) 4,8 % dopp t bzw. 2,7% lung NMIV (bis 9,2 % Kapazitäten und eine räumlich wie 7,0 %5,2 % Verdopplung NMIV -Pkt 4,8 % 5 km) 1,7 % (bis 5 km)=> zeitlich umfassende Netzwirkung 5,2 % -3,5%-Pk1,7 t % MiD MiD 2017 nach Verlagerung => -3,5%-Pkt 2017 nach Verlagerung Menschen überzeugt, vom Pkw umzusteigen. Hieraus folgt zwin- Abb. 2: Modellierte Verlagerung eines Drittels der MIV-Verkehrsleistung auf den Umweltverbund in einer gend der Bedarf nach einer lang- Differenzierung nach Entfernungsklassen im Pkw-Verkehr (Quelle: Grischkat/Mönch/Stein 2020, S. 61) 116 vhw FWS 3 / Mai–Juni 2021
Stadtentwicklung Zeit für die Verkehrswende Neubau Schieneninfrastruktur Eisenbahn Neubau U-Bahn-Infrastruktur Elektrifizierung des gesamten Busnetzes Neubau Straßenbahninfrastruktur Ausweitung Schienenfahrzeugbestand (Neufahrzeuge) massive Erhöhung Leistungsfähigkeit Buslinie / BRT Einführung neuer Buslinie Einführung Kleinbusbedarfsverkehr Verbesserung bestehender Buslinie 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 Fertigstellung bei Fertigstellung im Optimum Herausforderungen Legende Planungs- und zwingender noch Realisierungs- oder gesicherter Entscheidungsvorlauf Realisierungszeitraum schon Nutzungszeitraum Nutzungszeitraum (i. d. R.) Abb. 3: Grober Vergleich des Planungs- und Investitionsvorlaufs für verschiedene Maßnahmen der ÖV-Planung (Quelle: KCW 2020, S. 144) Der konkrete Ausbaubedarf für das Jahr 2050 ist noch moderieren, die Abstimmung mit flankierenden Maßnah- nicht festgestellt. Deshalb kann nicht ausgeschlossen men, z. B. der Siedlungsentwicklung, koordinieren sowie werden, dass sich Zeit, Planungskapazitäten und Finanz- Zufriedenheit und Verständnis in der Bevölkerung halten mittel für komplexe, aufwendige Vorhaben als zu knapp zu können. bemessen herausstellen. Grundsätzlich sind Maßnahmen zu bevorzugen, die schnell in ihrem breiten Einsatz eine Zur Zielerreichung bedarf es kontinuierlicher, Verkehrsverlagerung bewirken können. Auch sind Stra- integrierter Planung tegien für Interimslösungen zu entwickeln, die attrakti- ve, leistungsfähige und netzwirksame Angebote schaffen Das Weitenwachstum im Verkehr ist Resultat einer weit- können. Diesbezüglich zeichnet sich bereits heute Bedarf gehend ungebrochen wirkenden Verkehrsspirale der sich ab, im Zuge der Entwicklung regionaler und überregio- wechselseitig verstärkenden Entwicklung von Siedlungen, naler ÖV-Hauptnetze gemeindeübergreifende Angebote Verkehrssystemen sowie Lebens- und Wirtschaftsweisen im Busverkehr zu entwickeln, die schnell und in großer (vgl. Kutter 2019). Die Mobilitätswende ist nur erreichbar, Zahl das Schienennetz zu ergänzen vermögen. Unter an- indem diese Spirale durchbrochen wird. Verschiedene Ar- derem ist zu prüfen, wie die dafür nötige Privilegierung beiten über die vergangenen dreißig Jahre (vgl. im Einzel- bei der Nutzung (einschließlich notwendiger baulicher nen KCW 2020, S. 120ff.) haben gezeigt, dass das erforder- Vorkehrungen) aussehen kann, inwieweit Angebotsmerk- liche Maßnahmenspektrum nicht nur Verkehrspolitik und male von international verbreiteten Schnellbussystemen -planung (einschließlich der ökonomischen Rahmenbedin- mit eigener Trassierung übernommen werden können, gungen für den Verkehr), sondern auch auf den ersten Blick wie ein emissionsfreier Antrieb ermöglicht und wie das verkehrsfremde Fachgebiete (etwa Städtebau, Kommunal- Angebot mit dem sonstigen ÖV-Angebot (z. B. an Bahnhö- finanzen, Wirtschaftsförderung) betrifft und die relevanten Akteure auf sämtlichen räumlichen Ebenen tätig sind. fen oder sonstigen Umsteigepunkten) verknüpft werden kann. Maßnahmen zur Reaktivierung und Ertüchtigung Jede einzelne dieser Maßnahmen ist zwar notwendig, für von Bahnstrecken sind damit nicht in Abrede gestellt. sich genommen aber nicht hinreichend. Diese Erkenntnis ist durchaus nicht neu, sie zieht sich wie ein roter Faden durch Die konzipierten Maßnahmen müssen auch die Gewähr verschiedene Studien zum Erfordernis einer Verkehrswende der rechtzeitigen Fertigstellung bieten. Verzögerungen, der vergangenen dreißig Jahre. Neu ist allerdings, dass sich wie sie gerade bei Großbaustellen, aber auch bei Projek- mittlerweile eine Verteuerung der Mobilität abzeichnet, etwa ten in konfliktträchtigen Stadtlagen häufig – im Grunde als Folge der Einführung eines CO2-Preises.5 Es empfiehlt sogar üblich – sind, wären kontraproduktiv. Ein regelmä- sich, diese Maßnahme zum Anlass zu nehmen, schrittweise, ßiges Monitoring der Schritte zur Verwirklichung der Visi- behutsam und vor allem kontinuierlich auf ein klar kommu- on ist somit erforderlich, um rechtzeitig nachsteuern und niziertes Ziel hin die bislang staatlich gesetzten Rahmenbe- Alternativen entwickeln zu können. Auch ist eine voraus- dingungen zur Begünstigung der Pkw-Nutzung und -Fahrten schauende Kommunikation von erheblicher Bedeutung, um Verteilungskonflikte mit anderen Verkehrsträgern 5 vgl. den Beitrag von Friedemann Kunst in diesem Heft. vhw FWS 3 / Mai–Juni 2021 117
Stadtentwicklung Zeit für die Verkehrswende auf weiten Strecken zurückzunehmen. Dazu gehört auch, tigkeit neu zuzuweisen. Daraus folgen neue Schwerpunkte die abnehmende Lenkungswirkung einer Steuer auf fossile in der Förderung von Verkehrsinfrastruktur, in der Zuwei- Kraftstoffe rechtzeitig zu antizipieren und alternative Steu- sung von Straßenraum für den fließenden und den „ruhen- erungsinstrumente, wie eine fahrleistungsabhängige Pkw- den“ Verkehr. Die Mobilitätswende wird auch zu Verände- Maut oder ein postfossiles Steuer- und Abgabensystem, rungen auf dem Arbeitsmarkt führen: In Behörden und bei einzuführen. Der Einsatz solcher Instrumente kann sozial- Fahrzeugherstellern werden sich die Stellenanforderungen verträglich ausgestaltet werden, indem Mobilität durch Effi- ändern, außerdem wird es in den Verkehrsunternehmen zu zienzgewinne und insbesondere die Stärkung des Umwelt- einem erheblichen Stellenaufwuchs kommen, der ange- verbundes insgesamt nicht teurer werden. sichts der heutigen Altersstruktur und der Konkurrenz der Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt die Personalverantwort- Eine Änderung der ökonomischen Rahmenvorgaben für die lichen vor große Herausforderungen stellen wird. Verkehrsmittelnutzung hat Einfluss auf die Verfügbarkeit bzw. Bezahlbarkeit von Verkehrsmitteln. Ihre Akzeptanz und ihre Wirksamkeit hängen nicht nur davon ab, ob sie Veränderungsbereitschaft kann schrittweise und mit einer klaren Perspektive umgesetzt beschleunigend wirken werden. Sie bedürfen außerdem einer zeitgleichen Ände- Der ökonomische Veränderungsdruck und planerische Maß- rung der Prinzipien, nach denen Flächennutzung und Sied- nahmen allein werden nicht ausreichen, um eine Verlage- lungsentwicklung betrieben werden. Bislang stützten sie rung von Pkw-Verkehr auf den Umweltverbund zu bewirken. das Ideal einer autogerechten Stadt (vgl. Holzapfel 2020). Einsicht und Akzeptanz der Notwendigkeit von Veränderung Fortan muss die Koordination von Siedlung und Verkehr die auf gesellschaftlicher Ebene müssen hinzutreten, um Ver- Qualitäten des Umweltverbunds zum Maßstab nehmen. änderungsbereitschaft zu erzeugen. Diese Veränderungsbe- Mit Veränderungen der Preismechanismen und Siedlungs- reitschaft hängt entscheidend davon ab, ob das Alternativmo- entwicklung ändert sich auch der Stellenwert der Verkehrs- dell für die Nutzung des Pkw und die autogerechte Stadt und träger im Verkehrssystem. Verkehrspolitik und -planung Region nicht nur für die Planer und Politiker, sondern auch sind aufgefordert, zugleich die Ressourcen, die den Ver- für die eigentliche Zielgruppe – die Bevölkerung – Attrakti- kehrsträgern zur Verfügung stehen, im Sinne der Nachhal- vität besitzt. Große Aufmerksamkeit erzielen hier Leitbilder, wie jenes der Stadt der kurzen Wege (Gertz 1998) und neuerdings auch der „15-Minuten- Stadt“. Sie stellen den Nahraum in den Mit- telpunkt und haben die Verbesserung der Be- dingungen für eine pkw- unabhängige Nahmobi- lität zum Gegenstand. Vor dem Hintergrund des Ziels der Verkehrs- verlagerung zielen sie vor allem auf Kurzstre- ckenfahrten mit dem Pkw, die allerdings (vgl. Abb. 2) insgesamt nur etwas mehr als 5 % der heutigen Verkehrsleis- tung ausmachen. Zur Erreichung der Kli- maziele reicht dies nicht aus. Der Umweltver- bund muss für sämt- liche Alltagswege ein Abb. 4: Vorzeitige Planerfüllung in Gent (Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage von Daten der Stadt Gent) möglichst oft attraktives 118 vhw FWS 3 / Mai–Juni 2021
Stadtentwicklung Zeit für die Verkehrswende sowie stets akzeptables Angebot bieten. Es ist anzustreben, Zieles wirken können. Eine eingehende Analyse der Genter seine räumliche und zeitliche Verfügbarkeit auf das gesamte Erfahrungen gibt es allerdings offenbar noch nicht – sie lie- Bundesgebiet auszudehnen, um auch für die mittleren und ße aber ausgesprochen wertvolle Hinweise für die dringend längeren Distanzen eine Alternative zum Pkw zu bieten. Die benötigten Konzepte der Verkehrswende erwarten. „Stadt der kurzen Wege“ sollte vor diesem Hintergrund durch eine „Region der gebündelten Wege“ ergänzt werden. In die- Dr. Axel Stein ser richtet sich das Augenmerk auf den ÖV, der hinsichtlich langjährige Forschung zu verkehrssparsamen wesentlicher Qualitätsparameter, wie Komfort, Reisezeit und Siedlungsstrukturen, integrierter Verkehrs- Preis zum Pkw, aufschließen muss. Fehlt ein solches Angebot, planung und Regionalentwicklung; seit 2012 Berater für ÖPNV-Strategien bei der KCW dann wird das durch die regulierenden Maßnahmen sowie die GmbH in Berlin ökonomischen Instrumente angestoßene Wechselpotenzial nur unzureichend ausgeschöpft. Viel schwieriger noch: Wird Quellen: keine adäquate Alternative geboten, dann besteht die Gefahr, Gertz, Carsten (1998): Umsetzungsprozesse in der Stadt- und Verkehrsplanung. dass die rahmensetzenden Maßnahmen als Eingriff in die Die Strategie der kurzen Wege. Berlin: Schriftenreihe A des Instituts für Stra- persönliche Lebensgestaltung empfunden und lautstark und ßen- und Schienenverkehr der TU Berlin, Band 30. nachvollziehbar abgelehnt werden. Grischkat, Sylvie/Mönch, Alexander/Stein, Axel (2021): Das räumliche Potenzial der Verkehrswende. Und die Aufgaben des Umweltverbunds bei seiner Aus- schöpfung. In: PlanerIn 1/2021, S. 59–61. Veränderungsbereitschaft hat, so betrachtet, wichtige ma- Hesse, Markus (2018): 25 Jahre Verkehrswende. Rückblick auf die Zukunft. In: terielle, die Qualität des Angebots und die Überzeugungs- Ökologisches Wirtschaften, 2.2018 (33), S. 16–18. kraft des Leitbilds betreffende Voraussetzungen. Genauso Holzapfel, Helmut (2020): Urbanismus und Verkehr. Beitrag zu einem Paradig- wichtig ist der Prozess der Leitbilderarbeitung und der menwechsel in der Mobilitätsorganisation. 3. Auflage. Wiesbaden: Springer. Beteiligung der relevanten Akteure bzw. der Bevölkerung. KCW (2020): Grundlagen für ein umweltorientiertes Recht der Personenbeför- Diese Erfahrung machte jüngst die Stadt Gent, eine bel- derung. Dessau-Roßlau: UBA-Texte 213. gische Großstadt (Kernstadt mit 260.000 Einwohnern) mit Kutter, Eckhard (2019): Stadtstruktur und Erreichbarkeit in der postfossilen Zukunft. Schriftenreihe für Verkehr und Technik, Bd. 99. Berlin: Erich Schmidt attraktivem, lebendigem Stadtkern: Begleitet durch einen Verlag. intensiven Austausch mit der Bevölkerung und allen wei- Stad Gent (2015): Mobiliteitsplan Gent. Strategische mobiliteitsvisie. Gent. teren wichtigen Akteuren erstellte die Stadt einen Mobili- tätsplan, der zum Ziel hatte, den Anteil der Pkw-Fahrten an allen Wegen auf 27 % im Jahr 2030 zu halbieren (Stad Gent 2015, S. 33). Dieser Plan lieferte den konzeptionellen und von der Bevölkerung mitgetragenen Rahmen für ver- schiedene Maßnahmen, von denen die wichtigste in der Einrichtung einer vom Pkw-Durchgangsverkehr befreiten Innenstadt – in der die Hälfte der Stadtbevölkerung lebt – besteht. Die Umsetzung dieser Maßnahme im Jahr 2017 führte zu einer abrupten Veränderung der Verkehrsmittel- wahl, sodass das für das Jahr 2030 angestrebte Ziel bereits elf Jahre zuvor erreicht wurde (vgl. Abb. 4). Sank der Anteil des Pkw-Verkehrs zwischen 2012 und 2018 noch mit einer „Veränderungsgeschwindigkeit“ von etwa 2,7 Prozentpunk- ten pro Jahr – im Mobilitätsplan projektiert wurden 1,8 –, beschleunigte sich seine Abnahme im Folgejahr um 12 Pro- zentpunkte. Der Verkehrsdezernent und stellvertretende Bürgermeister Filip Watteeuw beschrieb diese Erfahrung in einem Zeitungsinterview so: „Was wir zwei Jahre lang vor- bereitet hatten, setzten wir an einem Wochenende um. Wir haben an diesem Wochenende die ganze Stadt verändert.“6 Das Beispiel des Genter Mobilitätsplans veranschaulicht, wie beschleunigend eine umfassende Beteiligung der Be- völkerung einerseits und eine zielgerichtete integrierte Ver- kehrsplanung andererseits auf die Erreichung ebendieses 6 Filip Watteeuw im Interview mit Pascal Faltermann (2020): „So eine Straße gehört nicht in die Innenstadt.“ Interview im Weser-Kurier, Ausgabe vom 28.09.2020. vhw FWS 3 / Mai–Juni 2021 119
Stadtentwicklung Warum Deutschland ein Bundesmobilitätsgesetz braucht Burkhard Horn Ein neuer Rechtsrahmen für die Verkehrswende Warum Deutschland ein Bundesmobilitätsgesetz braucht Die Verkehrswende ist in (beinahe) aller Munde. Ihre Notwendigkeit wird zumindest in den verbalen Bekundungen im Grundsatz von fast allen relevanten Akteuren in Politik und Gesellschaft kaum noch bestritten, u. a. angesichts des fortschreitenden Klimawandels und dessen Auswirkungen auf Mensch und Natur, einhergehend mit einem steigenden zivilgesellschaftlichen Engagement für eine aktivere Klimapolitik und einer entsprechend breiteren Unterstützungs- basis auch für weitreichendere Maßnahmen. Aber auch wenn gerade in Pandemiezeiten hier und da in unseren Städten sichtbar geworden ist, wie viel z. B. unsere öffentlichen Räume gewinnen könnten – warum geht die Verkehrswende trotzdem so schleppend voran? Im Verkehrsbereich schränkt vor allem der derzeitige land momentan stattfindet, hat einen hohen Preis, auch für Rechtsrahmen auf nationaler Ebene die Möglichkeiten der die Lebensqualität in unseren Städten: Öffentliche Interessen Umsetzung einer solchen Politik auf den unterschiedlichen werden grundlegend verletzt, in Bezug auf Verkehrssicher- föderalen Ebenen in einem Maße ein, das sämtliche politisch heit und Barrierefreiheit, Stadt- und Raumverträglichkeit so- verkündeten Ziele, etwa zur Reduktion der CO2-Emissionen wie Umwelt-, Natur- und Gesundheitsschutz, vor allem aber im Verkehrssektor, als Makulatur erscheinen lässt und zu er- beim Klimaschutz: Die verkehrsbedingten CO2-Emissionen heblichen Inkonsistenzen im Handeln der Verantwortlichen liegen heute – abgesehen von dem durch die Coronapande- bei Bund, Ländern und Kommunen führt. Falls hier nicht mie verursachten Sondereffekt – auf dem gleichen Niveau umgehend und umfassend Abhilfe geschaffen wird, droht die wie 1990. Bis 2030 sollen sie aber, durch das Klimaschutz- Verkehrswende zu scheitern. Die kommende Legislaturpe- gesetz verbindlich verordnet, um 42 % sinken – und bis 2050 riode des Deutschen Bundestags wird entscheidend für die notwendigen Weichenstellungen beim Rechtsrahmen sein. soll Deutschland „weitgehend treibhausgasneutral“ sein. Was muss passieren? Mit dem bestehenden rechtlichen Regelwerk, dessen Grund- Mobilität ist mehr als Verkehr, aber Verkehr ist eine Grund- 1 https://www.vcd.org/artikel/wie-die-verkehrswende-auf-bundesebene-aus- voraussetzung für Mobilität. Doch wie Verkehr in Deutsch- gebremst-wird/ Abb. 1: Verkehrspolitik in Deutschland – der Mensch kommt unter die Räder (Foto: Burkhard Horn) 120 vhw FWS 3 / Mai–Juni 2021
Stadtentwicklung Warum Deutschland ein Bundesmobilitätsgesetz braucht züge teilweise noch aus den 1930er Jahren stammen (mit Das alles erklärt indes nicht hinreichend die genannten dem Ziel der Förderung der Massenmotorisierung), kann Fehlentwicklungen. Eine zentrale Ursache dafür liegt im das nicht gelingen. Die vorherrschende Form der Mobilität Rechtsrahmen, insbesondere im Verkehrsrecht. Es besteht mit dem privaten Auto stößt schon längst an ihre Grenzen, aus vielen Einzelgesetzen, denen Regelungen zur Koordi- ein konsequentes Umsteuern ist dringender denn je, so nation und Umsetzung verkehrsträgerübergreifender bun- auch die EU-Kommission Ende 2020: „Grundsätzlich müs- desweiter Ziele, Strategien und Maßnahmen zur Entwick- sen wir uns vom bisherigen Paradigma der allmählichen lung von Verkehr und Mobilität komplett fehlen: Veränderungen lösen – denn wir brauchen eine fundamen- ■ Verkehrswegerecht (Bundesfernstraßengesetz, Bun- tale Transformation.“2 Auch deshalb steht jetzt auf der po- desfernstraßenmautgesetz, Wasserstraßengesetz, Ver- litischen Tagesordnung, die juristischen Grundlagen für eine kehrswegeausbaugesetze), integrierte, sozial- und umweltverträgliche Verkehrspolitik zu schaffen und ihr damit eine „Verfassung“ zu geben. ■ Verkehrsordnungsrecht (StVG, StVO, StVZO), ■ Verkehrsgewerberecht (AEG und PBefG, Güterkraftver- Wunsch und Wirklichkeit in der kehrsgesetz), Verkehrspolitik ■ Regulierungsrecht (Eisenbahnregulierungsgesetz), Die Entwicklung des Verkehrsgeschehens steht in deutli- ■ Recht zur Förderung des ÖPNV in den Ländern (Regiona- chem Kontrast zu den politischen Ambitionen, wie sie seit lisierungsgesetz) und über 20 Jahren in diversen Koalitionsverträgen verabredet ■ Recht zur Förderung der Verkehrsinfrastruktur in den worden sind, von der „Verlagerung möglichst hoher Anteile Gemeinden (GVFG). des Straßen- und Luftverkehrs auf Schiene und Wasser- Dem Verkehrsrecht fehlen aber – anders als beispielsweise straßen“ (1998) über die „Vereinbarkeit von Verkehr und dem Energierecht3 – nicht nur Ziele, ihm fehlt darüber hin- Umwelt“ (2009) bis 2018 („die Mobilitätspolitik ist dem Pari- aus sowohl eine horizontale, verkehrsträgerübergreifende ser Klimaschutzabkommen verpflichtet“): Planung als auch eine vertikale Koordination der verschie- ■ Die Zahl der Straßenverkehrsunfälle und der dabei denen staatlichen Ebenen. Der Vollzug der genannten Ge- schwer verletzten (>54.000 p.a.) oder getöteten Men- setze obliegt zumeist den Ländern und Kommunen. Ver- schen (2019 über 3.000) ist nach wie vor hoch. kehrsträgerübergreifende Planungen erfolgen in der Regel lediglich auf kommunaler Ebene. Auch die Aufstellung von ■ Straßenverkehrslärm ist vielerorts das größte Gesund- Bundesverkehrswegeplänen beseitigt die planerischen heitsproblem. Defizite nicht. Sie folgen vielmehr der Logik, in Trendfort- ■ Obwohl Pkw und Lkw pro km weniger Luftschadstoffe schreibungen ermittelte, vermeintliche Ausbaubedarfe emittieren, führt das Mehr an Verkehr weiterhin zum Über- festzuschreiben, statt Planung und Finanzierung von Ver- schreiten von Grenzwerten und Empfehlungen der WHO. kehrsinfrastruktur an gesellschaftlichen Zielen auszurich- ■ Die Zerschneidung von Lebensräumen durch Verkehrs- ten. Auf diese Weise wird die Verkehrspolitik zur Gefange- infrastruktur gefährdet Arten und Populationen. nen vergangener Entscheidungen. ■ Die Qualität der für lebenswerte Städte und Gemeinden Mangels einer rechtlichen und institutionellen Grundlage so wichtigen öffentlichen Räume ist durch die Dominanz hat sich die Verkehrspolitik im politischen Alltag weitge- des Autos stark beeinträchtigt. hend in Maßnahmen verloren, die weder aus einer Strate- Dafür gibt es eine Reihe von Ursachen: gie abgeleitet noch zwischen den verschiedenen staatlichen ■ wachsender Wohlstand (mehr Freizeitaktivitäten und Ebenen koordiniert sind. Diese Diagnose stellte bereits Reisen), 1973 der Sachverständigenrat für Umweltfragen, ein wis- senschaftliches Beratungsgremium der Bundesregierung, ■ räumliche Entflechtung von Arbeit und Wohnen, in seinem Gutachten „Auto und Umwelt“. Er leitete daraus ■ steigende Immobilienpreise (Zunahme von Suburbani- die Forderung nach einer „integrierten Verkehrsplanung“ sierung und Pendelwegen), ab: „Ausbaupläne für den Straßen-, Eisenbahn-, Luft- und ■ fiskalische Instrumente (Entfernungspauschale u. a.), Binnenwasserstraßenverkehr dürfen nicht länger isoliert ■ stärker steigende Kosten für die ÖV- als für die PKW- voneinander mit dem Ziel einer Aufkommensmaximierung Nutzung und für das einzelne Verkehrsmittel erstellt werden. An die Stelle nicht abgestimmter Einzelplanung muss vielmehr ■ Deutschland als Transitland mit der Folge von wachsen- dem Güterverkehr im Zuge der Globalisierung. 3 In § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes heißt es: „Zweck des Gesetzes ist eine möglichst sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche, effiziente und 2 https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2020/DE/COM-2020-789- umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung der Allgemeinheit mit F1-DE-MAIN-PART-1.PDF Elektrizität und Gas, die zunehmend auf erneuerbaren Energien beruht.“ vhw FWS 3 / Mai–Juni 2021 121
Stadtentwicklung Warum Deutschland ein Bundesmobilitätsgesetz braucht auf allen Stufen verkehrsplane- rischer Aktivitäten des Staates eine integrierte Verkehrsplanung treten, die zusammen mit den sonstigen Fachplanungen in eine übergeordnete Gesamtplanung eingebettet ist und bei der die einzelnen Verkehrsmittel als Be- standteil eines Gesamtverkehrs- systems behandelt werden.“4 Dieses Postulat hat bis heute nichts von seiner Berechtigung verloren. Auch die OECD hat in- zwischen auf die gravierenden Defizite der deutschen Verkehrs- politik hingewiesen. In ihrem Abb. 2: Grundstruktur eines Bundesmobilitätsgesetzes (© VCD/KCW) „Wirtschaftsbericht Deutschland 2018“ hat sie unmissverständlich moniert: „Im Verkehrs- auch ursächlich dafür, dass die gesellschaftlichen Ambitio- sektor fehlt es an einer übergeordneten Politikstrategie.“5 nen in puncto Verkehrsentwicklung nicht eingelöst werden Tatsächlich haben die Defizite des Verkehrsrechts das Ver- konnten. Dazu zählen: kehrssystem nicht nur ineffizient werden lassen; sie sind ■ die Mobilität für alle zu sichern, 4 https://multimedia.gsb.bund.de/SRU/Dokumente/1973_SG_Auto_und_Um- welt.pdf S. 1 ■ die Verkehrssicherheit für alle zu erreichen, 5 https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/eco_surveys-deu-2018-de.pdf?exp ■ den Flächenbedarf des Verkehrs zu reduzieren und ires=1611311554&id=id&accname=id34001&checksum=5FF9251C9CDB4BB BFC82AC8949B02EF1 S. 65 ■ für Gesundheits-, Klima- und Umweltschutz zu sorgen. Abb. 3: Stadtgerechter öffentlicher Raum in Speyer (Foto: Burkhard Horn) 122 vhw FWS 3 / Mai–Juni 2021
Stadtentwicklung Warum Deutschland ein Bundesmobilitätsgesetz braucht Die reale Entwicklung des Verkehrs und der einzelnen Ver- Per Gesetz zu einer integrierten kehrsträger laufen diesen Zielen zuwider. Bei unveränderter Verkehrspolitik Anzahl der täglich unternommenen Wege hat deren Länge Der Paradigmenwechsel benötigt einen rechtlichen Rahmen. zugenommen, insbesondere im überörtlichen Verkehr: Per Zwar setzt das bereits existierende Klimaschutzgesetz auch saldo ist die Verkehrsleistung gestiegen – und der private dem Verkehrssektor langfristige Ziele. Deren Wirkmacht ist Pkw ist mit 75 % der Verkehrsleistung unangefochten das allerdings schwach, weil das Klimaschutzgesetz die notwen- Verkehrsmittel Nummer eins. Obwohl massiv in Straßen- dige verkehrsplanerische Bewältigung nicht leisten kann infrastruktur investiert wurde, sind die Verkehrsdichte und – abgesehen davon, dass es die weiteren mit dem Verkehr die Zahl der Staus trotzdem gestiegen, insbesondere in Bal- verbundenen Ziele und öffentlichen Interessen (bedarfsge- lungsräumen und im Fernverkehr. rechte Mobilität, Verkehrssicherheit, Gesundheits- und Um- Die Bedingungen für den alltäglichen Rad- und Fußverkehr weltschutz) gar nicht adressiert. Notwendig ist deshalb ein wurden etwas verbessert, allerdings nicht systemhaft. Das Bundesgesetz zur Entwicklung von Mobilität und Verkehr: Angebot im Schienenpersonenfernverkehr ist erst in den ein Bundesmobilitätsgesetz. letzten zehn Jahren wieder auf nennenswertem Wachs- Eine integrierte Verkehrspolitik, die Klimaschutz und wei- tumskurs, der Anteil des Eisenbahnpersonenverkehrs an tere gesellschaftliche Ziele anstrebt, hat nur dann eine der Verkehrsleistung steigt nur leicht an. Der öffentliche realistische Chance, wenn Ziele und Strategien für den Nahverkehr (ÖPNV ohne SPNV) hat seit 1990 keine bundes- Verkehrssektor verkehrsträgerübergreifend und für den einheitliche Entwicklung genommen, auch wenn die Fahr- Gesamtstaat verbindlich entwickelt werden. Gleichzeitig gastzahlen teilweise deutlich gestiegen sind. Umfang und müssen bereits vorhandene verkehrsbezogene Gesetze Qualität der Angebote sind stark abhängig von den finanzi- auf die Erreichung und Umsetzung dieser Ziele und Stra- ellen Handlungsspielräumen der kommunalen bzw. regio- tegien ausgerichtet werden. Die Besonderheiten, Inter- nalen Gebietskörperschaften sowie den Fördermöglichkei- essenlagen, Zuständigkeiten und Fähigkeiten der Länder ten des jeweiligen Bundeslandes. und Kommunen sind dabei zu berücksichtigen, Länder und Kommunen müssen ihre eigenen Ziele und Strategien Der Schienengüterverkehr ist auf Langstrecken und bei ebenfalls an den gesamtgesellschaftlichen Zielsetzungen bahnaffinen Gütern stark, aber seine Flächendurchdrin- ausrichten. Nur so lässt sich die Verknüpfung der ver- gung hat in den vergangenen 30 Jahren stark gelitten. kehrsplanerischen Ziele und Strategien mit anderen Poli- Die Angebote auf der Schiene sind nicht so attraktiv, dass tikfeldern sowohl auf Bundesebene als auch im föderalen sie den massiven Zuwachs im Straßengüterverkehr hät- Gefüge erreichen. ten verhindern können. Alles in allem ist es der Politik nur unzureichend gelungen, das Verkehrsgeschehen so Das Bundesmobilitätsgesetz sollte die politischen Akteure zu steuern, dass es den sich wandelnden gesellschaftli- auf gesetzliche Leitziele verpflichten. Diese betreffen im chen Bedürfnissen und Herausforderungen gerecht wird. Wesentlichen: Ursache dafür sind auch die fehlenden Rechtsrahmen, ■ gesellschaftliche Teilhabe durch Mobilitätssicherung wie die OECD in ihrem bereits zitierten Wirtschaftsbe- (Daseinsvorsorge), richt Deutschland 2018 erkannt hat: „Empfehlenswerte Vorgehensweisen aufzuzeigen, ist eine Aufgabe der Bun- desregierung. Angesichts der Vielzahl an verkehrspolitischen Akteuren, wie z.B. nachgeordneten Gebietskörper- schaften, ist die Abstimmung von Prioritäten und Investitionen umso wichtiger.“6 Diese Herausforderung zu stemmen, steht jetzt zwingend auf der politischen Tagesordnung, um die Vor- aussetzungen dafür zu schaffen, dass die für das Jahr 2050 vereinbarten Kli- maschutzziele noch erreichbar sind – was im Übrigen auch die Mehrheit der Menschen in Deutschland will. 6 OECD, siehe Fußnote 5 Abb. 4: Bundesmobilitätsgesetz – von den Zielen zur Umsetzung (© VCD/KCW) vhw FWS 3 / Mai–Juni 2021 123
Stadtentwicklung Warum Deutschland ein Bundesmobilitätsgesetz braucht ■ Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmenden („Vision Zero“), Entsprechende Alternativen müssen für viele Wege erst ■ Umsetzung verkehrsspezifischer Vorgaben zum Klima- zeitaufwendig durch Investitionen in eine Verkehrs- und/ schutz, oder Energieversorgungsinfrastruktur geschaffen werden. Deshalb ist die Ausrichtung der Infrastrukturplanung über ■ Schutz vor Folgewirkungen des Verkehrs für Leben und den Bundesmobilitätsplan von entscheidender Bedeutung, Gesundheit, mit einem daraus abgeleiteten Infrastrukturbedarfsplan, ■ Schutz vor Folgewirkungen des Verkehrs für die Umwelt der den Bundesverkehrswegeplan ersetzt. Die Vorgaben und zur integrierten Planung müssen analog in Ländern und ■ Stadt- und Raumverträglichkeit der Verkehrsentwick- Kommunen angewendet werden. Die mit der neuen, inte- lung. grierten Verkehrspolitik verbundenen Aufgaben sollen vom zuständigen Bundesministerium wahrgenommen werden. Das Gesetz muss auch den institutionellen und prozeduralen Eine nach Schweizer Vorbild neu zu errichtende Behörde Rahmen festlegen, der zu der notwendigen, alle Verkehrs- („Bundesamt für Mobilität“ o. ä.) sollte dabei beratend und träger und Verkehrsmittel integrierenden Entwicklungs- vollziehend wirken (und Förderpolitiken ressortübergrei- und Infrastrukturplanung führt (unter Berücksichtigung fend abstimmen und integrieren). der Schnittstellen ins Ausland). Diese Vorgaben gelten für den Bund und gleichermaßen für die Planungen in Ländern und Kommunen. Eingebunden werden müssen die fachlich Der Weg zum Gesetz zuständigen Bundesministerien und -behörden, insbeson- Aufgrund des beschriebenen Zeit- und Handlungsdrucks dere die für den Klimaschutz und die Energiepolitik zustän- sind vor allem die Prioritäten bei Planung und Investition digen Stellen. Besonderer Koordinierungsbedarf besteht in die Verkehrsinfrastruktur zeitnah neu zu justieren. We- auch mit der Raumplanung und Siedlungsentwicklung,7 gen der langen Vorläufe vieler Infrastrukturprojekte bedeu- von der Gewährleistung von Versorgungsinfrastruktur auch tet jede Verzögerung, dass entweder der Anpassungspfad in kleinen Orten über quartiersbezogene nachhaltige Mo- Richtung Ziel steiler wird oder dass Abstriche am Ambiti- bilitätskonzepte für großstädtische, nutzungsgemischte onsniveau der Ziele hinzunehmen sind. Um das eine wie das Stadterweiterungen bis zur koordinierten, an der guten Er- andere zu vermeiden, sollen in der nächsten Legislaturpe- reichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln orientierten riode des Deutschen Bundestags mit dem Bundesmobili- Siedlungsplanung im regionalen Maßstab. tätsgesetz die rechtlichen Grundlagen für eine integrierte Verkehrspolitik geschaffen werden. Um im Sinne eines kohärenten Rechtsrahmens effektiv wir- ken zu können, sollten die Zielvorgaben des Bundesmobi- Unter der Regie des Verkehrsclub Deutschland (VCD) wird litätsgesetzes durch Änderungen anderer Gesetze ergänzt deshalb seit Ende 2020 unter Einbindung zahlreicher Exper- werden. Notwendig ist unter anderem die Verknüpfung des ten aus verschiedenen Fachdisziplinen der Vorschlag für ein Bundesmobilitätsgesetzes mit den Ermächtigungsnormen solches Gesetz entwickelt, verbunden mit einer sorgfältigen in § 6 Absatz 1 des Straßenverkehrsgesetzes für die Stra- juristischen Prüfung einschließlich der verfassungsrechtli- ßenverkehrssordnung und die Straßenverkehrszulassungs- chen Fragen. Alle Details des Projekts werden im Frühsom- ordnung, mit dem Personenbeförderungsgesetz, dem Bun- mer 2021 öffentlich vorgestellt – und dann muss ein breiter desfernstraßengesetz und dem Klimaschutzgesetz. Diese öffentlicher Diskurs8 beginnen, mit dem Ziel, dass der nächs- Verknüpfungen sollten im Rahmen eines Artikelgesetzes te Bundestag das Bundesmobilitätsgesetz auf der Basis ei- erfolgen. ner entsprechenden Vereinbarung im Koalitionsvertrag be- schließt. Operationalisierte Handlungsziele, Strategien und Maßnah- men sind nicht Inhalt des Bundesmobilitätsgesetzes. Das Burkhard Horn Gesetz bestimmt den Rahmen für einen alle Verkehrsträ- Verkehrsplaner, bisher u. a. Leiter der ger und föderale Ebenen integrierenden Planungsprozess, Abteilung „Verkehr“ beim Berliner Senat; der in einem per Regierungsbeschluss wirksam werden- seit 2017 freiberuflicher Berater im den Bundesmobilitätsplan mündet. Dieser weist konkrete Themenfeld „Nachhaltige Mobilität“, Handlungsziele aus, etwa zum Anteil des Umweltverbunds Berlin – burkhardhorn.de an den Verkehrsleistungen im Personenverkehr oder der Rolle der Schiene im Güterverkehr. Letzten Endes setzt das Erreichen solcher Ziele voraus, dass viele Menschen ihre täglichen Routinen ändern, ohne dies subjektiv als Aufwand oder gar Opfer zu empfinden. 8 Zur Bedeutung des Diskurses vgl. u. a. https://www.berliner-zeitung.de/ zeitenwende/warum-man-die-verkehrswende-nicht-beschliessen-kann- 7 Vgl. dazu den Beitrag von Friedemann Kunst in diesem Heft. li.84287 124 vhw FWS 3 / Mai–Juni 2021
Stadtentwicklung Die räumliche Planung muss zur „Verkehrswende“ beitragen Friedemann Kunst Die räumliche Planung muss zur „Verkehrswende“ beitragen! In Zeiten, in denen Fußgänger, Pferde, Kutschen und Lastkarren den Verkehr gebildet haben, wuchsen die Städte mehr oder weniger in Ringen um die Zentren. Als ab Mitte des 19. Jahrhunderts sich die Eisenbahn als neues Verkehrsmittel schnell ausbreitete, durchbrach der Verkehr die historischen Stadtgrenzen, und die Stadtentwicklung orientierte sich nun an den Schienen. Das Industriezeitalter, die Zeit des Massenverkehrs, hat sternförmige Siedlungsstrukturen hin- terlassen. In Berlin, wo die Siedlungsentwicklung durch die geschichtliche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg gleichsam „eingefroren“ wurde, ist dieser Siedlungsstern noch besonders gut erkennbar. Ein Blick zurück: Verkehrstechnologie hat Siedlungsstruktur – und etablierte die Ansprüche der Men- schen auf ungehinderte Autonutzung. Es war der Beginn ei- den Raum erobert und geprägt ner Entwicklung, die später als „Teufelskreis“ beschrieben Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die bis heute unaufhör- wurde: Das Auto hat eine Siedlungsstruktur in der Fläche liche Ausbreitung einer neuen, individualisierten Verkehrs- mit niedriger Dichte möglich gemacht. Und ist eine solche technologie, des Automobils. Im Unterschied zur Eisenbahn Struktur erst einmal da, gibt es zur Nutzung des Autos oft war ein dichtes Netz von Wegen bereits vorhanden und so- keine Alternative. Weitere strukturelle Entwicklungen, wie fort nutzbar. Die Stadt begann, sich in den Raum zu verlieren die Konzentration und Zentralisierung von Schulen und Rat- (Fingerhuth 2007). Es kam hinzu, dass die Stadtplanung in häusern, die Bildung immer größerer Einkaufszentren und der Periode der „Moderne“ den Typus der Mietskasernen- das Verschwinden des Einzelhandels aus der Fläche führten stadt des Industriezeitaltes wegen der katastrophalen sozia- zu allmählichen Veränderungen der räumlichen Angebots- len und stadthygienischen Verhältnisse radikal ablehnte und struktur mit der Folge immer weiterer Wege und größeren ein neues Leitbild propagierte: das Bild einer „gegliederten“, Verkehrsaufwandes. das heißt funktional entmischten und „aufgelockerten“, also An frühen Warnungen prominenter Planer fehlte es nicht: sehr viel weniger dichten Stadt. In diesem Stadttypus mit Städte dürften nicht immer mehr dem Verkehr, sondern sehr viel größerer Ausdehnung spielte das private Automobil der Verkehr müsste den Städten wieder angepasst werden eine entscheidende Rolle. (Hollatz 1964), und Flächenverbrauch, Trennwirkung und Die Stadtplanung der Moderne hat der massenhaften Ver- Belästigungspotenzial des motorisierten Individualverkehrs breitung des Autos so buchstäblich die Wege bereitet. Die (MIV) widersprächen der Stadtidee schlechthin, folglich müs- „autogerechte Stadt“ (Reichow 1959) wurde ein verbreitetes se die Planungshoheit der Gemeinden gestärkt werden, um und kaum infrage gestelltes Ziel. Der motorisierte Individu- Reurbanisierung und eine überlokale verkehrsarme Raum- alverkehr bestimmte fortan maßgeblich die Entwicklung der gestaltung zu ermöglichen (Kutter 1989). Aber das Automo- Abb. 1a und 1b: Schwarzplan Siedlungsstern Region Berlin im Vergleich mit der automobilgeprägten Siedlungsstruktur in der Region Stuttgart vhw FWS 3 / Mai–Juni 2021 125
Sie können auch lesen