Feminismus ist für alle da - Amnesty International
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AMNESTY JOURNAL MAGAZIN FÜR MENSCHENRECHTE 02/22 MÄRZ / APRIL WWW.AMNESTY.DE/JOURNAL Feminismus ist für alle da Frauenrechte weltweit Drecksarbeit für Europa Musik ist jetzt verboten Wie Geflüchtete in der türkischen Das Afghan National Institute Recyclingindustrie ausgebeutet werden of Music macht im Exil weiter
INHALT Einen Schritt vor, 12 zwei zurück. Sexismus ist derzeit leider nicht totzukrie- gen. Dabei würden alle Menschen von mehr Feminisimus und Gleichberechti- gung profitieren – TITEL: FRAUENRECHTE nicht nur in Deutsch- Diskriminierung: Der lange Weg zur Gleichberechtigung 12 land, sondern überall auf der Welt. Porträts: Manuela Haase — Eine, die sich durchsetzt 16 Maria Teresa Rivera — Leider kein Einzelfall 17 Afghanistan: »Kämpfende Frauen« gegen Taliban 18 Kulturtipps: Nicht nur für Frauen 22 »Männer sollten lieber auf Frauen hören, wenn 26 es um Sexismus geht.« Periodenarmut: Tasse statt Tabu 23 Viele Frauen werden mehrfach diskriminiert – Femizide in Mexiko: Das Risiko, eine Frau zu sein 24 etwa dann, wenn sie Intersektionalität: Die Politologin Emilia Roig spricht Rassismus erfahren. im Interview über Hierarchien und Diskriminierung 26 Die Politologin Emilia Roig macht darauf aufmerksam, wie sich POLITIK & GESELLSCHAFT Unterdrückungssysteme verschränken. Ausbeutung von Geflüchteten: In den Plastikmüllbergen von Adana 30 Israel-Bericht von Amnesty: Keine einfache Lektüre Menschenrechte sind universell 34 35 36 Gold oder Teilhabe? Die Paralympics könnten die gesell- Paralympics in Peking: Behinderte Athlet_innen in China 36 schaftliche Lage von Menschen mit Behin- Indigene bedroht: Bolsonaro gegen die »Terra Indígena« 40 derung verbessern. Mine in Guatemala: Die Rechte der Q’eqchi’ 44 Beim aktuellen Gast- geber China geht es Graphic Report: Meinungsfreiheit – Mundtot gemacht 46 aber mehr um Medaillen als um Nordkorea: Datenbanken gegen Erschießungen 50 Menschenrechte. Internationales Strafrecht: Zeit für eine Bewertung 52 KULTUR »Musik ist unser Recht.« Afghanische Musik: Noten verboten 56 Mädchen und Jungen in gemeinsamen Klassen, 56 Rechtsextreme Verlage: Verbal aktiv 60 angesehene Ensembles, Dirigentinnen am Pult: Kunst auf den Philippinen: Wenig aussprechen, viel sagen 62 Das Afghanistan National Institute of Music schlug Unternehmerin in Ägypten: auch gesellschaftlich Die Buchhändlerin und Autorin Nadia Wassef 64 einen neuen Takt an. Seit der Rückkehr der Kochen für Diktatoren: Kulinarische und andere Vorlieben 66 Taliban ist das Institut Graphic Novel »Erdoğan«: in Kabul verwaist. Gefangen zwischen Moschee und Kaserne 68 Abiodun Oyewole: Urvater des Rap 70 »Dieses Buch ist RUBRIKEN 66 eine Warnung.« Pol Pot, Idi Amin, Saddam Hussein, Enver Hoxha und Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 08 Spotlight: Menschenrechte Fidel Castro: In seinem Buch in Russland 38 Was tun 48 Porträt: Alejandra Ancheita 54 »Wie man einen Diktator Dranbleiben 55 Rezensionen: Bücher 69 Rezensionen: Film & satt bekommt« zeigt der Musik 71 Briefe gegen das Vergessen 72 Aktiv für Amnesty 74 polnische Journalist Witold Kolumne: Eine Sache noch 75 Impressum 75 Szabłowski, wie viel Essen über die Politik oder das Regime in einem Land aussagt. 2 AMNESTY JOURNAL | 02/2022
18 Am Abgrund. Seit die Taliban in EDITORIAL VIEL BEWEGEN, Afghanistan wieder an der Macht sind, verlieren Frauen immer mehr VIEL KLICKEN, Rechte. Die Gruppe »Kämpfende Frauen« wehrt sich, so gut VIEL LESEN sie kann. Am 8. März ist Internationaler Frauentag. Aber der 8. März ist nur einer von vielen Gründen, warum wir uns in dieser Sie machen Ausgabe den Frauenrechten widmen. In Afghanistan haben die Drecksarbeit für Europa. 30 sich die Lebensbedingungen vieler Frauen und Mädchen Dass der Export von seit der Machtübernahme der Taliban im Sommer vergan- europäischem Plastik- genen Jahres deutlich verschlechtert. Und im Norden Mexi- müll immense Umwelt- kos begann das Jahr 2022 mit einem Doppelmord an einem probleme in den Ländern verursacht, die lesbischen Paar. Knapp 20 Seiten umfasst unser Schwer- ihn verarbeiten, hat sich punkt, der Frauen aus aller Welt, ihre Rechte und Kämpfe, herumgesprochen. ihre Errungenschaften und Erfolge in den Blick nimmt und Kaum bekannt ist, dass dabei auch Geflüchtete der auch nach dem 8. März noch wichtig bleibt. ausgebeutet werden. Im Jahr 2020 haben wir unsere Website neu gestaltet. Im Jahr 2021 folgte ein Relaunch des Amnesty Journals – so- Schutzgebiete, die 40 nicht mehr schützen. In Brasilien setzt wohl der gedruckten Ausgabe als auch des E-Papers. Nun haben wir auch unsere App für Tablets überarbeitet. Wenn die Regierung des Sie zu den Leser_innen gehören, die das Journal am liebsten rechtsextremen auf einem Tablet ansteuern, dann gibt es dort jetzt viel Präsidenten Indigene zunehmend unter Neues zu entdecken. Und wer die kostenlose App, die für Druck. Gesetzes- alle gängigen Betriebssysteme zur Verfügung steht, noch vorhaben, Land- nicht kennt: Sie lohnt sich, schauen Sie doch mal in Ihren konflikte und gewaltsame Angriffe App- oder Playstore. bedrohen ihre Rechte. Und noch ein Tipp für alle, denen die Lektüre des Amnesty Journals nicht ausreicht: Am 29. März 2022 erscheint der Amnesty Report 2021/22. In 154 Länderkapiteln, fünf Regio- Die Toilette als Befreiung der Frau. 64 nalkapiteln und übergreifenden Analysen beleuchtet Am- nesty International darin die weltweite Menschenrechtslage Nadia Wassef gründete den legendären Buchladen im Jahr 2021. Wir geben Antworten auf große Fragen: Wel- »Diwan« in Kairo. Der ist che Auswirkungen hatte das zweite Jahr der Pandemie auf vor allem für Frauen zu einem Ort der Begegnung die Menschenrechte? Wie hat sich die Situation von Frauen geworden. Darüber hat sie und Mädchen, LGBTI+, Journalist_innen und Menschen- ein Buch geschrieben, das rechtsverteidiger_innen entwickelt? Auch die Themen hilft, Ägypten besser zu verstehen. Klimawandel, Impfgerechtigkeit, Flucht und Migration so- wie Rassismus und Diskriminierung werden unter länder- spezifischen Aspekten analysiert. Die einzelnen Kapitel werden auf amnesty.de veröffentlicht, können aber auch als Buch bestellt werden. Wir wünschen gute Lektüre! Titelbild: Kundgebung zum Maik Söhler Internationalen Frauentag am ist verantwortlicher Redakteur 8. März 2021 in La Paz, Bolivien. des Amnesty Journals. Foto: David Mercado / Reuters Foto: Gordon Welters Fotos und Zeichnung oben: Joan Amengual / VIEWpress / Getty Images | Ilir Tsouko | André Gottschalk Emre Çaylak | Yang Shiyao / Xinhua / imago | Nara Nasco | Marcus Yam / Los Angeles Times / Polaris / laif Basso Cannarsa / Opale / laif | Apic / Getty Images AMNESTY JOURNAL | 02/2022 3
PANORAMA IM OSTEN DER UKRAINE Am 21. Februar 2022 erkannte der russische Präsident Wladimir Putin die von Separatist_innen kontrollierten Gebiete im Osten der Ukraine als unabhängig an und schickte militärische Trup- pen in die »Volksrepubliken Luhansk und Donezk«. In den Wochen zuvor hatte Russland seine Einheiten an der Grenze zur Ukraine massiv verstärkt. Pu- tin forderte Sicherheitsgarantien von der NATO. Das westliche Mi- litärbündnis betonte die Souve- ränität der Ukraine und verlegte seinerseits Truppen in osteuro- päische NATO-Mitgliedstaaten. Bereits seit 2014 schwelt ein be- waffneter Konflikt um die Ost- ukraine zwischen Russland und der Ukraine. Auf seinem Höhe- punkt starben mehr als 13.000 Menschen, mehr als eine Million Menschen wurden vertrieben. Amnesty International ruft zur Achtung des humanitären Völ- kerrechts und der Menschen- rechte auf. Der Schutz der Zivil- bevölkerung müsse oberste Prio- rität haben. »Es müssen alle An- strengungen unternommen wer- den, um das Leid der Zivilbevöl- kerung zu minimieren. Dazu sind alle Parteien gesetzlich verpflich- tet«, sagte die internationale Ge- neralsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard. Das Bild zeigt ukrainische Solda- ten in einem Unterstand in Po- pasna, Ostukraine. Aktuelle Ent- wicklungen wurden auf diesen Seiten bis zum 22. Februar 2022 berücksichtigt. Foto: Brendan Hoffman / The New York Times / Redux / laif 4 AMNESTY JOURNAL | 02/2022
KEIN DURCHKOMMEN Immer mehr Menschen aus Mittel- und Südamerika versuchen, vor Armut, Gewalt und Naturkatastrophen in die USA zu fliehen. Die US-Regierung hat zentralamerikanische Länder und Mexiko um Hilfe gebeten, um zu verhindern, dass große Gruppen bis an die US-Grenze gelangen. Doch machen sich weiterhin viele verzweifelte Menschen auf den beschwerlichen Weg. Das Bild zeigt eine Frau auf der Flucht vor einer Barriere des guatemaltekischen Militärs im Grenzgebiet zu Honduras. Foto: Delmer Martinez / AP / pa 6 AMNESTY JOURNAL | 02/2022
ZURÜCK IN DER SCHULE Im März 2020 hatten sie ihre Klassenzimmer zuletzt von innen gesehen, jetzt durften rund 15 Millionen ugandische Schüler_innen wieder in die Schule. Der ostafrikanische Staat zählt zu den Ländern mit den weltweit längsten Schulschließungen während der Corona- Pandemie. Kinderhilfsorganisationen kritisierten die Schließungen scharf: Sie befürchten, dass viele Kinder nicht wieder in den Lernalltag zurückfinden und die Schule abbrechen. Foto: Esther Ruth Mbabazi /The New York Times / Redux / laif AMNESTY JOURNAL | 02/2022 7
EINSATZ MIT ERFOLG POLEN Am 12. Januar 2022 hat ein Gericht den Frei- Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den spruch von drei LGBTI-Aktivistinnen bestätigt. »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und Ela, Anna und Joanna hatten ein Poster plaka- an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser tiert, das die Jungfrau Maria mit einem Heili- Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und genschein in Regenbogenfarben zeigte. Sie wa- Menschen vor unfairen Prozessen schützt, zeigt unsere Weltkarte. ren deshalb 2019 wegen »Verletzung religiöser Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge Gefühle« angeklagt worden, was in Polen mit bis zu zwei Jahren Haft geahndet werden kann. Nachdem sie im März 2021 freigesprochen wor- den waren, hatte die Staatsanwaltschaft Rechts- mittel gegen das Urteil eingelegt. Nach dem Sieg der Aktivistinnen im Berufungsverfahren bezeichnete Catrinel Motoc vom Europa-Regio- nalbüro von Amnesty International das Urteil als »eine große Erleichterung«. Es dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, »dass die drei Frauen gar nicht erst vor Gericht hätten gestellt werden dürfen«. PERU Das peruanische Außenministerium informierte Amnesty International am 17. Dezember 2021, BRASILIEN dass 4.244 minderjährige Asylsuchende einen Ein Richter des Obersten Gerichtshofs hat am Einwanderungsstatus aus humanitären Grün- 3. Dezember 2021 ein weiteres Ermittlungsver- ÄGYPTEN den erhalten hätten. Verschiedene Organisatio- fahren gegen Präsident Jair Bolsonaro wegen Am 23. Dezember 2021 wurde die ägyptische nen hatten kritisiert, dass zwar erwachsene Verbreitung von Falschinformationen in Zu- Menschenrechtsaktivistin Sanaa Seif aus dem Asylsuchende diese befristete Aufenthaltsge- sammenhang mit der Corona-Pandemie ange- Gefängnis entlassen, nachdem sie ihre Haftstra- nehmigung seit Juni 2021 erhalten konnten, ordnet. Bis Dezember 2021 waren in Brasilien fe verbüßt hatte. Sie war am 23. Juni 2020 von Minderjährige jedoch nicht. Ohne dieses Doku- mehr als 600.000 Menschen im Zusammen- den Sicherheitskräften abgeführt worden, als ment haben Asylsuchende in Peru jedoch kei- hang mit dem Coronavirus gestorben. Viele der sie bei der Staatsanwaltschaft in Kairo einen nen Zugang zu Grundrechten wie Gesundheit Todesfälle wären vermeidbar gewesen, wenn brutalen Angriff auf sie zur Anzeige bringen und Bildung. Weltweit hatten Mitglieder und sich die Regierung konsequent um den Gesund- wollte. Am 17. März 2021 hatte ein Gericht Sanaa Unterstützer_innen von Amnesty in Briefen an heitsschutz gekümmert hätte. Stattdessen spiel- Seif aufgrund haltloser Vorwürfe wie »Verbrei- die peruanische Regierung gegen die Diskrimi- te sie die Auswirkungen der Pandemie herunter tung von Falschinformationen«, »Missbrauch nierung der Kinder und Jugendlichen protestiert und propagierte unwirksame Behandlungsme- sozialer Medien« und »Beleidigung eines Poli- und sich für die minderjährigen Asylsuchenden thoden. Außerdem standen weder genügend zisten im Dienst« zu 18 Monaten Haft verurteilt. eingesetzt. Impfstoffe noch medizinische Ausrüstung wie Mitglieder und Unterstützer_innen von Amnes- zum Beispiel Sauerstoffvorräte zur Verfügung. ty International hatten mit Petitionen und Brie- Amnesty hatte eine Untersuchung der Vorwürfe fen an die ägyptischen Behörden die Freilas- 8 AMNESTY JOURNAL | 02/2022 gefordert. sung der Menschenrechtsaktivistin gefordert.
TÜRKEI BRIEFE GEGEN Zumindest gilt er nun nicht mehr als »ver- DAS VERGESSEN – UPDATES schwunden«: Im Oktober 2021 wurde bekannt, dass sich Hüseyin Galip Küçüközyiğit im Gefäng- Mit den Briefen gegen das Vergessen (siehe Seite 72) nis Sincan nahe Ankara befindet. Der ehemalige können sich alle gegen Unrecht stark machen – allein Rechtsberater des Premierministers galt seit zu Hause oder gemeinsam mit anderen. In jedem dem 29. Dezember 2020 als vermisst. Obwohl Amnesty Journal rufen wir dazu auf, an Regierungen seine Tochter Nursena alles unternahm, um ihn oder andere Verantwortliche zu schreiben und sich für zu finden, blieb sein Aufenthaltsort 259 Tage Betroffene von Menschenrechtsverletzungen einzu- lang unbekannt. Hüseyin Galip Küçüközyiğit setzen. Was aus ihnen geworden ist, erfahren Sie hier. wurde nach dem Putschversuch im Juli 2016 als Beamter entlassen, seit 2018 strafrechtlich ver- folgt und im Mai 2019 wegen »Mitgliedschaft in SAUDI-ARABIEN einer terroristischen Vereinigung« zu sechs Jah- Die saudische Menschenrechtsvertei- ren und drei Monaten Haft verurteilt. Das Urteil digerin Nassima al-Sada ist Ende Juni wurde in einem Berufungsverfahren bestätigt, 2021 freigelassen worden. Sie setzte während er als verschwunden galt. Amnesty sich viele Jahre lang für bürgerliche Foto: privat International hatte im Februar 2021 eine Eil- und politische Rechte, die Rechte der aktion für ihn gestartet. schiitischen Minderheit und für Frau- enrechte ein. Gemeinsam mit ande- ren Frauenrechtlerinnen engagierte sich Nassima al- Sada gegen das Fahrverbot für Frauen und das repressi- ve männliche Vormundschaftssystem in Saudi-Arabien. Sie war im Juli 2018 nach jahrelanger Schikane durch die Behörden willkürlich festgenommen worden – einen Monat nach der Aufhebung des Frauenfahrverbots. Von Februar 2019 bis Anfang 2020 wurde sie in verlängerter Einzelhaft gehalten. Auch danach durfte sie keinen Besuch empfangen. Trotz ihrer Freilassung ist Nassima al-Sada Auflagen unterworfen. So darf sie fünf Jahre lang nicht reisen. (Januar 2021) BURUNDI Im Juli 2021 ist der burundische Menschenrechtsverteidiger Germain Foto: Alexandra Bertels Rukuki freigelassen worden – nach mehr als vier Jahren Haft. Ein Beru- fungsgericht hatte die gegen ihn ver- hängte Strafe von 32 Jahren auf ein Jahr reduziert. Germain Rukuki hatte für die christliche Anti-Folter-Organisation ACAT-Burun- IRAN di gearbeitet und war im Juli 2017 festgenommen wor- Nach fünf Jahren Haft ist Atena Daemi seit den. Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe »Teilnahme an 24. Januar 2022 wieder in Freiheit. Die Men- einer Aufstandsbewegung«, »Bedrohung der inneren schenrechtsverteidigerin, die sich unter ande- Sicherheit« und »Angriff auf die staatliche Autorität« rem gegen die Todesstrafe eingesetzt hatte, war waren vollkommen haltlos. »Es ist eine großartige 2015 der »Versammlung und Verschwörung ge- Nachricht, dass Germain endlich frei ist«, sagte Deprose gen die nationale Sicherheit« sowie der »Ver- Muchena, der Regionaldirektor von Amnesty Interna- breitung und Propaganda gegen das System« tional für die Region östliches und südliches Afrika. beschuldigt und zu 14 Jahren Haft verurteilt »Er hätte jedoch gar nicht erst inhaftiert werden dürfen, worden, die später auf sieben Jahre verkürzt denn er wurde nur wegen seiner Menschenrechtsarbeit wurden. Weil sie auch im Gefängnis Menschen- festgenommen, angeklagt und verurteilt.« rechtsverletzungen kritisierte, wurde sie zu wei- (Februar 2020) teren Haftstrafen verurteilt. Im Gefängnis wur- de Atena Daemi geschlagen, mit Pfefferspray traktiert und 51 Tage lang in Einzelhaft gehalten. Obwohl sich ihr Gesundheitszustand in der Haft dramatisch verschlechterte, verweigerte man ihr eine angemessene medizinische Versorgung. Amnesty hatte sich immer wieder für ihre Frei- lassung eingesetzt, unter anderem beim Brief- marathon 2018. AMNESTY JOURNAL | 02/2022 9
Frauenrechte Femizide, Abtreibungsverbote, ungleicher Lohn. Sexismus hat viele Auswüchse. Frauen erfahren Diskriminierung, und manchmal verlieren sie dabei sogar das Leben. In Mexiko werden Morde an Frauen in den meisten Fällen nicht aufgeklärt. In El Salvador drohen nach Schwangerschaftsabbrüchen Jahre im Gefängnis. In Afghanistan sollen Frauen aus dem öffentlichen Leben gänzlich verschwinden. In Deutschland werden Frauen für ihre Arbeit schlechter bezahlt als Männer. Und doch gibt es Lichtblicke, immer wieder. Frauen in aller Welt zeigen, dass sie nicht aufgeben und für ihre Rechte kämpfen. Mit Herz und vollem Einsatz für Frauenrechte. Eine Frau am Internationalen Frauentag (8. März) in Beirut, Libanon, 2021. Foto: Florient Zwein | Hans Lucas / pa AMNESTY JOURNAL | 02/2022 11
Frauenrechte sind Menschenrechte. Protest in Madrid, Spanien, am 8. März 2021. 12 AMNESTY JOURNAL | 02/2022 Foto: Joan Amengual / VIEWpress / Getty Images
FRAUENRECHTE DISKRIMINIERUNG Einen Schritt vor, zwei zurück Sexismus gibt es nach wie vor überall. Dabei würden alle Menschen von mehr Gleichberechtigung profitieren – nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Von Lea De Gregorio W er hat sie noch nicht beginnt, setzt sich auf allen Ebenen fort. Körperverletzung durch Partnerschafts- gehört: Aussagen wie Es ist eine Unterdrückung, die Frauen gewalt«, sagte die damalige Bundesfrau- »Heute ist die Lage überall spüren: zu Hause, am Arbeitsplatz enministerin Franziska Giffey 2019 und doch schon viel bes- und am eigenen Körper. bezog sich auf Zahlen des Bundeskrimi- ser« oder »Heute sind Dass sich die Lage für Frauen in eini- nalamts. Männer und Frauen doch so gut wie gleich- gen Aspekten verbessert hat, stimmt. Es 30 Prozent aller Frauen weltweit erle- berechtigt«. Manche sagen es, wenn ihr gibt sie: die vielbeschworenen Erfolge. In ben nach Angaben der Weltgesundheits- Gegenüber bei sprachlichen Äußerungen Westdeutschland eröffnete das erste Frau- organisation (WHO) durch ihren Bezie- gendert. Andere, wenn es um ungerechte enhaus 1976, in Indien 1980. In Deutsch- hungspartner physische oder sexualisier- Bezahlung geht. Menschen, die auf diese land verfügen heute 30 Prozent der Frau- te Gewalt. Die Zahlen haben sich während Weise diskutieren, haben meistens Frau- en zwischen 30 und 34 Jahren über einen der Corona-Pandemie noch erhöht. Dabei en in Deutschland im Kopf. Und, wer hät- Hochschulabschluss – und haben damit zeigt sich, dass sich die Lage von Frauen te das gedacht, die Aussagen stammen die Männer überholt. Hierzulande schaff- in manchen Aspekten verbessert, in an- meistens von Männern. te es eine Frau an die Spitze der politi- deren aber drastisch verschlechtert hat. Und die haben gut reden, zumindest schen Macht. Und auch anderswo finden 2020 verzeichnete das westafrikani- dann, wenn sie von den Ungerechtigkei- sich Frauen in führenden politischen Äm- sche Liberia in der ersten Jahreshälfte ten nicht betroffen sind. »Wenn du die tern. So wird zum Beispiel Honduras seit einen Anstieg geschlechtsspezifischer Existenz von diskriminierenden Gesell- diesem Jahr von einer Frau regiert. Und Gewalt um 50 Prozent. In Nigeria rief die schaftsmechanismen infrage stellst, soll- dennoch gibt es Sexismus und Geschlech- Regierung aufgrund der steigenden Ver- test du nun kurz innehalten und dich fra- terungerechtigkeit weiterhin – und zwar gewaltigungszahlen während der Corona- gen, warum du die (Diskriminierungs-) überall. Erfahrung anderer Menschen anzweifelst und was das eventuell über deine eigene Gewaltverbrechen nehmen zu Machtposition aussagt«, schreiben die Weltweit werden Menschenrechte von »Viele Frauen arbeiten Autorinnen des Buches »Feminism is for Frauen verletzt – angefangen beim Recht im informellen Sektor.« everyone«. auf körperliche Unversehrtheit. »An fast In ihren Augen zeigt sich bereits dann jedem dritten Tag wird in Deutschland Jessica Mosbahi, das Problem systematischer Unterdrü- eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Part- Medica Mondiale ckung, wenn Diskriminierte Sexismus be- ner getötet. Und alle 45 Minuten wird – weisen müssen. Was mit dem Infragestel- statistisch gesehen – eine Frau Opfer von len von Diskriminierungserfahrungen vollendeter und versuchter gefährlicher AMNESTY JOURNAL | 02/2022 13
Sie haben Sexismus »satt«. Frauen protestieren in Monte- video, Uruguay, 8. März 2021. Foto: Mariana Greif / Reuters Pandemie einen Notstand aus. Auch in sogenannten Care-Arbeit, also der Pflege- sorgen politisch Verantwortliche sogar Deutschland nahm häusliche Gewalt in und Sorgearbeit, werde von Frauen geleis- dafür, dass ihre Lage noch schwieriger der Pandemie zu, was sich nicht zuletzt tet. Dass Frauen weltweit häufiger zu wird. So verschärfte der US-Bundesstaat daran zeigt, dass Frauenhäuser überbe- Hause bleiben und stattdessen ihr Part- Texas 2021 sein Abtreibungsgesetz und legt sind – wie etwa derzeit in Bremen. ner Geld verdient, liegt nicht immer an verbot Schwangerschaftsabbrüche bereits individuellen Entscheidungen, sondern ab der 6. Woche, selbst in Fällen von Ver- Wirtschaftliche und auch am sogenannten Gender-Pay-Gap. gewaltigung. In Mexiko werden 90 Pro- soziale Abhängigkeit In Europa verdienen Frauen im Schnitt zent der Gewaltverbrechen an Frauen Dass viele Frauen weltweit in gewaltsa- rund 14 Prozent weniger als Männer, in schlichtweg nicht aufgeklärt, was dafür men Beziehungen bleiben, liegt unter an- Deutschland sind es 18 Prozent. Diese Un- sorgt, dass diese weiter zunehmen. derem auch daran, dass sie wirtschaftlich gleichheit setzt sich im Alter fort. Frauen häufig von Männern abhängig sind. »Die- sind am Ende ihres Berufslebens stärker Staaten in die Pflicht nehmen se Frauen wissen, dass sie ohne den Part- von Altersarmut betroffen: Sie erhalten in Dabei können Staaten einiges tun, um ner wenig Überlebenschancen haben. Deutschland durchschnittlich 46 Prozent Frauen stärker vor Menschenrechtsverlet- Weil sie kein eigenes Einkommen haben, weniger Rente. zungen zu schützen. Die Anfänge sind ge- trennen sie sich auch weniger häufig«, Aber es sind nicht allein wirtschaftli- legt. 1979 wurde die UN-Frauenrechtskon- sagt Jessica Mosbahi von der Frauen- che Aspekte, die dafür sorgen, dass viele vention (CEDAW) verabschiedet. »Sie ver- rechts- und Hilfsorganisation Medica Frauen in Abhängigkeiten verharren. pflichtet die Vertragsstaaten, auf allen Mondiale. Sie erklärt, dass viele der Frau- »Hinzu kommt die Problematik, dass Ebenen Diskriminierung von Frauen zu en, die von Gewalt betroffen sind, gleich- Frauen in vielen Ländern nur sehr schwer bekämpfen und ihre Gleichstellung zu zeitig existentielle Nöte haben und sich alleine leben können, weil das schlichtweg verwirklichen«, sagt Gunda Opfer von deshalb nicht aus gewaltsamen Partner- nicht dem patriarchalen Bild entspricht«, der Amnesty-Gruppe Frauenrechte. Viele schaften befreien. Und schon sind wir sagt Mosbahi. Wollen Frauen sich schei- Vertragsstaaten hätten jedoch Vorbehalte beim nächsten Recht, das weltweit ver- den lassen, geraten sie in einigen Ländern gegen wichtige Artikel formuliert und letzt wird, wenn es um Frauen geht: das bis heute noch an den gesellschaftlichen seien von der Umsetzung des Überein- Recht auf faire Bezahlung. »Viele Frauen Rand. »Selbst wenn Scheidungen erlaubt kommens weit entfernt. sind auch deshalb wirtschaftlich abhän- sind, wird in vielen Ländern das Recht oft Auf europäischer Ebene soll die soge- gig, weil viele im informellen Sektor nicht ausgeübt, weil geschiedene Frauen nannte Istanbul-Konvention, die Konven- arbeiten«, sagt Mosbahi. »Das heißt in mit einem Makel versehen und diskrimi- tion zur Verhütung und Bekämpfung von Arbeitssektoren, für die es keine klaren niert werden«, sagt Mosbahi. Gewalt gegen Frauen und häuslicher Ge- Regeln gibt und die auch schlechter be- Nicht nur auf gesellschaftlicher und walt, Frauen schützen. Gunda Opfer be- zahlt sind.« wirtschaftlicher Ebene werden Frauen zeichnet auch dieses Übereinkommen als Ein großer Teil der Arbeit, die viele diskriminiert. Auch in der Politik ist das »wichtiges Signal«. Von den 47 Mitglied- Frauen verrichten, wird gar nicht ent- so. Das mag vielleicht auch daran liegen, staaten des Europarats sind derzeit 34 lohnt. »Die Pflege von Angehörigen, die dass Entscheider_innenpositionen viel Sorge für die Kinder, die Hausarbeit, all häufiger mit Männern besetzt werden. das wird nicht bezahlt, sodass Frauen oft- Das ungleiche Machtverhältnis der Ge- mals keine finanziellen Rücklagen bilden schlechter zeigt sich in einer Zahl sehr »Wir kämpfen, weil können«, sagt Mosbahi. Dreiviertel der konkret: Laut Interparlamentarischer wir immer im Training Union (IPU) sind nur knapp 26 Prozent aller Parlamentsabgeordneten weltweit bleiben müssen.« 14 AMNESTY JOURNAL | 02/2022 Frauen. Und anstatt Frauen zu schützen, Priya Basil, Feministin
LGBTI sichtbar machen. Demonstration am 4. Juli 2021 in Bogota, Kolumbien. Foto: Chepa Beltran / VWPics / Redux / laif Die Lohnlücke schließen! Protest am 8. März 2021 in Berlin. Foto: Stefan Boness / Ipon Vertragsstaaten der Konvention. Opfer gang zu Macht.« Sie vertrete dabei einen waltdelikte. Und das polnische Parlament moniert jedoch, dass elf Staaten sie unter- intersektionalen Ansatz und schaue auch stimmte 2021 für ein Anti-LGBTI-Gesetz, zeichnet, bisher aber nicht ratifiziert ha- auf andere Diskriminierungsformen wie das Pride-Paraden und andere selbstbe- ben – und die Türkei im Juli 2021 wieder Rassismus – als Erbe des Kolonialismus. wusste Demonstrationen der Community ausgetreten ist. Die neue Bundesregie- verbieten soll. rung hat angekündigt, Frauenrechte stär- Diskriminierung kennt viele Formen ker in den Fokus zu rücken. Außenminis- Wenn die feministische Außenpolitik ih- Ein Feminismus, terin Annalena Baerbock will sich für ren Fokus auch auf »andere marginali- von dem alle etwas haben eine feministische Außenpolitik stark- sierte Gruppen« lenken will, heißt das, Dabei würden letztlich alle von mehr machen, was Amnesty und andere Orga- dass sie auch jene Menschen besonders Feminismus profitieren. »Feminismus nisationen schon lange fordern. Doch was schützen will, die nicht mit Uterus gebo- kämpft für eine Utopie, die in unserer genau ist »feministische Außenpolitik«? ren wurden. Auch bei der Diskriminie- Vorstellung bedeutet: In der anzustreben- Um zu verstehen, was sich hinter dem Be- rung von transgeschlechtlichen Men- den feministischen Gesellschaft gibt es griff verbirgt, hilft zunächst eine Femi- schen geht es schließlich oftmals um keine Diskriminierung, keine einengen- nismus-Definition der Publizistin Marga- Machterhalt. Um es mit den Worten der den Zuschreibungen, keine Ausbeutung rete Stokowski: »Für mich bedeutet Femi- Autorin Emilia Roig (siehe auch Interview und keine Unterdrückung«, schreibt das nismus, dass alle Menschen unabhängig Seite 26) zu sagen: »Homo- und Trans- Autor*innenkollektiv FE.IN in seinem von ihrem Geschlecht, ihrer Sexualität feindlichkeit sind Erzeugnisse des Patri- Buch »Frauen*rechte und Frauen*hass«. und ihrem Körper dieselben Rechte und archats, denn queer, Trans, bi- und panse- »Schließlich würden alle weniger arbei- Freiheiten haben sollen«, schreibt die xuelle Menschen, schwule Männer und ten, sich sicherer und wertgeschätzt füh- Autorin in ihrem vieldiskutierten Buch lesbische Frauen bedrohen die männliche len und Ressourcen, Privilegien, Macht »Untenrum frei«. Dominanz durch ihre bloße Existenz.« und Verantwortung wären gerecht unter- An der Stelle der gleichen Rechte und Auch was die Sichtbarkeit von LGBTI einander aufgeteilt.« Freiheiten soll eine feministische Außen- angeht, gibt es Fortschritte. In Deutsch- Bis all das eintritt, ist Ausdauer gefor- politik anknüpfen. »Diese Politik stellt land sitzen seit 2021 erstmals zwei trans dert. »Wir kämpfen, weil wir wissen, dass menschliche Sicherheit in den Fokus von Frauen im Bundestag, und in den USA wir, selbst wenn es gut läuft, immer im Entscheidungen statt staatliche Sicher- kam im selben Jahr erstmals eine trans Training bleiben müssen«, schreibt die heit. Sie schaut also zum Beispiel darauf, Frau in ein hohes Regierungsamt – das Schriftstellerin Priya Basil in ihrem Buch welche Auswirkungen politische Ent- der Vize-Gesundheitsministerin. »Im Wir und Jetzt. Feministin werden« scheidungen und internationale Konflik- Menschen, die von Transfeindlichkeit über ihren täglichen Kampf als Feminis- te auf Frauen, Mädchen und andere mar- unberührt bleiben, mögen jetzt wieder tin. Um Unterdrückung zu verhindern, ginalisierte Gruppen haben – und darauf, sagen: »Na also, da sind die Erfolge müssen nicht nur politische Allianzen ge- wie Unterdrückungsmechanismen been- doch!« Aber was für die Rechte aller Frau- bildet, sondern auch Einstellungen und det werden können«, sagt Alexia Knapp- en weltweit gilt, zeigt sich auch in diesem Machtpositionen im Privaten hinterfragt mann, Stabstelle Politik im Generalsekre- Bereich: Es gibt Rückschläge. Wenn die werden. Und dabei ist jede und jeder ge- tariat von Amnesty Deutschland. »Femi- Auswirkungen des Machismos in man- fragt. Damit es am Ende zutrifft, wenn es nistische Außenpolitik ist somit eine chen Aspekten überwunden scheinen, heißt, dass die Lage heute schon besser ist menschenrechtsgeleitete Außenpolitik. zeigt er sich an anderer Stelle umso dras- – und das für alle Frauen gilt, auf der gan- Sie beginnt aber beim Blick auf die Ursa- tischer. Nach Angaben des Bundesinnen- zen Welt. ◆ chen und den systemischen Kontext von ministeriums wurden 2020 in Deutsch- Menschenrechtsverletzungen und hinter- land 782 homo- und transphob motivierte fragt so zum Beispiel den ungleichen Zu- Straftaten registriert, darunter 154 Ge- AMNESTY JOURNAL | 02/2022 15
FRAUENRECHTE PORTRÄTS Eine, die sich durchsetzt Frauen verdienen in Deutschland weniger als Männer – so auch im Backwarenunternehmen Bahlsen. Doch dank des Engagements von Manuela Haase wurden 100 Frauen den Männern gleichgestellt. Von Annette Jensen Zeichnung: André Gottschalk O hne Zweifel: Manuela Haase 1998 brachte eine Kollegin sie auf die am Band arbeitenden Kolleginnen eine ist ein hartnäckiger Mensch. Idee, für den Betriebsrat zu kandidieren. geeignete Berufsausbildung mitbrachten. Sie hat einen starken Sinn für Sie wurde gewählt, doch erwies sich das Dennoch hatte Bahlsen sie in die unterste Gerechtigkeit – und dazu ge- Gremium als Domäne alteingesessener Lohngruppe A eingestuft, während sämt- hört, für gleichwertige Arbeit einen Männer, ein »Geheimhaltungs-Club«, wie liche Männer mindestens zwei Stufen gleichwertigen Lohn zu verlangen. Laut Haase sagt. Die Belegschaft über die wirt- höher eingruppiert waren. Haase setzte Statistischem Bundesamt verdienen Frau- schaftliche Lage des Unternehmens zu in- durch, dass gemeinsam mit den Ingeni- en in Deutschland 18 Prozent weniger als formieren, galt als Tabu, die Interessen euren des Unternehmens ein Ausbil- Männer. Dass ihre Kolleginnen bei Bahl- der Frauen am Band spielten überhaupt dungsplan entwickelt wurde und ermu- sen in Varel nahe Wilhelmshaven jetzt keine Rolle. Entnervt gab sie zum Ende tigte die Kolleginnen, daran teilzuneh- monatlich 187,85 Euro mehr bekommen der Amtszeit auf. men. Bald bedienten sie mehrere Auto- und damit ebenso viel wie Männer in ver- »Vielleicht bin ich danach gereift«, maten und Roboter, beseitigten Störun- gleichbarer Position, ist Haases Verdienst. sagt sie, um zu erklären, warum sie vier gen und machten sogar Verbesserungs- »Wir konnten durch Dokumentatio- Jahre später einen zweiten Versuch unter- vorschläge für Arbeitsabläufe. nen belegen, dass die Frauen viel mehr nahm und beschloss, sich von den Altge- Haase konfrontierte den Werksleiter Tätigkeiten übernehmen als ihre Gehalts- dienten nicht länger ausbremsen zu las- mit den Ergebnissen. Und der Plan ging gruppe vorsah«, sagt sie. Die Betriebsrats- sen. Als sie bei der Betriebsratswahl die auf: Ihm blieb nun nichts anderes übrig, vorsitzende ist stolz auf ihren Erfolg, stellt mit Abstand meisten Stimmen bekam, als sie den Männern gleichzustellen. »An ihre Leistung jedoch nicht in den Vorder- kandidierte sie für den Vorsitz des Gre- anderen Standorten des Unternehmens grund. Was die 61-Jährige ausstrahlt, ist miums. wollen die Kolleginnen nun dasselbe er- Freude darüber, Gutes für etwa 100 Frau- Damit leitete bei Bahlsen nun erst- reichen«, sagt Haase, die inzwischen Ge- en bewirkt zu haben. mals eine Frau einen Betriebsrat. Doch samtbetriebsratsvorsitzende ist. Inner- Ihr halbes Leben hat Manuela Haase in mit der neuen Position kam gleich eine halb ihres Unternehmens ist ihr Engage- Magdeburg verbracht. Kurz nach der Wen- große erste Herausforderung auf Haase ment richtungsweisend und gibt anderen de zog die gelernte Textilfachverkäuferin zu. Die Kolleginnen, die zum Teil jahr- Frauen Rückenwind. ◆ mit Mann und zwei Töchtern in die Nähe zehntelang Kekse in Schachteln und Kar- von Wilhelmshaven. Bald schon fing sie tons gepackt hatten, sollten im Jahr 2010 bei Bahlsen im Drei-Schicht-Betrieb am durch Maschinen ersetzt werden. Fließband an und stieg schnell ins Qua- Manuela Haases Vorschlag, die Frauen 187,85 Euro mehr litätsmanagement auf. als Maschinenführerinnen zu qualifizie- bekommen ihre ren, stieß auf Widerstand. »Die können das nicht«, so das Urteil der Werksleitung. Kolleginnen. Das ist 16 AMNESTY JOURNAL | 02/2022 Doch Haase verwies darauf, dass viele der Haases Verdienst.
Leider kein Einzelfall Wegen der Abtreibungsgesetzgebung sind viele Frauen in El Salvador zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden. María Teresa Rivera, die eine Fehlgeburt erlitten hatte, saß vier Jahre lang in Haft. Heute kämpft sie für sexuelle und reproduktive Rechte. Von Luciana Ferrando I ch wünsche mir, dass nie wieder eine Maria Teresa Rivera war die erste der finden keine Arbeit und keine Wohnung«, Frau ertragen muss, was ich ertragen »Las 17«, die freigelassen wurde. »Im Mai erzählt sie. Als bekannt wurde, dass die musste«, sagt María Teresa Rivera am 2016 verkündete der Richter, es gebe kei- Staatsanwaltschaft gegen ihre Freilassung Telefon. Sie ist 38 Jahre alt und wohnt nen Beweis dafür, dass ich mein Kind tö- Berufung einlegen wollte, floh Rivera mit in Schweden. Bis vor fünf Jahren lebte sie ten wollte«, erzählt sie. Neben zivilgesell- ihrem Sohn nach Schweden, wo sie Asyl noch in ihrem Heimatland El Salvador. schaftlichen und feministischen Gruppen erhielten. Heute fühlt sie sich frei. Sie hat Dort war sie im Jahr 2011 zu 40 Jahren in El Salvador hatte auch Amnesty Inter- Schwedisch gelernt und macht eine Aus- Haft verurteilt worden, nachdem sie eine national ihre Freilassung gefordert. »Der bildung zur Krankenpflegerin. Außerdem Fehlgeburt erlitten hatte. internationale Druck war wesentlich für engagiert sie sich für sexuelle und repro- Das Urteil ist kein Einzelfall. In El Sal- meine Freilassung«, sagt Rivera. »Wir dür- duktive Rechte und für Frauen in El Salva- vador sind nach Angaben von Amnesty fen nicht aufhören, damit alle freikom- dor, die zu Unrecht inhaftiert sind. ◆ International derzeit mindestens zehn men und sich endlich etwas ändert.« Frauen inhaftiert, die wegen Kindesmor- Nach ihrer Freilassung sei ihr schnell Amnesty hat sich im Jahr 2013 für Beatriz einge- des verurteilt wurden. Sie hatten in ei- klar geworden, dass sie nicht länger in El setzt, der ein Schwangerschaftsabbruch verwei- nem fortgeschrittenem Stadium der Salvador bleiben könne. Frauen mit einer gert wurde, obwohl eine Erkrankung in der Schwangerschaft und in häuslicher Um- derartigen Vorgeschichte hätten dort kei- Schwangerschaft ihr Leben gefährdete. Im Janu- gebung eine Fehl- oder Totgeburt erlitten; ne Chance. »Viele werden von ihren Fami- ar 2022 überwies die Interamerikanische Men- die Anklage beschuldigte sie, den Tod des lien abgelehnt. Sie werden stigmatisiert, schenrechtskommission ihren Fall an den Inter- Kindes herbeigeführt zu haben. Seit 1998 amerikanischen Gerichtshof für Menschen- ist in dem Land ein Schwangerschafts- rechte. Mehr Informationen: abbruch grundsätzlich verboten, selbst www.ai-el-salvador.de/ wenn die Schwangerschaft aus einer Ver- abtreibungsverbot.html gewaltigung oder Inzest resultiert oder das Leben der Schwangeren in Gefahr ist. Betroffen sind vor allem Frauen aus ar- men Verhältnissen. María Teresa Rivera wurde am 24. No- vember 2011 von ihrer Schwiegermutter ohnmächtig und blutend im Badezimmer gefunden. »Als ich wieder aufwachte, war ich im Krankenhaus, umgeben von Poli- zisten. Sie beschuldigten mich, mein Kind getötet zu haben«, erinnert sie sich. Eine Angehörige des Krankenhauspersonals meldete sie bei der Polizei, weil Rivera Zeichnung: André Gottschalk »offenbar eine Abtreibung vorgenom- men hatte«. Danach wurde sie in ein Frauengefängnis überstellt. Dort wurde sie von anderen Inhaftier- ten als »Kindesmörderin« beschimpft und angegriffen. Doch aufgegeben habe sie nie, erzählt Rivera, denn sie habe ih- ren damals siebenjährigen Sohn wieder- sehen wollen. Später lernte sie andere Frauen kennen, die ebenfalls in der Schwangerschaft Komplikationen erlitten hatten, einer Abtreibung bezichtigt und wegen Mordes verurteilt worden waren. Sie gründeten die Gruppe »Las 17«, um auf ihre Fälle und die unfairen Verfahren aufmerksam zu machen. AMNESTY JOURNAL | 02/2022 17
FRAUENRECHTE AFGHANISTAN Am Abgrund Seit die Taliban in Afghanistan wieder an der Macht sind, verlieren Frauen immer mehr Rechte. Die Gruppe »Kämpfende Frauen« wehrt sich, so gut sie kann. Aus Kabul von Andrea Jeska (Text) und Ilir Tsouko (Fotos) Frauen werden im Stadtbild so gut wie unsichtbar gemacht. 18 AMNESTY JOURNAL | 02/2022 Kabul, Oktober 2021.
Taliban auf Patrouille. Kabul, Oktober 2021. A ls sich Rahil T. und ihre Mit- auch die 21-jährige Parwana I., die bis vor um Wege zu finden, nicht zum Schweigen streiterinnen aus der Gruppe Kurzem noch studierte. Sie hat einen You- verbannt zu sein. Zuerst formulierten sie »Kämpfende Frauen« dies- Tube-Kanal, auf dem sie öffentlich über ihre Ziele: Recht auf Bildung, Arbeit, mal heimlich treffen, tragen Emanzipation spricht. »Doch diese Videos Selbstbestimmung, Teilnahme an politi- sie ihre schönsten Kleider. In sind jetzt gefährlich, und ich überlege, schen Entscheidungen und am sozialen den Tagen zuvor, Ende November 2021, sie zu löschen«, sagt sie ernüchtert. Die Leben. Keine Sharia. Keine Zwangsehen. waren die Taliban in Kabul in Modege- 19-jährige Zahra M., eine ehemalige Taek- Anschließend überlegten sie, wie sie schäfte eingedrungen und hatten Schau- wondo-Kämpferin, setzte sich gegen ihre mit ihren Forderungen an die Öffentlich- fensterpuppen die Köpfe abgesägt. Spätes- Eltern durch, um diesen Sport betreiben keit treten können, um Frauen des Wes- tens da war klar, dass Mode in Afghanis- zu können, und trainierte heimlich, bis tens zu erreichen und von dort mögli- tan wieder als Sünde galt. Klar war damit sie ihre erste Medaille gewann und Preis- cherweise Unterstützung zu bekommen. aber auch, dass das Tragen schöner Klei- gelder bekam. Als sie nach der Machter- Parwana sagt, in der Solidarität des Wes- der nun ein Akt des Widerstands war – greifung der Taliban im August 2021 wie tens liege derzeit ihre letzte Hoffnung. selbst wenn man sie nur im Verborgenen immer zum Trainingszentrum ging, trug. »Schönheit kann man nicht verbie- schickte ihr Trainer sie nach Hause. »Er Indirekt Druck auf ten, selbst die Taliban können das nicht«, sagte, Frauen sei der Sport jetzt verbo- die Taliban ausüben sagt Rahil, und die anderen Frauenrechts- ten.« Die Situation der Frauen in Afghanistan aktivistinnen um sie herum nicken zu- In den Frauen hat sich in den vergan- ist bedrückend. Erwerbstätige Frauen ha- stimmend. genen Monaten viel Wut angesammelt. ben mit dem Berufsverbot alles verloren. Die »Kämpfenden Frauen« haben sich »Die Taliban sind dumm und ungebildet, Künstlerinnen können nicht mehr arbei- über WhatsApp gefunden – in einer der sie wissen nicht, wie man sich benimmt«, ten. Journalistinnen dürfen nicht mehr vielen Ad-Hoc-Gruppen, die sich nach der sagt Zahra in die Runde. »Ist es unser Pro- berichten. Und Mütter fürchten um ihre Machtergreifung der Taliban formierten, blem, wenn die Taliban ihre Augen nicht Töchter. Je höher ihre Bildung, je härter um Widerstand zu leisten. Sie wollen, kontrollieren können und uns anstarr- sie dafür gearbeitet haben, eine Univer- dass die Errungenschaften aller Frauen ren?« Die anderen Frauen lächeln. »Unse- sität zu besuchen, je mehr Abschlüsse im Land nicht verlorengehen. So wurde re Wut interessiert sie nur leider nicht«, und Titel sie erreichten, desto tiefer er- zum Beispiel die 27-jährige Rahil mit 17 sagt Parwana. scheint ihnen der Abgrund, in den sie Jahren verheiratet, doch schaffte sie es Die Gruppe trifft sich in einem Haus, nun gefallen sind. trotzdem, Lehrerin zu werden. Mit ihrem das hinter dicken Mauern liegt und des- Es ist der düstere Klang eines Re- Einkommen ermöglichte sie auch ihrer sen Rollläden heruntergelassen sind, da- quiems, der sich im November und De- Schwester einen Schulbesuch. Später ließ mit kein Blick von außen eindringt. Seit zember 2021 durch alle Gespräche der sie sich scheiden und gilt seither, wie sie die Regierung im Oktober öffentliche sagt, als »unmoralische Frau«. Proteste von Frauen in Kabul untersagte, Zu den »Kämpfenden Frauen« zählt konferieren die Frauen hier jede Woche, AMNESTY JOURNAL | 02/2022 19
Konnte später nach Pakistan fliehen: Rahil. Kabul, Oktober 2021. »Kämpfenden Frauen« in Kabul zieht. nistans helfen. Sie muss Druck auf die die Kleidungsregeln der Taliban zu miss- »Ich sitze stundenlang zu Hause und wei- Taliban ausüben.« achten. Draußen ist der Lärm der Stadt zu ne«, sagt Parwana. »Wir haben unseren Die meisten der jungen Frauen haben hören. Trotzdem sprechen die Frauen im Eltern gesagt, wir beweisen ihnen, dass sich erst aufgrund der neuen Verhältnisse abgedunkelten Raum mit gedämpften wir so gut sind wie die Männer. Und nun politisiert. Sie wissen kaum, was es mit Stimmen, als könnten sie belauscht wer- fragen wir uns: wofür?« Kurz nachdem sich bringt, eine Aktivistin zu sein. Die den. Bei diesem Treffen soll es darum ge- die Schaufensterpuppen ihre Köpfe ver- Frauenrechtlerinnen, von denen sie es hen, ihre Forderungen zu konkretisieren. loren, wollten sie sich zusammensetzen, hätten lernen können und die von Hilfs- Gut die Hälfte der versammelten um einmal nur über sich zu sprechen. organisationen oder Stiftungen gefördert Frauen will den Schwerpunkt auf das Über ihre persönliche Lage, ihre Depres- wurden, haben das Land schon lange mit Recht auf Bildung und auf Religionsfrei- sionen, ihre Geldsorgen und darüber, wie einem der Evakuierungsflüge in Richtung heit legen, die andere auf Arbeit, auch die eigenen Familien, ihre Väter, Brüder, USA oder Europa verlassen. Die »Kämp- wegen der wirtschaftlichen Not. Parwana Ehemänner ihnen nun verbieten wollen, fenden Frauen«, die keine Kontakte in sorgt sich um die Situation der Frauen auf Widerstand zu leisten. »Selbst mein klei- den Westen haben und die niemand dem Land: »Der Widerstand beschränkt ner Bruder sagt mir, was ich tun soll«, er- evakuieren wird, blieben zurück. sich auf die großen Städte Kabul, Herat zählt Rahil – und alle Frauen in der Grup- Nun treten sie die Flucht nach vorn und Mazar-i-Sharif.« Doch in den Provin- pe lachen. an. Die Freiheiten, die sich zumindest ei- zen, in den Dörfern, nehme die häusliche Aber dann wird der Nachmittag doch nige Städterinnen in den vergangenen Gewalt zu, sagt sie. Es sei notwendig, auch wieder von der Politik bestimmt. Denn zwei Jahrzehnten erkämpften, sind verlo- diese Frauen anzusprechen, aber wie? alles in ihrem Leben ist politisch, seit die ren. Auch die ökonomische Grundlage »Sie haben keine Smartphones und keine Taliban zurück sind. Da ist die Angst, sich existiert vielerorts nicht mehr. Rahil und Computer. Wir müssen herausfinden, wie in Cafés zu zeigen oder überhaupt in der Zahra verdienten vor der Herrschaft der wir sie erreichen können.« Öffentlichkeit. Da ist das Warten darauf, Taliban mehr Geld als ihre Brüder. »Das Aufmerksam hören sie einem Mann dass die Aufseher der Taliban an ihre Tü- brachte uns Rechte, wir durften mitbe- zu, den sie sich als Mentor ausgewählt ha- ren klopfen, weil sie herausfinden, wer stimmen. Aber nun, da wir kein Geld ben. Farid war vor der Machtübernahme die »Kämpfenden Frauen« sind. Da ist die mehr verdienen, sollen wir schweigen«, Frage, welche Zukunft ihnen in Afghanis- sagt Zahra. tan bleibt. Auch Rahil betont, es bleibe Beim nächsten Treffen tragen sie nur eine Hoffnung: »Die internationale Jeans und darüber eine lange schwarze »Wir fragen uns, warum Gemeinschaft muss den Frauen Afgha- Abuja. Noch vor wenigen Monaten sah uns unsere Schwestern man diese Ganzkörperverhüllungen in Afghanistans Hauptstadt nur selten, jetzt im Westen nicht hören.« 20 AMNESTY JOURNAL | 02/2022 wagen es die meisten Frauen nicht mehr, Rahil
der Taliban Leiter einer Organisation für Sorgt sich auch um die Armutsbekämpfung in Kabul. Jetzt fehlen Frauen auf dem Land: Parwana. Unterstützung und Geld aus dem Westen, Kabul, Oktober 2021. und obwohl Armut und Hunger gerade zu den größten Problemen Afghanistans zählen, ruht seine Arbeit. Aufmerksamkeit schützt und gefährdet zugleich Die Gruppe der »Kämpfenden Frauen« hat 217 Mitglieder. Davon sind keine 20 mehr im Land. Auch die wollen weg. Farid muntert sie auf: »Ihr dürft nicht den Mut verlieren«. Wenn sie nur laut blieben, vol- ler Zorn, würden sie so berühmt werden wie Shukria Barakzai und Fausia Kufi, die beiden prominentesten Frauenrechtlerin- nen Afghanistans. »Auch die haben als Unbekannte angefangen, heute kennt man ihre Namen«, sagt er. Eine der »Kämpfenden Frauen« protestiert. Die beiden ehemaligen Parlamentarierinnen seien in New York und London und könn- ten dort ohne Risiko Kritik an den Taliban äußern. »Wir aber sind dem Leben hier ausgesetzt und müssen die Angst und Aussichtslosigkeit ertragen.« Die Bevorzugung der sichtbaren, also gut vernetzten und auf Social-Media-Ka- nälen aktiven Frauen, hat bei den in Ka- bul Verbliebenen die Hoffnung geweckt, auch eine Chance zu bekommen, das Nachtrag AMNESTY ZU AFGHANISTAN Land in Richtung Westen verlassen zu Im Januar 2022 flogen die »Kämpfenden Zur Lage der Frauen in Afghanistan unter den können. »Kämpft, solange ihr hier seid«, Frauen« auf. Bei einem Treffen drangen Taliban hat Amnesty in den vergangenen Mo- sagt Farid zu ihnen. »Und wenn ihr Auf- die Taliban in das Haus ein. Sie nahmen naten zahlreiche Berichte publiziert. Sie zeigen, merksamkeit bekommt, findet ihr auch einige der Frauen mit und verhörten sie. wie grundlegend afghanische Frauen und Mäd- einen Weg aus dem Land.« Ein Rat, der Man warf ihnen vor, sie hätten christliche chen landesweit in ihrem täglichen Leben und auch Gefahren birgt. »Leute, die ich nicht Missionarsarbeit betrieben, was im isla- in ihren Rechten eingeschränkt werden. Amnes- kenne, finden meine WhatsApp-Nummer mischen Emirat Afghanistan verboten ist. ty kritisiert, dass sich die Regierung dazu ent- und drohen mir. Ich habe auch Angst, Dieser Vorwurf wird häufig als Vorwand schlossen habe, afghanische Frauen von der dass mich die Taliban anhalten und mein genutzt, um Menschen festzunehmen. Teilnahme am öffentlichen Leben auszuschlie- Telefon durchsuchen«, sagt Rahil. Die Frauen wurden nach dem Verhör ßen und sie ihrer Menschenrechte zu berauben. Gemeinsam mit zehn anderen Frauen wieder freigelassen, doch sie waren nun Agnès Callamard, Internationale Generalsekre- versammelte sie sich nach dem Demons- gewarnt, einige von ihnen haben ihre Ar- tärin von Amnesty International, sagte: »Was trationsverbot im Oktober in einem Ka- beit vorerst eingestellt. Rahil und ihrer wir in Afghanistan erleben, ist eine Tragödie. buler Park zu einem Protest, den sie zur Schwester gelang bald darauf die Flucht Tausende von Afghaninnen, die ernsthaft von Tarnung zunächst wie eine Geburtstags- nach Pakistan. »Meine Mutter und meine Repressalien der Taliban bedroht sind, laufen party aussehen ließen. Nach einer Viertel- zwei Brüder sind noch in Afghanistan. Ich Gefahr, einer zutiefst ungewissen Zukunft über- stunde kamen die Ordnungshüter der habe große Angst um sie«, schreibt sie in lassen zu werden.« Taliban mit Gewehren. Ein neuer Plan einer Nachricht. Amnesty hat an die Taliban appelliert, die Rech- musste her: Nur noch an geheimen Orten Parwana I. nahm am 16. Januar noch te von Frauen und Mädchen zu respektieren. protestieren, den Treffpunkt bis zuletzt einmal an einer öffentlichen Protestver- Auch die internationale Gemeinschaft sei gefor- geheim halten und dann Journalist_in- anstaltung teil. Am 19. Januar verschwand dert, die afghanischen Frauen zu unterstützen. nen einladen. Doch diese Aktionen zeig- sie zusammen mit drei weiteren Aktivis- »Während sich die Menschen in Afghanistan ten wenig Wirkung. Die einheimischen tinnen in Kabul. Lange gab es kein Lebens- mit einer neuen Realität konfrontiert sehen, Journalist_innen sind längst einge- zeichen von ihnen, die Taliban bestritten muss der UN-Sicherheitsrat auch eine Dringlich- schüchtert, und die internationale Presse eine Beteiligung. Mitte Februar kamen keitsresolution verabschieden, in der die Taliban verliert das Interesse am Aufstand der alle Aktivistinnen wieder frei. Vorerst aufgefordert werden, die internationalen Men- Frauen. Das Engagement der Frauenbewe- blieb unklar, unter welchen Umständen schenrechtsnormen zu achten, die Zivilbevölke- gungen im Westen, auf das die Aktivistin- die Freilassung geschah. ◆ rung zu schützen und Vergeltungsangriffe ein- nen hoffen, dringt nicht vor bis Kabul. zustellen«, sagte Callamard. »Jeden Tag fragen wir uns, warum uns Diesen Artikel können Sie sich unsere Schwestern im Westen nicht hö- in unserer Tablet-App vorlesen lassen: ren«, sagt Rahil. www.amnesty.de/app AMNESTY JOURNAL | 02/2022 21
NICHT NUR FÜR FRAUEN Jung, engagiert, weiblich Eigensinnig und mutig Hymnen für die Artenvielfalt Mit seinem Kinofilmdebüt ist dem erst Ein Roman über vier Frauengeneratio- »Bete für die Blutegel!«, singt Tara Nome 22-jährigen Franz Böhm der große Wurf nen, der an vielen Schauplätzen spielt – Doyle. »Fütter mich mit Blumen«, bittet gelungen: Er porträtiert drei junge Akti- wie so viele palästinensische Familienge- sie für den »Caterpillar«, die Raupe. Die vistinnen auf drei Kontinenten. In Chile schichten in der zweiten Hälfte des 20. Schnecken bekommen gleich zwei Songs, begleitet er die Aktivistin Rayen bei Pro- Jahrhunderts. Naïma flieht 1947 aus Haifa die zwischendurch sogar richtig Fahrt testen gegen die Armut: Seit Jahren sorgt in den Libanon, ihre Tochter Ema verlässt aufnehmen. Der »Mosquito« schwebt wie die Oberschicht des Landes für eine Um- Beirut 1983 im Bürgerkrieg und zieht in ein Kirchenchoral durch erhabene Hö- verteilung von unten nach oben. »Chile die Schweiz. Emas Tochter Dara kehrt in hen. So geht es fröhlich weiter auf dem ist reich, aber nicht für alle«, sagt Rayen. den Libanon zurück, nur um das Land neuen Album der 24-jährigen Wahlberli- Viele Demonstrierende erlitten schwere nach dem Kriegsausbruch 2006 mit ihrer nerin mit irischen und norwegischen Verletzungen, die Sicherheitskräfte ziel- Tochter Lila in Richtung Frankreich zu Wurzeln, mit dem sie dem »Værmin«, ten mit Gummigeschossen auf die Augen. verlassen. Der Autor Jadd Hilal deutet die dem Ungeziefer, die Ehre erweist. Ob Mot- Auch die ugandische Fridays for Futu- politischen Hintergründe nur an. Im te oder Krähe, Spinne oder Wurm: All die re-Gründerin Hilda Flavia Nakabuye Vordergrund seines Debüts stehen die nicht wohlgelittenen Lebewesen bekom- weiß, wie sich Repression anfühlt. Der vier Frauen, von denen jede auf ihre Art men ihre eigene Hymne, getragene Songs Klimawandel ist für ihre Familie eine eigensinnig und mutig ist und sich ge- mit wundervollen Melodien, entspannten konkrete Bedrohung. Bei Überschwem- walttätigen oder unnützen Vätern und Beats oder butterweichem Klavier – und mungen fließt der Boden auf den Feldern Ehemännern widersetzt. Der Autor er- vor allem der Stimme von Doyle, die auch einfach weg, mitsamt der Ernte. Am Frei- zählt nicht in epischer Breite, sondern in Brehms Tierleben singen könnte und tag für das Weltklima Schule schwänzen? vielen kleinen, gut beobachteten und prä- man würde an ihren Lippen hängen. Alle Das erübrige sich, »wenn der Schulweg zise geschilderten Szenen. Ein reizvoller Songs funktionieren auch als Liebeslie- von den Fluten weggerissen wird«. Roman, der den Nahostkonflikt in unge- der, aber vor allem feiert das Album die Pepper aus Hongkong war gemeinsam wöhnlicher Weise behandelt. Artenvielfalt – und da- mit vielen anderen jungen Leuten lange mit das Leben selbst. bei den Protesten gegen den chinesischen Jadd Hilal: Flügel in der Ferne. Aus Einfluss aktiv. Pepper sagt: »Sie glauben dem Französischen von Barbara Tara Nome Doyle: »Vær- vielleicht, dass wir zu ihnen gehören, Sauser, Lenos, Basel 2021, min« (Martin Hossbach/ dass sie uns ›besitzen‹, aber ich komme 202 Seiten, 22 Euro Modern Recordings/ BMG) nicht aus China.« Der Kampf für Demo- kratie und Unabhängigkeit hatte für Pep- per einen hohen Preis: Sie musste nach Gegen den Untergang Global und divers Europa fliehen. Meer, Palmen, Sandstrand – das Leben auf Das Festival »Frequenzen – Feminismen Die jungen Aktivistinnen eint, dass sie Tuvalu mutet paradiesisch an. Doch Global« wird sich im Mai mit der Vielfalt von autoritären Strukturen genug haben längst bekommt der Inselstaat im Südpa- feministischer Strömungen und Stand- und dafür auf die Straße gehen. Nicht sel- zifik die volle Wucht der Klimakrise zu punkte beschäftigen – global, multiper- ten erfahren sie staatliche Gewalt, aber spüren: Der Meeresspiegel steigt, die Bö- spektivisch, intersektional und divers. Im sie wissen auch, dass sie nicht allein sind. den versalzen, Regen bleibt aus, stattdes- Zentrum stehen dem veranstaltenden Sie erleben weltweit Unterstützung. Hilda sen nehmen Stürme und »Monsterwel- Goethe-Institut zufolge der Widerstand sprach auf der Weltklimakonferenz, und len« zu. Tahnees Vater sieht keinen ande- und Protest von Frauen weltweit, Fragen die chilenischen Demonstrierenden ha- ren Ausweg, als die Heimat zu verlassen. alternativer Ökonomien und Sorgearbeit, ben immerhin ein Verfassungsreferen- Die Teenagerin dagegen schließt sich den ebenso wie die Rolle von Männern. Mit- dum erreichen können. Climate Warriors und der Fridays for Fu- wirkende sind Feminist_innen verschie- Regisseur Franz Böhm setzt seine ture-Bewegung an, um etwas gegen die dener Generationen, Weltregionen und Hauptdarstellerinnen gekonnt in Szene. Klimakrise zu tun. »Wir sind keine Opfer! Strömungen. Geplant ist unter anderem Mehr als einmal steht er dabei zwischen Wir gehen nicht unter! Wir kämpfen!« die Premiere einer Produktion der libane- Protestzügen und Ordnungsmacht. Die- Tahnee setzt sich für ihre Ziele, Überzeu- sischen Performance-Künstlerin Rima ser Film ist ein Musterbeispiel für enga- gungen und auch für ihre Liebe zu Malaki Najdi. Die indische Schriftstellerin, Verle- giertes Kino. ein, die laut tapu, den Gesetzen ihrer Vor- gerin und Feministin Urvashi Butalia fahren, verboten ist. (Amnesty Journal, 05/2020) soll an einer »Dear Future Children«. Diskussion teilnehmen. AUT/D/UK 2021. Regie: Franz Carolin Philipps: Tuvalu. Bis zum Böhm. Informationen über nächsten Sturm. Ueberreuter, Ber- Frequenzen – Feminismen Global: 19. bis Kinovorführungen gibt es auf lin 2021, 160 Seiten, 12,95 Euro, ab 21. Mai 2022, Pfefferberg-Gelände, www.dearfuturechildren.com 12 Jahren Schönhauser Allee 176, 10119 Berlin 22 AMNESTY JOURNAL | 02/2022 Tipps: Jürgen Kiontke, Wera Reusch, Thomas Winkler, Marlene Zöhrer
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