NICHTS ERGIBT SINN 2020 - AUSGABE - Giordano Bruno Stiftung
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
PROFILE | PROJEKTE | PERSPEKTIVEN | TÄTIGKEITSBERICHT 2019 AUSGABE 2020 N I C H T S E R G I BT S I N N AU S S E R I M L I C H T D E R E VO LU T I O N
PROLOG NACHDENKEN STATT A NACHBETEN ls wir am 1. Januar 2020 das diesjährige gbs- Schwerpunktthema „Die hohe Kunst der Ra- tionalität – Fakten, Fakes und gefühlte Wahrhei- ten“ im „Haus Weitblick“ vor- stellten, wussten wir noch nichts von der Corona-Krise und den ir- Stiftung stehen. Wir berichten über die Aktivitäten im letzten Jahr rationalen Debatten, die sie aus- (siehe den „Rückblick 2019“ sowie den ausführlichen Bericht über die lösen sollte. „Säkulare Buskampagne“), aber auch über die Themen, die uns derzeit Wir haben schnell reagiert bewegen, beispielsweise die Debatte über die „Neuregelung der Suizid- und mehrere Online-Veranstal- hilfe“. Zwar konnten wir im Februar 2020 mit dem wegweisenden tungen angeboten, die sich kri- Urteil des Bundesverfassungsgerichts einen wichtigen Etappensieg tisch mit den Verschwörungs- für unsere „Kampagne für das Recht auf Letzte Hilfe“ feiern, doch die mythen auseinandersetzten, Erfahrungen der letzten Monate haben gezeigt, dass der „harte Kampf welche auf dem Nährboden der um Selbstbestimmung am Lebensende“ noch längst nicht gewonnen Pandemie erstaunliche Populari- ist (lesen Sie hierzu den Artikel auf S. 42). tät erlangten. Allerdings haben Für das Cover des aktuellen Hefts haben wir ein Motiv ausgewählt, wir auch davor gewarnt, Men- das bereits die „Evokids-Wochen“ 2019 in Düsseldorf schmückte. schen mit abweichenden Mei- Mit seiner Hilfe lässt sich nämlich unsere „Stiftungsphilosophie“ des nungen vorschnell in die Ver- evolutionären Humanismus bestens illustrieren. Außerdem hat die schwörungsecke abzuschieben. gbs in den vergangenen 24 Monaten besondere Anstrengungen unter- Denn der wissenschaftliche nommen, um die existenzielle Bedeutung der Evolution ins öffent Fortschritt lebt von dem „freund- liche Bewusstsein zu bringen (siehe den Artikel „Im Lichte der Evo lich-feindlichen Wettbewerb“ lution“ auf S. 32). der Ideen. Wird der Meinungs Wir hoffen, dass Ihnen die vorliegende Ausgabe unseres Jahres- korridor zu stark eingeengt (et- magazins gefällt. Sollten Sie nach der Lektüre Lust verspüren, sich für wa, indem jegliche Kritik am die Anliegen der Stiftung zu engagieren, können Sie sich jederzeit an Robert Koch-Institut als „Sakri- www.giordano-bruno-stiftung.de uns wenden (siehe die Kontaktadressen auf S. 80). Wir jedenfalls haben leg“ geahndet wird), richtet dies es niemals bereut, die althergebrachten Weltbilder im „Lichte der Evo- möglicherweise größeren Scha- twitter.com/#!/gbs_org lution“ zu hinterfragen. Denn ein solches Nachdenken ist nicht nur den an als die Wahnideen, die vernünftiger als jedes Nachbeten, es macht auch viel mehr Spaß! KenFM, Attila Hildmann oder facebook.com/gbs.org Xavier Naidoo verbreiteten. Wir wünschen eine anregende Lektüre! Wie in der vorangegangenen bruno.-Ausgabe können Sie im aktuellen Jahresmagazin einige der Menschen kennenlernen, Herbert Steffen Michael Schmidt-Salomon die hinter der Giordano-Bruno- Vorsitzender Vorstandssprecher 2020 3
6 Griefahn 2020 DI E T H E M E N DE S JA H R E S PROFILE PERSPEKTIVEN 6 Eine bessere Welt ist möglich 42 Der harte Kampf um Monika Griefahn kämpft Selbstbestimmung für eine zukunftsfähige Das Karlsruher Urteil Politik und seine Feinde 14 » Fakten sind überzeugender 46 Rationalität in der Krise als Meinungen … « Das gbs-Schwerpunktthema Interview mit Carsten Frerk im „Corona-Jahr“ über die „Kirchenrepublik Deutschland“ 22 Menschen, die etwas RÜCKBLICK 2019 beweg(t)en 50 Die Highlights des Jahres 14 Tanja Gabriele Baudson, Über die wichtigsten Horst Marschall, Michael Ereignisse 2019 Schmidt-Salomon, Ludger Frerk Lütkehaus, Volker Panzer und viele andere mehr 68 Finanzen und Vermögen Wofür die gbs ihre Mittel PROJEKTE eingesetzt hat 26 100 Jahre Verfassungsbruch Die Säkulare Buskampagne HINTERGRÜNDE 2019 70 Die Giordano-Bruno-Stiftung 32 ›› Im Lichte der Evolution ‹‹ Wer wir sind und Evokids präsentiert den was wir tun „sinnvollsten Lehrpfad aller Zeiten“ 74 Aufklärer*in werden Wie Sie uns 40 ifw & Co. unterstützen können Neues aus den Projekten 80 Kontakt AUFKLÄRER*IN Wie Sie uns erreichen W E R D E N 81 Impressum & mitmachen bei der gbs! MEHR INFOS AUF SEITE 74 82 Tillys Nachschlag 4
PROFILE Eine bessere Welt ist möglich Weniger schlecht ist noch lange nicht gut: gbs-Beirätin MONIKA GRIEFAHN kämpft für eine zukunftsfähige Politik 6
Sie war die erste Frau im internationalen Vorstand von Greenpeace, Umweltministerin in Niedersachsen, Vorsitzende des „Alternativen Nobelpreis“-Komitees und Gründungsvorsitzende der Cradle to Cradle-NGO: Seit Jahrzehnten kämpft gbs-Beirätin Monika Griefahn für eine menschenfreundliche, zukunftsfähige Politik. Das Portrait einer „notorischen Weltverbesserin“. Wir waren einigen Mächtigen so sehr ein Dorn im Auge, dass sie auch vor Gewalttaten nicht zurückschreckten. 8
PROFILE A uf dem Höhepunkt der Popularität der Fridays for Future-Bewegung fragte der STERN die Um- Der Kontakt mit verfolgten Regimekritikern weltschützerin und Greenpeace-Mitbegründe- und politischen Visionären hat meinen Blick rin Monika Griefahn, ob man sie als „Greta Thunberg der 80er-Jahre“ bezeichnen könne. auf die Probleme dieser Welt erweitert. Griefahn entgegnete, dass es zwar Gemeinsam- keiten gebe und das Engagement der jungen Generation großartig sei, dass man die Zeiten aber kaum miteinan- der vergleichen könne. So hätten sie und ihre Mitstrei- Südpazifik demonstriert. In Kooperation mit der franzö- ter*innen deutlich mehr riskieren müssen „als bloß sischen Presse konnte Greenpeace in monatelangen Re- einen Eintrag ins Klassenbuch“. cherchen aufklären, dass es sich um einen Anschlag des Das war nicht einfach so dahergesagt. Denn die ers- französischen Geheimdienstes gehandelt hatte. Monika ten Aktionen, die Greenpeace in den 1980er Jahren Griefahn, damals im Greenpeace-Vorstand für die welt- durchführte, etwa die große Kampagne gegen die Dünn- weite Einrichtung neuer Büros zuständig, sagt dazu säureverklappung in der Nordsee, die Monika Griefahn heute: „Wir waren einigen Mächtigen so sehr ein Dorn in den Jahren 1980–83 maßgeblich koordinierte, waren im Auge, dass sie auch vor Gewalttaten nicht zurück gefährlich. Die Aktivist*innen fuhren mit Schlauchboo- schreckten.“ A ten eng an die Schiffe heran und schwammen sogar in unmittelbarer Nähe der Tanker „Kronos“ und „Titan“, ls Monika Griefahn am 3. Oktober 1954 in Mül- die täglich hunderte Tonnen giftiger Chemieabfälle ins heim an der Ruhr geboren wird, deutet wenig Meer pumpten. Ihr mutiger Versuch, die toxische Arbeit darauf hin, dass sie drei Jahrzehnte später eines der Tankschiffe zu behindern und die damit verbundene der bekanntesten Gesichter der deutschen Um- Umweltkatastrophe zu beenden, war letztlich von Erfolg weltbewegung sein würde. Den Eltern schwebt gekrönt: Nachdem die Medien das Thema aufgegriffen jedenfalls ein deutlich anderer Lebensweg für hatten und Greenpeace Alternativen im Umgang mit ihre Tochter vor. So meint ihr Vater nach dem Abschluss Dünnsäure aufzeigen konnte, stoppte die Kronos Titan der Grundschule: „Die Monika wird sowieso heiraten, GmbH die Vergiftung der Nordsee. die muss nicht auf die höhere Schule!“ Glücklicherweise Doch nicht alle Vertreter*innen des Establishments sieht ihr Opa die Sache anders und meldet die Enkelin zeigten sich so aufgeschlossen – wie die Versenkung des am Gymnasium an. Greenpeace-Schiffes Rainbow Warrior im Juli 1985 zeig- Noch während ihrer Schulzeit beteiligt sich Monika te, bei der der Fotograf Fernando Pereira ums Leben kam. an der Gründung der Mülheimer Ortsgruppe von Am- Stein des Anstoßes: Die Umweltorganisation hatte mit nesty International. Die Gründungsversammlung ist zu- dem Schiff gegen die französischen Atomwaffentests im gleich ihr erster öffentlicher Auftritt, bei dem die erst 2020 9
15-Jährige darlegt, wie sich Amnesty für politische Gefangene einsetzt. Nach dem Abitur studiert Monika Griefahn S ozialwissenschaft und Mathema- tik in Göttingen und schließt ihr Studium 1979 in Hamburg als Diplom-Soziologin ab. Etwa zur glei- chen Zeit erfährt sie von Greenpeace. Das Konzept Im Grunde denke ich heute der Organisation leuchtet ihr sofort ein.Also gründet noch radikaler als früher. sie kurz darauf mit einigen Mitstreiter*innen in N Hamburg die deutsche Sektion von Greenpeace. Die ersten Treffen finden in ihrer Küche statt, doch nach ach der erfolgreichen Landtagswahl 1990 den öffentlichkeitswirksamen Aktionen ab 1980 er- wird Monika niedersächsische Umweltmi- hält die Organisation starken Zulauf. nisterin und dadurch Chefin von rund 350 Die Erfolge in Deutschland beeindrucken auch Menschen, die unmittelbar im Ministerium David McTaggart, den Gründer von Greenpeace arbeiten, sowie von weiteren 2.500 Mitarbei- International, der Monika Griefahn 1984 als erste ter*innen in den nachgeordneten Behörden. und einzige Frau in den neu gebildeten Vorstand von Die Beamtenschaft ist, wie sie schnell feststellt, Greenpeace beruft. „Greenpeace war damals eine „etwas strukturkonservativ“ und die junge, weib Männerwelt, ein old boys club“, erinnert sie sich heu- liche Ministerin, die das offene Wort pflegt, eine Art te. „Ich hatte drei Handicaps: Weiblich, jung und „Kulturschock“ – zumal sie während ihrer Amtszeit nicht anglophon.“ Aber sie lässt sich davon nicht un- (1990–1998) zwei ihrer drei Kinder zur Welt bringt. terkriegen und bleibt bis 1990 im internationalen Damit zeigt sie auch, dass sich Arbeit und Familie Vorstand der Organisation. sehr wohl in Einklang bringen lassen, was eine nach- Bei Greenpeace lernt Monika Griefahn auch ih- haltige Veränderung der Führungskultur im Minis- ren Mann, den Chemiker Michael Braungart kennen, terium einleitet. der die Beluga, ein Greenpeace-Schiff zur Erfor- Die Umweltpolitik in Niedersachsen ist in dieser schung der Flussverschmutzung, mit einem Labor Zeit die wohl mutigste in ganz Deutschland. Monika ausstattet. Die beiden heiraten 1986. 1989 gründen sie Griefahn setzt auf das Konzept der Kreislaufwirt- gemeinsam das Hamburger Umweltinstitut. Im sel schaft, stoppt giftige und kostenintensive Müllver- ben Jahr erhält Monika Griefahn aus heiterem Him brennungsanlagen, meldet das Wattenmeer bei der mel die Einladung zu einem Treffen mit Gerhard UNESCO zum Programm „Man and Biosphere“ an Schröder, dem damaligen Spitzenkandidaten der und richtet den Nationalpark Harz sowie das Bio SPD Niedersachsen für das Amt des Ministerpräsi sphärenreservat Elbtalaue ein. Die Wasserqualität in denten (und späteren Bundeskanzler), was eine wei- Flüssen und Seen verbessert sich während ihrer tere Wende in ihrem Leben einleitet. Amtszeit erheblich, so dass sich dort viele verschie- Schröder fragt sie beim Abendessen bei seinem dene Pflanzen- und Tierarten wieder ansiedeln kön- Lieblingsitaliener, ob sie sich seinem Kompetenz- nen. team anschließen und im Falle eines Wahlsieges das Als eine der ersten Umweltminister*innen niedersächsische Umweltministerium übernehmen Deutschlands engagiert sich Monika Griefahn für wolle. Von der Umweltaktivistin, die im Kampf gegen erneuerbare Energieformen und gerät dadurch, ins- das Establishment Methoden des zivilen Ungehor- besondere in der Atompolitik, in harte Auseinander- sams einsetzt, zur Politikerin mit Regierungsverant- setzungen mit dem damaligen Bundesumwelt wortung ist es ein großer Schritt, doch Monika reizt minister Klaus Töpfer sowie mit dessen Nachfolgerin die Vorstellung, ihre umweltpolitischen Forderun- (und späteren Bundeskanzlerin) Angela Merkel. Weil gen in die Tat umsetzen zu können. Schröder lässt ihr sie neue Bauvorhaben – besonders die Endlager dabei weitgehend freie Hand. Zu ihren politischen stätten Gorleben und Schacht Konrad – ausgiebig Vorstellungen sagt er nur: „Mach mal.“ Das lässt sie und kritisch prüfen lässt, richtet die Atomindustrie sich nicht zweimal sagen. gegen sie persönlich Schadensersatzansprüche in Höhe von insgesamt 115 Millionen Euro (!). In dieser Zeit wird ihr klar, dass eine zukunftsfähige Energie politik auf Landesebene nicht erreicht werden kann. Monika Griefahn als niedersächsische Als sie von der SPD im bislang konservativ domi Umweltministerin im Watt sowie auf nierten Landkreis Harburg angefragt wird, ob sie einer SPD-Wahlveranstaltung nicht vor Ort als Bundestagsabgeordnete kandidie- ren wolle, sagt sie spontan zu. Tatsächlich gewinnt sie dort als erste S ozialdemokratin das Direktmandat und zieht 1998 in den Bundestag ein. 10
PROFILE G erhard Schröder geht nach der Bundestagswahl 1998 eine Koalition mit Bündnis90/Die Grünen ein, wodurch das Bundesumweltministerium an Jürgen Trittin fällt. Eigentlich wäre Monika Griefahn prädestiniert für den Umweltaus- schuss des Deutschen Bundestages. Aber sie em pfindet es als merkwürdig, ihren ehemaligen nieder- sächsischen Kabinettskollegen Trittin, der während ih- rer Amtszeit als Umweltministerin das Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten geleitet hatte, parlamentarisch kontrollieren zu müssen.Also entschei det sie sich für den Auswärtigen Ausschuss sowie den Kulturausschuss, der sie bald zur Vorsitzenden wählt. Als Kulturpolitikerin ist sie weltweit unterwegs und lernt viele interessante Menschen kennen. Sie initiiert die Gründung des Deutschen Computerspielpreises, engagiert sich für die Förderung des deutschen Films, für ein starkes Urheberrecht, den Erhalt einer dezentra- len Buchhandlungsstruktur und vor allem für kulturelle Vielfalt. Der konsequente Einsatz gegen Sexismus, Ras- T sismus und Gewaltverherrlichung bringt ihr Morddro- hungen ein, von denen sie sich aber nicht verunsichern rotz aller Ämter und Würden, die Monika lässt. Griefahn über die Jahre ansammelt, behält sie Ein wichtiger Erfolg in ihrer Zeit als Kultur- und stets den Kontakt zur außerparlamentarischen Außenpolitikerin ist die Rettung der deutschen Goethe- Opposition, der sie selbst entstammte. So enga- Institute, die damals in großer Zahl wegrationalisiert giert sie sich seit über 35 Jahren in der von Jakob werden sollten. „Ich bin heilfroh, dass wir dieses fehler- von Uexküll gegründeten Right Livelihood hafte Verständnis von kultureller Außenpolitik korrigie- Foundation, die am Tag vor der Vergabe des „Friedens- ren konnten“, sagt sie heute. „Die Goethe-Institute reprä nobelpreises“ in Stockholm den sogenannten „Alterna- sentieren Deutschland heute nicht nur in der Welt, son- tiven Nobelpreis“ verleiht. Diese besondere Auszeich- dern bieten auch eine einzigartige Chance, die Zivilge- nung erhalten, wie es Monika Griefahn ausdrückt, „aus- sellschaft in anderen Nationen – selbst in Diktaturen – schließlich Menschen, die wirklich etwas in dieser Welt zu erreichen.“ bewegen, nämlich Menschenrechtler*innen, Umwelt- Schon als Schülerin war ihr die Pflege der schützer*innen und Friedensaktivist*innen“. deutsch-französischen Freundschaft ein wichtiges An- Obwohl sie es verdient hätten, haben die meisten liegen. Dieses Engagement setzt sie als Politikerin fort Trägerinnen und Träger des Right Livelihood Award aus und wird u. a. Vorsitzende der vom Deutschen Bundestag politischen Gründen keine Chance, den offiziellen und der Französischen Nationalversammlung einge- Friedensnobelpreis zu erhalten. Man denke nur an den setzten Arbeitsgruppe zur kulturellen Vielfalt. 2002 wird amerikanischen Whistleblower Edward Snowden, der sie als „Ritterin“ in die französische Ehrenlegion auf 2014 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet genommen – eine Auszeichnung, die auch deshalb be- wurde. In der 40-jährigen Geschichte der Right Liveli- merkenswert ist, weil sich die ehemalige Greenpeace- hood Foundation kam es nur zweimal vor, dass Personen Aktivistin und die französische Regierung nach dem beide Preise erhielten, nämlich die Umweltaktivistin Sprengstoff-Anschlag auf die Rainbow Warrior als erbit- Wangari Muta Maathai (Alternativer Nobelpreis: 1984 / terte Gegner gegenüberstanden. Nach der Verleihungs- Friedensnobelpreis: 2004) sowie der Arzt und Menschen- zeremonie gesteht sie dem französischen Botschafter: rechtsaktivist Denis Mukwege (Alternativer Nobelpreis: „Als ich Ihren Brief bekam, stockte mir das Herz. Ich 2013 / Friedensnobelpreis: 2018). dachte, ich bekomme wieder eine Vorladung vom fran- zösischen Geheimdienst.“ Weniger schlecht ist noch lange nicht gut! 2020 11
Monika Griefahn mit dem Musiker und C2C-Beirat Bela B („die ärzte“, 3.v.l.) und den Geschäfts führenden Vorständen der C2C NGO Tim Janßen und Nora Sophie Griefahn N Monika Griefahn meint, dass die langjährige Arbeit ach 19 Jahren im politischen Geschäft – acht als Mitglied bzw. Vorsitzende des „Alternativen Nobel- Jahren als Umweltministerin und elf Jahren preis-Komitees“ ihre Sicht auf die Welt nachhaltig ver- im Deutschen Bundestag – zieht sich Monika ändert hat: „Der intensive Kontakt mit Vertreter*innen Griefahn 2008 aus der offiziellen Politik zurück, von internationalen Menschenrechts-, Umweltschutz- schreibt ihre Doktorarbeit, gründet eine eigene und Widerstandsbewegungen, mit verfolgten Regime- Beratungsfirma und engagiert sich für ihr Her- kritikern und politischen Visionären hat meinen Blick zensthema Cradle to Cradle (C2C). Als aktive Politikerin auf die echten Probleme dieser Welt und auch auf mög war ihr dies noch verwehrt gewesen, da man ihr sofort liche Lösungswege erweitert. Im Grunde denke ich „Vetternwirtschaft“ unterstellt hätte. Denn C2C war in heute noch radikaler als früher in meiner Zeit als den 1990er Jahren ausgerechnet von ihrem eigenen Greenpeace-Aktivistin. Denn damals wollte ich nur die Mann in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Schäden reparieren, die wir Menschen in der Natur an- Architekten und Designer William McDonough ent richten, heute will ich dazu beitragen, dass wir einen wickelt worden. positiven Fußabdruck in dieser Welt hinterlassen – Cradle to Cradle (deutsch: Wiege zur Wiege) steht für getreu der Cradle to Cradle-Devise: Weniger schlecht ist eine echte Kreislaufwirtschaft und somit für eine radi- noch lange nicht gut!“ kale Abkehr von der bisherigen Produktionsweise, die von der Wiege der Rohstoffgewinnung ins Grab der S ondermülldeponie führt. Obwohl Braungart und McDonough bereits 2010 imposante Erfolge vorweisen können (Häuser, die mehr Energie erzeugen als verbrau- chen, Textilien, die man wirklich auf der Haut tragen kann, Fabriken, aus denen die Flüsse sauberer heraus- als hineinfließen), ist C2C in der Öffentlichkeit weit gehend unbekannt. Monika Griefahn meint, dass sich das ändern muss, und treibt die Gründung des Cradle to Cradle e. V. voran, der 2012 unter ihrem Vorsitz die Arbeit aufnimmt. Über C2C kommt Monika Griefahn auch erstmals in Kontakt mit der Giordano-Bruno-Stiftung. Auf dem SO GEHT MORGEN! kleinen, aber feinen Bimbache openART & C2C-Festi- Die C2C NGO arbeitet mit Wirtschaft, Wissenschaft, val, das der Jazz(rock)-Gitarrist Thorsten de Winkel in Bildung, Politik und Zivilgesellschaft zusammen, um einen Berlin organisiert, diskutiert sie am 13. März 2011 zu intelligenten Stoffwechsel mit der Natur zu ermöglichen. sammen mit ihrem Mann Michael Braungart und Website: www.c2c-ev.de gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon zum Thema „Eine bessere Welt ist möglich“. 12
PROFILE D „Die beiden Michaels hatten sich erst wenige Wo- ass ihr Lebensweg so viele unterschiedliche chen zuvor in Zürich kennengelernt, sich aber auf An- Facetten aufweist, war nicht geplant, meint hieb so gut verstanden, als ob sie zusammen aufgewach- Monika Griefahn: „Ich habe mich einfach dort sen wären“, erinnert sich Monika Griefahn. „Dem einen engagiert, wo ich dachte, am meisten bewegen ZUM WEITERLESEN: (Michael Braungart) wurde durch die Begegnung be- zu können.“ Dass man sie als „notorische Welt- wusst, wie sehr sein Konzept der ‚intelligenten Ver- verbesserin“ bezeichnet, stört sie nicht: „Ich Michael Braungart / schwendung‘ dem religiös forcierten Schuld- und Süh sehe nichts Schlechtes darin, etwas Positives bewirken William McDonough nedenken widerspricht, der andere (Michael Schmidt- zu wollen.“ Inzwischen hat sie den Vorsitz beim Cradle Cradle to Cradle Salomon) entdeckte in Cradle to Cradle die Möglichkeit, to Cradle e. V. aufgegeben und ist in den Beirat gewech- Einfach intelligent humanistische und ökologische Werte in Einklang zu selt, dem neben den gbs-Mitgliedern Michael Braungart produzieren bringen. Das hat auch mich überzeugt: C2C ist die per- und Michael Schmidt-Salomon sowie Fachleuten wie Piper 2014 fekte Verbindung von Humanismus und Ökologie, weil Jakob von Uexküll (Gründer der Right Livelihood es den Menschen nicht als ‚Umweltschädling‘ bekämpft, Foundation) und Maximilian Gege (Vorsitzender des sondern ihn als potenziellen ‚Nützling‘ fördert.“ Bundesdeutschen Arbeitskreises für Umweltbewusstes Drei Jahre nach der kleinen Veranstaltung in Berlin Management, B.A.U.M. e. V.) auch prominente Zeitge- findet in Lüneburg der erste große C2C-Kongress mit noss*innen wie der Musiker Bela B, die TV-Moderatorin rund 600 Teilnehmer*innen statt, der mit einer Einfüh- Nina Eichinger oder die Fernsehköchin und EU-Abge- rung durch Monika Griefahn und Eröffnungsvorträgen ordnete Sarah Wiener angehören. von Michael Braungart und Michael Schmidt-Salomon Unter der Geschäftsführung von Tim Janßen und beginnt. Im selben Jahr werden Michael Braungart und Nora Griefahn ist die NGO kontinuierlich gewachsen, Monika Griefahn in den Beirat der Giordano-Bruno- wie nicht zuletzt auch die großen C2C-Kongresse zeigen: Stiftung aufgenommen – was in Monikas Fall mitunter Von Jahr zu Jahr zogen die u. a. von der Giordano- Erstaunen auslöst, da sie noch bis kurz vor ihrer Beru- Bruno-Stiftung unterstützten Großevents mehr Inte fung, nämlich von 2008 bis 2014, dem Präsidium des ressierte an. Beim C2C-Kongress im Januar 2020 an der Monika Griefahn / Deutschen Evangelischen Kirchentages angehörte. Berliner Urania waren es bereits 1.000. Edda Rydzy Darauf angesprochen, winkt Monika Griefahn lä- Cradle to Cradle ist inzwischen auf der richtigen Natürlich wachsen chelnd ab: „Es mag merkwürdig erscheinen, vom Präsi- Spur. Was macht Monika Griefahn jetzt? Die SPD-Gruppe Erkundungen über Mensch, dium des Kirchentags in den Beirat der gbs zu wechseln, in ihrer Geburtsstadt hat bei ihr angefragt, ob sie für das Natur und Wachstum aus aber das war eigentlich nichts im Vergleich zu meinem Amt der Oberbürgermeisterin kandidieren möchte. Sie kulturpolitischem Anlass Wechsel vom Greenpeace-Vorstand ins Umweltministe- hat diese Herausforderung angenommen. Es könnte also Springer 2014 rium! Man sollte an der Stelle auch keine falschen Fron- durchaus sein, dass Mülheim an der Ruhr zu einer der ten aufmachen: Ich bin überzeugt, dass es in den Kir- ersten Cradle to Cradle-Städte in Deutschland wird. chen inzwischen viele Menschen gibt, die entschieden Es wäre eine weitere Facette im Lebenslauf der umtrie für humanistische Werte eintreten und die auch die fun bigen gbs-Beirätin. Zum Zeitpunkt des Redaktions- damentalen Erkenntnisse niemals in Abrede stellen schlusses stand der Ausgang der Wahl noch nicht fest. würden, die aus der Evolutionstheorie hervorgegangen sind.“ Monika Griefahn (Hg.) Greenpeace Wir kämpfen für eine Ich habe mich dort engagiert, Umwelt, in der wir leben können wo ich dachte, am meisten Rowohlt 1983 bewegen zu können. Gut gelaunt: Monika Griefahn mit Philipp Möller, Michael Schmidt-Salomon und Michael Braungart nach der Eröffnung des C2C-Labs am 10. September 2019 in Berlin 2020 13
14
PROFILE ›› FAKTEN SIND ÜBERZEUGENDER ALS MEINUNGEN … ‹‹ INTERVIEW Wohl niemand hat die „Kirchenrepublik Deutschland“ so gründlich analysiert wie der promovierte Politologe und Buchautor Carsten Frerk. Im Gespräch mit dem bruno.-Jahresmagazin berichtet er über seine Forschungs ergebnisse sowie über die Entwicklung der gbs, der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) und des Humanistischen Pressedienstes (hpd), die er entscheidend geprägt hat. 2020 15
Bildunterschrift Cover-Motiv des Buchs "Kirchenrepublik Deutschland" von Carsten Frerk (2015) bruno.: Vor 15 Jahren wurde auf deine Initiative Also bleibt man am Ball. Ehrlich gesagt: Hätte ich vor- Das hin die Forschungsgruppe Weltanschauungen in her gewusst, wie viel Arbeit das Buch machen wird, Deutschland gegründet, die du seither leitest. hätte ich wohl gar nicht erst damit begonnen. So aber kirchliche Für Furore hast du aber schon drei Jahre zuvor mit hielt ich durch, bis „Finanzen und Vermögen der der Veröffentlichung deines Buches „Finanzen und Kirchen in Deutschland“ Ende 2001 / Anfang 2002 Arbeitsrecht Vermögen der Kirchen in Deutschland“ gesorgt, im Alibri Verlag erscheinen konnte. das erstmals auf Heller und Pfennig aufzeigte, wel- verstößt che enormen Reichtümer die beiden christlichen Die Ergebnisse deiner Forschung wurden von Großkirchen angehäuft haben. Hinter diesem Buch vielen Medien aufgegriffen. Selbst die Kirchen diametral muss ein gigantischer Rechercheaufwand gesteckt scheinen sich auf deine Zahlen zu berufen. haben: Was hat dich dazu motiviert, diese Arbeit Warst du überrascht von dem durchschlagenden gegen die auf dich zu nehmen? Erfolg deines Buchs? Carsten Frerk: Ich hatte zuvor einen Roman ver Nein und Ja. Nein, weil ich während der Recherche Vorgaben öffentlicht („Der Sohn des Freibeuters“), bei dem sich Kontakt zum SPIEGEL aufgenommen hatte, einen beim Schreiben mittendrin eine der beiden Haupt Termin in der Dokumentation bekam und überrascht des Grund figuren, mit plausibler Begründung, aus der Hand- feststellte, dass ich bereits deutlich mehr Informatio- lung und dem Roman verabschiedete. Das hat mich nen hatte als das renommierte Nachrichtenmagazin. gesetzes. gekränkt, ich – als der „Herr meiner Figuren“ – kann Ich hielt Kontakt zu dem SPIEGEL-Redakteur Peter nichts dagegen tun, dass die ein Eigenleben ent Wensierski, der informiert werden wollte, sobald das wickeln? Da war für mich klar: Nie wieder Belletristik, Buch fertig ist. Nach Durchsicht des fertigen Textes nur noch Sachbücher! Die Frage war, zu welchem hieß es, die Chefredaktion habe grünes Licht gegeben, Thema? Da ich mich schon als Student und Mitglied der einen großen Artikel, möglicherweise sogar eine Titel- HSU (Humanistische Studenten Union) für die Frage geschichte, zum Buch zu bringen, da es zur Augstein- von Kirche und Staat interessiert hatte, fragte ich mich: Tradition des SPIEGEL gehöre, den Kirchen zu Beginn „Wie reich sind eigentlich die Kirchen?“ Literatur dazu der Adventszeit „gegen das Schienbein zu treten“. gab es kaum. Das hätte mich eigentlich warnen sollen, Zur Titelgeschichte kam es dann zwar nicht, weil der aber irgendwie war ich schon ‚dran‘ am Thema – und Terroranschlag in New York („9/11“) alle Medien für die Recherche beschäftigte mich rund drei Jahre. viele Wochen vorrangig beschäftigte, doch immerhin Im Grunde war es wie bei einem Gebrauchtwagen- wurde der Artikel im Heft gut platziert. Die Deutsche kauf: Man investiert Zeit und Geld. Wenn es anfangs Presseagentur (dpa), die den Artikel gegenrecherchiert einigermaßen gut läuft, investiert man noch mehr Zeit hatte, titelte in ihrer Hauptmeldung des Tages: und Geld, um etwaige Fehler auszubügeln. Wenn dann „Die Kirchen wissen selber nicht, wie reich sie sind.“ später ernsthaftere Probleme auftreten, denkt man Auf der anderen Seite war der Erfolg des Buches sich: „Ich kann doch so viel investierte Zeit nicht aber auch überraschend. Schließlich ist es in einem einfach wegwerfen!“. Nischenverlag erschienen, den man damals außerhalb 16
PROFILE der säkularen und linkslibertären Szene kaum macht mitunter ausspielen. Dass die „Wa(h)re kannte. Ich hatte zuvor natürlich versucht, das Nächstenliebe“ so hohe Umsätze erzeugt, hat Buch bei den Großen der Branche unterzubringen. viele Leserinnen und Leser erstaunt. Dich Doch der einhellige Tenor der Lektoren war: auch? „Was? 150 Tabellen? Das kauft doch niemand!“ Das Erstaunen habe ich spätestens bei dieser Glücklicherweise haben sie sich geirrt. Recherche verloren. Der Widerspruch zwischen dem kirchlichen Anspruch und der Realität war mir 2002/2003 hast du zahlreiche Vorträge zu den bekannt. Ich wusste schon lange, dass die Rede von Kirchenfinanzen gehalten. Im Herbst 2003 kam der „christlichen Wohltätigkeit“ eine Legende ist. es dabei zu einer Veranstaltung im Haus von Aber es macht eben einen gewaltigen Unterschied Herbert Steffen, die insofern bemerkenswert aus, ob man dieses Wissen auch mit harten Zahlen war, weil sie letztlich zur Gründung der belegen kann. Fakt ist: Viele sogenannte „christliche Giordano-Bruno-Stiftung führte. Herbert Institutionen“ sind bloße Fassade. Krankenhäuser Steffen und Michael Schmidt-Salomon haben oder Altersheime beispielswiese sind zu 100 Prozent die Geschichte bereits in der vorangegangenen vom Staat bzw. von den Beiträgen der Bürgerinnen Ausgabe des b runo.-Jahresmagazins erzählt. und Bürger finanziert. Die Kirchen geben keinen Wie war dein damaliger Eindruck? Hast du ge- Dank fowid einzigen Cent dazu, verlangen von ihren Angestell- ahnt, dass das erste Treffen eurer „Dreierban- ten aber absolute Loyalität, was bedeutet, dass sie de“, wie Herbert Steffen das einmal nannte, kann niemand ihre Arbeitsstelle bereits verlieren können, wenn sie solch nachhaltige Folgen haben würde? von ihrem Recht auf Religionsfreiheit Gebrauch Das habe ich nicht geahnt. Die kirchenkriti- mehr machen oder sich dazu bekennen, in einer homo schen Organisationen, die es damals in Deutsch- sexuellen Partnerschaft zu leben. land gab, wirkten auf mich reichlich „verschnarcht“ bestreiten, Das Empörende ist: Das kirchliche Arbeitsrecht – im Sinne von Woody Allens Sicht der Atheisten: verstößt diametral gegen die Vorgaben des Grund „Gottes loyale Opposition“. Herbert Steffen und dass es in gesetzes, was die regierenden Politiker aber kaum Michael Schmidt-Salomon entwickelten die gbs zu stören scheint. Ein Journalist eines bekannten zum Motor eines „Neuen Atheismus“ oder besser: Deutschland TV-Politik-Magazins sagte mir einmal: „Herr Frerk, eines „Neuen Humanismus“ in Deutschland. Damit da tun sich ja Abgründe auf!“ Womit er recht hatte. lagen sie ungefähr auf der Linie der Publikationen mehr der „Four Horsemen“ Richard Dawkins, Sam Harris, Noch im selben Jahr, 2005, hast du ein For- Christopher Hitchens und Daniel Dennett, die drei konfessions schungsprojekt vorgeschlagen, das untersu- Jahre nach Gründung der gbs internationale Ver- chen sollte, welche weltanschaulichen, ethi- breitung fanden. Die Verleihung des Deschnerprei- freie Menschen schen und politischen Positionen die Menschen ses an Dawkins, den ich im Oktober 2007 in der in Deutschland vertreten. Aus dieser Idee ist Alten Universität in Frankfurt/Main moderieren als Katholiken die Forschungsgruppe Weltanschauungen durfte, war die konsequente Fortsetzung dieses in Deutschland (fowid) entstanden, die im Weges, der auch von den Medien positiv registriert oder November 2005 in Berlin vorgestellt wurde. wurde. Durch fowid wurde es erstmals möglich, Es war diese Kombination von Unternehmer- Protestanten evidenzbasiert über die weltanschauliche geist und eloquenter, freundlicher, philosophischer Verfasstheit unserer Gesellschaft zu sprechen. Kompetenz, die neu war und viele bis dahin beste- gibt. So wissen wir nur dank fowid, wie hoch der henden Barrieren gegenüber einer „gottlosen“ Anteil der konfessionsfreien Menschen in der Säkularität durchbrach. Als ich in Hamburg mit deutschen Bevölkerung ist. Schon allein dies einer „Grande Dame“ der Freireligiösen über die gbs hat viel verändert, oder? sprach, sagte sie: „Mein Mann hat sich jahrzehnte- Ich hoffe, ja. Dafür sprechen auch die vielen lang erfolglos bemüht, ein kirchenkritisches Anfragen, die wir von Journalisten, Studenten und Denken zu befördern. Wenn er jetzt sehen könnte, sogar Schülern erhalten. Dank fowid kann heute welchen Erfolg Sie haben, er wäre begeistert.“ niemand mehr bestreiten, dass es in Deutschland mehr konfessionsfreie Menschen als Katholiken 2005, ein Jahr nach der Gründung der gbs, hast oder Protestanten gibt. Dies hat sicherlich eine be- du ein zweites wichtiges Werk vorgelegt, näm- wusstseinsbildende Wirkung. Ohnehin meine ich, lich „Caritas und Diakonie in Deutschland“. dass sich unsere konsequente Orientierung an sau- Auf über 360 Seiten zeigst du darin auf, wie die ber recherchierten und ausgewerteten Daten sehr christlichen Sozialkonzerne nahezu jede Nische gelohnt hat. Denn: Harte Fakten sind überzeugen- des lukrativen Wohlfahrtspflege-Marktes der als bloße Meinungen – insbesondere, wenn man besetzt haben und wie rigoros sie diese Markt- (wie wir) das Ziel einer evidenzbasierten Weltsicht 2020 17
verfolgt! Zudem hat die fowid-Linie einer weitest (beispielsweise im Hinblick auf die Akzeptanz ethi- gehend wertneutralen Aufbereitung empirischer Daten scher Werte oder wissenschaftlicher Erklärungs- uns einigen Respekt und fachliche Anerkennung ver- modelle) als homogener erwiesen hat als etwa die schafft, was ja die entscheidende Währung innerhalb Gruppe der evangelischen Kirchenmitglieder … der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist. Das ist auch für mich eine wesentliche Feststellung, weil es zum einen Die jährlich aktuali- zeigt, dass man kein sierte fowid-Statis- Religionszugehörigkeiten in Deutschland „Brett vor dem Kopf“ tik zur Religions- Stand 31.12.2019 (in Prozent) haben muss, um ei- verteilung in ne Weltanschauung Deutschland wird zu haben, und zum stets mit besonde- 27 39 anderen, wie wenig rer Spannung er- Römisch- Konfessionsfreie / erfolgreich die Kir- Katholische ohne Religions- wartet. Interessant zugehörigkeit chen darin sind, ihre Kirche ist dabei, die aktuel- religiös begründeten len Zahlen in Rela Evangelische Moralvorstellungen tion zu den Größen- Kirche (EKD) überzeugend zu ver- verhältnissen in der 25 mitteln. Vergangenheit zu Sonstige Religiöse: 1 % setzen. Könntest du Quellen: DBK, EKD, REMID, Konfessionsgebundene Muslime: 5 % In den letzten 15 Sonstige Christen: 1 % den weltanschau BAMF, Statistisches Bundesamt sowie eigene Berechnungen Orthodoxe Christen: 2 % Jahren hat fowid lichen Trend der etwa 600 Analysen letzten Jahre bzw. zu empirischen Jahrzehnte kurz skizzieren? Studien veröffentlicht. Welche statistischen Zu- Ja, die „fowid-Torte“ ist zweifellos eines unserer sammenhänge erscheinen dir selbst als besonders Alleinstellungsmerkmale! Es ist gar nicht so einfach, wichtig, b emerkenswert oder skurril? Der Anteil diese Torte zu „backen“, aber mit vereinten Kräften und Mmh, da gibt es einige. Meine Lieblingsgrafik war internen kritischen Überprüfungen entsteht eine sach lange Zeit die Darstellung „Atheisten nach Religionszu- der Kirchen liche und begründete Erläuterung der Zahlenangaben gehörigkeit“, die zeigte, wie viele nominelle Katholiken zur Größe der einzelnen „Tortenstücke“. Ich nehme an, oder Protestanten nicht mehr an einen persönlichen mitglieder dass es mittlerweile kaum ein Schulbuch für den Reli Gott glauben. Ein weiterer meiner Favoriten trägt den gionsunterricht in Deutschland gibt, in dem diese Titel: „Heiratsanzeigen/Religion, 1953 – 1983“. Hier ha- verringert fowid-Grafik nicht abgedruckt ist. ben wir dargestellt, wie sich Kontaktsuchende selbst Der weltanschauliche Trend der vergangenen Jahr- beschreiben. War es 1953 und 1963 noch völlig ausrei- sich Jahr zehnte in Deutschland (und Westeuropa) ist seit den chend, wenn ein Mann formulierte: „Unternehmer, 1970/1980er Jahren sehr stabil: Der Anteil der Kirchen- wohlhabend, katholisch“, hatte sich das bereits 1983 für Jahr. mitglieder oder der sich selbst als „re- deutlich geändert. Auch für Frauen ligiös“ Verstehenden verringert sich spielt die Religion in der Selbst Jahr für Jahr. Entsprechend steigt der Anteil der Menschen, die mit religiö- „Herr Frerk, beschreibung keine Rolle mehr. Der Hinweis auf die eigene Religions sen Weltsichten nichts mehr anfan- da tun sich ja zugehörigkeit wirkt offenkundig gen können. In Deutschland ist es nicht mehr attraktiv auf dem Partner- mittlerweile so weit, dass das Sozial- Abgründe auf!“ suche-Markt. wissenschaftliche Institut der EKD in Bemerkenswert ist in diesem einer aktuellen Studie über die religiö- (Reaktion eines Zusammenhang auch das fowid- sen Einstellungen der jungen Erwach- Fernseh-Journalisten) Datenblatt „Weltanschauliche senen (d. h. der 19- bis 27-Jährigen) Homogenität bei Eheschließungen“. feststellte, dass nur noch eine Minder- Ich hatte eigentlich damit gerechnet, heit von 19 Prozent sich als „religiös“ versteht. dass vor allem Katholiken oder Muslime in der Partner- Das Fazit des Studienleiters lautet: „Es ist eine – viel- wahl gerne „unter sich“ bleiben. Dass ausgerechnet leicht die erste – wirklich postchristliche Generation. Konfessionsfreie dies in besonderem Maße tun, hat Gott ist weitgehend verschwunden.“ mich erstaunt. Offenkundig ist es konfessionsfreien Menschen wichtig, keine Religionsdiskussionen mit Ein etwas überraschendes Ergebnis der fowid- ihren Partnerinnen oder Partnern führen zu müssen Studien war, dass sich die relativ unorganisierte und ihre säkulare Haltung ungestört an die nächste Gruppe der Konfessionsfreien in vielen Fragen Generation weitergeben zu können. 18
PROFILE Die Gründung von fowid 2005 hat dich offenbar Mischung aus journalistischer Korrektheit und politi- nicht völlig ausgelastet: Schon im darauffolgenden scher Provokation, die neu war und viele interessierte. Jahr hattest du die Idee, einen Pressedienst für Ich selbst war auch des Öfteren im Fernsehen, bei- die säkulare Szene ins Leben zu rufen. Tatsächlich spielsweise in der Sondersendung der „phoenix-runde“ konnte der Humanistische Pressedienst (hpd), zur Papstwahl 2013 – u. a. mit Prälat Dr. Karl Jüsten, unterstützt von gbs und HVD, bereits im Oktober dem Chef-Lobbyisten der katholischen Kirche. In der 2006 an den Start gehen. Weshalb war dir die Grün- „Bauchbinde“, die unterhalb des Bildes Informationen Die Macht dung dieser neuen Online-Platt- zu den Personen gibt, stand bei mir: form so wichtig? Warst du unzu- „Carsten Frerk. Kirchenkritiker. der Kirchen frieden mit der Berichterstattung in den etablierten Medien? „Das hätte Humanistischer Pressedienst.“ So etwas schafft natürlich Reichweite. beruht Wenn ich mich recht erinnere, Honecker Der Erfolg des hpd in der Anfangszeit kam diese Idee gar nicht von mir, nicht erlaubt!“ war aber sicherlich auch darauf zu- auf ihrer sondern vorrangig von Horst rückzuführen, dass wir regelmäßig Groschopp (HVD) und Herbert Steffen (Kommentar eines Dresdners Informationen boten, die man sonst Deutungs (gbs). Meine fowid-Aufbauzeit und Zu- nirgendwo finden konnte. So gab es schuss-Finanzierung war damals zu zur Buskampagne 2009) früher eine große Rubrik „Säkulare hoheit Ende gegangen und die beiden hatten Welt“ mit übersetzten Verlinkungen sich überlegt, wie man meine Talente auf Ereignisse und säkulare Organi über Leben für die „säkulare Szene“ weiter erhalten könnte. sationen in der ganzen Welt, mit der der hpd die Da viele Organisationen bis dato kaum in den Medien „Fenster öffnete“ und Licht in das „schwarze Loch“ und Tod. vertreten waren, kamen sie auf die Idee eines noch zu der deutschen S äkularität brachte. entwickelnden Internetprotals, das nach einem Vor- schlag von Michael Schmidt-Salomon den Namen 2009 warst du neben deiner Frau, der Fotografin „Humanistischer Pressedienst (hpd)“ erhalten sollte. Evelin Frerk, sowie Philipp Möller und Peder Iblher Die Führungsspitzen von HVD und gbs haben damals einer der „Sieben Gottlosen“, die die aus England wohl erkannt, dass ich zwar faul sein kann, aber, stammende Idee der atheistischen Buskampagne wenn ich für eine Sache brenne, alles daran setze, aufgriffen. Nachdem sich die deutschen Verkehrs das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. betriebe geweigert hatten, Busse mit dem Slogan „Es gibt (mit an Sicherheit grenzender Wahr Du warst hpd-Chefredakteur von Anfang 2006 bis scheinlichkeit) keinen Gott“ fahren zu lassen, habt Ende 2013. Schon innerhalb kürzester Zeit avan- ihr kurzerhand einen Doppeldeckerbus gechartert cierte der hpd mit mehreren Millionen Seiten und eine Rundreise durch Deutschland organisiert, aufrufen im Jahr zum wichtigsten Medium der was einen großen Medienrummel ausgelöst hat. säkularen Szene im deutschsprachigen Raum. Du warst damals drei Wochen am Stück auf Achse. Wie ist dir das gelungen? Da war ich glücklicherweise nicht allein! Wir hatten ein gutes Team und konnten gleich zu Beginn mit exklusiven Informationen zu einer Story aufwarten, die Journalisten rund um den Globus inte- ressierte, nämlich die Gründung des welt- weit ersten „Zentralrats der Ex-Muslime“. Zudem war die gbs, vor allem Michael Schmidt-Salomon, ziemlich schnell in den Medien angekommen. So saß Michael im März 2007 in der SWR-Sendung „Querge- fragt“ u. a. mit Karl Kardinal Lehmann. In der 47. Minute, also bereits in der ‚Nach- spielzeit‘, erklärte der Kardinal mehrfach auf Nachfrage der verdutzten Moderatorin, dass er persönlich gar nicht an die Kirche glaube, sondern nur an Gott. Am nächs- ten Morgen titelte der hpd: „Kardinal Lehmann glaubt nicht an die Kirche“. Das war unsere besondere Qualität, eine „Gottlos glücklich!“: Carsten Frerk bei einem Interview zur ersten Buskampagne 2009 2020 19
Was waren deine eindrücklichsten Erfahrun- gen? Als wir mit unserer „Gottlos glücklich“-Buskam- pagne in München ankamen und sagten, wir wür- den den nächsten Tag übers Land fahren, wurden wir gewarnt: „Die Leute werden den Bus, im güns- tigsten Fall, mit Kuhscheiße bewerfen, oder aber mit Steinen!“ Unser mulmiges Gefühl löste sich aber schnell auf. Denn in allen großen Biergärten, an denen wir vorüberkamen, winkten uns die Menschen fröhlich zu, hoben die Hände mit dem Daumen nach oben und riefen: „Weitermachen!“ Ich erinnere mich auch an etwas skurrile Situa- tionen in Augsburg und Chemnitz, als sich an unse- rem Ankunftsort engagierte Christen mit Klampfen versammelten und laut und inbrünstig sangen: Die große Anti-Papst-Demo 2011 in Berlin, u. a. geplant in der „guten Stube“ von Carsten und Evelin Frerk „Eine feste Burg ist unser Gott!“ Seltsame Dinge passierten auch in Dresden: Zunächst sprang ein Mann vor den Bus und schrie: „Das hätte Honecker nicht erlaubt!“ Dann fragte mich eine Frau: „Sündi- und Arbeiten. Und so hat unser Homeoffice 145 m2 gen Sie?“ Als ich „Nein“ antwortete, schnaufte sie: (inkl. Gästezimmer) und liegt in der Mitte von „Oh, ich sündige täglich! Ich werde Sie in meine Berlin-Mitte. Da sich hier die Nord-Süd-Linie und Gebete einschließen.“ Den „gottlosen Osten“ hatte die West-Ost-Linie der Berliner U-Bahn kreuzen, ich mir anders vorgestellt. sind wir leicht zu erreichen. Außerdem ist man von Am meisten beeindruckt hat mich eine ältere hier auch schnell zu Fuß an den Orten, an denen in Dame in Münster. Sie blieb mit ihren kleinen wei- der Vergangenheit wichtige Aktionen und Events ßen Ringellöckchen und ihrer feinen Halskrause Die Sterbehilfe- der gbs stattgefunden haben, etwa am Brandenbur- am Kleid am Bus stehen und las sich den ziemlich ger Tor, dem Potsdamer Platz oder dem Reichstags langen Leitspruch „Es gibt (mit an Sicherheit gren- Debatte zeigte, gebäude. Bei manchen Gelegenheiten, etwa bei der zender Wahrscheinlichkeit) keinen Gott“ zweimal ersten Sitzung zur Planung der Anti-Papst-Demo ruhig durch. Dann klemmte sie ihren Karton mit dass die 2011, haben wir hier an unserem großen runden bunten Gartenblumen fest unter ihren Arm, schritt Tisch, der sich fünffach ausziehen lässt, rund beherzt zur Fahrertür und sagte zu Björn, unserem Kirchen 30 Gäste empfangen – und niemand hat sich Fahrer, mit klarer Stimme: „Das wird ja nun auch beschwert. endlich mal Zeit, dass Sie in diese Stadt kommen! noch immer Dieses elende, schwarze Kaff!“ Flugs drehte sie sich 2010 hast du mit dem „Violettbuch Kirchen um und ging ihres Weges. Ich war verblüfft und politische finanzen“ ein weiteres wichtiges Werk vorge- begeistert zugleich. legt, das von der gbs im Rahmen der KORSO- Mehrheiten Kampagne zur Ablösung der Staatsleistungen Eure Wohnung in Berlin-Mitte, in der heute an die Kirchen an mehr als 1.000 politische Ent- noch das fowid-Büro beheimatet ist, war stets organisieren scheidungsträger und Journalisten verschickt ein Ort, an dem viele Menschen zusammenka- wurde. So richtig in die Schlagzeilen geriet das men und an dem auch spektakuläre Aktionen können – Buch allerdings erst drei Jahre später – dank geplant wurden. 2010 trafen sich bei euch der Schützenhilfe eines gewissen Limburger beispielsweise die Organisatoren des großen selbst gegen Bischofs … Heimkinderprotestes („Jetzt reden wir!“). Im Oktober 2013 stand das Telefon nicht mehr Und 2011 wurde u. a. in eurem Wohnzimmer das eindeutige still. Alle Medien in Deutschland – von der FAZ bis die große Anti-Papst-Demo „Keine Macht den zur BILD – hatten sich auf den „Protz-Bischof“ ein- Dogmen“ geplant, der am Ende 15.000 Men- Votum der geschossen. Wer etwas Tiefgründigeres schreiben schen folgen sollten. Da war wohl einiges los wollte, als dass Herr Tebartz van Elst offenkundig in der Leipziger Straße … Bevölkerung einen Hang zu exklusiveren Badewanne-Modellen Wir können nicht darüber klagen, dass es bei hat, brauchte solide Informationen zu Kirchen uns zu ruhig wäre. Als wir 2009 von Hamburg nach finanzen. Meine Recherchen und das Buch waren Berlin zogen, meinte Herbert Steffen, dass wir nicht da die einzige Oase in der Wüste. So kam es, dass ich zwei Objekte anmieten sollten, also Wohnung plus an einem Abend nacheinander sowohl in der Tages- Büro, sondern eine größere Einheit zum Wohnen schau als auch im heute-journal zu sehen war. 20
PROFILE Nach dem Ende deiner Arbeit für den Humanisti- für die Strafbarkeit der „geschäftsmäßigen“ Freitod schen Pressedienst hast du dich intensiv mit den begleitung im Bundestag zu bekommen. Die Sterbe Strategien christlicher Lobbyisten beschäftigt. hilfe-Debatte zeigte, dass die Kirchen im parlamentari- Zentrale Aussagen deiner rund 1.500-seitigen (!) schen Raum noch immer politische Mehrheiten orga- ZUM WEITERLESEN: Lobbyismus-Studie hast du 2015 in dem Buch nisieren können – selbst gegen das eindeutige Votum „Kirchenrepublik Deutschland“ veröffentlicht. der Bevölkerung. Carsten Frerk Im gleichen Jahr hat der Deutsche Bundestag das sogenannte „Sterbehilfeverhinderungsgesetz“ In „Kirchenrepublik Deutschland“ hast du den § 217 StGB verabschiedet. Du hast damals mit Blick Begriff „Gottesfraktion“ geprägt, um jene Gruppe Kirchenrepublik Deutschland auf dieses Gesetz von einem „Musterbeispiel für von Bundestagsabgeordneten zu charakterisieren, Christlicher Lobbyismus. christlichen Lobbyismus“ gesprochen. Könntest die parteiübergreifend im Sinne von Kirchen Eine Annäherung du das erläutern? interessen agieren. 2015, als du das Buch vorgelegt Alibri 2015 Dies im Detail zu erläutern, würde den Rahmen hast, war es sehr deutlich, dass die Kirchennähe dieses Interviews sprengen. Daher in aller Kürze: Die der Abgeordneten keineswegs die Haltungen der Macht der Kirchen, vor allem der katholischen Kirche, Menschen widerspiegelt, welche die Abgeordneten beruht nicht nur auf ihren staatlichen Privilegien, son- im Parlament vertreten sollen. Hat sich der Anteil dern vor allem auch auf ihrer Deutungshoheit gegen- der Gottesfraktion seither verändert? Repräsen- über ihren Gläubigen über Leben und Tod, d. h. über tiert der Bundestag heute eher die Pluralität der Sexualität und Geburt sowie über das Sterben. Doch mit Wertehaltungen in der deutschen Bevölkerung? der real existierenden Fristenlösung zum Schwanger- Mit Verlaub, der Begriff „Gottesfraktion“ stammt schaftsabbruch haben die Kirchen ihren Einfluss auf nicht von mir, sondern von der Journalistin Claudia Sexualität und Zeugung weitgehend verloren – auch Keller, aber der Sachverhalt ist damit richtig beschrie wenn die aktuellen Bestrebungen zum Verbot der sog. ben. Leider liegen mir zu diesem Thema keine neueren „Werbung für den Schwangerschaftsabbruch“ noch Untersuchungen vor. Ich habe zwar den Eindruck, dass Violettbuch Kirchenfinanzen eine andere Sprache sprechen. jüngere Parlamentarier eher dem säkularen Trend in- Wie der Staat Im Zuge der Diskussionen über das „Recht auf Letz- nerhalb der Bevölkerung folgen, aber das stützt sich nur die Kirchen finanziert te Hilfe“ drohte ihnen 2015, auch noch die Macht und auf einzelne, anekdotische Beobachtungen. Insgesamt Alibri 2010 damit die Angst der Menschen vor Sterben und Tod zu hoffe ich jedoch darauf, dass das Urteil des Bundesver- entgleiten. Entsprechend energisch haben sie reagiert. fassungsgerichts zur Sterbehilfe, das in seiner Eindeu- Mit allen Winkelzügen des christlichen Lobbyismus – tigkeit nicht zu übertreffen ist und die uneingeschränk- der Zusammenarbeit von Politikern mit dem Klerus, te Selbstbestimmung des Einzelnen zur Basis seiner den kirchlichen Lobby-Büros und weiteren religiös ge- Menschenwürde erklärt hat, einige Abgeordnete zum prägten Organisationen wie der „Deutschen Stiftung Nachdenken gebracht hat. Patientenschutz“ – ist es ihnen gelungen, eine Mehrheit Eine letzte Frage: Vor wenigen Wochen hast du auf fowid.de eine ungewöhnlich ausführliche Analyse des islamischen Lobbyismus veröffentlicht. Ist dies ein Thema, mit dem du dich – nach den vielen Veröffentlichungen zu den christlichen Kirchen in Caritas und Diakonie in den letzten Jahren – in Zukunft intensiver beschäf- Deutschland tigen willst? Alibri 2005 Das kann ich noch nicht sagen. Aktuell investiere ich ziemlich viel Zeit in diese Thematik, aber die nächs- ten Monate werden zeigen, was sich daraus entwickelt. Angedacht ist zum Beispiel ein Internetportal unter der Domain politischer-islam.de. Aber wenn man in meinem Alter – ich werde in d iesem Jahr ja immerhin 75! – ein neues Projekt b eginnt, muss man sich fragen, ob und wie es später weitergeführt werden kann. Dies ist nicht allein meine Entscheidung. Erfreulicherweise gab es dazu vonseiten der gbs bereits positive Rückmeldungen. Vielleicht sprechen wir in fünf Jahren noch einmal darüber. Dann wissen wir Website: Genaueres. carstenfrerk.de Lieber Carsten, herzlichen Dank für das Gespräch! fowid.de 2020 21
Sie können auch lesen