NICHTS ERGIBT SINN 2020 - AUSGABE - Giordano Bruno Stiftung

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NICHTS ERGIBT SINN 2020 - AUSGABE - Giordano Bruno Stiftung
PROFILE | PROJEKTE | PERSPEKTIVEN | TÄTIGKEITSBERICHT 2019   AUSGABE
                                                             2020

                         N I C H T S E R G I BT S I N N

         AU S S E R I M L I C H T D E R E VO LU T I O N
NICHTS ERGIBT SINN 2020 - AUSGABE - Giordano Bruno Stiftung
»Nichts ist
    beständiger als
       der Wandel.«
           Charles Darwin (1809 –1882)

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NICHTS ERGIBT SINN 2020 - AUSGABE - Giordano Bruno Stiftung
PROLOG

                                                                NACHDENKEN
                                                                      STATT
A                                                                NACHBETEN
          ls wir am 1. Januar 2020
          das diesjährige gbs-
          Schwer­punkt­thema
          „Die hohe Kunst der Ra-
          tionalität – Fakten, Fakes
          und gefühlte Wahrhei-
ten“ im „Haus Weitblick“ vor-
stellten, wussten wir noch nichts
von der Corona-Krise und den ir-                                        Stiftung stehen. Wir berichten über die Aktivitäten im letzten Jahr
rationalen Debatten, die sie aus-                                       (siehe den „Rückblick 2019“ sowie den ausführlichen Bericht über die
lösen sollte.                                                           „Säkulare Buskampagne“), aber auch über die Themen, die uns derzeit
     Wir haben schnell reagiert                                         bewegen, beispielsweise die Debatte über die „Neuregelung der Suizid-
und mehrere Online-Veranstal-                                           hilfe“. Zwar konnten wir im Februar 2020 mit dem wegweisenden
tungen angeboten, die sich kri-                                         ­Urteil des Bundesverfassungsgerichts einen wichtigen Etappensieg
tisch mit den Verschwörungs-                                             für unsere „Kampagne für das Recht auf Letzte Hilfe“ feiern, doch die
mythen auseinandersetzten,                                               Erfahrungen der letzten Monate haben gezeigt, dass der „harte Kampf
wel­che auf dem Nährboden der                                            um Selbstbestimmung am Lebensende“ noch längst nicht gewonnen
Pan­demie erstaunliche Populari-                                         ist (lesen Sie hierzu den Artikel auf S. 42).
tät erlangten. Allerdings haben                                               Für das Cover des aktuellen Hefts haben wir ein Motiv ausgewählt,
wir auch davor gewarnt, Men-                                             das bereits die „Evokids-Wochen“ 2019 in Düsseldorf schmückte.
schen mit abweichenden Mei-                                              Mit seiner Hilfe lässt sich nämlich unsere „Stiftungsphilosophie“ des
nungen vorschnell in die Ver-                                            evolutionären Humanismus bestens illustrieren. Außerdem hat die
schwörungsecke abzuschieben.                                             gbs in den vergangenen 24 Monaten besondere Anstrengungen unter-
Denn der wissenschaftliche                                               nommen, um die existenzielle Bedeutung der Evolution ins öffent­
Fortschritt lebt von dem „freund-                                        liche Bewusstsein zu bringen (siehe den Artikel „Im Lichte der Evo­
lich-feindlichen Wettbewerb“                                             lution“ auf S. 32).
der Ideen. Wird der Meinungs­                                                 Wir hoffen, dass Ihnen die vorliegende Ausgabe unseres Jahres-
korri­dor zu stark eingeengt (et-                                        magazins gefällt. Sollten Sie nach der Lektüre Lust verspüren, sich für
wa, indem jegliche Kritik am                                             die Anliegen der Stiftung zu engagieren, können Sie sich jederzeit an
­Robert Koch-Institut als „Sakri-      www.giordano-bruno-stiftung.de    uns wenden (siehe die Kontaktadressen auf S. 80). Wir jedenfalls haben
 leg“ geahndet wird), richtet dies                                       es niemals bereut, die althergebrachten Weltbilder im „Lichte der Evo-
 möglicherweise größeren Scha-         twitter.com/#!/gbs_org            lution“ zu hinterfragen. Denn ein solches Nachdenken ist nicht nur
 den an als die Wahnideen, die                                           vernünftiger als jedes Nachbeten, es macht auch viel mehr Spaß!
 KenFM, Attila Hildmann oder           facebook.com/gbs.org
 Xavier ­Naidoo verbreiteten.                                           Wir wünschen eine anregende Lektüre!
     Wie in der vorangegangenen
 bruno.-Ausgabe können Sie im
aktuellen Jahresmagazin einige
der Menschen kennenlernen,                                              Herbert Steffen               Michael Schmidt-Salomon
 die hinter der Giordano-Bruno-­                                        Vorsitzender                  Vorstandssprecher

       2020                                                                                                                                  3
NICHTS ERGIBT SINN 2020 - AUSGABE - Giordano Bruno Stiftung
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    Griefahn
                      2020
               DI E T H E M E N DE S JA H R E S

               PROFILE                               PERSPEKTIVEN
               6     Eine bessere Welt ist möglich   42 Der harte Kampf um
                     Monika Griefahn kämpft              Selbstbestimmung
                     für eine zukunftsfähige             Das Karlsruher Urteil
                     Politik                             und seine Feinde

               14 » Fakten sind überzeugender        46 Rationalität in der Krise
                     als Meinungen … «                   Das gbs-Schwerpunktthema
                     Interview mit Carsten Frerk         im „Corona-Jahr“
                     über die „Kirchenrepublik
                     Deutschland“

               22 Menschen, die etwas                RÜCKBLICK 2019
                     beweg(t)en                      50 Die Highlights des Jahres

     14
                     Tanja Gabriele Baudson,
                                                         Über die wichtigsten
                     Horst Marschall, Michael
                                                         Ereignisse 2019
                     Schmidt-Salomon, Ludger
     Frerk           Lütkehaus, Volker Panzer
                     und viele andere mehr           68 Finanzen und Vermögen
                                                         Wofür die gbs ihre Mittel
               PROJEKTE                                  eingesetzt hat

               26 100 Jahre Verfassungsbruch
                     Die Säkulare Buskampagne        HINTERGRÜNDE
                     2019
                                                     70 Die Giordano-Bruno-Stiftung
               32 ›› Im Lichte der Evolution ‹‹          Wer wir sind und
                     Evokids präsentiert den             was wir tun
                     „sinnvollsten Lehrpfad
                     aller Zeiten“                   74 Aufklärer*in werden
                                                         Wie Sie uns
               40 ifw & Co.                              unterstützen können
                     Neues aus den Projekten
                                                     80 Kontakt

                   AUFKLÄRER*IN                          Wie Sie uns erreichen

                   W E R D E N                       81 Impressum
                   & mitmachen bei der gbs!
                       MEHR INFOS AUF SEITE 74
                                                     82 Tillys Nachschlag

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NICHTS ERGIBT SINN 2020 - AUSGABE - Giordano Bruno Stiftung
INHALT

   26
Buskampagne
                     32
                    Evolution

 50
Highlights
                     46
                   Rationalität

                   42
              Selbstbestimmung

     2020                        5
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PROFILE

Eine
bessere Welt
ist möglich
Weniger schlecht ist noch lange nicht gut:
gbs-Beirätin MONIKA GRIEFAHN kämpft
für eine zukunftsfähige Politik

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NICHTS ERGIBT SINN 2020 - AUSGABE - Giordano Bruno Stiftung
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NICHTS ERGIBT SINN 2020 - AUSGABE - Giordano Bruno Stiftung
Sie war die erste Frau im internationalen Vorstand
                     von Greenpeace, Umweltministerin in Niedersachsen,
                    Vorsitzende des „Alternativen Nobelpreis“-Komitees und
                       Gründungsvorsitzende der Cradle to Cradle-NGO:
                     Seit Jahrzehnten kämpft gbs-Beirätin Monika Griefahn
                      für eine menschenfreundliche, zukunftsfähige Politik.
                        Das Portrait einer „notorischen Weltverbesserin“.

Wir waren einigen Mächtigen
so sehr ein Dorn im Auge,
dass sie auch vor Gewalttaten
nicht zurückschreckten.

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NICHTS ERGIBT SINN 2020 - AUSGABE - Giordano Bruno Stiftung
PROFILE

A
        uf dem Höhepunkt der Popularität der Fridays
        for Future-Bewegung fragte der STERN die Um-        Der Kontakt mit verfolgten Regimekritikern
        weltschützerin und Greenpeace-Mitbegründe-          und politischen Visionären hat meinen Blick
        rin Monika Griefahn, ob man sie als „Greta
        Thunberg der 80er-Jahre“ bezeichnen könne.          auf die Probleme dieser Welt erweitert.
        Griefahn entgegnete, dass es zwar Gemeinsam-
keiten gebe und das Engagement der jungen Generation
großartig sei, dass man die Zeiten aber kaum miteinan-

der vergleichen könne. So hätten sie und ihre Mitstrei-     Südpazifik demonstriert. In Kooperation mit der franzö-
ter*innen deutlich mehr riskieren müssen „als bloß          sischen Presse konnte Greenpeace in monatelangen Re-
­einen Eintrag ins Klassenbuch“.                            cherchen aufklären, dass es sich um einen Anschlag des
      Das war nicht einfach so dahergesagt. Denn die ers-   französischen Geheimdienstes gehandelt hatte. Monika
 ten Aktionen, die Greenpeace in den 1980er Jahren          Griefahn, damals im Greenpeace-Vorstand für die welt-
 durchführte, etwa die große Kampagne gegen die Dünn-       weite Einrichtung neuer Büros zuständig, sagt dazu
 säureverklappung in der Nordsee, die Monika Griefahn       ­heute: „Wir waren einigen Mächtigen so sehr ein Dorn
 in den Jahren 1980–83 maßgeblich koordinierte, waren        im Auge, dass sie auch vor Gewalttaten nicht zurück­
 gefährlich. Die Aktivist*innen fuhren mit Schlauchboo-      schreckten.“

                                                            A
 ten eng an die Schiffe heran und schwammen sogar in
 unmittelbarer Nähe der Tanker „Kronos“ und „Titan“,                ls Monika Griefahn am 3. Oktober 1954 in Mül-
 die täglich hunderte Tonnen giftiger Chemieabfälle ins             heim an der Ruhr geboren wird, deutet wenig
 Meer pumpten. Ihr mutiger Versuch, die toxische Arbeit             darauf hin, dass sie drei Jahrzehnte später eines
 der Tankschiffe zu behindern und die damit verbundene              der bekanntesten Gesichter der deutschen Um-
 Umweltkatastrophe zu beenden, war letztlich von Erfolg             weltbewegung sein würde. Den Eltern schwebt
 gekrönt: Nachdem die Medien das Thema aufgegriffen                 jedenfalls ein deutlich anderer Lebensweg für
 hatten und Greenpeace Alternativen im Umgang mit           ihre Tochter vor. So meint ihr Vater nach dem Abschluss
 Dünnsäure aufzeigen konnte, stoppte die Kronos Titan       der Grundschule: „Die Monika wird sowieso heiraten,
GmbH die Vergiftung der Nordsee.                            die muss nicht auf die höhere Schule!“ Glücklicherweise
      Doch nicht alle Vertreter*innen des Establishments    sieht ihr Opa die Sache anders und meldet die Enkelin
zeigten sich so aufgeschlossen – wie die Versenkung des     am Gymnasium an.
Greenpeace-Schiffes Rainbow Warrior im Juli 1985 zeig-          Noch während ihrer Schulzeit beteiligt sich Monika
 te, bei der der Fotograf Fernando Pereira ums Leben kam.   an der Gründung der Mülheimer Ortsgruppe von Am-
 Stein des Anstoßes: Die Umweltorganisation hatte mit       nesty International. Die Gründungsversammlung ist zu-
 dem Schiff gegen die französischen Atomwaffentests im      gleich ihr erster öffentlicher Auftritt, bei dem die erst

       2020                                                                                                                  9
NICHTS ERGIBT SINN 2020 - AUSGABE - Giordano Bruno Stiftung
15-Jährige darlegt, wie sich Amnesty für politische
Gefangene einsetzt. Nach dem Abitur studiert
­Monika Griefahn S­ ozialwissenschaft und Mathema-
 tik in Göttingen und schließt ihr Studium 1979 in
 Hamburg als Diplom-Soziologin ab. Etwa zur glei-
 chen Zeit erfährt sie von ­Greenpeace. Das Konzept
                                                                                                 Im Grunde denke ich heute
der Organisation leuchtet ihr sofort ein.Also gründet                                            noch radikaler als früher.
sie kurz darauf mit einigen Mitstreiter*innen in

                                                                                                 N
Hamburg die deutsche Sektion von Greenpeace. Die
ersten Treffen finden in ihrer Küche statt, doch nach                                                       ach der erfolgreichen Landtagswahl 1990
den öffentlichkeitswirksamen Aktionen ab 1980 er-                                                           wird Monika niedersächsische Umweltmi-
 hält die Organisation starken Zulauf.                                                                      nisterin und dadurch Chefin von rund 350
     Die Erfolge in Deutschland beeindrucken auch                                                           Menschen, die unmittelbar im Ministerium
 David McTaggart, den Gründer von Greenpeace                                                                arbeiten, sowie von weiteren 2.500 Mitarbei-
Inter­national, der Monika Griefahn 1984 als erste                                                          ter*innen in den nachgeordneten Behörden.
und einzige Frau in den neu gebildeten Vorstand von                                              Die Beamtenschaft ist, wie sie schnell feststellt,
Greenpeace beruft. „Greenpeace war damals eine                                                   ­„etwas strukturkonservativ“ und die junge, weib­
Männerwelt, ein old boys club“, erinnert sie sich heu-                                            liche Ministerin, die das offene Wort pflegt, eine Art
 te. „Ich hatte drei Handicaps: Weiblich, jung und                                                „Kulturschock“ – zumal sie während ihrer Amtszeit
 nicht anglophon.“ Aber sie lässt sich davon nicht un-                                            (1990–1998) zwei ihrer drei Kinder zur Welt bringt.
 terkriegen und bleibt bis 1990 im internatio­nalen                                               Damit zeigt sie auch, dass sich Arbeit und Familie
 Vorstand der Organisation.                                                                       sehr wohl in Einklang bringen lassen, was eine nach-
     Bei Greenpeace lernt Monika Griefahn auch ih-                                                haltige Veränderung der Führungskultur im Minis-
 ren Mann, den Chemiker Michael Braungart kennen,                                                 terium einleitet.
 der die ­Beluga, ein Greenpeace-Schiff zur Erfor-                                                    Die Umweltpolitik in Niedersachsen ist in dieser
 schung der Flussverschmutzung, mit einem Labor                                                   Zeit die wohl mutigste in ganz Deutschland. Monika
 ausstattet. Die beiden heiraten 1986. 1989 gründen sie                                           Griefahn setzt auf das Konzept der Kreislaufwirt-
 gemeinsam das Hamburger Umweltinstitut. Im sel­                                                  schaft, stoppt giftige und kostenintensive Müllver-
 ben Jahr erhält Monika Griefahn aus heiterem Him­                                                brennungsanlagen, meldet das Wattenmeer bei der
 mel die Einladung zu einem Treffen mit Gerhard                                                   UNESCO zum Programm „Man and Biosphere“ an
 Schröder, dem damaligen Spitzenkandidaten der
 ­                                                                                                und richtet den Nationalpark Harz sowie das Bio­
 SPD Niedersachsen für das Amt des Ministerpräsi­                                                 sphärenreservat Elbtalaue ein. Die Wasserqualität in
 den­ten (und späteren Bundeskanzler), was eine wei-                                              Flüssen und Seen verbessert sich während ihrer
 tere Wende in ihrem Leben einleitet.                                                             Amtszeit erheblich, so dass sich dort viele verschie-
     Schröder fragt sie beim Abendessen bei seinem                                                dene Pflanzen- und Tierarten wieder ansiedeln kön-
 Lieblingsitaliener, ob sie sich seinem Kompetenz-                                                nen.
 team anschließen und im Falle eines Wahlsieges das                                                   Als eine der ersten Umweltminister*innen
 niedersächsische Umweltministerium übernehmen                                                    Deutsch­lands engagiert sich Monika Griefahn für
 wolle. Von der Umweltaktivistin, die im Kampf gegen                                              erneuerbare Energieformen und gerät dadurch, ins-
 das Establishment Methoden des zivilen Ungehor-                                                  besondere in der Atompolitik, in harte Auseinander-
 sams einsetzt, zur Politikerin mit Regierungsverant-                                             setzungen mit dem damaligen Bundesumwelt­
 wortung ist es ein großer Schritt, doch Monika reizt                                             minister Klaus Töpfer sowie mit dessen Nachfolgerin
 die Vorstellung, ihre umweltpolitischen Forderun-                                                (und späteren Bundeskanzlerin) Angela Merkel. Weil
 gen in die Tat umsetzen zu können. Schröder lässt ihr                                            sie neue Bau­vorhaben – besonders die Endlager­
 dabei weitgehend freie Hand. Zu ihren politischen                                                stätten Gorleben und Schacht Konrad – ausgiebig
 Vorstellungen sagt er nur: „Mach mal.“ Das lässt sie                                             und kritisch prüfen lässt, richtet die Atomindustrie
 sich nicht zweimal sagen.                                                                        gegen sie persönlich Schadensersatzansprüche in
                                                                                                  Höhe von insgesamt 115 Millionen Euro (!). In dieser
                                                                                                  Zeit wird ihr klar, dass eine zukunftsfähige Energie­
                                                                                                  poli­tik auf Lan­desebene nicht erreicht werden kann.
                                                          Monika Griefahn als niedersächsische    Als sie von der SPD im bislang konservativ domi­
                                                          Umweltministerin im Watt sowie auf
                                                                                                  nierten Landkreis Harburg angefragt wird, ob sie
                                                             einer SPD-Wahlveranstaltung
                                                                                                  nicht vor Ort als Bundes­tags­abgeordnete kandidie-
                                                                                                  ren wolle, sagt sie spontan zu. Tatsächlich gewinnt
                                                                                                  sie dort als erste S­ ozialdemokratin das Direktmandat
                                                                                                  und zieht 1998 in den Bundestag ein.

10
PROFILE

G
         erhard Schröder geht nach der Bundestagswahl
         1998 eine Koalition mit Bündnis90/Die Grünen
         ein, wodurch das Bundesumweltministerium an
         Jürgen Trittin fällt. Eigentlich wäre Monika
         Griefahn prädestiniert für den Umweltaus-
         schuss des Deutschen Bundestages. Aber sie em­
pfindet es als merkwürdig, ihren ehemaligen nieder-
sächsischen Kabinettskollegen Trittin, der während ih-
rer Amtszeit als Umweltministerin das Ministerium für
Bundes- und Europaangelegenheiten geleitet hatte,
parlamentarisch kontrollieren zu müssen.Also entschei­
det sie sich für den Auswärtigen Ausschuss sowie den
Kulturausschuss, der sie bald zur Vorsitzenden wählt.
    Als Kulturpolitikerin ist sie weltweit unterwegs und
lernt viele interessante Menschen kennen. Sie initiiert
die Gründung des Deutschen Computerspielpreises,
engagiert sich für die Förderung des deutschen Films,
für ein starkes Urheberrecht, den Erhalt einer dezentra-
len Buchhandlungsstruktur und vor allem für kulturelle
Vielfalt. Der konsequente Einsatz gegen Sexismus, Ras-

                                                             T
sismus und Gewaltverherrlichung bringt ihr Morddro-
hungen ein, von denen sie sich aber nicht verunsichern                 rotz aller Ämter und Würden, die Monika
lässt.                                                                 ­Griefahn über die Jahre ansammelt, behält sie
    Ein wichtiger Erfolg in ihrer Zeit als Kultur- und                  stets den Kontakt zur außerparlamentarischen
Außenpolitikerin ist die Rettung der deutschen Goethe-­                 Opposition, der sie selbst entstammte. So enga-
Institute, die damals in großer Zahl wegrationalisiert                  giert sie sich seit über 35 Jahren in der von Jakob
werden sollten. „Ich bin heilfroh, dass wir dieses fehler-              von Uexküll gegründeten Right Livelihood
hafte Verständnis von kultureller Außenpolitik korrigie-       ­Foundation, die am Tag vor der Vergabe des „Friedens-
ren konnten“, sagt sie heute. „Die Goethe-Institute reprä­   nobelpreises“ in Stockholm den sogenannten „Alterna-
sentieren Deutschland heute nicht nur in der Welt, son-      tiven Nobelpreis“ verleiht. Diese besondere Auszeich-
dern bieten auch eine einzigartige Chance, die Zivilge-      nung erhalten, wie es Monika Griefahn ausdrückt, „aus-
sellschaft in anderen Nationen – selbst in Diktaturen –      schließlich Menschen, die wirklich etwas in dieser Welt
zu erreichen.“                                               bewegen, nämlich Menschenrechtler*innen, Umwelt-
    Schon als Schülerin war ihr die Pflege der               schützer*innen und Friedensaktivist*innen“.
deutsch-französischen Freundschaft ein wichtiges An-                Obwohl sie es verdient hätten, haben die meisten
liegen. Dieses Engagement setzt sie als Politikerin fort     Trä­gerinnen und Träger des Right Livelihood Award aus
und wird u. a. Vorsitzende der vom Deutschen Bundes­tag      ­politischen Gründen keine Chance, den offiziellen
und der Französischen Nationalversammlung einge-              ­Friedensnobelpreis zu erhalten. Man denke nur an den
setzten Arbeitsgruppe zur kulturellen Vielfalt. 2002 wird      amerikanischen Whistleblower Edward Snowden, der
sie als „Ritterin“ in die französische Ehrenlegion auf­        2014 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet
genommen – eine Auszeichnung, die auch deshalb be-             wurde. In der 40-jährigen Geschichte der Right Liveli-
merkenswert ist, weil sich die ehemalige Greenpeace-­        hood Foundation kam es nur zweimal vor, dass Personen
Aktivistin und die französische Regierung nach dem              beide Preise erhielten, nämlich die Umweltaktivistin
Spreng­stoff-Anschlag auf die Rainbow Warrior als erbit-        Wangari Muta Maathai (Alternativer Nobelpreis: 1984 /
terte Gegner gegenüberstanden. Nach der Verleihungs-            Friedensnobelpreis: 2004) sowie der Arzt und Menschen-
zeremonie gesteht sie dem französischen Botschafter:         rechtsaktivist Denis Mukwege (Alternativer Nobelpreis:
„Als ich Ihren Brief bekam, stockte mir das Herz. Ich        2013 / Friedensnobelpreis: 2018).
dachte, ich bekomme wieder eine Vorladung vom fran-
zösischen ­Geheimdienst.“

                                                             Weniger schlecht ist
                                                             noch lange nicht gut!

       2020                                                                                                                       11
Monika Griefahn mit dem
         Musiker und C2C-Beirat
      Bela B („die ärzte“, 3.v.l.)
             und den Geschäfts­
     führenden Vorständen der
       C2C NGO Tim Janßen und
          Nora Sophie Griefahn

                                                                                                       N
                                            Monika Griefahn meint, dass die langjährige Arbeit                     ach 19 Jahren im politischen Geschäft – acht
                                        als Mitglied bzw. Vorsitzende des „Alternativen Nobel-                     Jahren als Umweltministerin und elf Jahren
                                     preis-Komitees“ ihre Sicht auf die Welt nachhaltig ver-                       im Deutschen Bundestag – zieht sich Monika
                                     ändert hat: „Der intensive Kontakt mit Vertreter*innen                        ­Griefahn 2008 aus der offiziellen Politik zurück,
                                     von internationalen Menschenrechts-, Umweltschutz-                             schreibt ihre Doktorarbeit, gründet eine eigene
                                     und Widerstandsbewegungen, mit verfolgten Regime-                              Beratungsfirma und engagiert sich für ihr Her-
                                     kritikern und politischen Visionären hat meinen Blick             zensthema Cradle to Cradle (C2C). Als aktive Politikerin
                                     auf die echten Probleme dieser Welt und auch auf mög­              war ihr dies noch verwehrt gewesen, da man ihr sofort
                                     liche Lösungswege erweitert. Im Grunde denke ich­                  „Vetternwirtschaft“ unterstellt hätte. Denn C2C war in
                                     heute noch radikaler als früher in meiner Zeit als                 den 1990er Jahren ausgerechnet von ihrem eigenen
                                     ­Greenpeace-Aktivistin. Denn damals wollte ich nur die             Mann in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen
                                      Schäden reparieren, die wir Menschen in der Natur an-             ­Architekten und Designer William McDonough ent­
                                      richten, heute will ich dazu beitragen, dass wir einen             wickelt worden.
                                      ­positiven Fußabdruck in dieser Welt hinterlassen –                    Cradle to Cradle (deutsch: Wiege zur Wiege) steht für
                                       ­getreu der Cradle to Cradle-Devise: Weniger schlecht ist         ­eine echte Kreislaufwirtschaft und somit für eine radi-
                                        noch lange nicht gut!“                                         kale Abkehr von der bisherigen Produktionsweise, die
                                                                                                       von der Wiege der Rohstoffgewinnung ins Grab der
                                                                                                       S ondermülldeponie führt. Obwohl Braungart und
                                                                                                       ­
                                                                                                       ­McDonough bereits 2010 imposante Erfolge vorweisen
                                                                                                        können (Häuser, die mehr Energie erzeugen als verbrau-
                                                                                                        chen, Textilien, die man wirklich auf der Haut tragen
                                                                                                        kann, Fabriken, aus denen die Flüsse sauberer heraus-
                                                                                                        als hineinfließen), ist C2C in der Öffentlichkeit weit­
                                                                                                        gehend unbekannt. Monika Griefahn meint, dass sich
                                                                                                        das ändern muss, und treibt die Gründung des Cradle to
                                                                                                          Cradle e. V. voran, der 2012 unter ihrem Vorsitz die Ar­beit
                                                                                                       aufnimmt.
                                                                                                             Über C2C kommt Monika Griefahn auch erstmals in
                                                                                                       Kontakt mit der Giordano-Bruno-Stiftung. Auf dem
                                                                SO GEHT MORGEN!                         klei­nen, aber feinen Bimbache openART & C2C-Festi­-
                                            Die C2C NGO arbeitet mit Wirtschaft, Wis­sen­schaft,        val, das der Jazz(rock)-Gitarrist Thorsten de Winkel in
                                        Bildung, Politik und Zivil­gesell­schaft zusammen, um einen    Berlin organisiert, diskutiert sie am 13. März 2011 zu­
                                        in­tel­li­gen­ten Stoffwechsel mit der Natur zu ermöglichen.   sammen mit ihrem Mann Michael Braungart und
                                                             Website: www.c2c-ev.de                    gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon zum
                                                                                                       Thema „Eine bessere Welt ist möglich“.

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PROFILE

                                                                                    D
      „Die beiden Michaels hatten sich erst wenige Wo-                                         ass ihr Lebensweg so viele unterschiedliche
chen zuvor in Zürich kennengelernt, sich aber auf An-                                          Fa­cetten aufweist, war nicht geplant, meint
hieb so gut verstanden, als ob sie zusammen aufgewach-                                         ­Monika ­Griefahn: „Ich habe mich einfach dort
sen wären“, erinnert sich Monika ­Griefahn. „Dem einen                                          engagiert, wo ich dachte, am meisten bewegen        ZUM WEITERLESEN:
­(Michael Braungart) wurde durch die Begegnung be-                                              zu können.“ Dass man sie als „notorische Welt-
 wusst, wie sehr sein Konzept der ‚­intelligenten Ver-                                          verbesserin“ bezeichnet, stört sie nicht: „Ich      Michael Braungart /
 schwendung‘ dem religiös f­orcierten Schuld- und Süh­                               ­sehe nichts Schlechtes darin, etwas Positives bewirken        William McDonough
 nedenken ­widerspricht, der andere ­(Michael Schmidt-­                               zu wollen.“ Inzwischen hat sie den Vorsitz beim Cradle
                                                                                                                                                    Cradle to Cradle
Salomon) entdeckte in Cradle to Cradle die Mög­lichkeit,                              to Cradle e. V. aufgegeben und ist in den Beirat gewech-      Einfach intelligent
humanistische und ökologische Werte in Ein­klang zu                                   selt, dem neben den gbs-Mitgliedern Michael Braungart         produzieren
bringen. Das hat auch mich überzeugt: C2C ist die per-                                und Michael Schmidt-Salomon sowie Fachleuten wie              Piper 2014
 fekte Verbindung von Humanismus und Ökologie, weil                                   Jakob von Uexküll (Gründer der Right Livelihood
 es den Menschen nicht als ‚Umweltschädling‘ bekämpft,                              ­Foundation) und Maximilian Gege (Vorsitzender des
 sondern ihn als potenziellen ‚Nützling‘ fördert.“                                    Bun­des­deutschen Arbeitskreises für Umweltbewusstes
      Drei Jahre nach der kleinen Veranstaltung in Berlin                             ­Manage­ment, B.A.U.M. e. V.) auch prominente Zeitge-
 findet in Lüneburg der erste große C2C-Kongress mit                                  noss*innen wie der Musiker Bela B, die TV-Moderatorin
 rund 600 Teilnehmer*innen statt, der mit einer Einfüh-                               Nina Eichinger oder die Fernsehköchin und EU-Abge-
 rung durch Monika Griefahn und Eröffnungsvorträgen                                   ordnete Sarah Wiener angehören.
 von Michael Braungart und Michael Schmidt-Salomon                                          Unter der Geschäftsführung von Tim Janßen und
 beginnt. Im selben Jahr werden Michael Braungart und                                 Nora Griefahn ist die NGO kontinuierlich gewachsen,
 Monika Griefahn in den Beirat der Giordano-Bruno-­                                   wie nicht zuletzt auch die großen C2C-Kongresse zeigen:
 Stiftung aufgenommen – was in Monikas Fall mitunter                                  Von Jahr zu Jahr zogen die u. a. von der Giordano-­
 Erstaunen auslöst, da sie noch bis kurz vor ihrer Beru-                              Bruno-Stiftung unterstützten Großevents mehr Inte­
 fung, nämlich von 2008 bis 2014, dem Präsidium des                                   ressierte an. Beim C2C-Kongress im Januar 2020 an der         Monika Griefahn /
 Deutschen Evangelischen Kirchentages angehörte.                                      Berliner Urania waren es bereits 1.000.                       Edda Rydzy
      Darauf angesprochen, winkt Monika Griefahn lä-                                      Cradle to Cradle ist inzwischen auf der richtigen
                                                                                                                                                    Natürlich wachsen
 chelnd ab: „Es mag merkwürdig erscheinen, vom Präsi-                                 Spur. Was macht Monika Griefahn jetzt? Die SPD-­Grup­pe       Erkundungen über Mensch,
 dium des Kirchentags in den Beirat der gbs zu wechseln,                              in ihrer Geburtsstadt hat bei ihr angefragt, ob sie für das   Natur und Wachstum aus
 aber das war eigentlich nichts im Vergleich zu meinem                                Amt der Oberbürgermeisterin kandidieren möchte. Sie           kulturpolitischem Anlass
 Wechsel vom Greenpeace-Vorstand ins Umweltministe-                                   hat diese Herausforderung angenommen. Es könnte also          Springer 2014
 rium! Man sollte an der Stelle auch keine falschen Fron-                             durchaus sein, dass Mülheim an der Ruhr zu einer der
 ten aufmachen: Ich bin überzeugt, dass es in den Kir-                                ersten Cradle to Cradle-Städte in Deutschland wird.
 chen inzwischen viele Menschen gibt, die entschieden                                 Es wäre eine weitere Facette im Lebenslauf der umtrie­
 für ­humanistische Werte eintreten und die auch die fun­                             bigen gbs-Beirätin. Zum Zeitpunkt des Redaktions-
 damentalen Erkenntnisse niemals in Abrede stellen                                    schlusses stand der Ausgang der Wahl noch nicht fest.
 würden, die aus der Evolutionstheorie hervorgegan­gen
 sind.“

                                                                                                                                                    Monika Griefahn (Hg.)
                                                                                                                                                    Greenpeace
                                                                                                                                                    Wir kämpfen für eine
                                                                                    Ich habe mich dort engagiert,                                   Umwelt, in der wir leben
                                                                                                                                                    können
                                                                                    wo ich dachte, am meisten                                       Rowohlt 1983

                                                                                    bewegen zu können.

Gut gelaunt: Monika Griefahn mit Philipp Möller, Michael Schmidt-Salomon und
Michael Braungart nach der Eröffnung des C2C-Labs am 10. September 2019 in Berlin

           2020                                                                                                                                                               13
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PROFILE

        ›› FAKTEN SIND
           ÜBERZEUGENDER
           ALS MEINUNGEN … ‹‹
         INTERVIEW
         Wohl niemand hat die „Kirchenrepublik Deutschland“
         so gründlich analysiert wie der promovierte Politologe
         und Buchautor Carsten Frerk. Im Gespräch mit dem
         bruno.-Jahresmagazin berichtet er über seine Forschungs­
         ergebnisse sowie über die Entwicklung der gbs, der
         Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland
         (fowid) und des Humanistischen Pressedienstes (hpd),
         die er entscheidend geprägt hat.

2020                                                                    15
Bildunterschrift

                                                                            Cover-Motiv des Buchs "Kirchenrepublik Deutschland" von Carsten Frerk (2015)

               bruno.: Vor 15 Jahren wurde auf deine Initiative             Also bleibt man am Ball. Ehrlich ­ge­sagt: Hätte ich vor-
Das            hin die Forschungsgruppe Weltanschauungen in                 her gewusst, wie ­viel Arbeit das Buch machen wird,
                   Deutschland gegründet, die du seither leitest.           hätte ich wohl gar nicht erst damit begonnen. So aber
kirchliche     Für Furore hast du aber schon drei Jahre zuvor mit           hielt ich durch, bis „Finanzen und Vermögen der
               der Veröffentlichung deines Buches „Finanzen und             Kirchen in Deutschland“ Ende 2001 / Anfang 2002
Arbeitsrecht   Vermögen der Kirchen in Deutschland“ gesorgt,                im Alibri Verlag erscheinen konnte.
               das erstmals auf Heller und Pfennig aufzeigte, wel-
verstößt       che enormen Reichtümer die beiden christlichen               Die Ergebnisse deiner Forschung wurden von
               Großkirchen angehäuft haben. Hinter diesem Buch              ­vielen Medien aufgegriffen. Selbst die Kirchen
diametral      muss ein ­gigantischer Rechercheaufwand gesteckt              scheinen sich auf deine Zahlen zu berufen.
               haben: Was hat dich dazu motiviert, diese Arbeit              Warst du überrascht von dem durchschlagenden
gegen die      auf dich zu nehmen?                                           Erfolg deines Buchs?
                       Carsten Frerk: Ich hatte zuvor einen Roman ver­             Nein und Ja. Nein, weil ich während der Recherche
Vorgaben           öffentlicht („Der Sohn des Freibeuters“), bei dem sich    Kontakt zum SPIEGEL aufgenommen hatte, einen
                   beim Schreiben mittendrin eine der beiden Haupt­          ­Termin in der Dokumentation bekam und überrascht
des Grund­­        figuren, mit plausibler Begründung, aus der Hand­-         feststellte, dass ich bereits deutlich mehr Informatio-
               lung und dem Roman verabschiedete. Das hat mich                nen hatte als das renommierte Nachrichtenmagazin.
gesetzes.      ­gekränkt, ich – als der „Herr meiner Figuren“ – kann          Ich hielt Kontakt zu dem SPIEGEL-Redakteur Peter
                nichts dagegen tun, dass die ein Eigenleben ent­              Wensierski, der informiert werden wollte, sobald das
                wickeln? Da war für mich klar: Nie wieder Belletristik,       Buch fertig ist. Nach Durchsicht des fertigen Textes
                nur noch Sachbücher! Die Frage war, zu welchem                hieß es, die Chefredaktion habe grünes Licht gegeben,
                ­Thema? Da ich mich schon als Student und Mitglied der        einen großen Artikel, möglicherweise sogar eine Titel-
                 HSU (Humanistische Studenten Union) für die Frage            geschichte, zum Buch zu bringen, da es zur Augstein­-
               von Kirche und Staat interessiert hatte, fragte ich mich:      Tradition des SPIEGEL gehöre, den Kirchen zu Beginn
               „Wie reich sind eigentlich die Kirchen?“ Literatur dazu        der Adventszeit „gegen das Schienbein zu treten“.
               gab es kaum. Das hätte mich eigentlich warnen sollen,          Zur Titelgeschichte kam es dann zwar nicht, weil der
               aber irgendwie war ich schon ‚dran‘ am Thema – und             Terroranschlag in New York („9/11“) alle Medien für
               die Recherche beschäftigte mich rund drei Jahre.               ­viele ­Wochen vorrangig beschäftigte, doch immerhin
                       Im Grunde war es wie bei einem Gebrauchtwagen-          wurde der Artikel im Heft gut platziert. Die Deutsche
                 kauf: Man investiert Zeit und Geld. Wenn es anfangs           Presseagentur (dpa), die den Artikel gegenrecherchiert
                 ­einigermaßen gut läuft, investiert man noch mehr Zeit     hatte, titelte in ihrer Hauptmeldung des Tages:
                  und Geld, um etwaige Fehler auszu­bügeln. Wenn dann          „Die Kirchen wissen selber nicht, wie reich sie sind.“
                  später ernsthaf­tere Probleme auftreten, denkt man               Auf der anderen Seite war der Erfolg des Buches
                  sich: „Ich kann doch so viel investierte Zeit nicht          aber auch über­raschend. Schließlich ist es in einem
                  ­einfach wegwerfen!“.                                        Nischen­verlag erschienen, den man damals außerhalb

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PROFILE

der säkularen und linkslibertären Szene kaum                                  macht mitunter ausspielen. Dass die „Wa(h)re
kannte. Ich hatte zuvor natürlich versucht, das                               Nächstenliebe“ so hohe Umsätze erzeugt, hat
Buch bei den Großen der Branche unterzubringen.                               viele Leserinnen und Leser erstaunt. Dich
Doch der einhellige Tenor der Lek­toren war:                                  auch?
„Was? 150 Tabellen? Das kauft doch niemand!“                                      Das Erstaunen habe ich spätestens bei dieser
Glück­licherweise haben sie sich geirrt.                                      Recherche verloren. Der Widerspruch zwischen
                                                                              dem kirchlichen Anspruch und der Realität war mir
2002/2003 hast du zahlreiche Vorträge zu den                                  bekannt. Ich wusste schon lange, dass die Rede von
Kirchen­finanzen gehalten. Im Herbst 2003 kam                                 der „christlichen Wohltätigkeit“ eine Legende ist.
es dabei zu einer Veranstaltung im Haus von                                   Aber es macht eben einen gewaltigen Unterschied
Herbert Steffen, die insofern bemerkenswert                                   aus, ob man dieses Wissen auch mit harten Zahlen
war, weil sie letztlich zur Gründung der                                      belegen kann. Fakt ist: Viele sogenannte „christliche
Giordano-­Bruno-Stiftung führte. Herbert                                      Institutionen“ sind bloße Fassade. Krankenhäuser
­Steffen und ­Michael Schmidt-Salomon haben                                   oder Altersheime beispielswiese sind zu 100 Prozent
 die Geschichte bereits in der vorangegangenen                                vom Staat bzw. von den Beiträgen der Bürgerinnen
 Ausgabe des b       ­ runo.-Jahresmagazins erzählt.                          und Bürger finanziert. Die Kirchen geben keinen
Wie war dein ­damaliger Eindruck? Hast du ge-                  Dank fowid     einzigen Cent dazu, verlangen von ihren Angestell-
 ahnt, dass das erste Treffen eurer „Dreierban-                               ten aber absolute Loyalität, was bedeutet, dass sie
 de“, wie Herbert Steffen das einmal nannte,                 kann niemand     ihre Arbeitsstelle bereits verlieren können, wenn sie
 solch nachhaltige Folgen haben würde?                                        von ihrem Recht auf Religionsfreiheit Gebrauch
          Das habe ich nicht geahnt. Die kirchenkriti-            mehr        machen oder sich dazu bekennen, in einer homo­
 schen Organisationen, die es damals in Deutsch-                              sexuellen Partnerschaft zu leben.
 land gab, wirkten auf mich reichlich „verschnarcht“           bestreiten,        Das Empörende ist: Das kirchliche Arbeitsrecht
 – im Sinne von Woody Allens Sicht der Atheisten:                             verstößt diametral gegen die Vorgaben des Grund­
 „Gottes loyale Opposition“. Herbert Steffen und               dass es in     gesetzes, was die regierenden Politiker aber kaum
 ­Michael Schmidt-Salomon entwickelten die gbs                                zu stören scheint. Ein Journalist eines bekannten
  zum Motor eines „Neuen Atheismus“ oder besser:              Deutschland     TV-Politik-Magazins sagte mir einmal: „Herr Frerk,
  eines „Neuen Humanismus“ in Deutschland. Damit                              da tun sich ja Abgründe auf!“ Womit er recht hatte.
  lagen sie ungefähr auf der Linie der Publikationen              mehr
  der „Four Horsemen“ Richard Dawkins, Sam Harris,                             Noch im selben Jahr, 2005, hast du ein For-
  Christopher Hitchens und Daniel Dennett, die drei           konfessions­     schungsprojekt vorgeschlagen, das untersu-
  Jahre nach Gründung der gbs internationale Ver-                              chen sollte, welche weltanschaulichen, ethi-
  breitung fanden. Die Verleihung des Deschnerprei-         freie Menschen     schen und politischen Positionen die Menschen
  ses an Dawkins, den ich im Oktober 2007 in der                               in Deutschland vertreten. Aus dieser Idee ist
  ­Alten Universität in Frankfurt/Main moderieren            als Katholiken    die Forschungsgruppe Weltanschauungen
   durfte, war die konsequente Fortsetzung dieses                              in Deutschland (fowid) entstanden, die im
   ­Weges, der auch von den Medien positiv registriert            oder        ­November 2005 in Berlin vorgestellt wurde.
    wurde.                                                                     Durch ­fowid wurde es erstmals möglich,
          Es war diese Kombination von Unternehmer-           Protestanten     evidenz­basiert über die weltanschauliche
    geist und eloquenter, freundlicher, philosophischer                        ­Verfasstheit unserer Gesellschaft zu sprechen.
    Kompetenz, die neu war und viele bis dahin beste-             gibt.         So wissen wir nur dank fowid, wie hoch der
    henden Barrieren gegenüber einer „gottlosen“                                ­Anteil der konfessionsfreien Menschen in der
    ­Säkularität durchbrach. Als ich in Hamburg mit                              deutschen Bevölkerung ist. Schon allein dies
     ­einer „Grande Dame“ der Freireligiösen über die gbs                        hat viel verändert, oder?
      sprach, sagte sie: „Mein Mann hat sich jahrzehnte-                              Ich hoffe, ja. Dafür sprechen auch die vielen
      lang erfolglos bemüht, ein kirchenkritisches                               ­Anfragen, die wir von Journalisten, Studenten und
      ­Denken zu befördern. Wenn er jetzt sehen könnte,                           sogar Schülern erhalten. Dank fowid kann heute
       welchen Erfolg Sie haben, er wäre begeistert.“                             niemand mehr bestreiten, dass es in Deutschland
                                                                                  mehr konfessionsfreie Menschen als Katholiken
2005, ein Jahr nach der Gründung der gbs, hast                                    oder Protestanten gibt. Dies hat sicherlich eine be-
du ein zweites wichtiges Werk vorgelegt, näm-                                     wusstseinsbildende Wirkung. Ohnehin meine ich,
lich „Caritas und Diakonie in Deutschland“.                                       dass sich unsere konsequente Orientierung an sau-
Auf über 360 Seiten zeigst du darin auf, wie die                                  ber recherchierten und ausgewerteten Daten sehr
christlichen Sozial­konzerne nahezu jede Nische                                   gelohnt hat. Denn: Harte Fakten sind überzeugen-
des lukrativen Wohlfahrtspflege-Marktes                                           der als bloße Meinungen – insbesondere, wenn man
­be­setzt haben und wie rigoros sie diese Markt-                                  (wie wir) das Ziel einer evidenzbasierten Weltsicht

        2020                                                                                                                      17
verfolgt! Zudem hat die fowid-Linie einer weitest­                   (beispielsweise im Hinblick auf die Akzep­tanz ethi-
               gehend wertneutralen Aufbereitung empirischer Daten                  scher Werte oder wissenschaftlicher Erklärungs-
               uns einigen Respekt und fachliche Anerkennung ver-                   modelle) als homogener ­erwiesen hat als etwa die
               schafft, was ja die entscheidende Währung innerhalb                  Gruppe der evan­ge­lischen Kirchenmitglieder …
               der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist.                                   Das ist auch für mich eine wesentliche Feststellung,
                                                                                                                         weil es zum einen
               Die jährlich aktuali-                                                                                     zeigt, dass man kein
               sierte fowid-Statis-                    Religionszugehörigkeiten in Deutschland                           „Brett vor dem Kopf“
               tik zur Religions-                                  Stand 31.12.2019 (in Prozent)                         haben muss, um ei-
               verteilung in                                                                                             ne Weltanschauung
               Deutschland wird                                                                                          zu haben, und zum
               stets mit besonde-                                          27 39                                         anderen, wie wenig
               rer Spannung er-                                        Römisch-      Konfessionsfreie /                  erfolgreich die Kir-
                                                                    Katholische      ohne Religions-
               wartet. Interessant                                                   zugehörigkeit                       chen darin sind, ihre
                                                                         Kirche
               ist dabei, die aktuel-                                                                                    religiös begründeten
               len Zahlen in Rela­                                Evangelische                                           Moralvorstellungen
               tion zu den Größen-                                 Kirche (EKD)                                          überzeugend zu ver-
               verhältnissen in der                                        25                                            mitteln.
               Vergangenheit zu                                                                           Sonstige Religiöse: 1 %
               setzen. Könntest du             Quellen:
                                               DBK, EKD, REMID,
                                                                                                      Konfessionsgebundene Muslime: 5 %     In den letzten 15
                                                                                                  Sonstige Christen: 1 %
               den weltan­schau­               BAMF, Statistisches Bundesamt
                                               sowie eigene Berechnungen                        Orthodoxe Christen: 2 %                     Jahren hat fowid
               lichen Trend der                                                                                                             etwa 600 Analysen
               letzten Jahre bzw.                                                                                                           zu empirischen
               Jahrzehnte kurz skizzieren?                                                Studien veröffentlicht. Welche statistischen Zu-
                     Ja, die „fowid-Torte“ ist zweifellos eines unserer                   sammenhänge erscheinen dir selbst als besonders
               ­Alleinstellungsmerkmale! Es ist gar nicht so einfach,                     wichtig, b      ­ emerkenswert oder skurril?
Der Anteil      diese Torte zu „backen“, aber mit vereinten Kräften und                         Mmh, da gibt es einige. Meine Lieblingsgrafik war
                internen kritischen Überprüfungen entsteht eine sach­                     lange Zeit die Darstellung „Atheisten nach Religionszu-
der Kirchen­    liche und begründete Erläuterung der Zahlenangaben                        gehörigkeit“, die zeigte, wie viele nominelle Katholiken
                zur Größe der einzelnen „Tortenstücke“. Ich nehme an,                     oder Protestanten nicht mehr an einen persönlichen
mitglieder      dass es mittlerweile kaum ein Schulbuch für den Reli­                     Gott glauben. Ein weiterer meiner ­Favoriten trägt den
                gionsunterricht in Deutschland gibt, in dem diese                         Titel: „Heiratsanzeigen/Religion, 1953 – 1983“. Hier ha-
verringert      ­fowid-Grafik nicht abgedruckt ist.                                       ben wir dargestellt, wie sich Kontaktsuchende selbst
                     Der weltanschauliche Trend der vergangenen Jahr-                     ­beschreiben. War es 1953 und 1963 noch völlig ausrei-
sich Jahr        zehnte in Deutschland (und Westeuropa) ist seit den                       chend, wenn ein Mann formulierte: „Unternehmer,
                 1970/1980er Jahren sehr stabil: Der Anteil der Kirchen-                   wohlhabend, katholisch“, hatte sich das bereits 1983
für Jahr.        mitglieder oder der sich selbst als „re-                                                                deutlich geändert. Auch für Frauen
                 ligiös“ Verstehenden verringert sich                                                                    spielt die Religion in der Selbst­
                 Jahr für Jahr. Entsprechend steigt der
                 Anteil der Menschen, die mit religiö-
                                                                        „Herr Frerk,                                     beschreibung keine Rolle mehr.
                                                                                                                         Der Hinweis auf die eigene Religions­
                 sen Weltsichten nichts mehr anfan-                     da tun sich ja                                   zugehörigkeit wirkt offenkundig
                 gen können. In Deutschland ist es                                                                       nicht mehr attraktiv auf dem Partner-
                 mittlerweile so weit, dass das Sozial-                Abgründe auf!“                                    suche-Markt.
                 wissenschaftliche Institut der EKD in                                                                         Bemerkenswert ist in diesem
                 einer aktuellen Studie über die religiö-                       (Reaktion eines                          Zusammenhang auch das fowid-­
                 sen Einstellungen der jungen Erwach-                        Fernseh-Journalisten)                       Datenblatt „Weltanschauliche
                 senen (d. h. der 19- bis 27-Jährigen)                                                                   ­Homogenität bei Eheschließungen“.
                 feststellte, dass nur noch eine Minder-                                                                  Ich hatte eigentlich damit gerechnet,
                 heit von 19 Prozent sich als „religiös“ versteht.                           dass vor allem Katholiken oder Muslime in der Partner-
                 Das Fazit des Studienleiters lautet: „Es ist eine – viel-                 wahl gerne „unter sich“ bleiben. Dass ausgerechnet
                 leicht die erste – wirklich postchristliche Genera­tion.                  Konfessionsfreie dies in ­besonderem Maße tun, hat
                 Gott ist weitgehend verschwunden.“                                        mich erstaunt. Offenkundig ist es konfessionsfreien
                                                                                           Menschen wichtig, keine Religionsdiskussionen mit
                 Ein etwas überraschendes Ergebnis der fowid-­                             ­ihren Partnerinnen oder Partnern führen zu müssen
                 Studien war, dass sich die relativ unorganisierte                          und ihre säkulare Haltung ungestört an die nächste
                 Gruppe der Konfessionsfreien in vielen Fragen                              ­Generation weiter­geben zu können.

18
PROFILE

Die Gründung von fowid 2005 hat dich offenbar                    Mischung aus journalistischer Korrektheit und politi-
nicht völlig ausgelastet: Schon im darauffolgenden               scher Provokation, die neu war und viele interessierte.
Jahr hattest du die Idee, einen Pressedienst für                      Ich selbst war auch des Öfteren im Fernsehen, bei-
die säkulare Szene ins Leben zu rufen. Tatsächlich               spielsweise in der Sondersendung der „phoenix-runde“
konnte der Humanistische Pressedienst (hpd),                     zur Papstwahl 2013 – u. a. mit Prälat Dr. Karl Jüsten,
unterstützt von gbs und HVD, bereits im Oktober                  dem Chef-Lobbyisten der katho­lischen Kirche. In der
2006 an den Start gehen. Weshalb war dir die Grün-               „Bauch­binde“, die unterhalb des Bildes Informationen                                   Die Macht
dung dieser neuen Online-Platt-                                                     zu den Personen gibt, stand bei mir:
form so wichtig? Warst du unzu-                                                     „Carsten Frerk. Kirchen­kritiker.                                    der Kirchen
frieden mit der Bericht­erstattung
in den etablierten Medien?
                                                           „Das hätte               Humanistischer Pressedienst.“
                                                                                    So etwas schafft natürlich Reichweite.                               beruht
        Wenn ich mich recht erinnere,                       Honecker                Der Erfolg des hpd in der Anfangszeit
kam diese Idee gar nicht von mir,
                                                         nicht erlaubt!“
                                                                                    war aber sicherlich auch darauf zu-                                  auf ihrer
­sondern vorrangig von Horst                                                        rückzuführen, dass wir regelmäßig
 ­Groschopp (HVD) und Herbert Steffen
                                                  (Kommentar eines Dresdners
                                                                                    Informationen boten, die man sonst                                   Deutungs­
  (gbs). Meine fowid-Aufbauzeit und Zu-                                             nirgendwo ­finden konnte. So gab es
  schuss-Finanzierung war damals zu                 zur Buskampagne 2009)           früher eine große Rubrik „Säkulare                                   hoheit
  Ende gegangen und die beiden hatten                                               Welt“ mit übersetzten Verlinkungen
  sich überlegt, wie man meine Talente                                              auf Ereignisse und säkulare Organi­                                  über Leben
  für die „säkulare Szene“ weiter erhalten könnte.               sationen in der ganzen Welt, mit der der hpd die
  Da viele Organisationen bis dato kaum in den Medien            ­„Fenster öffnete“ und Licht in das „schwarze Loch“                                     und Tod.
  vertreten waren, kamen sie auf die Idee ­eines noch zu         der deutschen S­ äku­larität brachte.
  entwickelnden Internetprotals, das nach einem Vor-
  schlag von Michael Schmidt-Salomon den Namen                   2009 warst du neben deiner Frau, der Fotografin
  „Huma­nistischer Pressedienst (hpd)“ erhalten sollte.          Evelin Frerk, sowie Philipp Möller und Peder Iblher
  Die Führungsspitzen von HVD und gbs haben ­damals              einer der „Sieben Gottlosen“, die die aus England
  wohl erkannt, dass ich zwar faul sein kann, aber,              stammende Idee der atheistischen Buskampagne
  wenn ich für eine Sache brenne, alles daran setze,             aufgriffen. Nachdem sich die deutschen Verkehrs­
  das bestmög­liche Ergebnis zu erzielen.                        betriebe geweigert hatten, Busse mit dem Slogan
                                                                 „Es gibt (mit an Sicherheit grenzender Wahr­
  Du warst hpd-Chefredakteur von Anfang 2006 bis                 schein­lichkeit) keinen Gott“ fahren zu lassen, habt
  Ende 2013. Schon innerhalb kürzester Zeit avan-                ihr kurzerhand einen Doppeldeckerbus gechartert
  cierte der hpd mit mehreren Millionen Seiten­                  und eine Rundreise durch Deutschland organisiert,
  aufrufen im Jahr zum wichtigsten Medium der                    was einen großen Medienrummel ausgelöst hat.
  ­säkularen Szene im deutschsprachigen Raum.                    Du warst damals drei Wochen am Stück auf Achse.
   Wie ist dir das gelungen?
        Da war ich glücklicherweise nicht
   allein! Wir hatten ein gutes Team und
   konnten gleich zu Beginn mit exklusiven
   Informationen zu einer Story aufwarten,
   die Journalisten rund um den Globus inte-
   ressierte, nämlich die Gründung des welt-
   weit ersten „Zentralrats der Ex-­Muslime“.
   Zudem war die gbs, vor allem Michael
   Schmidt-Salomon, ziemlich schnell in den
   ­Medien ­angekommen. So saß Michael im
    März 2007 in der SWR-Sendung „Querge-
    fragt“ u. a. mit Karl Kardinal Lehmann.
    In der 47. Minute, also bereits in der ‚Nach-
    spielzeit‘, erklärte der Kardinal mehrfach
    auf Nachfrage der verdutzten Moderatorin,
    dass er persönlich gar nicht an die Kirche
    glaube, sondern nur an Gott. Am nächs­-
    ten Morgen titelte der hpd: „Kardinal
    ­Lehmann glaubt nicht an die Kirche“.
     Das war unsere besondere Qualität, eine                                                   „Gottlos glücklich!“: Carsten Frerk bei einem Interview zur ersten Buskampagne 2009

         2020                                                                                                                                                                 19
Was waren deine eindrücklichsten Erfahrun-
gen?
      Als wir mit unserer „Gottlos glücklich“-Buskam-
pagne in München ankamen und sagten, wir wür-
den den nächsten Tag übers Land fahren, wurden
wir gewarnt: „Die Leute werden den Bus, im güns-
tigsten Fall, mit Kuhscheiße bewerfen, oder aber
mit Steinen!“ Unser mulmiges Gefühl löste sich
aber schnell auf. Denn in allen großen Biergärten,
an denen wir vorüberkamen, winkten uns die
­Menschen fröhlich zu, hoben die Hände mit dem
 Daumen nach oben und riefen: „Weitermachen!“
      Ich erinnere mich auch an etwas skurrile Situa-
 tionen in Augsburg und Chemnitz, als sich an unse-
 rem Ankunftsort engagierte Christen mit Klampfen
 versammelten und laut und inbrünstig sangen:            Die große Anti-Papst-Demo 2011 in Berlin, u. a. geplant in der „guten Stube“ von Carsten und Evelin Frerk
 „Eine feste Burg ist unser Gott!“ Seltsame Dinge
 passierten auch in Dresden: Zunächst sprang ein
 Mann vor den Bus und schrie: „Das hätte Honecker
 nicht erlaubt!“ Dann fragte mich eine Frau: „Sündi-                                                           und Arbeiten. Und so hat unser Homeoffice 145 m2
 gen Sie?“ Als ich „Nein“ antwortete, schnaufte sie:                                                           (inkl. Gästezimmer) und liegt in der Mitte von
 „Oh, ich sündige täglich! Ich werde Sie in meine                                                              ­Berlin-Mitte. Da sich hier die Nord-Süd-Linie und
 ­Gebete einschließen.“ Den „gottlosen Osten“ hatte                                                             die West-Ost-Linie der Berliner U-Bahn kreuzen,
  ich mir anders vorgestellt.                                                                                   sind wir leicht zu erreichen. Außerdem ist man von
      Am meisten beeindruckt hat mich eine ältere                                                               hier auch schnell zu Fuß an den Orten, an denen in
  Dame in Münster. Sie blieb mit ihren kleinen wei-                                                             der Vergangenheit wichtige Aktionen und Events
  ßen Ringel­löckchen und ihrer feinen Halskrause              Die Sterbehilfe-                                 der gbs stattgefunden haben, etwa am Brandenbur-
  am Kleid am Bus stehen und las sich den ziemlich                                                            ger Tor, dem Potsdamer Platz oder dem Reichstags­
  langen Leitspruch „Es gibt (mit an Sicherheit gren-          Debatte zeigte,                                gebäude. Bei manchen Gelegenheiten, etwa bei der
  zender Wahrscheinlichkeit) keinen Gott“ zweimal                                                             ersten Sitzung zur Planung der Anti-Papst-Demo
  ruhig durch. Dann klem­mte sie ihren Karton mit                  dass die                                   2011, haben wir hier an unserem großen runden
  bunten Garten­blumen fest unter ihren Arm, schritt                                                          Tisch, der sich fünffach ausziehen lässt, rund
  beherzt zur Fahrertür und sagte zu Björn, unserem                Kirchen                                    30 Gäste empfangen – und niemand hat sich
  Fahrer, mit klarer Stimme: „Das wird ja nun auch                                                            ­beschwert.
  endlich mal Zeit, dass Sie in diese Stadt kommen!             noch immer
  Dieses elende, schwarze Kaff!“ Flugs drehte sie sich                                                        2010 hast du mit dem „Violettbuch Kirchen­
  um und ging ihres Weges. Ich war verblüfft und                  politische                                  finanzen“ ein weiteres wichtiges Werk vorge-
  ­begeistert zugleich.                                                                                       legt, das von der gbs im Rahmen der KORSO-­
                                                                 Mehrheiten                                   Kampagne zur Ablösung der Staatsleistungen
Eure Wohnung in Berlin-Mitte, in der heute                                                                    an die Kirchen an mehr als 1.000 politische Ent-
noch das fowid-Büro beheimatet ist, war stets                   organisieren                                  scheidungsträger und Journalisten verschickt
ein Ort, an dem viele Menschen zusammenka-                                                                    wurde. So richtig in die Schlagzeilen geriet das
men und an dem auch spektakuläre Aktionen                         können –                                    Buch allerdings erst drei Jahre später – dank
geplant wurden. 2010 trafen sich bei euch                                                                     der Schützenhilfe eines gewissen Limburger
­beispielsweise die Organisatoren des großen                    selbst gegen                                  ­Bischofs …
 Heimkinderprotestes („Jetzt reden wir!“).                                                                          Im Oktober 2013 stand das Telefon nicht mehr
 Und 2011 wurde u. a. in eurem Wohnzimmer                      das eindeutige                                  still. Alle Medien in Deutschland – von der FAZ bis
 die ­große Anti-Papst-Demo „Keine Macht den                                                                   zur BILD – hatten sich auf den „Protz-Bischof“ ein-
 ­Dogmen“ geplant, der am Ende 15.000 Men-                       Votum der                                     geschossen. Wer etwas Tiefgründigeres schreiben
  schen folgen sollten. Da war wohl einiges los                                                                wollte, als dass Herr Tebartz van Elst offenkundig
  in der Leipziger Straße …                                     Bevölkerung                                    ­einen Hang zu exklusiveren Badewanne-Modellen
      Wir können nicht darüber klagen, dass es bei                                                              hat, brauchte solide Informationen zu Kirchen­
  uns zu ruhig wäre. Als wir 2009 von Hamburg nach                                                              finanzen. Meine Recherchen und das Buch waren
  Berlin zogen, meinte Herbert Steffen, dass wir nicht                                                          da die einzige Oase in der Wüste. So kam es, dass ich
  zwei Objekte anmieten sollten, also Wohnung plus                                                              an einem Abend nacheinander sowohl in der Tages-
  Büro, sondern eine größere Einheit zum Wohnen                                                                 schau als auch im heute-journal zu sehen war.

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PROFILE

Nach dem Ende deiner Arbeit für den Humanisti-               für die Strafbarkeit der „geschäftsmäßigen“ Freitod­
schen Pressedienst hast du dich intensiv mit den             begleitung im Bundestag zu bekommen. Die Sterbe­
Strategien christlicher Lobbyisten beschäftigt.              hilfe-Debatte zeigte, dass die Kirchen im parlamentari-
Zentrale Aussagen deiner rund 1.500-seitigen (!)             schen Raum noch immer politische Mehrheiten orga-
                                                                                                                         ZUM WEITERLESEN:
Lobbyismus-Studie hast du 2015 in dem Buch                   nisieren können – selbst gegen das eindeutige Votum
„Kirchenrepublik Deutschland“ ver­öf­fentlicht.              der Bevölkerung.                                            Carsten Frerk
Im gleichen Jahr hat der Deutsche Bundestag das
sogenannte „Sterbehilfeverhinderungsgesetz“                  In „Kirchenrepublik Deutschland“ hast du den
§ 217 StGB verabschiedet. Du hast damals mit Blick           ­Begriff „Gottesfraktion“ geprägt, um jene Gruppe           Kirchenrepublik
                                                                                                                         Deutschland
auf dieses Gesetz von einem „Musterbeispiel für               von Bundestagsabgeordneten zu charakterisieren,
                                                                                                                         Christlicher Lobbyismus.
christlichen Lobby­ismus“ gesprochen. Könntest                die parteiübergreifend im Sinne von Kirchen­               Eine Annäherung
du das erläutern?                                             interes­sen agieren. 2015, als du das Buch vorgelegt       Alibri 2015
      Dies im Detail zu erläutern, würde den Rahmen           hast, war es sehr deutlich, dass die Kirchennähe
­dieses Interviews sprengen. Daher in aller Kürze: Die        der ­Abgeordneten keineswegs die Haltungen der
 Macht der Kirchen, vor allem der katholischen Kirche,        Menschen widerspiegelt, welche die Abgeordneten
 beruht nicht nur auf ihren staatlichen Privilegien, son-     im Parlament ver­treten sollen. Hat sich der Anteil
 dern vor allem auch auf ihrer Deutungs­hoheit gegen-         der Gottes­fraktion seither verändert? Repräsen-
 über ihren Gläubigen über Leben und Tod, d. h. über          tiert der Bundestag heute eher die Pluralität der
 ­Sexualität und Geburt sowie über das Sterben. Doch mit      Wertehaltungen in der deutschen Bevölkerung?
  der real existierenden Fristen­lösung zum Schwanger-            Mit Verlaub, der Begriff „Gottesfraktion“ stammt
  schaftsabbruch haben die Kirchen ihren Einfluss auf         nicht von mir, sondern von der Journalistin Claudia
  Sexualität und Zeugung weitgehend verloren – auch           Keller, aber der Sachverhalt ist damit richtig beschrie­
  wenn die aktuellen ­Bestrebungen zum Verbot der sog.        ben. Leider liegen mir zu diesem Thema keine neueren
  „Werbung für den Schwangerschaftsabbruch“ noch              Untersuchungen vor. Ich habe zwar den Eindruck, dass       Violettbuch
                                                                                                                         Kirchenfinanzen
  eine andere Sprache sprechen.                               jüngere Parlamentarier eher dem säkularen Trend in-
                                                                                                                         Wie der Staat
      Im Zuge der Diskussionen über das „Recht auf Letz-      nerhalb der Bevölkerung folgen, aber das stützt sich nur   die Kirchen finanziert
  te Hilfe“ drohte ihnen 2015, auch noch die Macht und        auf einzelne, anekdotische Beo­bachtungen. Insgesamt       Alibri 2010
  damit die Angst der Menschen vor ­Sterben und Tod zu        hoffe ich jedoch darauf, dass das Urteil des Bundesver-
  entgleiten. Entsprechend energisch haben sie reagiert.      fassungsgerichts zur Sterbehilfe, das in seiner Eindeu-
  Mit allen Winkelzügen des christlichen Lobbyismus –         tigkeit nicht zu übertreffen ist und die uneingeschränk-
  der Zusammenarbeit von Politikern mit dem Klerus,           te Selbst­bestimmung des Einzelnen zur Basis seiner
  den kirchlichen Lobby-­Büros und weiteren religiös ge-      Menschenwürde erklärt hat, einige Abgeordnete zum
  prägten Organi­sa­tionen wie der „Deutschen Stiftung        Nachdenken gebracht hat.
  Patientenschutz“ – ist es ihnen gelungen, eine Mehr­heit
                                                             Eine letzte Frage: Vor wenigen Wochen hast du auf
                                                             fowid.de eine ungewöhnlich ausführliche Analyse
                                                             des islamischen Lobbyismus veröffentlicht. Ist
                                                             dies ein Thema, mit dem du dich – nach den vielen
                                                             Veröffentlichungen zu den christ­lichen Kirchen in          Caritas und
                                                                                                                         Diakonie in
                                                             den letzten Jahren – in Zukunft intensiver beschäf-
                                                                                                                         Deutschland
                                                             tigen willst?
                                                                                                                         Alibri 2005
                                                                 Das kann ich noch nicht sagen. Aktuell investiere
                                                             ich ziemlich viel Zeit in diese Thematik, aber die nächs-
                                                             ten Monate werden zeigen, was sich daraus entwickelt.
                                                             Angedacht ist zum Beispiel ein Internetportal unter der
                                                             Domain politischer-islam.de.
                                                             Aber wenn man in meinem Alter – ich werde in d    ­ iesem
                                                             Jahr ja immerhin 75! – ein neues Projekt b­ eginnt, muss
                                                             man sich fragen, ob und wie es später weitergeführt
                                                             werden kann. Dies ist nicht allein meine Entscheidung.
                                                             Erfreulicherweise gab es dazu vonseiten der gbs bereits
                                                             positive Rückmeldungen. Vielleicht sprechen wir in
                                                             fünf Jahren noch einmal darüber. Dann wissen wir
                                                                                                                         Website:
                                                             ­Genaueres.
                                                                                                                         carstenfrerk.de
                                                             Lieber Carsten, herzlichen Dank für das Gespräch!           fowid.de

       2020                                                                                                                                        21
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