Fühle deine Stadt. Mainz - Go West - 25 Jahre Mauerfall Die Seherin auS GonSenheim - sensor Magazin

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Fühle deine Stadt. Mainz.

November 2014 Nr.46

G o W e s t – 25 J a h r e M au e r fa l l Die Seherin aus Gonsenheim
Filme & Events Harald Martenstein Neue Flüchtlinge für Mainz
Fühle deine Stadt. Mainz - Go West - 25 Jahre Mauerfall Die Seherin auS GonSenheim - sensor Magazin
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                        Editorial
Liebe Leser,                               hatten aber Bananen... Auch für viele      Zahlen werden 2015/16 voraussicht-          und vor allem mehr Geld für die Ver-
am 9. November feiern wir 25 Jahre         andere „Ossis“ währte die anfängliche      lich nicht abnehmen. Nach einem be-         sorgung & Co. Doch will ich hier nicht
Mauerfall! Ist das schon wieder lange      Freude nur kurz. Die „Rettung“ aus         stimmten Schlüssel werden die Men-          zu viel verraten. Lesen Sie selbst mehr
her... Noch ein Jahr vorher, 1988,         den „Klauen“ des Sozialismus und der       schen hier auf Städte und Gemeinden         über diese Problematik ein paar Seiten
ahnte niemand etwas davon. Und da          Ausverkauf der DDR schubste nicht          verteilt. Nach Mainz kamen dieses           weiter. Und wie immer halten wir
saß ich im Zug gen Westen, zusam-          wenige ins Abseits – noch heute sind       Jahr 500 Personen, nächstes Jahr sol-       noch viele weitere schöne und auch
men mit meinen Eltern und meiner           Auswirkungen spürbar, siehe Lohnge-        len es 600 sein. Klingt nicht viel, hat     weniger tragische Themen parat, unter
Schwester – unser Ausreiseantrag           fälle, Abwanderung, Arbeitslosen-          aber doch einige Konsequenzen. So-          anderem die Dramedy um den Main-
war genehmigt worden. Flugs also           quote etc. So hat jede Geschichte ihre     zialdezernent Kurt Merkator machte          zer Weihnachtsmarkt, der dieses Jahr
packten wir sämtlichen Besitz zusam-       zwei Seiten und von daher: Nicht al-       vor einem Monat deutlich: „Wir wol-         fast ausgefallen wäre, ein Interview
men, verhökerten unser Haus und ab         les im Osten war schlecht und nicht        len die Menschen menschenwürdig             mit dem unartigen zeit-Kolumnisten
ging es ins gelobte Land... Uns Kinder     alles, was aus dem Westen kam, war         unterbringen und versorgen und wir          Harald Martenstein und vieles vieles
hatte dabei keiner wirklich gefragt.       nur gut. In unserer aktuellen Titelge-     wollen sie gut in unsere Gesellschaft       mehr. Viel Spaß also wieder beim
Und wir haben das Theater auch gar         schichte greifen wir das Thema auf         integrieren.“ Fromme Worte, doch            Schmökern!
nicht verstanden. War doch alles ok        und berichten von drei spektakulären       nicht ganz unproblematisch. Zum ei-
im „Unrechtsstaat“ – zumindest aus         Schicksalen, die versucht haben, aus       nen ist das Thema Integration ein                                         David Gutsche
Kindersicht. Und hätten meine Eltern       der DDR zu flüchten.                       heißes und zweischneidiges Eisen,                                        sensor-Asylant
damals gewusst, dass ein Jahr später       Flucht und Flüchtlinge sind auch           zum anderen hat Mainz ein Wohn-
schon die Mauer fallen würde, hätten       heute wieder ein großes Thema, welt-       raum-Problem und ist nicht mittler-
wir uns diesen ganzen Stress auch
sparen können: die Verlockung von
                                           weit und natürlich auch hier bei uns
                                           in Mainz. Derzeit befinden sich global
                                                                                      weile die siebtteuerste Stadt Deutsch-
                                                                                      lands, was Mietpreise angeht. Alleine
                                                                                                                                                        Impressum
Freiheit, vollen Supermärkten und          50 Mio. Menschen auf der Flucht –          zusammenrücken bringt also nicht
Geld, das angeblich auf der Straße         16,7 Mio. von ihnen gelten nach völ-       viel, auch wenn es erst einmal poli-        Verlag GLM
                                                                                                                                  Gesellschaft für lokale Medien mbH
liegt. Die Realität war ernüchternd:       kerrechtlicher Definition als Flücht-      tisch korrekt alle geloben. Menschen-
                                                                                                                                  Vertretungsberechtigter Geschäftsführer:
Wir sind gekommen voller Erwartun-         linge. Die meisten kommen aus Af-          würdig? Taten, also ordentliche Im-         Bernd Koslowski, Veronika Madkour,
gen und waren stattdessen Flüchtlin-       ghanistan (2,5 Mio.), Syrien (2,4 Mio.)    mobilien müssen her, zum Beispiel           Dr. Hans-Paul Kaus
ge im eigenen Land – erst einmal im        und Somalia (1 Mio.). Seit dem Ende        die Kasernen in Hechtsheim hat die          Erich-Dombrowski-Str. 2 | 55127 Mainz
Flüchtlingsheim untergebracht, da-         des 2. Weltkrieges hat Europa nicht        Stadt im Auge. Doch die gehören dem         (zugleich Anschrift der V.i.S.d.P.)
                                           mehr solche Flüchtlingszahlen erlebt.                                                  Eine Tochtergesellschaft der
nach sehr langsam wieder eine kom-                                                    Bund und da mahlen die Mühlen
                                                                                                                                  Verlagsgruppe Rhein Main (VRM)
plett neue Existenz aufbauend. Unse-       Deutschland nimmt viele Asyl-Su-           langsam. So ist die Stadtverwaltung
re Mode war Deichmann, unsere Nah-         chende auf, mit am meisten in Euro-        derzeit verzweifelt auf der Suche           Redaktions- & Anzeigenleitung
rung Aldi. Wir waren „Prekariat“,          pa, etwa 230 Tsd. Menschen – und die       nach neuen Unterkünften, Helfern            David Gutsche (Verantwortlich i.S.d.P.)
                                                                                                                                  Tel: 06131/484 171
                                                                                                                                  Fax: 06131/484 166
                                                                                                                                  www.sensor-magazin.de
                                                                                                                                  hallo@sensor-magazin.de

                                                                                                                                  Mediaberatung Thomas Schneider
                                                                                                                                  Tel: 06131/484 153
                                                                                                                                  anzeigen@sensor-magazin.de

                                                                                                                                  Art-Direktorin Miriam Migliazzi

                                                                                                                                  Titelbild dainz.net

                                                                                                                                  Mitarbeiter dieser Ausgabe
                                                                                                                                  Andreas Coerper, Dorothea Rector, Dr. Treznok,
                                                                                                                                  Elisa Biscotti, Felix Monsees, Florian Barz,
                                                                                                                                  Frauke Bönsch, Ines Schneider, Jana Kay,
                                                                                                                                  Jonas Otte, Julius Braun, Katharina Dubno,
                                                                                                                                  Kerstin Seitz, Lichi, Mara Braun, Monica Bege,
                                   ((( 6                                     ((( 14                                      ((( 34   Nina Wansart, Sascha Kopp, Thomas Schnei-
                                                                                                                                  der, Ulla Grall, Repro / ISDN Team u.v.m.

                                                                                                                                  Termine

                                                                                                                 Inhalt           termine@sensor-magazin.de
                                                                                                                                  tippsundtermine@vrm.de

                                                                                                                                  Verteilung
6 )))    Go West – 25 Jahre Mauerfall       32 )))   Das 2x5 Interview mit                                                        Arenz GmbH & Co. KG
                                                                                                                                  kostenlose Auslage in Mainz Innenstadt und
9 )))  O (weh) du fröhliche                          Harald Martenstein                                                           Vororten an über 1.000 Auslageplätzen |
       Zoff beim Weihnachtsmarkt                                                                                                  Gesamtauflage 40.000 Exemplare
                                            34 )))   So Wohnt Mainz
                                                                                                                                  (20.000 Mainz / 20.000 Wiesbaden)
12 ))) Der große Test – Frische Pasta                Lieben Altes
                                                                                                                                  sensor Abonnement
14 )))   Die Seherin aus Gonsenheim         36 )))   Horoskop und                                                                 www.sensor-magazin.de/abo
16 )))   Neue Flüchtlinge für Mainz                  der Bruno des Monats                                                         www.sensor-wiesbaden.de/abo

18 )))   Filmfestivals im Winter            37 )))   Restaurant Tipp                                                              Druck
                                                                                                                                  Druckzentrum Rhein Main GmbH & Co. KG
20 )))   Veranstaltungskalender und 		               Das Bergschön                                                                Alexander-Fleming-Ring 2
         die Perlen des Monats              38 )))   Kleinanzeigen, Leserbriefe                                                   65428 Rüsselsheim

                                                     und das Orts-Rätsel
Fühle deine Stadt. Mainz - Go West - 25 Jahre Mauerfall Die Seherin auS GonSenheim - sensor Magazin
4                                             sensor 11/14                                                                                                                                                                                                                                            sensor 11/14                                             5
    Quatsch & Tratsch                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           Kolumne

                                                                                                                            @    Schicken Sie Ihre Neuigkeiten
                                                                                   Quatsch & Tratsch                             an hallo@sensor-magazin.de                                                                                   Tobias Preiß                     facebook.com/sensor.mag
                                                                                                                                                                                                                                                                               twitter @ sensormagazin

                                                                                                         MVG Rad-                                Luups 2.0
                                                                                                                                                                                                                                        Vater von Suna (4 Jahre)                                           Dr. Treznok
                                                                                                         preiserhöhung                           Der LUUPS La-                                                                                                                      erinnert sich an den Mauerfall
                                                                                                         Das Mainzer                             den ist umgezo-
        Unser Saisonales Gericht                                                                         Fahrradmiet-                            gen, von der                                                                                                             25 Jahre ist es nun her, dass der anti-    weil es dieses Deutschland in diesen
                                                                                                         system „MVG-                            Osteinstraße ins                                                                                                         imperialistische Schutzwall gefallen       Grenzen noch nie zuvor gegeben hat-
        Frische Muscheln aus Galizien                                                                    meinRad“ ist                            Herz der Neu-                                                                                                            ist und das real existierende sozialis-    te. Im Westen sprach man von der
        in Vino Bianco oder Pomodoro Sauce                                         bei den Nutzerzahlen weiter auf der      stadt in den ehem. „natürlich“-Biola-                                                                                                         tische Deutschland vom westlichen          Wiedervereinigung Deutschlands mit
                                                                                   Überholspur: Bis Anfang Oktober          den (Leibnizstraße 22). Geschenke,                                                                                                            Imperialismus eingenommen wurde.           der DDR, womit klar war, dass man die
        12,50€                                                                     registrierte die Mainzer Verkehrsge-     Designartikel, Kunst und die Luups-                                                                                                           Die halbe DDR pilgerte in den golde-       DDR nicht als deutsch wahrgenommen
                                                                                   sellschaft (MVG) rund 340.000            Gutscheinbücher wird es dort geben                                                                                                            nen Westen, um 100 D-Mark Begrü-           hatte. Kein Wunder, dass die Magde-
                                                                                   Fahrten in 2014. Wirtschaftlich ist      – darüber hinaus lokale Getränke und                                                                                                          ßungsgeld zu kassieren und davon           burger Glatzköpfe sich auf ihr Deutsch-
        Frische Pasta für Zuhause zum fertig Kochen!                                                                                                                                                                                                                                                                 Sein besannen und nun deutscher sein
                                                                                   das System aber noch nicht am Ziel:      „Feinkost“ sowie Veranstaltungen:                                                                                                             unendlich viele der begehrten West-
                                                                                   Deshalb werden die Tarife zum 1.         kleine Konzerte, Talks, Workshops                                                                                                             Waren einzukaufen. Endlich war             wollten als die krassesten Nazis im
        Rigatoni und Spaghetti                               100g          0,80€
                                                                                   Januar „angepasst“.                      und mehr. Wir verlosen drei Luups                                                                                                             man nicht mehr darauf angewiesen,          Westen.
        Bandnudeln, z.B. Fettuccine                          100g       ab 0,80€                                                                                                                                                                                                                                     Erstmal aber waren alle glücklich. Fa-
                                                                                                                            Mainz Bücher unter losi@sensor-                                                                                                               Leute zu kennen die Leute kennen
        Gefärbte Bandnudeln                                  100g       ab 1,20€                                            magazin.de, Betreff: Luups.                                                                                                                   die West-Kontakte hatten, um für ein       milien, die sich jahrzehntelang nur in
        z.B. Fettuccine Nero di Sepia                                                                                                                                                                                                                                                                                Ungarn am Plattensee getroffen hat-
                                                                                                                                                                                                                                                                          paar eingetauschte West-Mark im
        Gefüllte Pasta z.B. Tortelloni                       100g       ab 2,50€                                            Leerstände melden                                                                                                                             Intershop Sachen zu kaufen, die es in      ten, konnten sich endlich wieder ge-
        Füllungen: Spinat-Ricotta, Tomatenpesto mit Scamorza-Käse,                                                          Auf leerstandsmelder.de/mainz kann                                                                                                            der DDR auch gab, die aber nicht so        meinsam auf deutschem Boden an-
        Kalbsfleisch mit Pancetta-Speck, Frischkäse mit Lachs oder eine                                                     jeder Leerstände in der Stadt melden.                                                                                                         hübsch bunt verpackt waren.                öden. Man konnte Ananas-Konserven
        unserer Saisonalen Kreationen wie die Trüffel-Füllung.                     Verrückte Küche                          Die Betreiber versuchen dann, neue                                                                                                            Für viele Leute blieb diese Pilgerreise    leer löffeln bis zum Erbrechen, und
                                                                                   Handkäscreme mit Kreuzkümmel,            Lösungen dafür zu finden. Ein neuer                                                                                                           in den Westen die einzige Reise. End-      sich mit den Schrott-Autos aus dem
        Wir freuen uns auf Ihren Besuch!                                           rote Beete mit Wasabi? Bei Brits         Schritt hin zu mehr Transparenz be-                                                                                                           lich in der freien Marktwirtschaft an-     Westen im Vollsuff den Rest geben, da
                                                                                   „KWISIN“ (siehe Seite 2) gibt es         züglich Leerständen auf dem städti-                                                                                                           gekommen, verloren sie ihre Arbeit         sich in den ersten Monaten niemand
        Holzstr. 1 / Ecke Augustinerstraße
        55116 Mainz-Altstadt                                                       außergewöhnliche Brotaufstriche          schen Immobilienmarkt.                                                                                                                        und hatten nie wieder die finanziellen     um die Verkehrssicherheit scherte. Es
        So. – Do.: 11.30 – 23.30 Uhr                                               mit starkem Mainz-Bezug. Dazu                                                                                                                                                          Möglichkeiten, Köthen oder Wernige-        war ein rauschendes Fest, das zusam-
        Freitag:   11.30 – 24.00 Uhr                                Find us on     hausgebackene Kuchen aus Opas                           Entega senkt Strom-                                                                                                            rode zu verlassen. Arbeitslose Ju-         men mit Mickey Maus, Meister Prop-
        Samstag: 11.30 – 24.00 Uhr                                  Facebook       Rezeptbuch, Vintage-Ambiente und                        preise                                                                                                                         gendliche im Magdeburger Platten-          per und dem Marlboro-Mann dem De-
        www.da-vito-mainz.de
                                                                                   natürlich das Meenzer Gourmeed-                         Die Entega senkt die                                                                                                           bau-Ghetto hatten kein Geld mehr für       lirium entgegen strebte. Der Unrechts-
                                                                                   sche herself: Brit. Mitte November                      Strompreise zum 1. Ja-                                                                                                         den Friseur, rasierten sich die Köpfe      Staat DDR war Geschichte, und Helmut
                                                                                   geht es los in der Rheinallee 26,                       nuar. Je nach Tarif spa-                                                                                                       kahl und machten auf Skin-Head, ein        Kohl erschien als Lichtgestalt am dop-
                                                                                   facebook.com/britskwisin.                ren Kunden bis zu fünf Prozent. „Die                                                                                                          Wort, das sie im Russisch-Unterricht       peldeutschen Himmel.
                                                                                                                            Strompreise sind in den letzten Mo-                                                                                                           noch nicht gelernt hatten.                 Die jüngeren Leute wissen heute nichts
                                                                                                        Stadtumbau /        naten deutlich gefallen. Von unseren                                                                                                          Die Zeit nach dem Mauerfall roch           mehr von den beglückenden Ereignis-
                                                                                                        Zollhafen           niedrigeren Einkaufskosten sollen                                                                                                             nach Anarchie. Die staatliche Über-        sen, die sich 1989 zugetragen haben.
                                                                                                        Der Ausverkauf      unsere Kunden profitieren“, sagt die                                                                                                          wachung vorbei, die Polizei wurde          Die Trabbis sind längst aus den Stra-
                                                                                                        geht      weiter:   HSE-Vorstandsvorsitzende Dr. Wolff-                                                                                                           nicht mehr ernst genommen, überall         ßengräben verschwunden, der Ge-
                                                                                                        Scheibchenwei-      Hertwig. Bereits zum 1. November                                                                                                              wurden Getränkemärkte eröffnet und         stank der Chemiewerke zwischen Halle
                                                                                                        se wird der Zoll-   sinken die Erdgaspreise um bis zu                                                                                                             die Ostdeutschen begaben sich in den       und Bitterfeld ist einer arbeits- und
                                                                                   hafen verhökert. Ganze 11 Stock-         sieben Prozent. Jeder Kunde erhält                                                                                                            Dauerrausch mit Alkohol und schrott-       perspektivlosen Gesellschaft gewi-
                                                                                   werke sollen bald an der Spitze des      eine schriftliche Mitteilung.                                                                                                                 reifen West-Autos. Stillgelegte Trab-      chen, und die unendlich vielen Ge-
                                                                                   Hafenbeckens entstehen. Das Gebäu-                                                                                                                                                     bis säumten die Autobahnen, zur Ar-        tränkemärkte und Würstchenbuden,
                                                                                   deensemble besteht aus zwei Teilen,      Landtag zieht ins Landesmuseum                                                                                                                beit ging man nur noch, wenn man           die kurz nach der Wende wie Pilze aus
                                                                                   dem Hochhaus (Foto) und einem            Der Landtag wird saniert. Solange                                                                                                             im öffentlichen Dienst war, und in         dem Boden sprossen, haben einer ge-
                                                                                   fünfstöckigen zweiten Bau. OB Eb-        zieht der Plenarsaal ab Herbst 2015                                                                                                           diesem Dauerrausch des nun Wirk-           samtgesellschaftlichen Ernüchterung
                                                                                   ling freut sich auf das neue „Ausru-     zunächst für einige Monate in den                                                                                                             lichkeit gewordenen Werbefernse-           Platz gemacht. Ganze Landstriche sind
                                                                                   fezeichen“ im Zollhafen – u.a., weil     Ratssaal der Stadt. Anschließend soll                                                                                                         hens bekamen die meisten Bürger gar        verwaist, weil nach der Wende mehr
                                                                                   das Gebäude für Gesprächsstoff sor-      das Parlament für etwa 2,5 Jahre in                                           Habt ihr gerade das letzte Eis des Jahres gegessen?                                                        Menschen in den Westen geflüchtet
                                                                                                                                                                                                                                                                          nicht mit, wie sie innerhalb kurzer
                                                                                   gen wird. Auch die Bauarbeiten zum       der Steinhalle des Landesmuseums                                              Ich glaube nicht. Solange wir hier nochn N`Eis bekommen                                                    sind als vor dem Mauerbau.
                                                                                                                                                                                                                                                                          Zeit abgezockt und ausverkauft wur-
                                                                                   Rheinkai-Gebäude haben begonnen.         unterkommen. Dafür wird die Stein-                                            werden wir auch später naschen. Bei 10 bis 12 Grad kann                                                    Doch auch wenn die Chance auf ein
                                                                                                                                                                                                                                                                          den.
                                                                                   Anfang 2016 sollen die ersten Be-        halle umgebaut und modernisiert.                                              man noch Eis essen. Ansonsten gibt’s Schokolade oder                                                       besseres Deutschland leichtfertig ver-
                                                                                                                                                                                                                                                                          Dass die Wohnungsmieten von 20
                                                                                   wohner einziehen. Und auch auf dem       Kostet nur ein paar Millionen alles.                                          Schokopudding… Und wenn es an Weihnachten wieder 17                                                        tan wurde, weil ein halbes Deutsch-
                                                                                                                                                                                                                                                                          Ost-Mark auf 200 D-Mark steigen
                                                                                   Molenkopf Süd, wo die Firma Bouw-                                                                                      Grad hat, schmeckt sogar das Eis.                                                                          land vor 25 Jahren ins Delirium der
                                                                                                                                                                                                                                                                          würden, dass eine Busfahrkarte nicht
                                                                                   fonds vier ovale Wohngebäude er-                             Mehr Nachtbusse                                                                                                           mehr 20 Pfennig, sondern 2 D-Mark          freiheitlich-westlichen Verlockungen
                                                                                   richten will, soll es bald losgehen.                         Mainz bekommt                                             Suna, welche Vorlesetipps hast Du für Weihnachten?                                                         und der bunten Schokoriegel-Verpa-
                        T. 06131. 61 97 950                                                                                                                                                                                                                               kosten würde, das war vor 25 Jahren
                                                                                   150 Wohnungen zwischen 60 und                                ab November ei-                                           Der kleine Drache Kokosnuss. Der kommt im Dezember                                                         ckungen gefallen ist, so gibt es doch
                                                                                                                                                                                                                                                                          noch nicht absehbar. Eigentlich hätte
                                                                                   200 Quadratmetern Größe entstehen                            nen neuen Nacht-                                          auch ins Kino.                                                                                             gute Gründe, der DDR nicht hinterher
                                                                                                                                                                                                                                                                          man es ahnen können, aber die bunte
                                                                                                                                                                      Interview & Foto: Andreas Coerper

                                                                                   dort, zum Quadratmeterpreis zwi-         busfahrplan. Neu ist vor allem eine                                                                                                           Warenwelt des Westens und die Ver-         zu weinen. Zu viele Menschen sind an
                                                                                   schen 4.500 und 5.000 Euro. Außer-       gut merkbare Abfahrtzeit immer zur                                            Würdet ihr gerne noch was zu Mainz los werden?                                                             den Grenzzäunen erschossen worden,
                                                                                                                                                                                                                                                                          lockung der Plakate in den Reisebü-
                                                                                   dem wurden kürzlich zwei weitere         vollen Stunde ab dem HBF: in den                                              Mainz, Mainz, Mainz … an sich eine schöne, angenehme                                                       zu menschenverachtend war die pseu-
                                                                                                                                                                                                                                                                          ros vernebelte den DDR-Bürgern die
                                                                                   große Baufelder an der Rheinallee        Nächten Mo-Fr um 0 und 1 Uhr, am                                              Stadt. Sehr überschaubar. Mir fehlt ein vielfältigeres An-                                                 do-sozialistische     Gleichschaltung.
                                                                                                                                                                                                                                                                          Sinne. Es bemerkte auch niemand,
                                                                                   verkauft. Auf beiden Feldern finden      Wochenende von 1 bis 6 Uhr (sonn-                                             gebot, was das Ausgehen abends betrifft. Das KUZ, bei dem                                                  Und Geschichte ist Geschichte. Den
                                                                                                                                                                                                                                                                          dass die angestrebte Wiedervereini-
                                                                                   sich 310 Wohnungen, aber auch eine       tags bis 8 Uhr). Dazu kommen verän-                                           nicht klar ist wie es weiter geht, ob Ende des Jahres Schluss                                              vergebenen Chancen nachzutrauern
                                                                                                                                                                                                                                                                          gung gar kein wiedervereinigtes
                                                                                   Kita und Einzelhandel.                   derte Linienführungen.                                                        ist, oder was passiert. Es fehlt etwas Neues, Spannendes.                                                  nützt nun auch nichts mehr.
                                                                                                                                                                                                                                                                          Deutschland hervorbringen konnte,
Fühle deine Stadt. Mainz - Go West - 25 Jahre Mauerfall Die Seherin auS GonSenheim - sensor Magazin
6   sensor 11/14                                                                                                                             sensor 11/14                                        7
                                                                                                                                                                                     DDR / BRD

                   Go West
                                                                     Als Zweijähriger auf der Flucht               Konspirative Begegnungen
                                                                     „Oh ja, Mama, Lastauto fahren“, be-           Die Mutter hatte einen Cousin in Bonn, er stellte den Kontakt zu ei-
                                                                     geisterte sich der zweijährige Junge. Er      ner Fluchthilfeorganisation her. Alles lief über eine Kette von Mit-
                                                                     kauerte mit seinen Eltern im Dickicht.        telsmännern, Namen wurden nie ausgetauscht. Auf beiden Seiten
                                                                     Ihre schwarzgemalten Gesichter ver-           war man extrem vorsichtig. Das DDR-Regime arbeitete konzentriert
                    25 Jahre nach dem Mauerfall                      schmolzen mit der dunklen Nacht. Die          an der Infiltration und Zerschlagung derartiger Organisationen und
                    blicken drei Ex-DDRler in Mainz                  nächsten Stunden würden über die Zu-          bei Verhören war die Stasi nicht zimperlich.
                                                                     kunft von Martin Leutke und seinen            In den folgenden eineinhalb Jahren baute man während konspira-
                     und Wiesbaden auf ihr Leben                     Eltern entscheiden - die Flucht aus der       tiver Treffen gegenseitiges Vertrauen auf. „Wie in einem schlechten
                      zurück. Sie berichten von                      ihnen unerträglich gewordenen DDR             Film gab es Erkennungszeichen - mal eine gelbe Krawatte, mal
                                                                     stand bevor.                                  eine unter den Arm geklemmte Zeitung“, weiß Leutke aus Erzäh-
                        Bevormundung, Lügen, Stasi-                                                                lungen seiner Eltern. Am 22. August 1976 schließlich überbrachte
                         Überwachung und der                         Generationenübergreifende Schikanen           eine Mittelsfrau im Ostberliner Café „Unter den Linden“ die Nach-
                                                                     Auf dem Weg zum Kommunismus pro-              richt, die Familie solle sich in der übernächsten Nacht an einem
                          Sehnsucht nach Freiheit.                   pagierte die DDR-Staatsführung ein            bestimmten Kilometerstein im Unterholz an der von der Stasi über-
                                                                     atheistisches Weltbild. Kirchen galten        wachten Transitstrecke Nürnberg-Berlin verstecken. Zwischen Mit-
                            Text Monica Bege Fotos Katharina Dubno   als Zentren des Widerstandes. Martins         ternacht und ein Uhr käme ein Lieferwagen. Nach einem vereinbar-
                                                                     Großvater stellte als Pfarrer aus Sicht der   ten Erkennungsdialog wäre allen Anweisungen unbedingt Folge zu
                                                                     DDR-Führung einen ideologischen Geg-          leisten. „Die kurze Vorlaufzeit überraschte meine Eltern“, erzählt
                                                                     ner dar. Stasi-Mitarbeiter protokollierten    Leutke, „aber sie waren vorbereitet und hatten zu diesem Zeitpunkt
                                                                     akribisch den Wortlaut seiner Predigten.      längst über Monate hinweg alle persönliche Gegenstände aus ihrer
                                                                     Schikane auch bei Martins Vater, dem          Schwedter Wohnung entfernt.“ Während vieler Besuche bei An-
                                                                     Pfarrerssohn, ihm blieb das Abitur ver-       gehörigen und Freunden versteckten sie unbemerkt Fotos, Brie-
                                                                     wehrt. So absolvierte er eine Ausbildung      fe, handschriftliche Notizen und Urkunden in deren Kellerräumen.
                                                                     zum Krankenpfleger und legte seine Rei-       Nach der Flucht würde die Stasi ihre Wohnung durchsuchen und
                                                                     feprüfung auf der Abendschule ab. Das         alles beschlagnahmen. Weder verbliebene Kleidungsstücke noch
                                                                     anschließende Studium durfte er erst          andere Gegenstände sollten Hinweise auf einen Westkontakt geben.
                                                                     nach enormen Verzögerungen antreten.
                                                                     Mit Martins Geburt im Jahr 1974 beka-         Durch die Nacht in die Zukunft
                                                                     men die Eltern ihre Arbeitsstellen und        In stockdunkler Nacht setzte der Vater Frau und Kind im Unterholz
                                                                     eine Plattenbauwohnung in Schwedt an          ab, versteckte den Wagen in sicherem Abstand auf einem Waldweg.
                                                                     der Oder zugewiesen. Schlimmer noch           Dann stolperte er durch die Finsternis, hatte Schwierigkeiten, seine
                                                                     als die Wohnung im grauen Einheits-           Familie zu finden. Erst nach Mitternacht entdeckte er sie. Kurz vor
                                                                     bau waren die Giftschwaden, die von           ein Uhr stoppte ein Lieferwagen auf dem Seitenstreifen. Männer
                                                                     der dort ansässigen PCK-Raffinerie, dem       stiegen aus, ein schneller Wortwechsel und dann saß die Familie
                                                                     wichtigsten Kraftstofflieferanten der         im komplett mit Styropor ausgekleideten Laderaum. Die Isolierung
                                                                     DDR, über die Lande zogen. Das wenige         sollte die Wärmesensoren an der Grenzstation überlisten. Ladeflä-
                                                                     Wochen alte Baby reagierte mit nicht in       chen wurden im Transitverkehr verplombt. Waren sie bei Ausreise
                                                                     den Griff zu bekommenden Krankheiten.         intakt, konnten Transportfahrzeuge ohne weitere Kontrolle in den
                                                                     Neben all der Bevormundung war das            Westen passieren. Unbekannt ist bis heute, ob es einen zweiten
                                                                     Leben nun auch gesundheitlich nicht           Türmechanismus gab. Martins anfängliche Begeisterung über das
                                                                     mehr erträglich.                              „Lastauto“ wich einem unsicheren Schluchzen, „Hause fahrn“,
                                                                                                                                       flüsterte er. Als der Wagen nach einiger Zeit
                                                                                                                                       anhielt, vernahmen die Eltern die Stimmen der
                                                                                                                                       Grenzer. Sie gingen um den Wagen, rüttelten
                                                                                                                                       an den Türen. Schon ein leises Wimmern hätte
                                                                                                                                       sie verraten. Martin aber war glücklicherweise
                                                                                                                                       bereits eingeschlafen. Der Wagen rollte wieder
                                                                                                                                       an – sie passierten nach West-Berlin.
                                                                                                                                       Die Flucht barg ein enormes Risiko. Wäre
                                                                                                                                       sie nicht geglückt, hätte die Stasi Leutkes
                                                                                                                                       Eltern inhaftiert. Um nicht gegeneinander
                                                                                                                                       ausgespielt zu werden, hatte das Paar etwa-
                                                                                                                                       ige Aussagen festgelegt und ein mögliches
                                                                                                                                       Verhör immer wieder durchgespielt. Martin
                                                                                                                                       wäre zu seinen Großeltern oder in ein Pflege-
                                                                                                                                       heim gekommen, eine Zwangsadoption wäre
                                                                                                                                       aber auch möglich gewesen. „Das System war
                                                                                                                                       meinen Eltern unerträglich, insbesondere die
                                                                                                                                       permanente Gängelung durch den Staat, was
                                                                                                                                       Beruf, Freiheit, Erziehung oder Information
                                                                                                                                       anging“, sagt Leutke. „Sie waren wahnsinnig
                                                                                                                                       mutig und couragiert, aber nicht naiv. Ihre
                                                                                                                                       Vorbereitung war bis ins letzte Detail hoch-
                                                                                                                                       professionell. Letztlich haben sie mir ein Le-
                                                                                                                                       ben ermöglicht, das ich sonst so nicht gehabt
                                                                                                                                       hätte. Sie haben die beste Entscheidung ihres
                                                                     Vor 38 Jahren wartete Martin Leutke                               Lebens getroffen.“
                                                                     im Unterholz auf die Fluchthelfer
Fühle deine Stadt. Mainz - Go West - 25 Jahre Mauerfall Die Seherin auS GonSenheim - sensor Magazin
8                                          sensor 11/14                                                                                                                                                                                                        sensor 11/14                  9
    DDR / BRD                                                                                                                                                                                                                                                                    DDR / BRD

                                        Wunsch nach Reisefreiheit                    Bauernstaat rasant auf den wirtschaftlichen Untergang zusteuern
                                        „Die Planerfüllung der Volkseigenen Be-      und gibt zu bedenken, dass der im Sommer 1983 von Franz Josef
                                        triebe fand nur noch auf dem Papier statt.   Strauß eingefädelte Milliardenkredit der Bundesrepublik die Exis-
                                        Weil niemand verantwortlich sein wollte,     tenz der DDR möglicherweise nur verlängert hat.
                                        belog man sich selbst mit gnadenlos ge-      Nachdem die DDR am 1. August 1975 in Helsinki die KSZE-
            Jörg Zeitzmann wollte mit
        seinem Volkswagen einfach in    schönten Statistiken. Jahrelang lebte die    Schlussakte unterzeichnet hatte und die dort vereinbarte Wahrung
                   den Westen fahren    DDR von der Substanz, verschuldete sich      der Menschenrechte und Grundfreiheiten weiterhin nicht beach-
                                        beim Klassenfeind im Westen immer hö-        tete, stellte Zeitzmann 1978 einen Ausreiseantrag. Doch als „Ge-
                                        her“, erinnert sich Jörg Zeitzmann an die    heimnisträger“ könne man ihn unmöglich ausreisen lassen, so die
                                        frühen 70er Jahre in der DDR.                Absage beim Rat des Kreises. Der SED-Genosse hatte sich als Lan-
                                                                                     desverräter entpuppt, noch am gleichen Tag verlor er Arbeitsplatz
                                        Genosse Landesverräter                       und Parteizugehörigkeit. Der örtliche Pfarrer gab ihm eine Stelle als
                                        Der heute 71-Jährige wohnte mit seiner       Hausmeister und die Stasi öffnete die Akte „Glöckner“. 22 inoffizi-
                                        Familie in Sebnitz, nahe der tschechoslo-    elle Ermittler sollten hier ihre Berichte abheften.
                                        wakischen Grenze. Als Direktor im Amt
                                        für Arbeit und als SED Parteimitglied        Provokant eingeparkt
                                        setzte er sich für einen menschlicheren      Die Zeitzmanns waren Mitte dreißig, ihre Söhne sechs und acht
                                        Sozialismus, Reisefreiheit und den Weg-      Jahre, eine Flucht kam für sie nicht in Frage. Doch eine Karte
                                        fall der Mauer ein. Doch seine Ideen wa-     konnte noch ausgespielt werden: Der Freikauf politischer Gefan-         Hinter Mauern der Grausamkeit
                                        ren unerwünscht und vieles blieb uner-       gener durch die BRD war längst zum Finanzierungsmodell des ma-          „Meine Lehrer verhöhnten mich, weil ich Christin war“, sagt Birgit
                                        reicht. Zeitzmann sah den Arbeiter- und      roden Arbeiter- und Bauernstaates avanciert. „Ich musste inhaf-         Schlicke. Als Schülerin kam sie damit zwar zurecht, begann aber,
                                                                                     tiert werden“, erklärt Zeitzmann und zeigt eine Fotografie seines       das ganze Staatssystem in Frage zu stellen. Oft führte sie mit ih-
                                                                                     „Tatwerkzeuges“, ein VW 1600 mit dem provokanten Schild im              rem Vater politische Diskussionen und mit 14 Jahren wusste sie,
                                                                                     Seitenfenster: „Seit 2 Jahren will ich in die BRD. Wann kann ich        dass sie in der DDR nicht bleiben wollte.
                                                                                     endlich fahren?“. Er parkte das Auto gegenüber der SED-Kreislei-
                                                                                     tung. Kurz darauf flogen die Türen auf, Parteigenossen stoben hi-       Vom Bildungswesen ausgeschlossen
                                                                                     naus und verhüllten das Auto eilig mit Decken. Fünf Polizeiwagen        Schlickes wohnten in Weißwasser, unweit der polnischen Gren-
                                                                                     schossen um die Ecke und riegelten das Gebiet ab. Sie legten den        ze. Als Birgit zur 11. Klasse in die Oberschule wechselte, sah sie
                                                                                     „Glöckner“ in Handschellen und brachte ihn zur Untersuchungs-           sich in allen Fächern einer massiven politischen Indoktrination
                                                                                     haft nach Dresden.                                                      ausgesetzt. „Wir mussten bestimmte Zeitungen lesen, wurden
                                                                                     Den Kindern sagten die Lehrer, ihr Vater sei ein Verbrecher, der        dazu abgefragt und mussten das FDJ-Hemd tragen“, erinnert
                                                                                     Ehefrau wurde die Arbeit als Erzieherin untersagt, sie musste nun       sich Schlicke. „Bei sportlichen Pflichtveranstaltungen zu Ehren
                                                                                     stupide Fabrikarbeit verrichten. Erpresserisch riet ihr die Stasi zur   des Sozialismus gab es Schießübungen auf Menschen-Silhouetten
                                                                                     Scheidung und Rücknahme des Ausreiseantrages. Ihr Mann kön-             und Weitwurf mit Handgranaten-Dummies.“ Rebellisch verwei-
                                                                                     ne sofort in den Westen ausreisen und sie bekäme ihren Arbeits-         gerte Birgit ihre Teilnahme, der Schuldirektor tobte.
                                                                                     platz zurück. Sie ließ sich nicht beirren.                              Nachdem die Eltern 1985 den Ausreiseantrag gestellt hatten, wur-
                                                                                                                                                             de die unbequeme Schülerin von der Schule verwiesen. Der Di-
                                                                                     Zu früh in Freiheit                                                     rektor rief zur Distanz zur „Vaterlandsverräterin“ auf, ehemalige
                                                                                     Zeitzmann saß sechs Monate mit fünf weiteren „Politischen“ in ei-       Mitschüler ließen ihr aus Angst vor Repressalien nun keine Schul-
                                                                                     ner kleinen Zelle in U-Haft. Körperliche Gewalt blieb ihm erspart,      unterlagen mehr zukommen. Der Staat bot inakzeptable Ausbil-
                                                                                     seelische Spuren hat diese Zeit dennoch hinterlassen. Sein damals       dungen zur Schweinezüchterin oder Baggerfahrerin an und selbst
                                                                                     23-jähriger Bruder war herzkrank. Im Osten konnte man ihn nicht         Volkshochschulkurse blieben Birgit verwehrt. „Das stand einem
                                                                                     operieren, in den Westen ließ man ihn nicht. Als sich sein Zustand      Bildungsverbot gleich“, so Schlicke.
                                                                                                                                                                                                                                    Für Birgit Schlicke verblassen die
                                                                                     rapide verschlechterte und er verstarb, hatte Zeitzmann eigentlich      Die Familie wurde offensichtlich beschattet, das Telefon abgehört,     Erinnerungen an den Frauenknast nicht
                                                                                     schon die Zusage, sich in dieser Nacht noch von ihm verabschie-         sämtliche Briefe geöffnet und stümperhaft mit Tesafilm wieder
                                                                                     den zu können. Die Staatsanwältin blockte das Unterfangen we-           zugeklebt. Von dem Einbruch in ihre Wohnung mit Verwanzung
                                                                                     gen möglicher Fluchtgefahr in letzter Minute. Sie war es auch, die      aller Räume erfuhren Schlickes erst aus ihrer Stasi-Akte.              Freiheitsentzug. Gegen Abend wurde
                                                                                     das mit dreieinhalb Jahren ungewöhnlich hohe Strafmaß mit den                                                                                  ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.
                                                                                     Worten „Wären Sie Maurer gewesen, hätten Sie nur neun Mona-             Auf Feindkontakt stand Arrest                                          In herabwürdigender Prozedur musste
                                                                                     te bekommen“ begründete. Zeitzmann war über das Ausmaß der              Schließlich gründete der Vater eine friedliche Protestgruppe Aus-      Birgit Kleider, Brille und Schmuck ab-
                                                                                     Haftdauer entsetzt.                                                     reisewilliger. Zu ihrem dritten Schweigemarsch auf dem Markt-          legen, alle Körperöffnungen wurden
                                                                                     Er wurde zum Strafvollzug nach Cottbus verlegt, sollte aber nach        platz sperrte die Stasi das Areal ab und nahm sämtliche Personali-     kontrolliert. Man steckte sie zu zwei
                                                                                     nur drei Monaten wieder bei Punkt Null ankommen: Mit der gro-           en auf. Tags darauf holte sie die Teilnehmer zu Einzelverhören ab.     „Politischen“ in eine 3 x 4 Meter große
                                                                                     ßen Amnestie zum 30. Jahrestag der DDR kam er im Herbst 1979            Birgit war 17 Jahre alt, als sie unterschrieb, künftig ungesetzliche   Zelle. Nachts flammten alle 20 Minuten
                                                                                     frei, war de facto kein politischer Häftling mehr. Somit blieb ihm      „Zusammenrottungen“ zu unterlassen. Die Lage spitzte sich indes        grelle Scheinwerfer auf, Wärter kontrol-
                                                                                     nur die ständige Ausreise-Anfrage beim Rat des Kreises. Hoffnung        weiter zu. 1987 tippte Birgit den Brief ihres Vaters an die Inter-     lierten per Türspion die vorgeschriebene
                                                                                     keimte, als man ihm nahelegte, statt beim Pfarrer doch in einem         nationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt/         Liegeposition: Rückenlage mit Händen
                                                                                     Volkseigenen Betrieb zu arbeiten. Er machte es. „Ostern 1981 hör-       Main ab. Er bat um Hilfe bei der Ausreise, schilderte die alltägli-    auf der Decke. Schlafentzug, ständige
                                                                                     ten wir von meinen West-Verwandten, dass sich etwas tat. Wir            chen Diskriminierungen. Über Bekannte gelangte der Brief sicher        Verhöre und Erniedrigungen – in der
                                                                                     sollten uns ruhig verhalten“, so Annelies Zeitzmann. Sie verab-         nach Frankfurt.                                                        U-Haft in Cottbus nahm Birgit in kür-
                                                                                     schiedeten sich von ihren Eltern.                                       Am 29. Februar 1988 wurde der Vater überraschend verhaftet.            zester Zeit 10 Kilo ab, hatte Haarausfall,
                                                                                     Am 19. Juni 1981 wurde Familie Zeitzmann nicht ganz uneigen-            Bei der anschließenden Hausdurchsuchung konfiszierten Stasi-           bekam psychosomatische Erstickungs-
                                                                                     nützig aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen. Für den Va-        Mitarbeiter persönliche Gegenstände. Die Stasi-Ausweise trugen         anfälle. Die Stasi legte ihr gefälschte
                                                                                     ter und die beiden Söhne kassierte die DDR je 20.000 DM, für die        keine Namen, nur unleserliche Unterschriften. Zwei Tage später         Geständnisprotokolle des Vaters vor, in
                                                                                     Mutter 80.000 DM. Nachdem sie im Zug den Grenzübergang Her-             holten sie Birgit zu stundenlangen Kreuzverhören ab. Die zermür-       Weißwasser streute sie Gerüchte, er habe
                                                                                     leshausen überquert hatten, waren sie „in der DDR unerwünsch-           benden Fragen zu ihrem Vater konterte sie mit frechen Antwor-          sich in seiner Zelle erhängt. Unter den
                                                                                     te Personen“. Heute wohnen sie in Mainz, vergessen werden sie           ten, ließ dabei aber den IGFM-Brief unerwähnt. Auf den Kontakt         seelischen Folgen dieses Terrors leidet
                                                                                     diese Zeit niemals.                                                     zur Feindorganisation stand eine Strafe von zwei bis zehn Jahren       Birgits Mutter bis heute.
Fühle deine Stadt. Mainz - Go West - 25 Jahre Mauerfall Die Seherin auS GonSenheim - sensor Magazin
10                                        sensor 11/14                                                                                                                                                                                                                       sensor 11/14                                             11
     DDR / BRD                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Stadtgespräch

             Brutalität im Frauenknast Hoheneck
             Nach fünf Monaten bekam Birgit mit Kirchenanwalt Wolfgang
             Schnur erstmals rechtlichen Beistand. Eine Farce, 1990 sollte
                                                                                                                                                                 O (weh) du fröhliche ...                                                          für Sitte & Co.: „Ich hätte mir eine
                                                                                                                                                                                                                                                   andere Entscheidung des Gerichts
                                                                                                                                                                                                                                                   gewünscht. Aber schon aus Grün-
                                                                                                                                                                                                                                                                                            en Beschickern. 66 Standbetreiber
                                                                                                                                                                                                                                                                                            bleiben für die Mainzer Weihnachts-
                                                                                                                                                                                                                                                                                            markt-Besucher also „alte Bekannte“.
             „DER SPIEGEL“ Schnur als langjährigen Stasi-Mitarbeiter ent-                                                                                                                                                                          den des Rechtsfriedens akzeptiert die    Das heißt anders herum: Knapp ein
                                                                                                                                                                 Am 27. November beginnt der Weihnachtsmarkt.
             larven. Dann konfrontierte man die 19-Jährige mit dem IGFM-                                                                                                                                                                           Stadt den Gerichtsbeschluss und wird     Drittel der alten Beschicker sind im-
             Brief. „Die Verhandlung im August 1988 fand unter Ausschluss                                                                                        Fast wäre er dieses Jahr ausgefallen.                                             keine Beschwerde einlegen.“              mer noch weg vom Fenster!
             der Öffentlichkeit statt und war reines Theater. Das Urteil stand                                                                                                                                                                                                              Zur Befriedigung soll jedoch beige-
             längst fest. Ich wurde zu zwei Jahren und sechs Monaten im                                                                                                                                                                            Tempo Tempo                              tragen haben, dass die Beschicker
             berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck verurteilt“, so Schlicke.                                                                                     Der Weihnachtsmarkt fällt dieses         gehen. Aber man muss auch neuen          Nur einen Tag später, am 15. Au-         sich unabhängig vom Verfahren
             „Brutale Kindermörderinnen, drei ehemalige KZ-Aufseherinnen                                                                                         Jahr aus. Das befürchteten zumin-        Anbietern die Chance geben, sich zu      gust, fand ein Treffen mit den Be-       auch um die weihnachtlichen Stände
             und einige aggressive Fälle für die Psychiatrie saßen unter ande-                                                                                   dest bis vor Kurzem einige. Denn         beweisen. Entscheiden Sie aber mal,      schickern statt, um das weitere          am Hauptbahnhof bewerben können.
             rem dort ein“, so Schlicke. „Ich hatte panische Angst vor Gewalt                                                                                    statt heimeliger Glühwein-Atmo-          warum der eine Crêpe-Stand besser        Vorgehen zu besprechen. Zudem            Dem Vernehmen nach kommen beim
             und Lesben, wollte nur überleben.“ Die „Politischen“ steckte man                                                                                    sphäre gab es Zoff hinter den Ku-        zum Weihnachtsmarkt passen soll,         schaltete die Stadt nun eine Kanzlei     jetzigen Verfahren fast alle zum Zug,
             zu den Schwerverbrecherinnen, bei Gewalt schauten die Aufse-                                                                                        lissen: Die Stadt musste alle Stän-      als ein anderer.“                        aus Frankfurt ein, die das Verfah-       die gegen die erste Vergabe geklagt
             her weg. Eine der elf Frauen in der 30-Quadratmeterzelle drohte                                                                                     de neu ausschreiben. Dabei kamen                                                  ren begleiten sollte. Die Kosten der     oder Widerspruch eingelegt hatten,
             Birgit das Gesicht zu zerschneiden, sollte sie sich nachts im Dop-                                                                                  viele traditionelle Betreiber nicht      Vorweihnachtliche Klage                  Kanzlei liegen mittlerweile bei mehr     etwa das Weingut der Stadt Mainz,
             pelstockbett über ihr bewegen. Birgit hatte Glück und wurde von                                                                                     mehr zum Zuge. Dementsprechend           Es kam wie es kommen musste, 28          als 20.000 Euro und waren bereits        die Glühweinstände von Margit Sot-
             der „Zellenältesten“ beschützt. In Akkordarbeit nähte sie täglich                                                                                   groß war die Aufregung, bis hin zur      abgewiesene Beschicker legten Wi-        Thema der letzten Stadtratssitzung.      tile-Barth oder die Waffelbäckerei
             287 Bettbezüge. Privatsphäre gab es nicht. In Hoheneck herrschte                                                                                    Sammelklage vor Gericht. Steht der       derspruch gegen die Vergabe ein.         Auch OB Ebling griff ein und nahm        von Helmut Bucher.
             militärischer Drill. Bei Appellen und Razzien wurden die Gefan-                                                                                     Weihnachtsmarkt wirklich auf der         Doch damit nicht genug: Die ganze        seinen Dezernenten in Schutz: „Wo        Man sollte also meinen, jetzt sei alles
             genen gedemütigt, renitente Häftlinge kettete man im Arrest-                             Good Bye DDR - Erleichterung, den                          Kippe? Zum Ablauf der Ereignisse:        Sache kam mitten im Sommer vor           Menschen arbeiten, werden Fehler         in Butter. Doch das Theater geht wei-
             keller an. In Dunkelzellen und Isolationshaft wurden die Frauen                               Knast überstanden zu haben                            Los ging es schon im letzten Jahr,       das Mainzer Verwaltungsgericht.          gemacht ...“ Zudem kritisierte er den    ter, denn nicht jeder Beschwerdefüh-
             gepeinigt und seelisch gebrochen. Nicht selten gellten qualvolle                                                                                    kurz vor Weihnachten 2013. Da ver-       Dezernent Sitte: „Ich begrüße es,        Versuch von Schuldzuweisungen an         rer hatte den gewünschten Erfolg: So
             Schreie durch die Nacht. Nervenzusammenbrüchen folgten ru-           Eindrücke aus der dort oft unbekann-         Ausstellung: „Gesichter der       schickte die Stadt im Auftrag des        dass ein einstweiliger Rechtsschutz-     die Mitarbeiter der Verwaltung: „Vor     stellte eine Gesellschaft, die Süßwa-
             higstellende Psychopharmaka und Selbstmordversuche. Trauma-          ten Zeit vor dem Mauerfall. Geblieben        friedlichen Revolution“ anläss-   Wirtschaftsdezernates       (Dezernent   Antrag eingereicht wurde, denn mit       allem die FDP versuche alles, dem        renstände betreibt, vor Kurzem beim
             tisiert schweigen viele ehemalige Insassen bis heute über ihre       ist jedoch Verbitterung. „Die Täter wur-     lich „25 Jahre Mauerfall“ -       Christopher Sitte, FDP) den Bewer-       der Entscheidung des Gerichts wird       Rechtsamt den Schwarzen Peter in         Verwaltungsgericht einen Antrag auf
             grausamen Erlebnisse.                                                den nicht konsequent zur Rechenschaft        Fotografien von Dirk Vogel        beraufruf an alle Schausteller und       Klarheit geschaffen.“ Und das Gericht    die Schuhe zu schieben, um ihren         vorläufigen Rechtsschutz und die
             Nach dem Mauerfall wurde Birgit entlassen. Mit ihrer Familie         gezogen, das Unrechtsregime scheint          Eröffnung: 5. November            Marktbeschicker, ihre Bewerbungen        entschied tatsächlich, zugunsten der     Beigeordneten Sitte aus der Schuss-      Stadt muss einmal mehr eine Stel-
             verließ sie Anfang Dezember 1989 die DDR. Sie musste reden,          rehabilitiert. Die Bundesregierung hat       ab 19 Uhr                                                                  Marktbeschicker. Aber nicht etwa,        linie zu nehmen.“                        lungnahme abgeben, die bei Redakti-
                                                                                                                                                                 für die Teilnahme am Weihnachts-
             um das Geschehene zu verarbeiten, mit „Gefangen im Stasi-            es versäumt, die Stasi als verbrecheri-      Plenarsaal des Landtags
                                                                                                                                                                 markt 2014 bis 2016 abzugeben.           weil diese ausgemustert wurden,          Kurze Zeit später (um den 10. Sep-       onsschluss jedoch noch nicht vorlag.
             Knast“ schrieb sie ein beeindruckendes Buch. Besucht sie heute       sche Organisation publik zu machen“,         Zu sehen bis zum 27.11.2014       „Die Stadt musste so handeln. Es         sondern weil Sitte und sein Team         tember) startete schließlich der neue    Wir fragen uns, ob wir zu unserem
             als Zeitzeugin Schulklassen, hinterlässt sie tiefe und lebendige     so Schlickes klare Meinung.                  im Foyer des Landtags             gab einen Gerichtsbeschluss, künf-       „das Gebot der fairen und transpa-       Bewerberaufruf mit einer knappen         Weihnachtsmarkt noch kommen wer-
                                                                                                                                                                 tig transparent(er) zu sein und auch     renten Verfahrensgestaltung“ nicht       Bewerbungsfrist. 253 Bewerbungen         den. Christopher Sitte jedenfalls gibt
                                                                                                                                                                 Chancen für neue Bewerber einzu-         genügend umgesetzt und an alle           trudelten ein, 40 weniger als beim       sich zuversichtlich: „Ich gehe da-
                                                                                                                                                                 räumen – also nicht „immer die glei-     Beteiligten kommuniziert hätten,         vorherigen Verfahren. Und so stand       von aus, dass der Weihnachtsmarkt
                                                                                                                                                                 chen“ Zuschläge zu erteilen“, erzählt    zum Beispiel was die Informationen       bereits am 6. Oktober fest: Die Be-      am 27. November seine Tore öffnen

                   Life‘s too                                                                                                                                    Stadtsprecher Ralf Peterhanwahr.
                                                                                                                                                                 So gingen Ende Januar dieses Jahres
                                                                                                                                                                                                          über die wichtigsten Vergabekriteri-
                                                                                                                                                                                                          en angeht. Ein Paukenschlag für die
                                                                                                                                                                                                                                                   wertungskommission hat 266 Be-
                                                                                                                                                                                                                                                   werbungen in 11 verschiedenen An-
                                                                                                                                                                                                                                                                                            wird.“ Und wenn nicht – nächstes
                                                                                                                                                                                                                                                                                            Jahr wird noch einmal ausgeschrie-

                 short to wear
                                                                                                                                                                 293 Bewerbungen von 168 Beschi-          Stadtverwaltung und das mitten im        gebotsgruppen geprüft. 95 Stände,        ben...
                                                                                                                                                                 ckern für die verschiedenen Katego-      Sommer. Was soll nun aus dem Weih-       also 5 mehr als anfänglich geplant,
                                                                                                                                                                 rien bei der Stadt ein. Das Platzange-   nachtsmarkt werden? Eine Blamage         wurden verteilt, 29 davon mit neu-                              David Gutsche

                  no glasses.                                                                                                                                    bot umfasst aber nur 90 Stände, also
                                                                                                                                                                 bewertete eine Jury aus Mitarbeitern     Trügerische Idylle – Der Weihnachtsmarkt ab dem 27. November

                                                                                                                                                                 der Verwaltung jede Bewerbung an-
                                                                                                                                                                 hand eines Punkteschemas. Darauf-
                                                                                                                                                                 hin erhielten 81 Beschicker vorläufi-
                                                                                                                                                                 ge Zulassungen und 87 eine Absage
                                                                                                                                                                 – 32 davon bisher am Weihnachts-
                                                                                                                                                                 markt vertreten. Es kam also zum
           Isabel mit
           ihrer neuen Brille                                                                                                                                    Eklat: Die Reaktionen der „Alten
           »PERSONA«                                                                                                                                             Abgewiesenen“ reichten von Fas-
           von MASSADA.                                                                                                                                          sungslosigkeit über Wut bis zur Exis-
                                                                                                                                                                 tenz-Angst. Schaustellerin Christine
                                                                                                                                                                 Beutler-Lotz: „Mich macht diese Ver-
                                                                                                                                                                 gabepraxis traurig und wütend. Ich
                                                                                                                                                                 möchte der Jury nicht absprechen,
                                                                                                                                                                 dass sie es gut gemeint hat, aber es
                                                                                                                                                                 kann doch nicht sein, dass Betriebe,
                                                                                                                                                                 die seit der ersten Stunde dabei sind
                                                                                                                                                                 und die mit viel Engagement dafür
                                                                                                                                                                 gesorgt haben, dass der Weihnachts-
                                                                                                                                                                 markt in Deutschland weit vorn
                                                                                                                                                                 steht, keinen Stand bekommen.“
                                                                                                                                                                 Peter Brümmendorf vom Amt für
                                                                                                                                                                 Wirtschaft und Liegenschaften wehrt
                                                                                                                                                                 sich gegen die Vorwürfe: „Ohne die
                             www.optikeramdom.de
                                                                                                                                                                 Traditions-Beschicker wird es nicht
Fühle deine Stadt. Mainz - Go West - 25 Jahre Mauerfall Die Seherin auS GonSenheim - sensor Magazin
12                                            sensor 11/14                                                                                                                                                                                                          sensor 11/14                                    13
     Pasta-Locations                                                                                                                                                                                                                                                                              Pasta-Locations

     Wir testen dieses Mal Pasta fresca in    Pasta-Auswahl: Vier haus- und                                                                         Pasta-Auswahl: Vielfalt. Die Aus-        nal. Aber nur ein eigens handge-           sich vielerorts wunderbar aushalten.
     sechs Restaurants in der Innenstadt.     handgemachte Nudelgerichte, davon                                                                     wahl bei den Gefüllten ist auch farb-    machtes Gericht: Oliven-Gnocchi. Der       Die größte Passion fürs Handfertigen
     Fresca bzw. frisch bedeutet nicht,       zweimal Gnocchi. Ansonsten auch                                                                       lich beeindruckend. Wir haben drei       Kellner erklärt uns, dass ein Pasta-       hat unterdessen Vito Catania in Da
     dass die Nudeln unmittelbar nach         herkömmliche Nudeln. Die Gefüll-                                                                      Gerichte getestet – sehr breite Pap-     Hersteller alles andere anliefert.         Vitos Nudelwerkstatt versprüht. Dass
     ihrer Herstellung gekocht und ser-       ten: Tortelloni (innen: Spinat, Mas-                                                                  pardelle-Bandnudeln mit Feige, Nüs-      Preis-Leistung: Sechs große, klas-         Pasta fresca zwischen Herstellung
     viert, sondern eher, dass sie per Küh-   carpone und Ricotta) an Wermut, mit                                                                   sen und Parmaschinken; diverse Tor-      sisch mit Ricotta und Spinat gefüllte      und finaler Zubereitung meist sogar
     lung frisch gehalten und meist in        Pinienkernen; Fagotelli (Pecorino-                                                                    telloni in Salbeibuttersoße mit geho-    Tortelloni (11 Euro) in fruchtiger To-     tiefgefroren wird, war uns indes neu.
     Handarbeit gefertigt wurden – im         Käse, Speck und Eigelb) an Pilzen,                                                                    beltem Parmesan; Fettuccine-Band-        matensoße – Konsistenz und Ge-             Sowohl Biagio im Gusto als auch
     Gegensatz zu getrockneten, indus-        Rucola und Trüffelöl.                                                                                 nudeln mit Kalbsfilet, Parmaschin-       schmack gut, Soße einfach und le-          Vito haben uns in dieses Geheimnis
     triell hergestellten Nudeln.             Preis-Leistung: „Tomaten Gnocchi“                                                                     ken und Pilzen in Weinbrandsoße.         cker. Noch überzeugender und somit         eingeweiht. Das Cubo Negro hat mal
                                              mit Speck in Sherry (10 Euro) und                                                                     Preis-Leistung: Die Bandnudelge-         sehr empfehlenswert sind die hell-         wieder seine Vielseitigkeit unter Be-
     Aposto Mainz                             „Gorgonzola Gnocchi“ mit Birne in                                                                     richte (je 14,90 Euro) überzeugen        grünen, zarten Gnocchi mit Pepero-         weis gestellt; auch Pasta fresca ma-
     (Gutenbergplatz 8-12)                    Riesling (10,50 Euro) sind herzhaft                                                                   fein abgeschmeckt, bloß die Schin-       ni, Basilikum, Oliven und schmack-         chen die prima und irgendwie spezi-
     Die deutschlandweite Aposto-Kette        und gut, die gefüllten Nudeln aber                                                                    kenstücke waren uns zu dick ge-          haften Garnelen (13 Euro).                 ell. Tomaten waren übrigens bei fast
     gehört mit ihren derzeit sieben Fili-    noch besser. Fünf große „Spinat Tor-                                                                  schnitten. Facettenreich und emp-                                                   allen beurteilten Speisen irgendwie
     alen zur Enchilada Gruppe. Ihre          telloni“, deren Form zwar unge-                                                                       fehlenswert: Combinazione di Tor-        L’Angolo (Augustinerstraße 8)              dabei, gehören eben einfach zur ita-
     Mainzer Dependance wird von Ge-          wöhnlich aussieht, die aber schön                                                                     telloni – sechs Stück, mindestens        Das Motto des Hauses lautet „tutto         lienischen Küche dazu und wurden
     schäftsführer Mirko Knittel betrie-      arrangiert und absolut empfehlens-                                                                    vier verschiedene Farben und Fül-        italiano“ (= ganz italienisch). Pas-       deshalb nicht explizit erwähnt. Test-
     ben. Erd- und Untergeschoss bieten                                                                                                             lungen (10,90 Euro).                     send dazu der sizilianische Kellner        sieger gibt es diesmal keine, dafür ei-
     sehr viel Platz, ebenso der attraktiv                                                                                                                                                   Lillo – herzlich, launisch, authen-        nige Empfehlungen. Ausprobieren
                                                     Pasta-Handwerker Vito Catania ist                                                              Gusto (Augustinerstraße 55,              tisch, witzig und temperamentvoll,
     gelegene Außenbereich direkt ge-                                                                                                                                                                                                   lohnt sich!
                                                           stolz auf seine Nudelvielfalt
     genüber dem Staatstheater. Die offe-                                                                                                           vor dem Frankfurter Hof)                 für uns sozusagen das Gesicht des                             Thomas Schneider
     ne Küche, lange Theke und ge-                                                                                                                  Draußen „uff de Gass“ herrliche Fla-     L‘Angolo. Geführt wird das kleine, im                          Fotos Jonas Otte
     schwungene Treppe prägen den mo-                                                                                                               niermeile. Vorneweg werden in Bia-       Frühling 2014 zum 20. Jubiläum
     dern gestalteten Innenraum.                                                                                                                    gio Fiamingos Weinbar-Restaurant         hübsch renovierte und modernisierte         @    Sollen wir etwas für Sie tes-
     Pasta-Auswahl: Viele Varianten mit                                                                                                             Weißbrot und zwei kleine Pestos ser-     Bistrorante von Claudio Falanga und              ten? Was? Schicken Sie uns
     sowohl hand- als auch hausgemach-                                                                                                              viert – schöne Idee und schmackhaft      Hans Jürgen Kern. Die Freiluftplätze       eine Mail an test@sensor-magazin.
     ten Spaghetti, Rigatoni und Band-                                                                                                              obendrein. Uns wundert, dass in der      befinden sich in einem Seitenstrang
     nudeln. Daneben auch „eingekauf-                                                                                                               Speisekarte bei Pasta ein Risotto        der Augustinerstraße, schön gedie-
     te“, also gekühlt angelieferte, mitun-                                                                                                         aufgeführt wird.                         gen in der Weintorstraße.
     ter gefüllte Nudelwaren. Wir haben                                                                                                             Pasta-Auswahl: Bei den Fettuccine        Pasta-Auswahl: Neun Gerichte mit
     uns für kleine flachgefüllte Ricotta-                                                                                                          waren sich Kellner und Chef unei-        fünf verschiedenen Formen gefüll-
     Ravioli, breite Tagliatelle- und sch-                                                                                                          nig, ob fresca oder nicht. Die beiden    ter, haus- und handgemachter Pasta
     male Linguine-Bandnudeln ent-                                                                                                                  sowohl haus- als auch handgemach-        stehen zur Auswahl, einige Gnocchi
     schieden.                                                                                                                                      ten Varianten sind somit „La Norma       und gewöhnliche Nudeln ebenfalls.
     Preis-Leistung: Die Nudelkonsistenz                                                                                                            Mia“, sizilianische Pasta auf Chef       Wir haben uns für folgende Gefüllte
     der „Tagliatelle di manzo“ (9,40                                                                                                               Biagios Art, flachgefüllt mit Auber-     entschieden: „Tris di pasta“ (dreier-
     Euro) ist hervorragend, leider ist das                                                                                                         ginen und Ricotta, in Basilikum-To-      lei); Tortelloni al tartufo (Trüffel und
     geschnetzelte      Roastbeef trocken                                                                                                           matensoße sowie Tortellacci mit Tin-     Käse) in Salbeibutter; Caramelle
                                                                                                                                                    tenfischfüllung, an Gemüse, Kräu-        (Lachs und Spargel) in Zitronenbut-
                                                                         Der Grosse Test                                                            tern und Butter.                         ter; Mezzelune (Pistazien und Limet-
                                                                                                                                                    Preis-Leistung: „La Norma Mia“ (10

                                                             Pasta fresca
                                                                                                                                                                                             ten) in Orangensoße.
                                                                                                                                                    Euro) überzeugt uns bei Geschmack,       Preis-Leistung: Die Mezzelune (halb-
                                                                                                                                                    Komposition und Konsistenz. Bloß         mondförmige Ravioli, 13,70 Euro)
                                                                                                                                                    die Portion ist klein, was manchem       konnten absolut überzeugen. „Tris di
                                                                                                                                                    Gast aber bestimmt ebenfalls zu-         pasta“ (13,70 Euro) ist toll, da hier
                                                                                                                                                    sagt, ein Hauptgang muss eben            wirklich drei verschiedene Gerichte
                                                     sensor vergleicht „frische Nudeln“                                                             nicht zwangsläufig satt machen.          samt Soßen und nicht bloß Nudel-
                                                                                                                                                    Auch die großen Tortellacci (12,50       sorten kombiniert werden, die Porti-
     und hart. Bei den „Linguine gambe-       wert sind (11 Euro). Ähnlich lecker          Empfehlenswert – Da Vitos „Combinazione di Tortelloni“   Euro) sind lecker.                       on kam uns aber klein vor. Die Ca-
     roni“ (9,90 Euro) sind die (wenigen)     und hübsch sind die „Fagotelli“                                                                                                                ramelle (sehen großen Bonbons ähn-
     Gambas geschmacksneutral, die            (ebenfalls fünf Stück), die als Tortel-                                                               Incontro (Augustinerstraße 57)           lich, 13,70 Euro) waren gut, die
                                                                                                                                                    Giuseppe Datos „Incontro Ristoran-
                                                                                                                                                                                                                                                   weingut, essgut, schlafgut...
     Soße rar, der Sellerie dominant und      loni in Übergröße daherkommen (13                                                                                                              Tortelloni schön groß, auch ge-
     von Weißwein nichts zu erahnen.          Euro).                                                                                                te Enoteca“ geht sozusagen als Fa-       schmacklich sehr gut, der Trüffel
     Schon besser sind: Linguine mit                                                                                                                vorit ins Rennen, da es 2013 vom         aber dezent (14,70 Euro).                                         Wei(n)hnachtsfeiern
     Pfifferlingen, Lauch und Walnuss-        Da Vito (Holzstraße 1, Ecke Augus-                                                                    Magazin „Der Feinschmecker“ als                                                                          Eventscheune, Tagungen
     raspeln (10,40 Euro, Herbstkarte);       tinerstraße)                                                                                          eines der fünfzig besten italieni-       FAZIT
     Ravioli mit Rucola, Hartkäse, zu viel    Dagmar und Vito Catania lieben und                                                                    schen Restaurants Deutschlands           Das Aposto am Gutenbergplatz ge-                                     Silvestermenü
     Butter und wenig Salbei (9,20 Euro).     leben ihr „Ristorante Da Vito cucina                                                                  ausgezeichnet wurde. Motto: „Essen.      hört zur einzigen „Kette“ im Test,
                                                                                                                                                                                                                                                            DI-SA ab 18h / SO & Feiertag ab 12h
                                              italiana e pasta manifattura“ mit sizi-                                                               Trinken. Feiern. – Erleben Sie für ein   stellt zwar z. B. echt gute Bandnu-
     Cubo Negro (Karmeliterplatz 4)                                                                                                                                                          deln her, bei den Soßen hapert es
                                                                                                                                                                                                                                                                DZ inkl. Frühstück ab 98,-€
                                              lianisch geprägter Küche. Sämtliche                                                                   paar Stunden mediterrane Lebens-
     Diego Paces Lokal ist nebeneinander      Pasta wird haus- und handgemacht.                                                                     qualität.“ Zu zwei Sorten Weißbrot       aber, unser Urteil: Potenzial ja, aber
                                                                                                                                                                                                                                                            Vinothek: MO-SA 9-18h / SO 9-12h
     gleichsam Eisdiele, Bar und Restau-      „Alles von eigener Hand, mit natürli-                                                                 gab es vorneweg als „Gruß aus der        Luft nach oben. Ein paar waschechte
     rant. Zu allen drei Teilen steht auch    chen Zutaten“ lautet dabei ihr Motto.                                                                 Küche“ kleine Portiönchen Kürbis-        Sizilianer gibt es in der Augustiner-
                                                                                                                                                                                                                                             Hauptstr. 76 - 55237 Flonheim bei Alzey
     ein gemeinsamer, schön gelegener         Geheimtipp: Gefüllte Tortelloni gibt                                                                  suppe mit Croutons – ein verhei-         straße – hier hat man wirklich die              06734-962730 - landhotel@espenhof.de
     Freiluftbereich zur Verfügung – At-
     mosphäre: kein Radau und dennoch
                                              es hier sogar als süßes Dessert – steht
                                              zwar nicht in der Speisekarte, ist aber
                                                                                                                                                    ßungsvoller Auftakt.
                                                                                                                                                    Pasta-Auswahl: Große Auswahl an
                                                                                                                                                                                             Qual der Wahl, das Eldorado gehobe-
                                                                                                                                                                                             ner italienischer Küche in Mainz. Wir
                                                                                                                                                                                                                                                      www.espenhof.de
     mitten in der Stadt.                     auf Anfrage erhältlich.                                                                               Pasta fresca Kreationen, auch saiso-     waren durchweg angetan, da lässt es
Fühle deine Stadt. Mainz - Go West - 25 Jahre Mauerfall Die Seherin auS GonSenheim - sensor Magazin
14   sensor 11/14                                                                                                                                                              sensor 11/14                                            15
                                                                                                                                                                                                                          Portrait

                                                                                                                                                                               ten Wahrsagerinnen der neueren Zeit. „Meine Fä-
                                                                                                                                                                               higkeiten sind angeboren.“ Das Wahrsagen ist bei
                                                                                                                                                                               ihr so etwas wie Familientradition. Ihre Großtante
                                                                                                                                                                               legte zur Zeit des Zweiten Weltkriegs Karten. Ihre
                                                                                                                                                                               Tochter ist eine bekannte Handleserin. Anfangs
                                                                                                                                                                               deutet Herlert-Schaaf nur ihren Freunden die Zu-
                                                                                                                                                                               kunft. Doch die finanzielle Not macht daraus einen
                                                                                                                                                                               Nebenverdienst. „Ich hatte kein Geld mehr. Ohne
                                                                                                                                                                               das Wahrsagen hätte ich mein Haus verkaufen
                                                                                                                                                                               müssen“, erzählt die gelernte Stenografin. Anfang
                                                                                                                                                                               der 90er Jahre beginnt ihre Rundfunkkarriere –
                                                                                                                                                                               unter anderem mit der monatlichen Sendung „Die
                                                                                                                                                                               Seherin von Mainz Gonsenheim“ beim Hessischen
                                                                                                                                                                               Rundfunk. Sie schreibt drei Bücher über das Kar-
                                                                                                                                                                               tenlegen. Mit „Mystisches Kartenlegen“ landet sie
                                                                                                                                                                               einen Bestseller. Zuletzt besuchte sie 3sat-Modera-
                                                                                                                                                                               torin Katrin Bauerfeind in der Hugo-Eckener-Stra-
                                                                                                                                                                               ße. Heute nimmt die Wahrsagerin 75 Euro pro Sit-
                                                                                                                                                                               zung. „Man darf keinen Reichtum daraus schla-
                                                                                                                                                                               gen“, sagt sie. „Sonst verliert man die Begabung.“

                                                                                                                                                                               Mache keinen Humbug
                                                                                                                                                                               Jede der 36 liebevoll gestalteten Wahrsagekarten,
                                                                                                                                                                               die Herlert-Schaaf aufdeckt, hat eine eigene Be-
                                                                                                                                                                               deutung. Doch den wirklichen Sinn erkenne man
                                                                                                                                                                               in der Reihenfolge der Karten. Der Pudel unter mir
                                                                                                                                                                               schnarcht noch immer. „Das Schicksal ist vorpro-
                                                                                                                                                                               grammiert“, sagt die Seherin. „Es gibt auch viele
                                                                                                                                                                               Betrüger unter den Kartenlegern“, räumt sie ein.
                                                                                                                                                                               Die erkenne man daran, dass sie ihre Kunden vor
                                                                                                                                                                               einer Sitzung geschickt ausfragen. „Ich mache ja
                                                                                                                           Dietlind Herlert-Schaaf arbeitet in ihrer Wohnung   keinen Humbug. Ich mache mediale Lebensbera-
                                                                                                                                                                               tung.“ Dann legt sie meine Vergangenheit, ohne

                                                                                                 Die Seherin von
                                                                                                                                                                               mich vorher danach zu befragen. Und tatsächlich
                                                                                                                                                                               liegt sie erstaunlich oft richtig.

                                                                                                                                                                               Ganz normal?

                                                                                                    Gonsenheim                                                                 Hellsehen, Channeling, Auralesen und Engelshei-
                                                                                                                                                                               lung – Esoterische Praktiken sind immer beliebter.
                                                                                                                                                                               Laut einer Umfrage halten etwa 40 Prozent der
                                                                                                                                                                               Deutschen etwas von Astrologie oder New Age. Je-
                                                                                                                                                                               der Vierte ist aufgeschlossen gegenüber Wunder-
                                                                                      Dietlind Herlert-Schaaf sagt mit Lenormand-                                              und Geistheilern: alles aktuelle Daten aus der All-
                                                                                       Karten die Zukunft voraus. Als Medium ist sie                                           gemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissen-
                                                                                                                                                                               schaften (Allbus). „Esoterische Vorstellungen
                                                                                        weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt                                             gelten zunehmend als normal“, sagte der Münste-
                                                                                                                                                                               raner Soziologe Detlef Pollack in einem Interview
                                                                                                                                                                               mit „Die Zeit“. Okkultismusforscherin Sabine Doe-
                                                                                                                                                                               ring-Manteuffel sieht darin sogar „eine stille spiri-
                                                                                                                                                                               tuelle Revolution“, die unsere Weltbilder nachhal-
                                                                                                                                                                               tig verändert.
                                                              In Mainz-Gonsenheim, in einem Reihenhaus in der        Stock des Reihenhauses. Aus der Ecke starrt eine          „Die Leute kommen zu mir, wenn sie ein Problem
                                                              Hugo-Eckener-Straße 33, lebt eine Frau mit             ausgestopfte Eule. In einer Glasvitrine stapeln sich      haben“, sagt die Mainzer Seherin Dietlind Herlert-
                                                              scheinbar übernatürlichen Fähigkeiten. Dietlind        Porzellanpuppen, Tier- und Engelsfiguren sowie            Schaaf. Für sie ist die Wahrsagerei sowieso ganz
                                                              Herlert-Schaaf kann in die Zukunft blicken. Das        Kerzen. „Alles Geschenke von meinen Kunden“,              normal. Genauso wie für ihre Kunden. Die seien
                                                              behauptet sie zumindest selbst. Was sie dafür          sagt Herlert-Schaaf. „Aber ich bringe es nicht            zwischen 14 und 90 Jahre alt und kämen aus allen
                                                              braucht, sind Lenormand-Wahrsagekarten und ein         übers Herz sie wegzuräumen.“ Ich bin gekommen,            Gesellschaftsschichten. Darunter Ärzte und Politi-
                                                              fragendes Gegenüber. „Meine Prognosen stimmen          um von ihr mehr über das Wahrsagen zu erfahren.           ker. Zum Schluss verrät sie mir noch, was den
                                                              zu 80 bis 90 Prozent“, sagt sie. Seit über 38 Jahren   Neben meinen Füßen schnarcht ihr alter Pudel na-          Mainzern in Zukunft so bevorsteht. Für 2015 sieht
                                                              arbeitet die Fünfundsiebzigjährige als Medium. Sie     mens Bugsy. Die Karten muss ich selbst mischen            sie große Neuerungen, die Glück bringen werden.
                                                              trägt rote Haare mit pinken Strähnen, einen Blu-       und mit der linken Hand drei Stapel formen. „Da-          Und auch für die neue Regierung erkennt sie „An-
                                                              menschal mit violettem Top und einen Ring mit          bei wird das Unterbewusstsein angezapft. Und das          sehen und Anerkennung“. Die „Schranken“ und
                                                              Herzsymbol. Und sie sieht nicht nur die Zukunft        Unterbewusstsein kennt Ihr Leben.“                        Hindernisse würden sich lösen. Und: „Die Dinge
                    ((( Die Zukunft liegt in den Karten )))                                                                                                                    tragen bald Früchte und entwickeln sich.“ Na, das
                                                              einzelner Personen: Auch die politischen Entwick-
                                                              lungen in Mainz kann sie voraussagen. Der Stadt        Bestseller-Medium                                         will man doch hören!
                                                              Mainz soll es demnach zukünftig gut ergehen.           Herlert-Schaaf sieht sich als eine Wiedergeburt                                                 Julius Braun
                                                              Der Arbeitsraum der Wahrsagerin liegt im ersten        von Marie Anne Lenormand, eine der bekanntes-                                         Fotos Katharina Dubno
Fühle deine Stadt. Mainz - Go West - 25 Jahre Mauerfall Die Seherin auS GonSenheim - sensor Magazin
16                                             sensor 11/14                                                                                                                                                                                                                                sensor 11/14              17
     Asyl                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Markttag

                                                                                                                                                                               ben werden sie von den Maltesern und Juvente.          „All happy, all thankful.“ Der 22-jährige Abdig-
                                                                                                                                                                               Hier kommt ein Sozialarbeiter auf 100 Flüchtlin-       hani nickt. Glücklich sei er, weil er sich retten
                                                                                                                                                                               ge. „Wir sind von Anfang an da“, sagt Juvente-         konnte vor den Wirren in seiner Heimat. Dank-
                                                                                                                                                                               Geschäftsführer Paul Becker: „Von der Erstun-          bar für das, was dieses Land, diese Menschen, für
                                                                                                                                                                               terbringung über Ämtergänge oder Kontakte zu           ihn tun. Der Somalier erzählt und gestikuliert,
                                                                                                                                                                               Kitas und Schulen bis hin zu Deutschkursen oder        wie er mit einem Boot übers Meer kam: „Kleines
                                                                                                                                                                               Spielkreisen.“                                         Boot, sehr klein. Viele Menschen, sehr viele.“ Er
                                                                                                                                                                                                                                      möchte Pharmazeut werden, sein Kumpel Hassan
                                                                                                                                                                               Kein normales Leben möglich                            (26) „a business man“. Doch während ihre Asyl-
                                                                                                                                                                               „Es ist uns sehr schwergefallen, wegzugehen“,          anträge laufen, sind sie zum Nichtstun verdammt.
                                                                                                                                                                               sagt Mohammed. „Wir hatten ein gutes Leben.            Das Warten macht ihnen zu schaffen, ebenso die
                                                                                                                                                                               Aber auch viel Angst.“ Die Ankunft in Europa           fehlende Privatsphäre: Hassan teilt sich mit drei,
                                                                                                                                                                               beschreibt der Afghane, der fließend Englisch          Abdighani mit zwei Fremden ein Zimmer in der
                                                                                                                                                                               und gut Deutsch spricht, als „psychologischen          Unterkunft „Alte Ziegelei“ in Bretzenheim. Um
                                                                                                                                                                               Schock“, gerade die Zeit in der Asylunterkunft.        der Enge zu entfliehen, macht Hassan gern Spa-
                                                                                                                                                                               „Die Deutschen sind sehr freundlich“, betont er,       ziergänge und gegen das Heimweh helfe es, von
                                                                                                                                                                               „aber solange man auf Asyl wartet, ist ein nor-        Zuhause zu träumen, sagt Abdighani. „I’m happy
                                                                                                                                                                               males Leben nicht möglich.“ Am schlimmsten fin-        I saved me“, sagt er erneut, dann räumt er in dem
                                                                                                                                                                               det der inzwischen zweifache Vater eben dieses         kleinen Café in der Neustadt zur Verblüffung des
                                                                                                                                                                               Verharren: „Ich möchte gern arbeiten, ein Teil         Kellners den Tisch ab.
                        Dankbar und glücklich: Abdighani sagt, Europa sei seine Rettung                             Träumen von einer besseren Zukunft: Hassan und Abdighani
                                                                                                                                                                               dieser Gesellschaft werden. Aber ich schlage nur       Er stelle vor allem hohen Gesprächsbedarf bei
                                                                                                                                                                               Zeit tot, kann nichts tun, nur warten.“ – Auf den      den Menschen fest, erzählt Juvente-Chef Becker,
                                                                                                                                                                               Startschuss in ein neues Leben, auf Asyl.              ein tiefes Bedürfnis, über Erlebtes zu sprechen.

                                                                                      Leben in der Warteschleife
                                                                                                                                                                               Welche Mittel Asylbewerber erhalten, ist im            In Mainz sei das Netzwerk stabil, auf das Flücht-
                                                                                                                                                                               Asylbewerberleistungsgesetz geregelt. Weil das         linge sich verlassen können: „Kirchen, Vereine,
                                                                                                                                                                               Bundesverfassungsgericht die Sätze darin als ver-      Ortsgemeinden und kleine Initiativen arbeiten
                                                                                                                                                                               fassungswidrig eingestuft hatte, musste eine Neu-      gut zusammen.“ Zu letzteren gehört Save me
                                 Die Zahl der Flüchtlinge, die aus Krisengebieten nach Europa kommt, steigt. 600 werden es 2015                                                fassung her, die wurde im Sommer verabschiedet.        mit dem Mentorenprogramm „Welcome Mainz“,
                         schätzungsweise in Mainz sein. Wer in Deutschland Asyl beantragt, bleibt monatelang im Ungewissen                                                     Die Richter hatten die Sätze als zu niedrig für        das Flüchtlinge im Alltag unterstützt und ihnen
                                                                                                                                                                               eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben kriti-       Anschluss bietet. Auch Hassan, der mit seiner
                                                                                                                                                                               siert. Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl be-      Mentorin gerne spazieren geht. Einmal, erzählt
     „Wenn ich alleine bin, weine ich manchmal,               hin“, sagt Kurt Merkator, Mainzer Sozialdezer-           Studenten-Stadt Mainz herrscht Wohnungsnot,             anstanden ohnehin die „gesellschaftliche und fi-       er, fehlten ihm die nötigen Worte, um ihr etwas
     weil das Heimweh groß ist.“ Mohammed schaut              nent. Laut Deutschem Städtetag haben in den              auf dem Land gibt es zig Leerstände, wieso denkt        nanzielle Unterversorgung“ der Menschen, die bei       zu erklären. Daraufhin hat er seine Botschaft in
     auf seine ineinander verschränkten Hände. Dann           ersten sieben Monaten 2014 fast 100.000 Men-             man da nicht um?“ Zumal die Stadt auf die Lan-          uns Zuflucht suchen. Im Klartext: Wer auf Asyl         einem Park in den Sand gemalt. Hassan lächelt:
     blickt der 28-Jährige auf und sagt: „Aber ich bin        schen in Deutschland Asyl beantragt, etwa 60             desmittel von 502 Euro pro Flüchtling monatlich         wartet, ist oft schlecht integriert, lebt beengt und   „Wenn du willst, alles geht. Ich immer Hoffnung.“
     voller Hoffnung, dass meine Kinder in Deutsch-           Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. „Wir              massiv drauflegt. „Die Kosten für Miete und Le-         der Zugang zum gesellschaftlichen Leben wird           Auch darauf, dass sein Antrag endlich angenom-
     land ein gutes Leben haben werden.“ Als der po-          müssen uns damit noch auf die Aufnahme von               benshaltung sind hier eben hoch. Wir kriegen die-       ihm durch prekäre finanzielle Umstände ebenso          men wird, und er sein Leben hier beginnen darf.
     litische Aktivist in seiner Heimat Afghanistan           rund 190 Flüchtlingen im 4. Quartal einstellen“,         ses Jahr für den Teilhaushalt ‚Asylbewerber‘ vom        erschwert wie durch gesetzliche Regelungen, wie
     bedroht wird, taucht er in einer der Provinzen           macht Merkator deutlich. Für 2015 rechnet Mainz          Land 3,75 Mio., haben aber 10,3 Mio. Kosten. Und        zum Beispiel das vorübergehende Arbeitsverbot.
     unter. In seiner Abwesenheit aber wird die Fa-           nach ersten Prognosen mit bis zu 600 Menschen.           müssen uns dann beim Haushalt sagen lassen, wir                                                                                                     Mara Braun
                                                                                                                                                                               Heftig kritisiert wird auch die „Residenzpflicht“,
     milie eingeschüchtert und terrorisiert. Schließlich      Nach derzeitigem Stand kann nicht davon aus-             könnten mit unserem Geld nicht umgehen.“                                                                                                  Fotos Andreas Coerper
                                                                                                                                                                               nach der Asylbewerber sich nur in einem be-
     bleibt nur die Flucht. An deren Ende landen Mo-          gegangen werden, dass diese Entwicklung 2016             Zu Leistungen verpflichtet die Stadt sich ganz kon-     grenzten Gebiet aufhalten dürfen, in der Regel
     hammed, seine Mutter, seine Frau und die Tochter         rückläufig sein wird.                                    kret: „Wir investieren 2015 allein 600.000 Euro         dem betreffenden Bundesland. In der Neufassung
     in Deutschland und stellen einen Antrag auf Asyl.        Von Bund und Land hat der Sozialdezernent eine           in die psychosoziale Betreuung der Flüchtlinge,         des Gesetzes soll die immerhin auf drei Monate
     Das war im März 2013.                                    Übersicht geeigneter leerstehender Liegenschaf-          die oft traumatisiert sind. Wir wollen und werden       beschränkt werden.
     „Nach § 3 Absatz 1 Asylverfahrensgesetz wird             ten angefordert, in der eine Unterbringung von           auch weiterhin helfen, gar keine Frage. Aber wir
     ein Ausländer als Flüchtling anerkannt, wenn             Flüchtlingen machbar wäre. „Ich frage auch,              brauchen dafür die Mittel.“ Derzeit gibt es in der      Entscheidungen nach Aktenlage
     er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung            wie sinnvoll ist die aktuelle Art der regionalen         Stadt fünf Gemeinschaftsunterkünfte für Asly-           „Man bekommt den Eindruck, die Leute sollen
     wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, poli-        Verteilung nach einem festen Schlüssel? In der           Begehrende, drei weitere sind in Planung. Betrie-       sich erst mal gar nicht integrieren“, sagt Julia
     tischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer                                                                                                                           Weber (24 Jahre). Sie engagiert sich bei Medinetz
     sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslan-                                                                                                                            Mainz, der medizinischen Vermittlungsstelle für
     des befindet, dessen Schutz er nicht in Anspruch                                                                                                                          Flüchtlinge, Migranten und Menschen ohne Pa-
                                                              Zwischenwelt: Der Start in ein neues Leben dauert beinahe ewig
     nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in                                                                                                                             piere. Montags bietet Medinetz eine Sprechstunde
     Anspruch nehmen will.“ – So lautet der Erklärtext                                                                                                                         in den Räumen der Caritas an, bei der Hilfesu-
     auf der Homepage des Bundesamts für Migrati-                                                                                                                              chenden unter anderem Ärzte vermittelt werden.
     on und Flüchtlinge, bei dem der Antrag auf Asyl                                                                                                                           Auch die Zusammenarbeit mit der Ambulanz
     gestellt wird. Ist das passiert, heißt es warten auf                                                                                                                      ohne Grenzen des Teams um Prof. Gerhard Tra-             Gut zu wissen:
     die erhoffte Asylberechtigung. Auch andere zeit-                                                                                                                          bert von Armut und Gesundheit ist eng. Asylbe-           Sie wollen spenden oder sich engagieren? Die
     weilige Aufenthaltsgenehmigungen sind möglich                                                                                                                             werber, sagt Webers Kollege Daniel Faber, such-          Ehrenamtsbörse informiert unter mainzer-eh-
     – oder natürlich die Ablehnung. Vorerst erhält der                                                                                                                        ten Hilfe häufig, wenn chronische Erkrankungen           renamt.de. Auch Save me & Medinetz Mainz
     Bewerber eine Aufenthaltsgestattung, die regel-                                                                                                                           vorliegen, bei denen die Kostenübernahme erst            freuen sich über Unterstützung: www.save-
     mäßig erneuert werden muss.                                                                                                                                               noch geklärt werden muss. „Da stoßen sie auf             me-mainz.de / www.medinetzmainz.de.
                                                                                                                                                                               dem normalen Ämterweg oft an Grenzen.“ Über              Stadt: Fluechtlingshilfe.mainz.de
     „Wir wollen helfen, keine Frage“                                                                                                                                          Spenden finanziert die Organisation Behandlun-
     Für die dann zuständigen Kommunen stellt sich                                                                                                                             gen, für die kein sonstiger Träger aufkommt. „Die        Am 21.11. findet ab 18 Uhr ein Konzert der
     vor allem die Frage, wie bringt man die Flücht-                                                                                                                           Bürokratie-Hürden, gegen die Menschen in ihrer           Charlie Crow Band für Flüchtlinge statt: Lieb-
     linge unter? „Die Frage muss erlaubt sein, wie                                                                                                                            Not kämpfen, sind verrückt“, findet Weber. „Da           frauensaal, Franz-Liszt-Str. 1. Eintritt 5 Euro.
     bezahlen wir das und wo sollen die Menschen                                                                                                                               wird rein nach Aktenlage entschieden.“
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