Journal 2019 - KDA Nordkirche
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Vorwort 01 Gudrun Nolte, Leiterin des KDA der Nordkirche Liebe Leserinnen und Leser, Was für ein Wort: RAUS!? Was haben wir uns dabei ge- und Tier, weist die Menschen nach dem Sündenfall raus dacht? Es löst Emotionen aus, wie Unsicherheit, Ab- aus dem Paradies und lässt schließlich seinen Sohn raus stand, Kränkung und Distanz. Mit dem Wort „Raus“ in diese Welt. Diese christliche Sicht lädt zum Beobach- beschreiben wir, dass wir aussteigen aus einem System, ten und zum Perspektivwechsel ein, denn „raus“ muss einem Spiel, einem Raum. Ein „Raus“ ist immer eine keinen negativen Charakter haben. Mein liebstes Kir- Ausgrenzung, egal ob eine freiwillige, eine erzwungene chenlied, Paul Gerhardts „Geh aus mein Herz und suche oder eine zufällige. Ein „Raus“ ist aber zugleich ein Freud!“, handelt von nichts anderem als vom Raus und „Rein“, denn mit dem Austritt oder der Ausweisung aus einem Blickwechsel. einem Raum öffnet sich ein neuer Raum. Keinen Raum Wir als KDA verstehen uns als Kirche am anderen gibt es nicht. Ort. Wenn wir uns dem Thema „Raus“ widmen, wird Diese phänomenologische Beschreibung von Tren- deutlich, dass es viele Orte sind, in denen wir uns als nung und Übergang findet sich in unterschiedlichen kirchlicher Dienst mit unseren Handlungsfeldern be- wissenschaftlichen Disziplinen: soziologisch als funk- wegen. Diese Räume wollen wir Ihnen in diesem Jour- tionale Differenzierung von Gruppen und Menschen, nal öffnen: politisch als Zugehörigkeit zu einer Nation oder nicht dazugehörig, weil mit Aus- und Abgrenzung oder gar Raus in die Nacht hat sich Heike Riemann begeben: Sie Abschottung gearbeitet wird. war auf dem Hamburger Großmarkt, wo mehrere tau- Oder als Emanzipationsgeschehen, weil sich etwas send Menschen dauerhaft Nachtarbeit auf sich neh- aus einer alten Rolle heraus entwickelt. Als aktuelles men, damit wir täglich mit frischem Obst, Gemüse und Beispiel seien 100 Jahre Frauenwahlrecht genannt und Blumen versorgt sind. die Möglichkeit der Frauen, sich politisch zu engagie- Wer gehört „dazu“ in der Gesellschaft und wer ist ren. Frauen haben sich auf den Weg gemacht, alte Rol- „raus“? Eine aktuelle Analyse zu dieser Frage liefert lenmuster zu verlassen, sie wollen raus aus einem Jürgen Kehnscherper. Wie er zeigt, zieht sich soziale männlich geprägten gesellschaftlichen Leben. Die Gen- Unsicherheit inzwischen quer durch alle sozialen derforschung hat einiges dazu beigetragen. Schichten und sie betrifft keineswegs nur Verlierer am Gerade die Vielschichtigkeit und Ambivalenz des Rande des Arbeitsmarkts. In der Folge finden die Begriffs „Raus“ hat das Team des KDA gleichermaßen schlichten Versprechungen des Rechtspopulismus im- fasziniert wie herausgefordert. Bei diesem Thema geht mer mehr Anklang. So müssen wir uns der sozialen es um Räume, in denen wir leben und in denen wir Frage neu stellen, auch als Kirche. leben wollen, die uns anziehen, abstoßen oder gleich- Mit Klischees über Hartz-IV-Empfänger*innen gültig sind, die wir sehen oder die wir nicht sehen kön- räumt Maike Hagemann-Schilling auf. Langzeitarbeits- nen/wollen. Es gibt Räume, die wir anderen zuweisen, lose versuchen, auch wenn sie auf Unterstützung an- aus denen wir Menschen ausweisen, im Guten wie im gewiesen sind, eigenverantwortlich zu handeln und Bösen – pragmatisch, mit Mehrheitsbeschluss oder ihre Würde zu wahren. Aus dem Hilfebezug wollen sie willkürlich. raus, aber nicht um jeden Preis, denn oft sind es nicht „Raus“ meint auch eine Unterscheidung, eine Tren- gut integrierte Jobs, die auf sie warten, sondern prekä- nung, eine Differenz. Die Kraft der Unterscheidung ist re Beschäftigungen mit ungewisser Perspektive. bereits ein biblisches Motiv. Gott scheidet bei der Sie kennen To-Do-Listen. Aber haben Sie schon Schöpfung Licht und Dunkel, Wasser und Land, Mensch einmal eine Liste geschrieben, was sie heute nicht tun Vorwort
Inhalt Inhalt 02 03 04 Raus in die Nacht, rein in die Arbeit Ein Besuch auf dem Hamburger Großmarkt / Heike Riemann 09 Die Unsicherheit ist zurück Der marktkonforme Umbau der Gesellschaft bringt die soziale Frage neu auf die Tages ordnung / Pastor Dr. Jürgen Kehnscherper 14 Raus aus Hartz IV – nur wohin? Langzeiterwerbslose wollen das Hilfesystem verlassen – treffen dabei aber oft auf instabile Jobs und unsichere Zukunfts perspektiven / Maike Hagemann-Schilling wollen? Das könnte ein Anfang sein, um Ihre persön- zu sehen. Er zeigt auf, was passieren muss, damit mehr liche Auszeit zu gestalten und übliche Abläufe eine Zeit Milchkühe raus aus dem Stall und rauf auf die Weide 20 RAUSzeiten: Von Digital Detox und Sabbaticals lang zu verlassen. Inge Kirchmaier gibt eine Orientie- kommen. Arbeit und Ruhe richtig dosieren – eine rung im Feld der kleinen und großen Auszeiten, vom Wer als Patientin oder Patient im Krankenhaus liegt, Orientierung / Inge Kirchmaier Abschalten des Smartphones bis zum beruflichen Sab- batjahr. Wer rausgeht, muss nicht weggehen. Im Job kann möchte bald wieder raus. Aber raus möchten auch vie- le Pflegekräfte: Sie reduzieren Stunden, wechseln den Beruf. Und viel zu wenige Nachwuchskräfte sind für den 04 24 Rausgehen, um ins Reine zu kommen Abstand verschafft neue Perspektiven, auch es sinnvoll sein, einen Schritt hinauszutreten, das Ge- Pflegejob zu begeistern. Was über Jahrzehnte zu dieser im Arbeitsalltag / Monika Neht schehene aus der Distanz zu betrachten und mit einer Situation geführt hat und wie wir gegensteuern kön- neuen Sicht zurückzukehren. Monika Neht beschreibt, nen, lege ich in meinem Beitrag dar. 29 Die da draußen wie dieses Vorgehen Routinen im Job aufbrechen und Mit steigender Arbeitszeit – regulär oder durch Was bitteschön sind „kirchenferne Menschen“? / auch Teamkonflikte lösen kann. Überstunden – nehmen die Belastungen zu. Auch des- Dr. Stefan Atze „Die da draußen“, das sind aus kirchlicher Sicht halb bleibt das Thema Arbeitszeitverkürzung oben auf Menschen, die einer der großen Kirchen den Rücken der Agenda des KDA. Unter der Überschrift „Raus aus 33 Raus aus den Klischees! gekehrt oder überhaupt nie einer Religion angehört der Vollzeit“ stellt Angelika Kähler unterschiedliche Mehr Frauen rein ins Handwerk / haben. Wie hier eine Beziehung und schließlich Kom- Modelle für kürzere Arbeitszeiten vor. Kerstin Albers-Joram munikation entstehen kann, dieser Frage geht Stefan „Wir wollen raus“, riefen demonstrierende Bürge- Atze nach. Er plädiert für eine erneuerte Apologetik – rinnen und Bürger 1989 in der DDR. 30 Jahre nach dem 38 Rausgehen, zuhören, erleben und reden als Methodenlehre, um mit „kirchenfernen“ Menschen Mauerfall wirft Rüdiger Schmidt einen Blick zurück auf Besuche im Berufsalltag bereichern den Dialog ernsthaft in Austausch zu treten. den Umbruch in Europa und fragt nach den Lehren für Kirche-Wirtschaft / Pastorin Renate Fallbrüg Raus aus der überkommenen Rollenverteilung, das die europäische Politik heute. 42 hat sich das Hamburger Handwerk auf die Fahnen ge- Damit haben wir Räume geöffnet für einen Pers- 42 Raus aus dem Stall! schrieben. Bisher liegt der Frauenanteil bei Gesellen- pektivwechsel und für Begegnung. Wir freuen uns auf Milchkühe auf der Weide: Bilderbuch-Idylle, prüfungen bei 23 Prozent, bei Meisterprüfungen nur bei Ihre Rückmeldungen und wünschen Ihnen viel Freude Realität oder Chance? / Dr. Jan Menkhaus 15 Prozent. Wie die Handwerkskammer gezielt weibli- beim Lesen. chen Nachwuchs fördert, hat sich Kerstin Albers-Joram 46 Raus aus dem Krankenhaus erklären lassen, unter anderem beim Besuch einer Be- Ihre Warum es Pflegekräfte aus den Kliniken treibt / rufsschulklasse. Gudrun Nolte Gudrun Nolte Wer das eigene Umfeld verlässt, anderen begegnet Leiterin des KDA der Nordkirche und in Austausch tritt, erweitert seinen Horizont. Kirche 51 Raus aus der Vollzeit und Wirtschaft in Hamburg führen diesen Dialog schon Teilzeit als individuelle Lösung oder besser länger. Renate Fallbrüg berichtet von einem neuen eine kurze Vollzeit für alle? / Angelika Kähler Format, das diesen Dialog bereichert: „Job-Shado- wing“, wechselseitige Besuche, um den jeweiligen Be- 56 „Wir wollen raus!“ rufsalltag zu erleben. 30 Jahre Mauerfall und was wir für das Neu beim KDA ist Dr. Jan Menkhaus als wissen- heutige Europa daraus lernen können / schaftlicher Referent für Landwirtschaft und Ernährung. Rüdiger Schmidt Er hat den Arbeitsbereich von Ulrich Ketelhodt über- nommen, den wir vergangenen Herbst in den Ruhe- 62 Das KDA-Team stand verabschiedet haben. Jan Menkhaus nimmt in seinem Beitrag eine alltägliche Beobachtung zum Aus- gangspunkt: Auf den Weiden sind immer weniger Kühe 56 64 Impressum Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt Inhalt
G 04 erade im Dienstleistungsbereich, z. B. im Sicher- 05 heitsgewerbe, aber auch in der Reinigung, Lo- gistik oder Versorgung: Wenn 12 % der abhängig beschäftigten Männer und 6 % der Frauen nachts ar- beiten2, sind das rund 3,76 Mio Beschäftigte3. Und nicht zu vergessen: auch Selbständige arbeiten nachts. Die rund 3.500 Menschen auf dem Hamburger Großmarkt – abhängig Beschäftigte ebenso wie Selb- ständige – zeichnen sich durch eine Besonderheit aus: Raus in Die allermeisten arbeiten dauerhaft nachts. Denn dann kommen die Marktbeschicker*innen und Einzelhänd- ler*innen, die Gastronom*innen und Großküchen betreiber*innen und auch die Inhaber*innen von die Nacht, Blumengeschäften, um für ihr Tages- und Wochenge- schäft einzukaufen. Das Einzugsgebiet ist groß. Selbst aus Dänemark und den weiteren Ländern Skandinavi- ens, aus Polen oder Süddeutschland reisen die Händ- rein in die ler*innen an, um Obst, Gemüse oder Blumen zu kaufen. Die offizielle Verkaufszeit liegt zwischen 2.00 Uhr und 9.00 Uhr morgens, aber bereits um 23.00 Uhr „brummt“ der Betrieb und sind die meisten Mitarbeiter*innen im Arbeit Einsatz. So geht das an sechs Tagen in der Woche. Betrieb ist auf dem Großmarkt 24 Stunden täglich. Denn zu den anderen Zeiten muss gereinigt, vorbereitet und angeliefert werden. Und vielen dient die Stand- fläche auf dem Großmarkt auch als Büro für Bestellun- Ein Besuch auf dem Hamburger Groß- gen und Verwaltung. Über 400 Händler*innen und markt, wo mehrere tausend Menschen Importeure sind Standmieter des Großmarktes. Und hinter der Gemeinschaftsfläche der Erzeugergemein- dauerhaft nachts arbeiten schaft Hamburg verbergen sich weitere 110 Erzeuger- betriebe von Obst, Gemüse und Blumen aus der TEXT Heike Riemann Metropolregion. Nicht jeder Stand ist in jeder Nacht ge- öffnet – auch auf dem Wochenmarkt richtet sich schließlich die Besetzung nach der sorgfältigen Abwä- gung jedes Einzelnen, „ob es sich lohnt“. Fast 80 % aller abhängig Beschäftigten Die Männer (und wenigen Frauen) des Hamburger Großmarktes verlassen immer dann das Haus, um zur in Deutschland arbeiten zwischen Arbeit zu gehen, wenn andere längst Feierabend 7 und 19 Uhr und damit zur soge haben, Partner*innen es sich auf dem Sofa bequem 1 Bundesamt für Arbeitsschutz und machen oder auf dem Weg ins Bett sind, Freund*innen nannten „normalen Tagarbeitszeit“1. gerade ausgehen oder feiern wollen. Arbeitsmedizin (2018): BAuA-Arbeits- Öffnungszeiten und Freizeitangebote, „Wenn einer nachts arbeitet und eine am Tag, dann zeitbefragung: Ver- gleich 2015 – 2017. führt man eine Wochenendbeziehung“, erzählt Olli Elternabende (!), Feiern und vieles Rehr. Er betreibt seit 6½ Jahren den Imbiss mitten in Dortmund: BAuA. S. 41. andere mehr orientieren sich daran. Wer der Großmarkthalle und arbeitet dort in der Regel von 2 Abend- und Nacht- arbeit von abhängig 23.00 bis 9.00 Uhr. Als Selbständiger kümmert er sich im Schichtdienst arbeitet, kennt das dann zu Hause um Buchhaltung und Bestellungen und Beschäftigten 1996 – 2016, Zahlen von Dilemma: „Passt der Termin mit meiner schläft von 16.00 bis 22.00 Uhr. An dieser Zeitaufteilung 2016. Veröffentli- chung des möchte Rehr zukünftig gern etwas ändern, um mehr Arbeitszeit zusammen? Und wie sieht es gemeinsame Zeit mit seiner Ehefrau zu haben. Für die Wirtschafts- und Sozialwissenschaft- nächste Woche aus?“ Wochenenden hat er schon vor einiger Zeit Konsequen- lichen Instituts der Hans-Böckler-Stif- zen gezogen. Sein Imbiss, der die Großmarktbesu- tung, www.boeckler. de/46021.htm (Abruf cher*innen und -standbetreiber*innen mit Kaffee, 04.03.2019). Currywurst und belegten Brötchen versorgt, ist nur noch 3 Statistik der Bundes- von montags bis freitags geöffnet. Damit er nicht wie- anstalt für Arbeit, Juni 2018; eigene Be- der in der Disko einschläft, das sei ihm schon passiert. rechnung. Wäre Olli Rehr angestellt, würde für ihn das Arbeits- 4 Arbeitszeitgesetz vom zeitgesetz (ArbZG) gelten, das nach acht, maximal nach 6. Juni 1994, zuletzt geändert durch Art. zehn Stunden eine Ruhezeit von mindestens elf Stun- 12a G vom 11.11.2016, den vorsieht.4 §§ 3 und 5. Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt Raus in die Nacht, rein in die Arbeit
06 EINGESCHWORENE GEMEINSCHAFT schließt sich an oder Auslieferungen. Und wer nach BESTAND BIS 2034 GARANTIERT – UND DANN? 07 Gabelstapler und Hubwagen erleichtern die Arbeit, Hause geht, beginnt eventuell eine zweite Schicht, Zusätzlich werden sich gesellschaftliche Entwicklungen trotzdem ist die Arbeit auf dem Großmarkt durchaus nämlich dann, wenn er oder sie eigene Waren auf dem auch auf den Großmarkt auswirken: 1962 zog der Groß- körperlich anstrengend. Im Winter ist es in der Halle Großmarkt verkauft, zum Beispiel Gemüse, Obst oder markt für Obst und Gemüse vom Deichtor in den Neu- zudem recht kühl. Und: Es wird viel und mit Herzblut Blumen anbaut oder Tiere hält. Ein Gesprächspartner bau in Hammerbrook. Nachfolger in den Deichtorhallen gearbeitet. Wer hier dabeibleibt, wird Teil einer ein- erzählte von den 25 Kühen, die jeden Tag auf ihn war- wurde zunächst der Blumengroßmarkt, der 1984 eben- geschworenen Gemeinschaft, in der das „Du“ einfach ten. Er mag den Sonntag besonders. Denn dann küm- falls auf das heutige Großmarktgelände zog. Er war zu- dazu gehört und Platt- und Hochdeutsch sich mischen. mert er sich nur um diese. Und um sich und seine vor in der Markthalle am Klosterwall untergebracht. In Gesprächen hört man den Stolz heraus, wenn von Familie. Dort eröffnete 1976 das noch heute existierende Ver- 32 oder 40 Jahren auf dem Großmarkt berichtet wird. 1992 fiel mit einem Urteil des Bundesverfassungs- anstaltungszentrum „Markthalle“, zudem ist das Ge- Auch Alexandra Adler, Leiterin des Marketings und der gerichtes das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen in bäude eine Heimat der Kunstmeile. Die Deichtorhallen Öffentlichkeitsarbeit des Landesbetriebes Großmarkt, ganz Deutschland. Zuvor war es Frauen in Westdeutsch- dienen heute als Ausstellungsflächen für Kunst des und Joachim Köhler, der 47 Jahre auf dem Großmarkt land aus „sittlichen und gesundheitlichen Gründen“, Das Arbeitszeitgesetz sieht 20. und 21. Jahrhunderts, und auch auf dem heutigen tätig war und heute mehrmals im Monat Besucher*in- wie die damalige Arbeitszeitordnung es beschrieb, ver- Großmarkt ist zwischenzeitlich Kultur mit eingezogen. nen durch die nächtliche Halle führt, bestätigen: Wer boten, nachts zu arbeiten. Nach der Wiedervereinigung einen Ausgleich für die nächt Seit 2015 finden dort auf einer ca. 4.000 m² großen die Anfangszeit übersteht, bleibt. Wer zwischendurch galt diese Regel kurze Zeit auch für ostdeutsche Frauen, Teilfläche Konzerte und Theaterveranstaltungen statt: mal woanders arbeitet, kommt wieder. Und sollte ein dabei hatte es ein Nachtarbeitsverbot für sie in der DDR lichen Arbeitsstunden vor: Das Mehr!Theater ist dort zu Hause und wird 2019 mit Händler seinen Stand auf dem Großmarkt aufgeben, nie gegeben. Nun entschied das Bundesverfassungs- großem Aufwand umgebaut, um 2020 „Harry Potter“ im werden die Mitarbeitenden (und auch die Fläche) gern gericht: Diese Regelung widerspricht dem Gleichheits- durch bezahlte freie Tage oder Dauerbetrieb zu zeigen. von den anderen Händlern übernommen. grundsatz des Grundgesetzes und außerdem einem Diese Rochaden bedienten und bedienen zwei Der Kaffeepreis von nur 1 Euro in Olli Rehrs Imbiss Urteil des Europäischen Gerichtshofes. Das Urteil war einen Zuschlag auf das Brutto Trends: Zum einem sinkt die Zahl von Direktanbietern. unterstreicht das spürbare Gemeinschaftsgefühl. „Wir zugleich der Anstoß für eine Neuregelung der Arbeits- Zum anderen dehnt sich die urbane Abend- bzw. wollen für die Mitarbeitenden hier ‚der Versorger‘ sein, zeitordnung, die die „gesundheitlichen Aspekte“ auf- arbeitsentgelt. „Nachtökonomie“ aus. Sie ist laut einer Studie der Ha- nicht einfach ein Verkaufsstand“, sagt er und begrüßt greifen sollte. So trat 1994 das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) fenCity Universität 2015 ein wesentlicher Indikator für den nächsten Imbissbesucher persönlich und mit ei- in Kraft. die Urbanität und – je nach individueller Teilnahme nem launigen Schnack. Hier im Imbiss wird viel gelacht und Interessenlage – für die Lebensqualität einer Stadt.6 und trotzdem ist deutlich: Man kümmert sich umein- GESUNDHEIT „ABGEKAUFT“? Ein attraktives und vielfältiges Nachtleben gehöre, so ander. Es versucht zumindest für die abhängig Beschäftigten, die Autoren, zu den allgemeinen Erwartungen an eine In manchen Gesprächen ist die Belastung heraus- die gesundheitlichen Risiken der „untypischen Arbeits- Großstadt und sei ein konkreter Standortfaktor für jun- zuhören, physisch, psychisch und sozial, die dauernde zeiten“ zu begrenzen bzw. einen Ausgleich zur Belas- ge Menschen. Die Autoren werben dafür, Abendökono- Nachtarbeit mit sich bringt. Nicht jedem gelingt es wie tung zu schaffen. So sind dort für nachts Tätige mie (Theater, Kino oder speisegeprägte Gastronomie) Landwirt Heiner Wischendorff, der von sich selber sagt, regelmäßige arbeitsmedizinische Untersuchungen alle und Nachtökonomie (Gastronomie- und Kulturbetriebe er schlafe jede Nacht nur vier Stunden und schaffe es drei Jahre auf Kosten des Arbeitgebers vorgesehen, bei mit einem Schwerpunkt im Nachtbetrieb, etwa Bars, so, bei allen Familienfeierlichkeiten (zumindest am An- höherem Lebensalter (ab 50) auch jedes Jahr. Auch ein Musikclubs, Diskotheken) bewusst ins städtische Leben fang) dabei zu sein. Er sagt aber auch: „Am Sonntag Anrecht auf Versetzung in die Tagschicht unter be- „einzubauen“, ggf. auch als Zwischennutzung zur Auf- schlafe ich zehn Stunden am Stück, denn auf Dauer stimmten Voraussetzungen ist dort beschrieben. Am wertung von Stadtteilen einzusetzen. Zugleich weisen geht das sonst nicht.“ bekanntesten aber dürfte der zu gewährende Ausgleich sie darauf hin, dass die unterschiedlichen Nutzungen In einer Orientierungshilfe der Deutschen Gesetzli- für die „während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstun- gerade von innerstädtischen Lagen natürlich in Konkur- chen Unfallversicherung zur Schichtarbeit5 heißt es: den“ sein. Dies kann eine „angemessene Zahl bezahl- renz zueinander stehen. „Dauernachtschichten sollten vermieden werden“, denn ter freier Tage oder ein angemessener Zuschlag auf das Fast scheint es absehbar: Die gute Erreichbarkeit des sie führten zu einer permanenten Teilanpassung des Bruttoarbeitsentgelt sein“. Großmarktes und die innerstädtische Lage werden ei- biologischen Rhythmus auch in der Freizeit. Langzeit- Die Entscheidung obliegt dem Unternehmen. Sollte nes Tages weitere Begehrlichkeiten wecken. Grundstü- folgen stellten sich oft erst nach zehn oder mehr Jahren aber der Zuschlag zum Lohn gewählt werden, sind es cke sind ein knappes Gut in Hamburg. So ist dem ein. Die Empfehlung dort außerdem: „Die Nachtschicht mindestens 25 % (bei Dauernachtarbeit 30 %), die Großmarkt, seinen Kund*innen und Beschäftigten zu sollte möglichst früh enden, spätestens um 6.00 Uhr.“ „obendrauf“ kommen. „Gutes Geld“, sagen da viele Be- wünschen, dass die jetzige Koexistenz verschiedener Begründung: „Meistens schlafen Nachtschichtarbeiten- schäftigte, während Betriebsräte, wenn sie versuchen, Gabelstapler und Hubwagen helfen beim Bewegen der Waren. Trotz- Nutzungen möglichst lange existiert. de nach der Schicht bis zum Mittag, je eher also die die Nachtarbeit aus gesundheitlichen Überlegungen zu dem ist die Arbeit in den Hallen auch körperlich anstrengend. Auch die zunehmende Konzentration im Einzel- Nachtschicht endet, umso länger ist der Tagschlaf.“ begrenzen und Widerspruch bei ihren Kolleg*innen handel wirkt sich auf den Großmarkt aus. Edeka und ernten, vom „Abkaufen der Gesundheit“ sprechen. Rewe unterhalten eigene Frischezentren, von denen NACH DER NACHTSCHICHT GEHT DIE ARBEIT WEITER Wird auf dem Großmarkt „gutes Geld“ verdient? Ja, die Betreiber ihrer Märkte überwiegend bedient Am Ende der Nacht ins Bett zu gehen, das ist vielen sagen etliche. Zumindest sei das ein ausschlaggebender werden. Zugleich nimmt die Anzahl der kleinen Einkaufenden auf dem Großmarkt nicht vergönnt. Grund gewesen, dort anzufangen. Und in Zukunft? Einzelhandelsgeschäfte ab, die den Einkauf selbst Schließlich wollen sie bewusst frisch einkaufen, un- Auch auf dem Großmarkt werden sich die Anforderun- übernehmen. Schon heute sind es überwiegend 5 Deutsche gesetzliche 6 HafenCity Universität Unfallversicherung mittelbar vor Geschäftsbeginn, und das heißt: Ein Tag gen an die Arbeit verändern, die nächtliche Arbeit Marktbeschicker und gastronomische Betriebe, die Hamburg, Arbeits- e. V. (DGUV) (2018): im Blumenladen, auf dem Markt, im Hotel schließt sich selbst hingegen wohl nicht. Angesichts des Fachkräfte- auf dem Großmarkt einkaufen. bereich Projekt Information 206-024, entwicklung und Schichtarbeit – (k)ein an. Dafür sind sie anders als die Arbeitenden des Groß- mangels können jedoch die Arbeitnehmer*innen für Für den Bestand des Großmarktes in den seit 1996 Projektmanagement Problem?! Eine marktes vielleicht auch „erst“ um halb drei aufgestan- sich prüfen: Sagt mir die Nachtarbeit zu? Erhalte ich unter Denkmalschutz gestellten Hallen gibt es die Zu- in der Stadtplanung Orientierungshilfe für den. Lang und arbeitsreich wird ihr Tag allemal. Aber dafür einen angemessenen Ausgleich? Wie gefällt mir sage des Senates derzeit bis 2034. Und wer weiß schon, (2015): Stadtnachacht, die Prävention. Ber- Management der ur- lin: DGUV. Download auch für eine Vielzahl der Großmarkthändler*innen ist die Arbeit, wenn ich sie mit Angeboten anderer Firmen ob sich der Großmarkt als Handelszentrum für Frisch- banen Nachtökono- unter www.dguv.de. der Arbeitstag um 9.00 Uhr nicht zu Ende. Büroarbeit vergleiche? waren nicht bis dahin um eine Internetplattform er- mie. Hamburg: HCU. Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt Raus in die Nacht, rein in die Arbeit
Die Unsicherheit 08 09 ist zurück Der marktkonforme Umbau der Gesellschaft bringt die soziale Frage auch für die Evangelische Kirche neu auf die Tagesordnung TEXT Pastor Dr. Jürgen Kehnscherper Um dem besonderen Charakter der sozialen Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden, schlägt der französische Soziologe Robert Castel vor, den Begriff der Prekarität inhaltlich neu zu bestimmen. „Prekär“ beschreibt für Castel nicht – wie allgemein gebräuchlich – die Situation von Menschen, die „draußen“ Frische Lebensmittel vor Ort begutachten und auswählen - auf dem Großmarkt ist es möglich. sind, also einer abgehängten „Unterschicht“. Prekarität bedeutet eine neue Doch Internetplattformen könnten auch den Großhandel verändern. soziale Verletzlichkeit und Instabilität, die sich quer durch alle Schichten der Gesellschaft zieht.1 gänzt hat oder weitestgehend ersetzt wurde. Im Und wie? Als „Otto Normalverbraucher“ und „Lies- Lebensmitteleinzelhandel wird zur Zeit heftig versucht, chen Müller“ haben wir durchaus Einfluss auf den Er- E Kundinnen und Kunden vom Einkauf via Internet zu halt der Vielfalt an Lebensmittelanbietern, auf die benso wie Robert Castel hält auch der deutsche Biografie erleben nicht zuletzt auch Menschen, denen überzeugen, mit Lieferwunschterminen, Wahrung der Länge der Transportwege, auf Anbau und Produktion Soziologe Wilhelm Heitmeyer die Wiederkehr der die „Kultur des neuen Kapitalismus“ eine ständige Mo- Kühlkette bis in den privaten Kühlschrank, Lieferflatrate und auf die Arbeitsbedingungen für Produzent*innen, sozialen Unsicherheit für ein Hauptmerkmal der bilität und Flexibilität zumutet4 – und das trifft eine („bestellen Sie, so oft Sie wollen“) und anderem mehr. Händler*innen und ihre Beschäftigten. Lassen Sie uns gesellschaftlichen Entwicklung in Westeuropa. Er nennt Vielzahl von Berufstätigen und deren Angehörige. Noch allerdings überwiegt der Wunsch der Konsu- Ausschau halten nach den roten und gelben Pfand- die Zeit nach den Umbrüchen der 1990er-Jahre die Aber auch die Politik hat in den Augen des Wahl- ment*innen, die Ware vor Ort begutachten und aus- kisten der Erzeugergemeinschaft Hamburg auf dem „entsicherten Jahrzehnte“2. Für Heitmeyer wird der volkes die Kontrolle verloren. Politiker*innen, die im- wählen zu können. Dennoch: Details dieses Konzeptes Wochenmarkt, sie garantieren quasi den verbraucher- Kontrollgewinn, den Wirtschaftsinteressen und Ökono- mer wieder signalisieren, dass ihnen quasi die Hände ließen sich auf die Beziehung Großhandel – Einzel- nahen Anbau. Treffen wir uns doch beim Food-Market misierung seit den 1990er-Jahren international und gebunden sind, die sich auf „Sachzwänge“, auf Brüssel, handel/Großverbraucher sicherlich übertragen. Ein Zu- des Hamburger Großmarktes im September jeden Jah- auch in Deutschland für sich durchsetzen konnten, auf auf Wirtschaftsinteressen und den Weltmarkt berufen, 1 Castel, Robert (2009): stelldienst „just in time“, d. h. eine ausgeweitete res, bei dem auch Endverbraucher*innen Zugang zu individueller und politischer Ebene als Kontrollverlust ziehen zwangsläufig den Verdacht auf sich, nicht mehr Die Wiederkehr der Verlagerung des Transportes vom Kunden auf die An- den markant geschwungenen Großmarkthallen haben; interpretiert und erlebt.3 Das Gefühl, die Kontrolle über wirksam regieren zu können. Es herrscht Misstrauen sozialen Unsicher- heit. In: ders./Dörre, bieter, würde zu noch mehr Arbeit für die Anbieter – dort gibt es Gelegenheit, mit Produzent*innen, Händ- die eigene Biografie zu verlieren, trifft Personen, die gegenüber Parteien, die sich – so der Eindruck – nur Claus (2009): und für die Nachtarbeitenden auf dem Großmarkt ler*innen und deren Abnehmer*innen (Restaurants trotz Berufstätigkeit finanziell kaum über die Runden noch für die Interessen von Minderheiten (Reiche, Prekarität, Abstieg, führen. „Digitalisierung“ hieße dann nicht Entlastung, etc.) über Qualität ins Gespräch zu kommen. Und den- kommen und keine Aussicht auf Besserung ihrer Ver- Flüchtlinge, Transgender) einsetzen oder für ihre per- Ausgrenzung. Die soziale Frage am sondern möglicherweise „Amazonisierung der Arbeit“ ken wir öfter daran: Damit wir mit frischem Gemüse hältnisse haben. In Ostdeutschland arbeiten 35 % der sönlichen Vorteile. Beginn der 21. Jahr- und mehr Stress. und Obst versorgt werden und täglich eine große Aus- Berufstätigen im Niedriglohnbereich, in Westdeutsch- Heitmeyer warnte schon 2001 davor, dass in dieser hunderts, Frankfurt/ Die Arbeit auf dem Großmarkt ist nicht leicht. Sie wahl haben, braucht es das gute Gelingen auf Feld und land 20 %. Ihre Perspektive ist die Altersarmut. Allein Situation „autoritäre Versuchungen“ in Form eines ra- New York, S. 21-34, hier S. 21. findet überwiegend nachts statt und ist für die Men- Wiese, aber auch eine Vielzahl von Menschen, die sich diese Zahlen verdeutlichen schon, dass die soziale Un- biaten Rechtspopulismus zum Zuge kommen können, 2 Heitmeyer, Wilhelm schen dort belastend; sie sind raus aus dem Tageszei- vom Anbau bis zum Verbrauch verantwortlich zeigen. sicherheit heute keine Minderheiten betrifft und dass der mit ebenso schlichten wie inkohärenten und anti- (2018): Autoritäre Versuchungen. tenrhythmus der meisten anderen. Gesetzliche Die Menschen auf dem Großmarkt gehören dazu. nnn es auch keineswegs nur um Menschen geht, die nicht demokratischen Angeboten die Wiedererlangung der Signaturen der Be- Regelungen, die der Gesetzgeber zum Ausgleich vor- in die Arbeitswelt integriert sind. Einen Kontrollverlust Kontrolle verspricht. Dies hat sich nun in Deutschland drohung I, Berlin, sieht, greifen nicht immer, z. B. wenn es sich um Selb- erleiden selbstverständlich auch Menschen, die sich als mit geradezu unheimlicher Wucht und Geschwindigkeit S. 89. 3 Ebd., S. 20f., 42ff. ständige handelt. Die Arbeit ist aber auch befriedigend, „Kunden“ der Jobcenter einer rigiden Fremdkontrolle zu bestätigt. Weder Ende noch Ergebnis des Aufstandes 4 Vgl. Sennett, Richard denn die Kollegialität „stimmt“ und die Sinnhaftigkeit unterwerfen haben – im Januar 2019 betraf dies 5,9 wütender Bürgerinnen und Bürger auf französischen (1998): Der Flexible auch. Die Menschen dort versorgen uns mit einer gro- Millionen Personen in sogenannten „Bedarfsgemein- Straßen oder an deutschen Wahlurnen sind derzeit ab- Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalis- ßen Vielfalt von frischen Lebensmitteln und Blumen. schaften“, dazu zählen auch fast 2 Millionen Kinder sehbar. Gerade der Protest an den Wahlurnen ist nicht mus, 6. Auflage, Ihnen gehört unsere Wertschätzung. und Jugendliche. Einen Kontrollverlust über ihre eigene auf bestimmte soziale Schichten beschränkt, sondern Berlin. Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt Die Unsicherheit ist zurück
10 druck aus. Und es waren Führungskräfte auch in der 11 Diakonie, die sich bereitwillig von der marktradikalen Diffamierung solidarischer Sicherungssysteme anste- cken ließen. Sie unterwarfen sich – nicht selten aus Überzeugung – dem politisch erzeugten kommerziellen Druck und gaben (und geben) ihn oft allzu bereitwillig an ihre Belegschaften oder die Adressaten ihrer Diens- te weiter.10 Wenn Denkweisen aus dem 19. Jahrhundert – Kon- zepte wie „Wohlfahrt“, „Mildtätigkeit“ und „Gemein- nützigkeit“, die über hundert Jahre erfolgreich ihren Beitrag zur Lösung der sozialen Frage in Deutschland geleistet haben –, sich plötzlich in einem überwiegend neoliberal eingestellten Umfeld wiederfinden, dann können Fehlentwicklungen und Verwerfungen nicht 5 Ralf Dahrendorf zit. bei Große Kracht, ausbleiben. Hermann-Josef (2010): „…nichts ES IST DAS KOLLEKTIVE, DAS SCHÜTZT gegen die Soziale Soziale Unsicherheit betrifft heute keine Marktwirtschaft, Minderheiten. Und es geht auch nicht nur Soziale Unsicherheit ist historisch gesehen sicher kein denn das ist ver um Menschen, die aus der Arbeitswelt Sonderfall, sondern eher die Normalität. Aus der Ein- boten“ (Konrad herausgefallen sind. sicht, dass die soziale Unsicherheit großer Bevölke- Adenauer). Sondie- rungen zur religiösen rungsteile in der modernen Industriegesellschaft keine Tiefengrammatik Basis für eine kohärente Gesellschaft ist, erwuchs seit des deutschen Wirt- schafts- und Sozial- Der Sozialstaat hat eine große den 1880er-Jahren der Sozialstaat in Deutschland. Die modells im Anschluss damals punktuell vorhandene solidarische Fürsorge an Alfred Müller-Armack und Mehrheit vor den härtesten und kollektive Selbsthilfe wurde systematisiert und u. a. Oswald von in ein System von Pflichtversicherungen und Sozialpart- Nell-Breuning, in: zieht sich wie die Prekarität quer durch die Gesellschaft. konkurrenz nach 1990 wurde die Marktlogik in Deutsch- Risiken geschützt und damit nerschaften (Gewerkschaften, Arbeitgeberorganisatio- Ethik und Gesell- Die Anfälligkeit für einen rabiaten Rechtspopulismus land mehr und mehr zur Ordnungsmacht der nen) überführt. Der Historiker Jürgen Osterhammel schaft. Ökumenische Zeitschrift für Sozial- wird zunehmend auch in Gewerkschaften und Kirchen- Gesellschaft und die Marktwirtschaft entwickelte sich nicht nur die Gesellschaft, weist auf den Konsens hin, der diese Entwicklung be- ethik. 1/2010, S. 1-55, gemeinden sichtbar. zu einer „Marktgesellschaft“.7 günstigte: „Dahinter stand eine Auffassung von Gesell- hier: S. 7. 6 Wolfgang Streeck sondern auch deren Wirtschaft schaft nicht als Ansammlung von Individuen, sondern spricht von „einer NICHT DAS ENDE DER GESCHICHTE, SONDERN DER DIE RÜCKKEHR DER SOZIALEN FRAGE als spannungsreiche Pluralität von Kollektiven, eine von keiner Theorie vorhergesehenen „SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT“ Dass in einer konsequent marktförmigen Gesellschaft, stabilisiert. Auffassung, in der Konservative und Sozialisten prinzi- machtvollen Wieder- Vor der Wiederkehr der sozialen Unsicherheit, in den deren Antriebsmechanismen Ungleichheit sowie Gier piell übereinstimmten.“11 kehr freier, selbst- optimistischen Jahren des Wirtschaftswunders bis in und Angst sind8, zwingend auch die soziale Frage wie- Im Kern, so auch Castel, wurde die soziale Unsi- regulierender Märkte die 1970er-Jahre, galt Armut in Westdeutschland als das derkehren würde, war vorhersehbar. Aber niemand cherheit der frühen Industriegesellschaften durch die auf breitester Front, 10 Vgl. Hengsbach SJ, ohne Vorbild in der Problem einer Unterschicht von höchstens 5 % der Be- schien dies wahrhaben zu wollen – im Gegenteil. Der überaus konfliktreiche, aber kontinuierliche Ausge- Friedhelm (2009): Geschichte der poli- völkerung. Die soziale Frage hatte sich nach vorherr- Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne einer staltung von Strukturen kollektiver Absicherung Kirche im Kapitalis- tischen Ökonomie mus, https://nbi. des modernen Kapi- schender Meinung im Wesentlichen erübrigt. Denn die neoliberalen Rationalität schien in den 1990er-Jahren gebändigt. „Es ist das Kollektive, das schützt: Kollek- sankt-georgen.de/ talismus.“ Streeck, real existierende soziale Marktwirtschaft der Bundes- „alternativlos“ und provozierte kaum Widerstände. tivvereinbarungen und Tarifverträge, kollektive assets/typo3/redak- Wolfgang (2013): republik hatte in den Jahren des Wiederaufbaus tat- Selbst von traditionsreichen Vorkämpfer*innen in der Garantien des Arbeitsrechts und der sozialen Siche- teure/Dokumen- Gekaufte Zeit. Die te/2008/05_2009_ vertagte Krise des sächlich die „theoretisch unmögliche und doch sozialen Frage gab es Zustimmung: Die SPD hat sich rungssysteme und dazu, dem Ganzen übergeordnet, KircheimKapitalismus. Kapitalismus, Berlin praktisch überaus erfolgreiche Verbindung von Markt- spätestens 1999 mit dem Schröder-Blair-Papier kom- die Rolle, die dem Sozialstaat beziehungsweise dem PDF, Abruf am 2013, S. 46. 19.02.2019, S. 5f. wirtschaft und Sozialpolitik“ hergestellt.5 plett „modernisiert“, d.h. dem Neoliberalismus ver- Wohlfahrtsstaat, dem Inbegriff des Kollektiven, zu- 7 Heitmeyer, a. a. O., 11 Osterhammel, Jürgen S. 35. Der Optimismus steigerte sich noch, als die so ver- schrieben – und damit ihren katastrophalen Absturz als wächst.“12 Wohlgemerkt ist der Sozialstaat keine „Um- (2009): Die Verwand- 8 Streeck, a. a. O., S. 27, standene soziale Marktwirtschaft sich schließlich in der Volkspartei vorbereitet. Für die Evangelische Kirche in verteilungsmaschine“, wie oft behauptet wird. Die lung der Welt. Eine Anm.: „Gier und Geschichte des 19. Angst sind, der Konkurrenz der Wirtschaftssysteme durchsetzte. Unauf- Deutschland (EKD) war es der damalige Ratsvorsitzende Ungleichheit in den Einkommen ist bei steigendem Jahrhunderts, Jubi- Selbstbeschreibung haltsamer Fortschritt und Wohlstand für alle in Demo- Wolfgang Huber, der den neoliberalen Positionen Ger- Niveau seit der Gründung der Bundesrepublik struk- läumsedition 2013, des Finanzkapitalis- kratie und Frieden schienen greifbar nahe. Es kam hard Schröders besonders nahe stand. Als es 2004 da- turell praktisch unverändert geblieben.13 Wohl aber hat München, S. 1008. mus durch die 12 Castel, a. a. O., S. 23f. Finanzwissenschaft sogar die Meinung auf, dass nun das „Ende der Ge- rum ging, Verbündete für die Durchsetzung der der Sozialstaat eine große Mehrheit durch ein soziales 13 „Das schlechterdings zufolge, die ent- schichte“ (Fukuyama) erreicht sei. Jedoch endete 1990 Hartz-IV-Gesetze zu gewinnen, fand Schröder die EKD Netz vor den härtesten Risiken und Abstürzen ge- Verblüffende an der scheidenden westdeutschen Ein- keineswegs die Geschichte, sondern zunächst die be- und ihren Vorsitzenden „sehr wohl gesprächsbereit“.9 schützt und damit nicht nur die Gesellschaft, sondern Verhal-tensmotive in kommensverteilung Aktienmärkten und sondere Form der sozialen Marktwirtschaft der Nach- Auch die Wohlfahrtsverbände agierten recht hilflos auch deren Wirtschaft stabilisiert. ist, wie schon betont, in der kapitalis kriegszeit in Deutschland. Gespenster aus der und angepasst, als sie 1995 mit der Einführung der Dass sich einmal politische und gesellschaftliche ihre strukturelle tischen Wirtschaft im Stabilität.“ Wehler, allgemeinen.“ Vergangenheit kehrten zurück, mit denen kaum Pflegeversicherung den privaten Anbietern gleichge- Mehrheiten dafür finden würden, diese mit vielen Op- Hans-Ulrich (2013): 9 Schöllgen, Gregor jemand mehr ernsthaft gerechnet hatte.6 Der Wirt- stellt wurden. Die Aufkündigung der bevorzugten Ko- fern erkämpfte Entwicklung nicht nur zu stoppen, son- Die neue Umver (2015): Gerhard schaftsliberalismus begann sich durchzusetzen als all- operation des Sozialstaates mit freigemeinnützigen dern sogar umzukehren, ist erstaunlich. Was hat die teilung. Soziale Schröder. Die Bio Ungleichheit in graphie, München, gemeingültige Blaupause gesellschaftlichen Denkens Trägern lieferte das deutsche Sozialsystem einem bei- neoliberale Wende für Arbeitnehmer*innen und ihre Deutschland, S. 783. und Handelns. Spätestens mit dem Wegfall der System- spiellosen Privatisierungs- und Kommerzialisierungs- traditionellen Interessenvertretungen so attraktiv oder München, S. 71. Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt Die Unsicherheit ist zurück
12 wenigstens plausibel gemacht, dass sie bereitwillig auf DIE SOZIALPOLITISCHE GRETCHENFRAGE: 13 ihre kollektiven, solidarischen Absicherungen verzich- PROTESTANTISCH ODER KATHOLISCH? teten und die Wiederkehr sozialer Unsicherheit und Die Stabilität einer Gesellschaft und ihre Widerstands- Verletzbarkeit zuließen? kraft gegen autoritäre Versuchungen hängen maßgeb- lich von einem ausgewogenen und gut organisierten DIE KEHRSEITE DES KOLLEKTIVS Zusammenspiel von Individualität und Kollektivität ab. Eine wichtige Dynamik dabei war eine umfassende Die Gewichtung dieser Pole scheint, ebenso wie die sich „Re-Individualisierung“ seit den 1970er-Jahren.14 Denn daraus ergebenden Prämissen für die Wirtschafts- und das schützende Kollektiv hat seine Kehrseite: Kollektive Sozialpolitik, in Deutschland derzeit auch eine Frage Strukturen binden und kontrollieren. Sie schützen zwar, der Konfession zu sein. aber sie schränken die individuelle (Wahl-)Freiheit ein. Ausgangspunkt der katholischen Wirtschafts- und Die in Wohlstand und sozialer Sicherheit aufgewachse- Soziallehre ist der Gemeinschaftsaspekt der menschli- nen Generationen Westeuropas forderten nun aber ge- chen Natur: „Dass er (der Mensch) in Gemeinschaft lebt, 14 Castel, a. a. O., S. 25. rade diese individuelle Freiheit und Selbstbestimmung ist kein launischer Einfall, auch kein Ergebnis einer 15 Das vollständige Zitat ein: Freiheit von Bindungen, von Zugehörigkeiten, von Nützlichkeitserwägung oder Vorteilsabwägung: soll ich von Margret Thatcher lautet „So etwas wie Regeln und sonstigen Traditionen. Mit ihrem Lob der oder soll ich lieber nicht?“, so ihr einflussreichster Ver- Mit ihrem Lob der Individualität und ihrem Misstrauen gegenüber eine Gesellschaft gibt Individualität und ihrem Misstrauen gegenüber dem treter, der Nationalökonom und Jesuit Oswald von dem Staat und seinen Regulierungen baute die Generation der politisch linken liberalen 1968er-Bewegung unbewusste Brücken es nicht. Es gibt Indi- Staat und seinen Regulierungen baute die Generation Nell-Breuning.19 Die menschliche Individualität und viduen, Männer und zur vermeintlichen Befreiungsideologie des aufstrebenden Frauen. Und es gibt der politisch linken liberalen 1968er-Bewegung unbe- Freiheit hingegen berücksichtigt die katholische Sozial- Neoliberalismus. Familien." – Über wusste Brücken zur vermeintlichen Befreiungsideologie lehre durch das Prinzip der Subsidiarität. Die „Bauge- 14. Bundesparteitag der CDU in Bonn (März 1966): Der neugewählte letzteres, den Zusatz des aufstrebenden Neoliberalismus. Ein gesellschaftli- setze der Gesellschaft“ bestehen somit aus zwei Parteivorsitzende, Bundeskanzler Ludwig Erhard (l.), und sein Vor „und Familien“ gibt gänger in beiden Ämtern, Konrad Adenauer. es längst keinen cher Konsens hatte, wie oben geschildert, den Aufbau Elementen: Solidarität und Subsidiarität. Solidarität ist Konsens mehr, nicht des Sozialstaats ermöglicht. Ein neuer Konsens beför- das Strukturprinzip und bedeutet die gemeinschaftliche mal darüber, was „Familie“ überhaupt derte nun seine Demontage: die Schnittmengen in der Haftung, die sich aus der gesellschaftlichen Natur des ist. Auch dass Indivi- Überzeugung, „so etwas wie eine Gesellschaft gibt es Menschen ergibt. Subsidiarität ist das Zuständigkeits- duen „Männer und nicht, es gibt nur Individuen“15. prinzip und besagt, dass jeweils die kleinste mögliche Frauen“ sind, gilt heute nicht mehr als Die seit den 1970er-Jahren in Gang gekommene In- Einheit von der Gemeinschaft für Hilfeleistung zugerüs- politisch korrekt. dividualisierung, Deregulierung und Flexibilisierung tet werden soll, d. h. Selbsthilfe hat Vorrang. Nell-Breu- 16 Vgl. Streeck, a. a. O., war also zunächst auch ein Befreiungsprojekt. Gut ning war weit davon entfernt, gegen ein kapitalistisches das Soziale kam aus der katholischen Soziallehre via den neuen Gegebenheiten angepasst und weiter pri- S. 60. 17 Vgl. Castel, a. a. O., qualifizierte und angepasste Fachkräfte profitieren Wirtschaftssystem zu sein. Er gehörte zum wirtschafts- Adenauer, der einen guten Sinn für die Bilanz des Un- vatisiert und individualisiert werden müssten. S. 25f. unter Umständen von der damit einhergehenden neu- politischen Beraterkreis der westdeutschen Regierung. vereinbaren hatte.“23 Tatsächlich reaktivierte die Bon- Im Gegenteil, im Interesse einer kohärenten 18 Oskar Negt zit. bei 23 Dahrendorf zit. bei Heitmeyer, a. a. O., en Arbeitsorganisation. Wer mit kulturellem, sozialem Wettbewerb und Marktprinzip sind für Nell-Breuning ner Republik Elemente kollektiver und solidarischer Gesellschaft wird auch für die Arbeit 4.0. das ausge Große Kracht, a. a. S. 54f. oder monetärem Kapital gut ausgestattet ist, kann den als Ordnungsinstrumente unentbehrlich, wenn sie je- Absicherung, die bereits im 19. Jahrhunderts errungen wogene Zusammenspiel von Kollektivität und Indivi- O., S. 6. 19 Nell-Breuning SJ, flexiblen Arbeitsmarkt in der Tat als sportliche Heraus- doch zum Ordnungsprinzip der Gesellschaft erhoben worden waren. So gesehen trägt der „über Jahrzehnte dualität neu definiert und organisiert werden müssen. 24 Große Kracht, a. a. O., Oswald von (1990): S. 3. Baugesetze der Ge- forderung wie Mountainbiking oder Marathonlauf an- werden sollen, widerspricht dies klar der von ihm ver- höchst erfolgreiche German type of social capitalism Die protestantische Sozialethik leistet allerdings mit 25 Zur Anschlussfähig- sellschaft. Solidarität nehmen.16 Da diese bevorzugten Gruppen in der Regel tretenen katholischen Soziallehre.20 weit stärker katholisch-korporatistische als protestan- ihrer starken Betonung von Freiheit, Individualität und keit des deutschen und Subsidiarität, Ordoliberalismus an auch zu den Meinungsführern in der Gesellschaft zäh- Genau für diesen Grundsatz jedoch, nämlich die tisch-individualistische Züge“.24 Dies änderte sich mit Eigenverantwortung derzeit nur einen sehr einseitigen durchgesehene Neu- den amerikanischen auflage von 1968, len, verstärkt ihr Erfolg das neoliberale Lob auf Unter- Idee einer möglichst vollständig marktgerechten Ge- der Wende vom Nachkriegskapitalismus zum Neolibe- Beitrag in den notwendigen Aushandlungsprozessen. Neoliberalismus Frei-burg/Basel/Wien, nehmergeist, Flexibilität, Eigenverantwortung und sellschaft, steht die deutsche Variante des Neolibera- ralismus in den 1990er-Jahren. Wie oben beschrieben Denn moralische Appelle, die Forderung nach einem siehe die Beiträge S. 22. von Ralf Ptak und 20 Große Kracht, a. a. O., Risikobereitschaft sowie die zunehmende Diskreditie- lismus, der sogenannte Ordoliberalismus. Er wurde in wurden die solidarischen Elemente zurückgedrängt „Werteaufschwung“ in der Wirtschaft (Huber) und Inst- Jürgen Kehnscherper S. 39. rung solidarischer Regelungen als bevormundend, un- der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Wirt- und es begann der konsequent marktkonforme Umbau rumente wie Corporate Social Responsibility (CSR) wer- in: Kehnscherper, 21 Vgl. u.a. Huber, flexibel und nicht zeitgemäß.17 schaftswissenschaftlern entwickelt, die sich ausdrück- der Gesellschaft. Da sich exponierte Vertreter der Evan- den starke und wirksame kollektive und solidarische Jürgen / Ptak, Ralf Wolfgang (2010): (Hrsg.) (2018): Kirche Nachhaltigkeit und In einem neoliberal bestimmten Umfeld liegt die lich in der Tradition des Protestantismus sahen. gelischen Kirche in Deutschland stets zum Ordolibera- Strukturen nicht ersetzen können. Die Antwort auf die im Kapitalismus: Vertrauen, in: Bedingung für Erfolg allerdings gerade nicht in tatsäch- Einflussreiche Vertreter der Evangelischen Kirche in lismus bekannt hatten, waren Ihre Positionen Herausforderungen der Gegenwart könnte für die pro- Zwischen Anpassen Bedford-Strohm, und Gestalten. lich vollzogener individueller Freiheit. Im Gegenteil, Deutschland wie Wolfgang Huber berufen sich auf den anschlussfähig an die neoliberale Politik.25 testantische Wirtschafts- und Sozialethik möglicher- Heinrich / Jähnichen, 70 Jahre Soziale Traugott / Reuter, das Regime von Mobilität und Flexibilität erfordert eine Ordoliberalismus.21 Der Schwerpunkt ihrer Wirtschafts- weise in einem Wertewandel liegen, einer neuen Marktwirtschaft in Hans-Richard / Reihs, neue Unterwürfigkeit, denn „der flexible Mensch ist der und Soziallehre liegt dementsprechend nicht auf dem WERTEWANDEL STATT „WERTEAUFSCHWUNG“ Gewichtung und Bestimmung dessen, was „protestan- Westdeutschland, Sigrid / Wegner, Eine Tagung des Gerhard (Hrsg.): Zau- konditionierte Typ des Außengeleiteten, anpassungs- Gemeinschaftsaspekt des Menschen, sondern auf sei- Die Rückkehr der sozialen Frage, die Dominanz von tische Freiheit und Individualität“ im Verhältnis zum Kirchlichen Dienstes berformel Soziale fähig und anpassungsbereit, deshalb im Grunde auch ner Freiheit und Individualität, die durch das Prinzip Wirtschafts- und Kapitalinteressen und die autoritären Gemeinschaftsaspekt heute bedeuten und wie sie aus- in der Arbeitswelt Marktwirtschaft? für jedes politische Herrschaftssystem verwendbar. Es der Verantwortung begrenzt wird. Die Verantwortung Versuchungen: Sie sind offensichtlich Ausdruck und Er- gestaltet werden können. nnn (KDA) in Kooperation Jahrbuch Sozialer mit der Evangeli- Protestantismus 4, ist im Grunde der leistungsbewusste Mitläufer.“18 Das beruht auf freiwilliger Entscheidung und hängt letzt- gebnis eines Kapitalismus, dem das notwendige ge- schen Akademie der Gütersloh, S. 242-251, Wort „Flexibilität“ hat in der neuen Arbeitsorganisation lich von der persönlichen ethischen Reife ab. sellschaftliche Gegenüber in Gestalt kollektiver Nordkirche, Hamburg, hier: S. 244. 15. Juni 2018, nicht mehr die ursprüngliche Bedeutung im Sinne einer Eine konsequent marktförmige Gesellschaft, wie sie Kontrollinstanzen und solidarischer Absicherung ab- 22 Vgl. hierzu z. B. epd-Dokumentation Foucault Michel „Elastizität“, wie sie z. B. ein junger Baum hat. „Flexi- die deutschen Neo- oder Ordoliberalen anstreben, war handengekommen ist. Möglicherweise sind manche Nr. 44, Frankfurt am (2006): Die Geburt bilisierung“ ermöglicht Arbeitskräften unter Umständen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik aller- Kompromisse und Errungenschaften des 19. Jahrhun- Main. Abrufbar der Biopolitik. unter: https://www. Geschichte der Gou- zwar auch eigene Spielräume, sie steht aber zuneh- dings nicht durchsetzbar.22 Was der Wirtschaftsminister derts für die heutige Wirtschaft und Gesellschaft nicht kda-nordkirche.de/ vernementalität II, mend für die Forderung nach einer möglichst wider- Ludwig Erhard und seine protestantischen Berater in mehr ganz passgenau. Das bedeutet aber nicht, dass f/e/Publikatio- 5. Auflage 2017, standslosen Verformbarkeit und Anpassung bzw. die der Theorie forderten, war etwas anderes, als der ka- mit ihnen auch der Gemeinschaftsaspekt des Menschen nen/18-44_Kir- Frankfurt, S. 204f.; che%20im%20 oder Große Kracht, Bereitschaft, ohne feste Bindungen durch sein Leben zu tholische Kanzler Adenauer in der Praxis umsetzte: und das Prinzip der Solidarität obsolet geworden wären. Kapitalismus_web. a. a. O. „driften“ (Sennett). „Natürlich wollte Erhard keine soziale Marktwirtschaft; Oder dass die Sozial- und Kontrollsysteme nun einfach pdf. Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt Die Unsicherheit ist zurück
D 14 ie 2005 gestartete Hartz-IV-Reform wird trotz 15 aller Defizite von Politik und Arbeitsmarktfor- scher*innen als insgesamt erfolgreich bewertet. Zugleich ist auch deutlich geworden: Wer einmal ins Hartz-IV-System gerät, kommt so schnell nicht wieder Raus aus raus. Dies betrifft die Langzeitarbeitslosen ebenso wie die geringverdienenden Alleinerziehenden und die so- genannten Aufstocker*innen, die mit ihrem Niedrig- lohn das Familieneinkommen nicht bestreiten können. Hartz IV – In der aktuellen politischen Debatte werden die Defizi- te und der dringende Reformbedarf des Hartz-VI-Ge- setzes mittlerweile von allen Parteien diskutiert. Gleichzeitig halten sich Vorurteile über Hartz-IV- nur wohin? Empfänger*innen in der Gesellschaft hartnäckig und werden fortlaufend aus Klischees und dazu passenden Berichten gespeist. So glaubt noch immer ein Großteil der Deutschen, dass Hartz-IV-Empfänger*innen faul, schlecht ausgebildet und bei der Arbeitssuche zu Langzeiterwerbslose wollen das Hilfe- wählerisch sind und sich deshalb nicht auf den Ar- system verlassen –treffen dabei aber beitsmarkt begeben.1 Ich möchte anhand von zwei Beispielen Reaktionen von Leistungsempfänger*innen oft auf instabile Jobs und unsichere auf die aktuelle Arbeitsmarkt- und gesellschaftliche Zukunftsperspektiven Situation darstellen. Dabei handelt es sich jeweils um bewusst gewählte Strategien, die entgegen gängigen Vorurteilen gegenüber Erwerbslosen von Eigenverant- 1 Vgl. https://bit. TEXT Maike Hagemann-Schilling wortlichkeit und dem Versuch geprägt sind, Hand- ly/2HLURdl (Abruf: 28.03.2019). lungsfähigkeit und Würde zu erhalten. Im ersten Teil 2 Vgl. P. Schütt: beziehe ich mich auf eine Studie von Dr. Petra Schütt „Security first“ – eine Handlungsstrategie vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V. Was bedeutet es, nicht zur Gruppe der (ISF München)2 und im zweiten Teil möchte ich die von erwerbsfähigen Erwerbslosen, in: Erwerbstätigen zu gehören, sondern im Geschichte von Daniel Blake, einer fiktiven Filmfigur, Arbeit 23/III (2014), S. 179-192. vorstellen, die stellvertretend für viele Erwerbslose sogenannten Hartz-IV-Bezug zu sein? steht. 3 „Erklärungsansatz für den erlebten Schließt das Menschen von dem Teil der Kontrollverlust in der Situation unfrei SELBSTVERANTWORTLICH HANDELN KÖNNEN Gesellschaft aus, wo sie über Erwerbs Für das Journal des KDA im Jahr 2018, das unter dem williger Arbeitslosig- keit (z. B. vergebliche tätigkeit Anerkennung und Teilhabe Thema „Angst“ stand, hatte ich mit einer Gruppe von Arbeitsplatzsuche). Der erfahrene Kont- langzeitarbeitslosen Frauen und Männern mit der Me- erfahren – oder entlastet es sie von thode des Problembaumes zu ihren Ängsten gearbeitet. rollverlust bei der Gestaltung der Anforderungen eines von Prekarität Ein zentrales Erleben stellte dabei die gefühlte erlernte eigenen Lebens umstände begünstigt Hilflosigkeit dar. Daraus resultierte u. a. die Angst vor gekennzeichneten Arbeitsmarktes? Ein Veränderung: vor der Annahme eines Jobs, einem Erfahrungen der Enttäuschung und Blick auf die Strategien von erwerbs Wechsel des Wohnortes oder einer Veränderung im Hilflosigkeit, die nach experimentell Fallmanagement. Diese Veränderungen waren und sind gesicherten Beob- losen Menschen, die auf Unterstützung im Erleben immer mit Risiken und Fragilität der aktu- achtungen regelhaft mit emotionalen, angewiesen sind, aber trotzdem ellen Lebenssituation verbunden. Das Bild der erlernten kognitiven und Hilflosigkeit passt gut in das in der Gesellschaft vor- motivationalen selbstverantwortlich handeln und ihre herrschende Bild über erwerbslose und insbesondere Defiziten einher gehen (depressive Würde erhalten wollen. langzeiterwerbslose Menschen.3 Verstimmung, Bei der Recherche für diesen Beitrag bin ich auf eine verringerte Selbst- achtung, herabge- Studie gestoßen, die ein anderes als das gängige Bild setzte Reagibilität, von langzeitarbeitslosen Menschen vermittelt und dem Passivität) – ein Erscheinungsbild, Prinzip der erlernten Hilflosigkeit etwas entgegenstellt. das dem in vielen In der von Petra Schütt durchgeführten Studie wird Studien mit Lang- eine Handlungsstrategie von erwerbsfähigen Erwerbs- zeitarbeitslosen entspricht.“ (T. Kie- losen beschrieben, die „Security first“ genannt wird. selbach/A. Wacker: Sie beschreibt den Umgang mit den Anforderungen an Art. Hilflosigkeit, Selbstverantwortlichkeit und Eigeninitiative unter Be- erlernte, in: Lexikon der Psychologie, o.J., dingungen von zunehmender Unsicherheit. Die Ergeb- https://bit.ly/2Qy6sBq; nisse basieren auf der empirischen Arbeit mit einem Abruf: 28.03.2019). Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt Raus aus Hartz IV – nur wohin?
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