KARL RENNER EIN REPUBLIKANISCHES FUNDAMENT - (1870-1950) Michael Rosecker 1910 1925
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Impressum Medieninhaber und Herausgeber Karl-Renner-Institut Karl-Popper-Straße 8 1100 Wien Redaktion und Lektorat Nina Abrahamczik, Maria Maltschnig, Christine Eichinger und Daniel Steinlechner Grafik Alexander Korab Titelfotos Karl Renner als Reichsratsabgeordneter (1910) Karl Renner als Nationalratsabgeordneter (1925) Karl Renner als Bundespräsident (1947) Druck und Herstellungsort Gutenberg Druck in Kooperation mit Print Alliance HAV Produktions GmbH 2540 Bad Vöslau Dezember 2020 Gedruckt nach der Richtlinie „Druckerzeugnisse“ des Österreichischen Umweltzeichens, Print Alliance HAV Produktions GmbH, UW-Nr. 715 ISBN: 978-3-85464-044-8 Zum Autor Michael Rosecker Stv. Direktor des Karl-Renner-Instituts und wissenschaftlicher Leiter des Karl Renner-Museums
Inhalt 4 Doris Bures: Karl Renner – ein „Denkmal“ mit Widersprüchen 7 Der Präsident ist tot – Am Ende ein österreichischer Aufbruch 9 Bäuerliche Armut und Bildung als Aufstieg 13 Die Lösung der Nationalitätenkonflikte oder sich den habsburgischen Kopf zerbrechen 17 Der Kampf um das allgemeine Wahlrecht oder die Selbstsucht der Stände 20 Anpassungsfähig und zielgerichtet: Der Konstrukteur der Republik 25 Ordnung in das Chaos oder „liebend der Republik dienen“ 30 Der österreichische Antisemitismus – Grundton der Ersten Republik 34 Die freiorganisierten Konsument:innen und die Wirtschaftsdemokratie 38 Vom Hineingleiten in den Sozialismus – Karl Renners Sozialismusverständnis 41 Brückenbauer oder Versöhnler? – Kompromisse und Lebensfehler 49 Historischer Irrtum und biografischer Schatten – Das „Anschluss-Ja“ 51 Ein zweites Mal der Konstrukteur der Republik – Lebensleistung mit Schatten 58 Ein vorläufiger Abschluss 60 Anton Pelinka: Die Ambivalenz Karl Renners 62 Anmerkungen 68 Literatur 71 Bildnachweis
Karl Renner – ein „Denkmal“ mit Widersprüchen Vorwort von Doris Bures Karl Renner stand zweimal an der Wiege österrei- in der Ausgabe vom 1.12.1920 ausdrücklich posi- chischer Republiksgründungen. Sowohl 1918 nach tiv gewürdigt: „Nie wurde mit weniger Worten mehr dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Wahrheit über den Wiener Antisemitismus gesagt als Habsburgermonarchie als auch 1945 noch in den in dieser denkwürdigen Rede Dr. Renners.“ Hinzu Endzügen der NS-Diktatur war es Karl Renner, der kommt, dass die österreichische Sozialdemokratie die entscheidenden Schritte und Impulse zur Grün- von Christlich-Sozialen und Deutschnationalen stets dung der demokratischen Republik Österreich setzte. propagandistisch als „Judenpartei“ dargestellt wur- Das machte ihn über Jahrzehnte hinweg gleichsam de, weil in ihr und vor allem ihren Führungszirkeln zu einem Säulenheiligen österreichischer Unabhän- Juden stark vertreten waren. Renners Schwieger- gigkeit und Freiheit. In den letzten Jahren allerdings sohn selbst war Jude und wurde 1938 von den Nazis wird – bei aller notwendigen kritischen historischen schwer misshandelt und konnte schließlich im letz- Einordnung – aus durchsichtigen Motiven versucht, ten Augenblick noch mit den Kindern auswandern. dieses republikanische „Denkmal“ des Landes mit Ein Punkt übrigens, der offenbar auch bei Renners mehr oder weniger lauteren Methoden zu beschädi- öffentlichem „Ja“-Aufruf bei der Volksabstimmung gen oder gar einzureißen. 1938 eine Rolle gespielt haben dürfte. Über all die Seit einigen Jahren ist nun zu beobachten, dass Pressionen, die dem vorausgegangen sein mögen, von konservativer Seite versucht wird, im Zuge einer kann man heute wohl nur mehr spekulieren. Wie geschichtspolitischen Kompensation Karl Renner auch immer, dieses verhängnisvolle „Ja“ bleibt ein als historischen „Sünder“ der Sozialdemokratie zu Schatten auf seinem Lebenswerk. Was Renners kri- brandmarken. Offenbar sollen dadurch historisch tisierte Unterwürfigkeit Stalin gegenüber betrifft, so belastete und entsprechend kritisch gewürdigte Per- passt das wohl zu Renners schlauem und taktisch sönlichkeiten des eigenen Lagers – Karl Lueger, En- flexiblem Pragmatismus, der ihn zeitlebens geprägt gelbert Dollfuß u. a. – „entlastet“ werden. Dafür wer- hat. Sollte Stalin irgendwelche politischen Hoff- den Renner im Wesentlichen zwei „Sündenfälle“ in nungen in die Person Renner gesteckt haben, so ha- Rechnung gestellt. Zum einen wird ihm seit einigen ben sich diese jedenfalls sehr bald zerschlagen, weil Jahren Antisemitismus unterstellt, zum anderen sein seine Realpolitik unverbrüchlich antikommunistisch deklariertes „Ja“ bei der Volksabstimmung zur Ein- motiviert war. gliederung Österreichs in das Deutsche Reich zum Die Tatsache aber, warum von Seiten der ÖVP so Vorwurf gemacht. Zum Drüberstreuen wird dann krampfhaft versucht wird, historische Entlastungen auch noch kritisch angemerkt, dass er 1945 einen für eigene Ab- und Irrwege zu finden, ist mehr als Brief an den Generalsekretär der KPdSU unterwür- auffällig. Die Traditionen des katholisch-klerikalen fig mit „Genosse Stalin“ eröffnet hat. Der Vorwurf, Anti-Judaismus haben bei der Christlich-Sozialen Renner habe antisemitisch agitiert, wurde vom ehe- Partei nämlich stets einen gehörigen politischen Re- maligen Salzburger ÖVP-Landeshauptmann Schaus- sonanzraum gefunden. Leopold Kunschak etwa war berger erstmals erhoben, der als schwerwiegenden ein offen bekennender Antisemit, der 1920 sogar „Beweis“ hauptsächlich eine Rede Renners anführt, – wohlweisliche lange vor dem industriellen Mas- in der dieser die antisemitischen Stereotypen der senmord der Shoah und in anderer Bedeutung des Christlich-Sozialen, mit denen sie die Wahlen 1920 Wortes als wir es heute, nach der Shoah verstehen gewonnen hatten, sarkastisch und im damaligen – die Schaffung von „Konzentrationslagern“ für jü- Sprachduktus auf’s Korn genommen hatte. Außer dische Flüchtlinge aus der ehemaligen Donaumon- diesem offenbar bewussten „Missverständnis“ einer archie vorgeschlagen hat. Die Christlich-Sozialen ha- kontextlos zitierten Renner-Rede gibt es keine seri- ben schließlich auch im selben Jahr ihren Wahlerfolg ösen Hinweise für dessen angeblichen Antisemitis- mit klar antisemitischer Fokussierung errungen. Die- mus. Interessanterweise wurde Renners damalige se Tradition ist nach 1945 nicht verschwunden – von Rede etwa in der jüdischen Zeitung „Die Wahrheit“ „Saujud“-Beschimpfungen Bruno Kreiskys im Parla- 4
ment über die ÖVP-Wahlkampagne für Josef Klaus als „echten Österreicher“ gegen den Juden Bruno Kreisky bis hin zur Waldheim-„Campaign“ mit dem gegen den jüdischen Weltkongress gerichteten Slo- gan „Wir wählen, wen wir wollen“ und der bekannt feinfühligen Aussage des damaligen ÖVP-General- sekretärs Michael Graff, Waldheim könne man nur dann belangen, wenn man ihm nachweisen könne, dass er eigenhändig sechs Juden erwürgt habe. Mitt- lerweile hat, das soll durchaus konzediert werden, die Volkspartei zu einer klaren Haltung gegen Anti- semitismus gefunden. Diese Haltung gegen Antise- mitismus wird allerdings dadurch relativiert, dass der heutige Antisemitismus erstrangig bei den – politisch und ganz besonders kulturell – „Anderen“ gesucht wird. Antisemitismus aber – das sollte gerade in Deutschland und Österreich ein für alle Mal klar sein – nährt sich aus vielen unseligen politischen, kultu- rellen und religiösen Quellen. Vieles kann und soll auch an der Person Karl Renner Karl Renner wird am 20. Dezember 1945 von der Bundesver- kritisch beleuchtet und reflektiert werden. Seine tak- sammlung zum Bundespräsidenten gewählt tische Flexibilität erscheint heute in vielen Facetten allzu geschmeidig und biegsam, vieles an der Rheto- Bestandteil der österreichischen Geschichte und rik der Ersten Republik stößt heute ab und verstört. Identität. Trotz oder gerade wegen dieser Brüche das Und auch die Nonchalance, mit der die NS-Verstri- Fundament für das moderne, demokratische Öster- ckungen vieler Österreicherinnen und Österreicher reich gelegt zu haben, ist der bleibende historische in der Nazi-Diktatur, im Vernichtungskrieg und Holo- Verdienst Renners. Eine Bewertung bloß aus heu- caust nach 1945 verdrängt wurden, muss heute be- tiger Sicht, in Wohlstand und angenehmer demo- fremden. Nichts destotrotz aber müssen die histo- kratischer Sicherheit sowie ohne seriöse historische rischen Leistungen eines Mannes gewürdigt werden Einordnung vorzunehmen, muss klarerweise zu ver- und bleiben, der zwei Mal entscheidenden Einfluss zerrten und selbstgefälligen Beurteilungen führen. genommen hat, Österreichs Freiheit und Unabhän- Ohne historische Einordnung entkleidet sich die Re- gigkeit zu erringen. Karl Renner kam aus einer ver- publik ihrer Identität und ihres eigenen Fundaments armten bäuerlichen Familie und musste Hunger und und wird dadurch leer. Bei aller berechtigten, poli- Not am eigenen Leib erfahren. Diese frühkindlichen tischen Auseinandersetzung dürfen wir diese gemein- Prägungen sollten auch sein Politikverständnis nach- same republikanische Gründungsgeschichte, die uns haltig bestimmen, nämlich Politik als Instrument zu über alle Differenzen eint, nicht aus dem Blick verlie- verstehen, das das tägliche Leben der breiten Bevöl- ren. Aus dieser Perspektive heraus ist auch die vorlie- kerung verbessern soll. Auf dieser historischen Reise gende Festschrift entstanden und zu verstehen. – von der Monarchie über die Republik, durch die Zeit zweier Faschismen und zweier Weltkriege und schließlich zur Wiedergeburt Österreichs aus Trüm- mern und Elend – blieben Brüche und Widersprüch- Doris Bures lichkeiten wohl kaum vermeidbar. Diese Brüche trägt Zweite Präsidentin des Nationalrates Renner nicht alleine in sich. Sie sind unverrückbarer und Präsidentin des Karl-Renner-Institutes 5
Karl Renner mit dem Wiener Bürgermeister Theodor Körner auf dem Weg zur formellen Übergabe des Parlaments durch die sowjetische Besatzungsmacht an die österreichische Proviso- rische Staatsregierung am 29. April 1945 6
Der Präsident ist tot. Am Ende ein österreichischer Aufbruch Der 4. Jänner 1951 war ein grautrüber Wintertag. Diese Ansprache eines Toten an die Lebenden hatte Dennoch standen laut Arbeiterzeitung 130.000 natürlich Symbolkraft für die Rolle und Bedeutung Österreicherinnen und Österreicher stundenlang Karl Renners für die österreichische Geschichte des in Reih und Glied rund um das Wiener Rathaus, 20. Jahrhunderts. Sie war ein beschwörender Ruf um von Bundespräsidenten Karl Renner, der dort einer konflikt- und krisengeprägten Vergangenheit aufgebahrt wurde, Abschied zu nehmen. Die ös- in eine erhoffte bessere Zukunft, ein Ruf, der in terreichischen Zeitungen schrieben vom Ableben der österreichisch-ungarischen Monarchie seinen des „Ersten Bürgers“ der Republik und die Aust- Anfang nahm. Über zwei Weltkriege, die Republiks- ria Wochenschau entbot, im pathetischen Tonfall gründung, die Verwerfungen der Innenpolitik der der Zeit, dem „Vater des Vaterlandes“ den letzten Ersten Republik, den Austrofaschismus, den Nati- Gruß.1 Der Außenminister der USA, Dean Gooder- onalsozialismus und die Shoah hinweg verknüpfte ham Acheson, stellte im Namen des Alliierten Rates Karl Renner in seiner Person durch sein Leben und im offiziellen Kondolenztelegramm fest: „In Aner- Werk Stränge der Geschichte, die ihn zu einem kennung des augenfälligen Beitrags von Präsident Symbol der österreichischen Kontinuität machten. Renner zur Wiederherstellung der österreichischen Eine Kontinuität, die aber ebenso die Paradoxien Demokratie würdigt der Alliierte Rat bei dieser trau- der Geschichte dieses Landes in der ersten Hälf- rigen Gelegenheit feierlich die Erinnerung an diesen te des 20. Jahrhunderts in sich einschloss. So ist angesehenen Staatsmann und spricht dem österrei- kaum eine andere politische Führungspersönlich- chischen Volk, dem er ein selbstloses Leben lang keit so eng mit dieser Phase der Geschichte Ös- gedient hat, sein tiefes Mitgefühl aus.“2 terreichs verbunden wie Karl Renner. Bei allen Zu- sammen-, Um- und Aufbrüchen dieses Landes war Karl Renner hatte wenige Tage nach seinem 80. Ge- er mehr oder weniger federführend involviert; und burtstag am Weihnachtsabend einen Schlaganfall ist somit auch verwoben sowohl mit der Anerken- erlitten, an dessen Folgen er am 31. Dezember 1950 nung der historischen Leistungen als auch mit der verstarb. Die Neujahrsansprache des Bundespräsi- Verantwortung für die historischen Fehlleistungen denten, die auf Wunsch des offensichtlich das Ende Österreichs. Kaum jemand hat die Grundstrukturen ahnenden Renners bereits vorweg vom Krankenbett Österreichs so geprägt und repräsentiert wie er. aus auf Schallplatte aufgenommen worden war, wurde schließlich gesendet als der Redner bereits Renner zerbrach sich schon vor dem Ersten Welt- tot war. So wandte sich der Verstorbene über die Ra- krieg den habsburgischen Kopf, um die marode Do- diogeräte an die Österreicherinnen und Österreicher naumonarchie zu reformieren und so ihre Rettung zu und sprach ihnen Mut zu: „Wir Österreicher lassen ermöglichen. Das brachte ihm von niemand Gerin- uns nimmermehr entmutigen. Wer gleichsam von gerem als Leo Trotzki den Ruf ein, ein „aufgeklärter den Toten auferstanden, – und das ist unsere Re- habsburgischer Beamter“ zu sein, der im „Tinten- publik –, und wer, wie unser Volk, aus den Ruinen faß des Austromarxismus nach Verjüngungsmitteln des letzten Weltkrieges, sich in so erstaunlicher Wei- für den Habsburger Staat“3 suche. Dennoch war se herausgearbeitet hat, der glaubt an das Leben, gerade Renner der, der aus dem habsburgischen der vertraut auf die Zukunft und hegt vor allem die Zusammenbruch heraus die Republik organisierte. Zuversicht, daß die Menschheit aus dem zeitlichen Aus dem gescheiterten Reformator des alten Öster- Wirrsal den Ausweg zu einem gerechten und dau- reich wurde dessen Totengräber und der Geburts- ernden Frieden finden wird.“ helfer des neuen. Diese Doppelrolle spielte Renner 7
erneut, als er im März 1938 den „Anschluss“ Ös- Bereitschaft, für das vermeintlich Notwendige sei- terreichs an NS-Deutschland öffentlich unterstützte. ne politischen und persönlichen Grenzen des To- Dieses verhängnisvolle „Ja“ war ein symbolischer lerierbaren sehr weit zu ziehen. So waren für den Totenschein für den Staat Österreich, den er sieben Denker Renner großartige Ideen dazu da, um stän- Jahre später noch einmal mit der Wiedergeburt der dig vom Politiker Renner der normativen Kraft des Republik in eine Geburtsurkunde umformulieren Faktischen angepasst zu werden, um diese damit sollte, als er sich im April 1945 der Roten Armee als wiederum so aufzuweichen, dass das vermeintliche Werkzeug anbot, um „mit Rat und Tat bei der Her- Maximum bzw. Bestmögliche für das Gemeinwesen stellung des demokratischen Regimes“4 zu helfen. herauszuholen sei. Ob das einem strategischen Ge- nie der Anpassung oder blankem Opportunismus Hochverehrt und scharf kritisiert polarisiert er so- geschuldet war, darüber stritten Zeitgenoss:innen mit bis heute. Verschiedene schillernde, oft wi- und streiten Nachgeborene. dersprüchliche Seiten können an ihm entdeckt werden. Zunächst beeindruckt er als visionärer Wer jedoch Karl Renners sich oft trefflich ergän- analytischer Theoretiker mit langfristigen Zielori- zende, sich aber immer wieder massiv widerspre- entierungen. Genauso ist er auch als volksverbun- chenden Eigenschaften und sein Denken verstehen dener populärer Politiker zu beschreiben, dem es möchte, der muss sich auf eine höchst ungewisse, stets gelang Menschen zu gewinnen. Wobei das instabile und leidvolle österreichische Geschichte Entgegenkommen gegenüber Volkes Meinung sehr der Um- und Zusammenbrüche einlassen, deren weit gehen konnte. Ebenso galt er als Tagesrealpo- Ursprünge im habsburgischen Vielvölkerstaat liegen. litiker des Ausgleichs und des Kompromisses mit Diese versunkene Welt prägte in vielen Facetten le- hoher Problemlösungskompetenz; jedoch mit der benslang seinen Blick auf die Welt und die Politik. Ethnographische Karte von Österreich-Ungarn, basierend auf den Volkszählungsergebnissen von 1900 8
Bäuerliche Armut und Bildung als Aufstieg Karl Renner wuchs in ärmlichen Verhältnissen in Das kindliche Erleben der Existenzängste der Eltern dem fast ausschließlich von Deutschsprachigen mit materieller Not und ohnmächtiger Rechtlosigkeit besiedelten Dorf Untertannowitz (Dolní Dunajo- prägten Renners Leben und verbanden ihn zeitle- vice) in Südmähren auf, im Land zwischen der bens eng mit den Sorgen und Nöten der „einfachen Thaya und den Pollauer Bergen. Der Ort zählte Leute“. Diese Erfahrung fand in der marxistischen zur Geburtszeit Renners rund 2.500 Einwohner: Theorie für Renner einen Widerhall. So wurde die- innen. Renner stammte somit aus einer Region, in se Perspektive der Nöte und Sorgen eine alltags- der das gedeihliche Zusammenleben in alltäglicher weltliche Basis seiner Vorstellung der evolutionären Mehrsprachigkeit und handfeste Nationalitätenkon- Transformation hin zum demokratischen Sozialis- flikte sehr nah beieinander lagen. Es war eine Welt mus.5 Im Laufe seines Lebens sollte er politische von Widersprüchen und Gegenläufigkeiten, die die Entscheidungen im Lichte dieses Verständnisses letzten Jahrzehnte der Habsburgermonarchie bis und dieser Nachsichtigkeit gegenüber den kleinen zu ihrem Zerfall im Ersten Weltkrieg bestimmten. Leuten treffen. In seiner autobiografischen Schrift „An der Wende zweier Zeiten“, die im Dezember 1946 erschien, Trotz der tristen Lebensverhältnisse konnte Ren- schrieb Renner viel über seine Jugend und seinen ner in der Volksschule in Untertannowitz als sehr Heimatort. So auch, dass seine Familie „aus ural- guter Schüler Schulstufen überspringen und schon tem deutschem Bauernstamme“ herkomme. Dass bald das Piaristengymnasium in Nikolsburg (Miku- gerade im Erscheinungsjahr der Autobiografie zwi- lov) besuchen. Anfangs ging der Elfjährige die zwei schen März und Oktober die gesamte deutschspra- Stunden Schulweg täglich zu Fuß hin und zurück. chige Bevölkerung des Ortes im Zuge der, dem vor- Als Klassenprimus und Lateingenie erwirkte das hergegangenen Terror der deutschen Besatzer des Gymnasium ein Stipendium der Mährischen Statt- NS-Staates folgenden, Zwangsaussiedlung (tsche- halterei für ihn. Gutbürgerliche Familien, Renner chisch „Odsun“) von dort vertrieben wurde, mag die Spätfolgen dieser nationalistischen Konflikte der Habsburgermonarchie noch einmal sehr präsent gemacht haben. Renner wurde am 14. Dezember 1870 als achtzehn- tes Kind von Maria und Matthäus Renner geboren. Aus dem Taufbuch geht hervor, dass Karl einen Zwil- lingsbruder namens Anton hatte, der jedoch schon bald gestorben war. Renners Eltern waren verarm- te Weinbauern, die nach dem Wiener Börsenkrach 1873 und durch die Agrarkrise der 1880er Jahre noch tiefer in die Armut rutschten. Diese Krise war ein Produkt des Widerspruchs zwischen Entfeu- dalisierung der Landwirtschaft durch die Industri- alisierung auf der einen und der Entstehung eines kapitalistischen Weltagrarmarktes auf der anderen Seite. Das Elternhaus der Familie Renner wurde 1885 zwangsversteigert, nach dem entwürdigenden Verfahren – wie es damals hieß – „um jeden Preis“. Dieser Verlust versprengte die große Familie in ver- schiedene Teile des Reichs. Ein Jugendbildnis Karl Renners, um 1888 9
vor seinen Studienkollegen als seine Frau. Bereits 1891 kam die einzige Tochter Leopoldine zur Welt. Renner gab Unterricht in bürgerlichen Haushal- ten und Luise verdingte sich als Zimmermädchen, um die Familie über Wasser zu halten. Bald wurde Leopoldine nach Purkersdorf zu einer Pflegefami- lie „auf Kost“ gegeben. Erst bei der gemeinsamen Hausstandsgründung nach Karls Dienstantritt als Adjunkt (= Gehilfe eines Beamten) der Bibliothek des Reichsrates im Jahr 1895 kehrte sie zurück, da ihr nun stabile Verhältnisse geboten werden konn- ten. Karls und Luises verpöntes, nicht statthaftes „Konkubinat“ sollte später der Pragmatisierung Geburts- und Taufschein Karl Renners Karls, also seiner Verbeamtung, im Wege stehen. nennt drei christliche und drei jüdische, versorgten Nur durch die Vermittlung seiner Vorgesetzten und ihn wohlwollend und fürsorglich mit Frühstück und die schließlich erfolgte Heirat 1897 konnte den An- Mittagessen, so genannte „Freitische“.6 Der junge standsvorstellungen der Zeit Genüge getan werden. Gymnasiast fand in der Schule auch Gönner und pädagogische Förderer wie den Philosophen und Nach Wien führte Karl Renner seine Sehnsucht nach Reformpädagogen Wilhelm Jerusalem; ein späterer einer Universitätsstadt. Er wollte dort „Menschen politischer Weggefährte Renners, Präsident des und Erwerbsmöglichkeiten kennenlernen“, um sich „Israelitischen Humanitätsvereins“ und Reform- ein Jusstudium finanzieren zu können. Daher mel- pädagoge des „Schönbrunner Kreises“. Mit seinem dete er sich, im Gegensatz zu vielen seiner Schul- wohlwollenden Lehrer Jerusalem sollte der einstige kollegen in Wien und nicht in Olmütz, in der „Nähe Schüler Renner 1907 schließlich mit anderen die der Heimat“, als Einjährig-Freiwilliger zum Militär. Soziologische Gesellschaft gründen. In den Ferien Wehrpflichtige mit höherem Schulabschluss durften arbeitete der junge Karl als Tagelöhner, um sein ab 1868 bei der so genannten „Gemeinsamen Ar- Auskommen zu finden.7 In diesem materiell kargen mee“ Österreich-Ungarns nach freiwilliger Meldung Rahmen wurde Bildung für Renner das zentrale Ele- den Wehrdienst in einem Truppenteil ihrer Wahl ab- ment gesellschaftlicher Veränderung und sozialen leisten. Bei der Armee trat ihm „zum erstenmal die Aufstiegs. Karl Renner lernte noch vor Beginn des ganze alte Österreichisch-Ungarische Monarchie in Studiums der Rechtswissenschaft in Wien die aus leibhaftiger Gestalt und in einem siebenfach ver- dem ungarischen Güssing stammende Näherin Lui- schieden gesprochenen Deutsch entgegen“8, wie er se Stoisits kennen. Ohne Scheu bezeichnete er sie in seinen Lebenserinnerungen bekannte. In Wien kam er schlussendlich mit der damals jun- gen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Kon- takt. Diese hatte sich nach langen Jahren des Rich- tungsstreits erst zu Silvester 1888/89 in Hainfeld – in Renners pathetischen Worten, das „Bethlehem des österreichischen Sozialismus“ – gegründet. Das Wien des Fin de Siècle war eine pulsierende Stadt der Vielfalt und der Widersprüche. Radikale Moder- nität und feudale Rückwärtsgewandtheit standen sich gegenüber, genauso wie maßloser Reichtum und bittere Armut. Unterschiedliche Lebenswei- sen, Sprachen und Religionen trafen aufeinander; verschiedene Ideen und Theorien bekämpften und befruchteten sich. Es entstand ein geistiges Klima der künstlerischen, wissenschaftlichen und poli- Das Bauernhaus der Familie Renner in Untertannowitz tischen Innovation. Eine dieser Modernisierungsbe- 10
wegungen war eben die Sozialdemokratie, der sich Karl Renner bald anschloss und in geheimen sozi- aldemokratischen Studentenzirkeln aktiv wurde und Vorträge in Arbeiterkellern und Wirtshäusern hielt. In seinen Lebenserinnerungen beschreibt Renner, wie sehr die erste Erste-Mai-Demonstration 1890 Ein- druck auf ihn gemacht hat, trotz „vielfacher innerer Vorbehalte“ gegen die „soziale Erhebung“, empfand er doch „deutlich den Beruf und die Pflicht“ sich „in ihren Dienst zu stellen“, da es sich doch um „seine Brüder und Schwestern und ihresgleichen“ handle.9 Erste zentrale Person, die ihn in die Sozialdemokratie hineinzog, war der aus dem oberösterreichischen Ort Spital am Pyhrn stammende Schmiedegeselle und spätere Metallfacharbeiter Alois Rohrauer, über den Renner später schrieb, dass „alle intellektuellen und moralischen Triebkräfte [des Aufstiegs des Indus- trieproletariats] in diesem seltsamen Manne Gestalt und Wirksamkeit angenommen“10 hätten. In Rohr- auer sah Renner zum einen ein Vorbild und einen Lehrer, zum anderen einen „Zögling“. Der Proletari- er führte den Studenten in die industrielle Welt mit ihrer Dynamik und Ausbeutung ein und der Student lehrte den Proletarier und seine Mitstreiter, für de- Luise und Karl Renner mit Tochter Leopoldine in Wien um 1895 ren Organisation er ein Statut schrieb, sozialistische Theorie.11 Einen ebenso bedeutenden Förderer und dass „die Arbeiterklasse, wenn sie die Welt erobern Freund fand er im Lehrer und Journalisten Engel- wolle, sich auf allen Gebieten menschlicher Kultur bert Pernerstorfer. Ein Mitschüler, Freund und Weg- zugleich betätigen müsse, dass wir nicht nur tou- begleiter Victor Adlers, der sich ebenso wie dieser ristische, sondern auch Kunstvereinigungen, wis- vom deutschnational-freisinnigen Demokraten zum senschaftliche Einrichtungen und so weiter schaf- Sozialdemokraten entwickelte. Gleichfalls schlug ihn fen müssten. Diese Vereinigungen hätten übrigens selbstverständlich Victor Adler in den Bann, den er auch ihren großen agitatorischen Wert, denn die erstmals 1895 im Zuge einer Bildungsveranstaltung Touristen, die durch das Land ziehen, tragen im der Partei kennenlernte. Adler gab ihm damals den Rucksack auch Propagandaschriften mit und wer- Ratschlag, zunächst sein Studium zu beenden, da ben mündlich in jedem Ort.“13 er fertig ausgebildet der Arbeiterbewegung so am meisten dienen könne.12 Im Jahr 1895 war Renner mit seinem Freund Rohr- auer Mitbegründer des Tourismusvereins „Die Na- turfreunde“, der am 16. September 1895 im Gast- haus „Zum goldenen Luchsen“ in Wien ins Leben gerufen wurde. Die Statuten des Vereins stammten selbstverständlich vom Juristen Karl Renner, der auch das Logo zeichnete. Den Nutzen des Touris- tenvereins wollte die sozialdemokratische Parteifüh- rung zunächst nicht erkennen und sogar als Ablen- kung vom politischen Kampf verstehen. Für Renner hingegen war die gemeinschaftliche Betätigung in Karl Renner und Naturfreunde beim Aufstieg zur Eröffnung des der freien Natur von großer politischer Bedeutung ersten Naturfreunde-Hauses in Österreich auf dem Padaster- und er verteidigte diese neue Bewegung damit, joch (Tirol) im August 1907 11
Im Streben um neue gesellschaftspolitische Lö- Vor dem Ersten Weltkrieg verstand sich der Austrom- sungen wurde er zu einem Mitbegründer des soge- arxismus im rückschrittlich empfundenen Wien als nannten „Austromarxismus“, jener österreichischen „spätaufklärerische“ wissenschaftliche Schule der Schule des Marxismus, die den theoretischen politischen Veränderung und gesellschaftlichen Er- „Überbau“ der österreichischen Sozialdemokratie neuerung. In ihr wurden Philosophie, Nationalöko- bildete. Um 1900, entwickelt von Otto Bauer, Ru- nomie, Naturwissenschaft, Soziologie, Rechtswis- dolf Hilferding, Max Adler, Friedrich Adler, Gustav senschaft genauso wie Pädagogik und Kunsttheorie Eckstein und eben Karl Renner, entfaltete dieses „marxistisch“ neu gedacht.15 Es ist zu betonen, dass Theoriegebäude eine über Österreich hinausge- die „Austromarxisten“ kaum Platz in den universi- hende Strahlkraft, weil es „die Kunst das Unverein- tären Wissenschaften und so an den Universitäten bare zu verbinden“14 beherrschte und sowohl an selbst fanden, Antimarxismus und Antisemitismus die Orientierungsbedürfnisse einfacher Arbeiter: waren an den Hochschulen Mainstream und weit- innen appellieren als auch die praktische Politik in- verbreitete Grundorientierung. So wurden viele aus- spirieren konnte. In diese Zeit fällt auch der Beginn tromarxistische Gelehrte Lehrende in der Arbeiter: von Renners lebenslanger äußerst umfangreicher innen- und Gewerkschaftsbildung und vor allem an publizistischer Tätigkeit. den Volkshochschulen. Bereits 1903 gründeten die Exponenten des entstehenden Austromarxismus, so auch Karl Renner, die erste Wiener Arbeiterschule namens „Zukunft“. Ab 1925 wurde ebenso eine Art Gegenuniversität ins Leben gerufen, die Arbei- terhochschule, an der Helene und Otto Bauer, Max Adler, Friedrich Adler, Otto Neurath und eben auch Karl Renner unterrichteten, um für eine anbre- chende neue Zeit des Sozialismus Wissenschaft und Arbeiter:innenschaft zu vereinen.16 In der Ersten Republik wurde der Austromarxismus in den Augen Otto Bauers hingegen mehr zur politischen Theorie und Weltanschauung, die den Erhalt der Einheit der Arbeiter:innenbewegung in Österreich ermöglichen sollte: „Nur wo die Spaltung vermieden wird, nur dort bleiben nüchterne Realpolitik und revolutio- närer Enthusiasmus in einem Geist verbunden.“17 Platziert zwischen dem orthodoxen Marxismus bzw. dem Kommunismus der Zeit und dem Revisionis- Wanderung der Naturfreunde im Jahr 1910, in der Mitte Karl mus, als Relativierung marxistischer Grundannah- Renner und rechts neben ihm steht Alois Rohrauer men, verstand sich der Austromarxismus als ein Dritter Weg. Alle geistigen Strömungen seiner Zeit sollten darin aufgenommen und marxistisch umfor- mt werden. Eine Weiterentwicklung des Marxismus auf der Höhe der Zeit war das Ziel. Otto Bauer nann- te seinen Zugang zu diesem Weg des Marxismus „integralen Sozialismus“. 12
Die Lösung der Nationalitätenkonflikte oder sich den habsburgischen Kopf zerbrechen Das Thema, mit dem die theoretische Arbeit Karl Ren- stimmungen und weitgehende Einsprachigkeit her- ners begann, war die Überwindung der Nationalitä- stellen ließen. Dies führte dazu, dass „Gesellschaft“ tenkonflikte im habsburgischen Vielvölkerreich. Die implizit immer stärker „national“ gedacht wurde.18 Habsburgermonarchie mit ihrer Reichsidee war ein Es ist kein Zufall, dass die Ideologie des Nationalis- seit dem Mittelalter gewachsenes Länderkonglome- mus gerade Ende des 19. Jahrhunderts so an Kraft rat und Ergebnis vormoderner dynastischer Politik. und Fahrt gewonnen hat, da diese Zeit den Höhe- Sie war für Renner das „eigenartigste Staatsgebilde punkt der ersten Globalisierung darstellte und eine Europas“. In vielen Staaten Westeuropas vollzog sich enorme wirtschaftliche Dynamik und weltweite Ver- mit der Herausbildung zentralistischer Verwaltungs- flechtung sowie einen immensen gesellschaftlichen staaten, der Industrialisierung und der Entwicklung Veränderungsdruck erzeugte. Der rasante Wandel neuer Alltagskulturen ein – auch oft erzwungener – mit hoher sozialer und geografischer Mobilität, Modernisierungsprozess der Vereinheitlichung, der technischem Fortschritt und beschleunigten Kom- in der Bildung von Nationalstaaten gipfelte. Damit munikations- bzw. Informationswegen brachte gül- entstand die Vorstellung, eine „Nation“ umfasse in tige Überzeugungen, Zugehörigkeiten, Identitäten, erster Linie ein gemeinsames Territorium und dass Autoritäten und Loyalitäten ins Wanken. Zeiten der sich in diesem umgrenzten Staatsgebiet soziale Bin- Veränderung sind nicht nur Zeiten neuer Chancen, dungen und Identitäten nur über kulturelle Überein- sondern auch Zeiten neuer Ängste, die Bedürfnisse nach einfachen Erklärungen, überschaubaren Räu- men, klaren Ordnungen und eindeutigen Gegen- sätzen entstehen lassen.19 Der Nationalismus als Ideologie bot gerade in der komplexen und kompli- zierten Habsburgermonarchie vieles davon an. Im Vielvölkerstaat der Habsburgermonarchie rea- gierte man in der Verwaltung insofern darauf, dass „Nation“ vor allem als „Sprachnation“ verstanden wurde. Das machte die Sprache zum einzigen Merkmal, das „Nationalität“ mess- und damit zähl- bar machte, führte jedoch ebenso zu gegen Mehr- sprachigkeit gerichteter Vereinheitlichung.20 In der Volkszählungspraxis der Monarchie bildete sich diese Sichtweise deutlich ab. Ab 1880 wurde in den beiden Reichshälften der österreichisch-un- garischen Monarchie, die im habsburgischen Be- amtendeutsch umständlich „Cisleithanien“ und „Transleithanien – diesseits und jenseits des Grenz- flusses Leitha – genannt wurden, uneinheitlich die Umgangssprache bzw. Muttersprache erhoben. In dieser Logik beherbergte das Land elf große Sprachgruppen und unzählige kleinere Minder- heitensprachen. Laut Volkszählung im Jahr 1910 Familie Renner auf der Veranda der Villa in Gloggnitz 1912 sprachen rund 23,4 Prozent Deutsch, 19,6 Prozent 13
wurde, setzte sich im aufgeheizten nationalistischen Klima der Habsburgermonarchie nicht durch. Viel- mehr war diese ständige Thematisierung von Kate- gorisierungen und Wertbestimmung von Menschen und deren Zugehörigkeit – sei es anhand von Spra- che, Augenfarbe, Gesichtsform, Abstammung etc. – keine erfolgreiche Strategie zur Minderung bzw. Lösung der Konflikte, sondern eine Einübung in eine feindselige Wahrnehmung von Differenz und in eine übersteigerte Feindbildkonstruktion. Mehrere komplexe Konfliktlinien bestimmten das politische Geschehen in der Monarchie. Der deutsch-tschechische Konflikt um das böhmische Staatsrecht, die Magyarisierungspolitik gegen an- dere Sprachgruppen in Ungarn, der italienisch-slo- wenische Konflikt in Triest oder aber auch soziale Konflikte wie jener zwischen polnischen Großgrund- besitzern und ukrainischen Kleinbauern in Galizien gehörten dazu. Alle Konflikte wurden jedoch mehr oder weniger in der Auseinandersetzung mit nati- onalen Widersprüchen überzogen, egal ob soziale Eine der ersten und aufsehenerregenden Publikationen Karl oder wirtschaftliche Fragen, sie wurden immer mehr Renners erscheint 1899, „Staat und Nation“ als „nationale“ Widersprüche interpretiert. Die Posi- tionen der Sprachgruppen gegenüber Minderheiten Ungarisch, 12,5 Prozent Tschechisch, 9,7 Prozent wechselten nach Position, je nachdem, ob sie die Polnisch, 7,8 Prozent Ruthenisch (Ukrainisch), 7,3 Mehrheit oder die Minderheit bildeten. In der einen Prozent Rumänisch, 4,9 Prozent Kroatisch, 3,8 Region wurde von einer Bevölkerungsgruppe etwas Prozent Slowakisch, 3,6 Prozent Serbisch und 1,5 gefordert, das dieselbe Gruppe woanders einer an- Prozent Italienisch. Andere Sprachen in den un- deren Minderheit verweigerte. terschiedlichen Gebieten des Reichs, die bewusst nicht bei Volkszählungen erfasst wurden, waren Die theoretisch-politische Auseinandersetzung Ren- Friulanisch, Jiddisch, Bosnisch, Bulgarisch, Alba- ners mit der nationalen Frage hat früh begonnen. nisch, Griechisch, Huzulisch und noch viele mehr. Bereits 1899 veröffentlichte er „Staat und Nation“ Mehrsprachigkeit war somit im Alltagsleben der und 1902 „Der Kampf der österreichischen Natio- einfachen Leute weitverbreitet und unumgänglich. nen um den Staat“; da er Beamter der Monarchie Renner selbst beschrieb in seinen Erinnerungen an war, veröffentlichte er beides unter Pseudonymen seine südmährische Heimat zwischen deutsch- und – „Synopticus“ bzw. Rudolf Springer. Im Sinne tschechischsprachigen Bauernfamilien etwa einen der Verwaltungspraxis der Habsburgermonarchie „Kindertausch auf Zeit“, damit das gegenseitige Er- war in Renners Vorstellung die Voraussetzung zur lernen und Verstehen der Sprache möglich wurde. Entstehung von Nationen das Vorhandensein von Nationalsprachen. Für Renner bildete sich Nation Im Schatten dieses Nationalitätsverständnisses zunächst als „Gemeinschaft des Gedanken- und wucherten jedoch viele andere Nationalitätsvorstel- Gefühlslebens also als „ein rein Innerliches“21 aus. lungen, die zwischen Begriffen wie „Volksstamm“, Der gemeinsame Ausdruck dieser Gedanken und „Ethnie“, „Nationalität“ oder „Rasse“ versuchten Gefühle ist eben nur die Nationalsprache. Auf Basis Nationalität objektivierbar und diese aus politischem dieser Sprachgemeinschaft werde der Nationsver- Interesse als primäre kollektive Identitätsvorstellun- band zur Kulturgemeinschaft. Später beschrieb er gen bedeutsam zu machen. Nationalität als Staats- den Charakter der „Nation“ präziser, sie sei „kein zugehörigkeit zu denken, wie dies in den westeu- naturwissenschaftlicher, kein ethnologischer, kein ropäischen Staaten bei Volkszählungen angewandt soziologischer, sondern ein politischer Begriff“22. 14
Schließlich sei die Geschichte der Nation ein Pro- zess der Verrechtlichung. Renner sah in Nationen „organisierbare Menschenmassen, die aus der Ge- samtheit der menschlichen Gesellschaft sich im Raume absondern und durch besondere Geschich- te, Sprache und Kultur losheben, neben- und wider- einander Macht erstreben und Macht üben und so als wollende und handelnde Einheit auftreten“23. Das Problem mit der nationalen Frage für die Habs- burgermonarchie bestand für ihn darin, dass alle Nationen nach einem Staat mit eigenen Hoheits- rechten strebten. Dieses Territorialprinzip des Nati- onalstaates, das ein geschlossenes Siedlungsgebiet als Ideal hat, war für das Vielvölkerreich Österreich- Ungarn ein Weg, der nur zu massiven Konflikten führen könne. Renner meinte: „Niemals kann das Territorial-Princip Compromiss und Gleichberechti- gung, es kann nur Kampf und Unterdrückung mit sich bringen, da sein Wesen Herrschaft ist.“24 Ihm ging es vor allem um eine funktionale Trennung von Staat und Nation sowie Staat und Gesellschaft. Das bedeutete für ihn, jeder Bereich hat andere Kom- Förderer des Schülers Renner und später politischer Wegbeglei- petenzen aufgetragen, andere Aufgaben zu erfüllen ter des Politikers Renner, Wilhelm Jerusalem (1854–1923) und gegebenenfalls andere Institutionen zu schaf- fen: „Da das nationale Interesse nur ein Kollektiv- der erklärte Wille der Person, der juristischen und interesse neben den ökonomischen, sozialen und natürlichen, „die Seele des Rechtslebens“27 sei: politischen ist, der Staat aber universelle Interes- „Ueber die Nationszugehörigkeit kann nichts ande- sengemeinschaft ist, so muß sich die Personenge- res entscheiden als die freie Nationalitätserklärung sammtheit (sic!) ‚Nation‘ mit der Gesammtheit (sic!) des Individuums vor der dazu kompetenten Behör- ‚Staat‘ dem Umfange und Inhalte nach keineswegs de. Dieses Selbstbestimmungsrecht des Individu- decken.“25 Staat und Nation können sich decken, ums bildet das Korrelat jedes Selbstbestimmungs- müssen aber nicht. Tun sie das nicht, „muss das rechtes der Nation.“28 Dort, wo es ein einheitliches ursprüngliche Verhältnis wieder hergestellt und für Siedlungsgebiet gibt, könne das Territorial- und die getrennten gesellschaftlichen Funktionen auch Personalitätsprinzip zusammenfallen. In national ein System getrennter Organe geschaffen werden“. gemischten Landesteilen werde das Personali- tätsprinzip angewandt. Die Nationen sollen staat- Renner sieht in der Nation keine Siedlungsgemein- liche Gesetzgebungs- und Vollzugsrechte erhalten schaft, sondern zunächst eine Sprach-, Kultur- und und werden so Staatsglied im Nationalitätenstaat: Geschichtsgemeinschaft von Personen oder – mit Renner wollte eine Verrechtlichung der nationalen Renners Worten – einen „gebietslosen Personen- Interessen und damit eine befriedende Kanalisie- verband, gleichsam als Genossenschaft öffentlichen rung der nationalen Konflikte. Vorbilder für seine Rechts“26. Daher definiert er ein „Personalitätsprin- Reformphantasien der Habsburgermonarchie sah zip“. Das heißt, Nation ist eben ein gebietsloser er in den USA und in der Schweiz. Österreich solle Personenverband, der gemeinsam mit anderen eine demokratische Schweiz im Großen mit monar- Nationen in einem staatlichen Territorium bestehen chischer Spitze sein. Ohne diesen monarchischen kann. Die nationale Autonomie und die damit ver- Überbau konnte er sich den übernationalen Staat bundenen Rechte sollen in der Verfassung veran- nicht vorstellen, da dessen Verlust, in Renners kert sein. Die kulturelle Autonomie solle vollständig Sichtweise, den Zerfall in kleine Nationalstaaten an die Person gebunden werden. Er geht so weit, und den Sieg eines in seinen Augen „reaktionären dass er ein Bekenntnisprinzip daran knüpfte, da Nationalismus“ bedeutet hätte. 15
Darüber hinaus betrachtete Renner den über- und patriotismus ein. Seine Reformvorstellungen zum internationalen Rechts- und Wirtschaftsstaat auch Erhalt der Monarchie brachten ihm auch den Ruf im globalen Rahmen als Zukunftsoption. Der Natio- ein, ein „k. u. k. Sozialdemokrat“ zu sein, der sich nalismus war für ihn überhaupt eine veraltete Denk- eben den habsburgischen Kopf zerbreche. Renner weise des 19. Jahrhunderts gewesen. Bereits 1910 selbst war jedoch der Überzeugung, dass der Staat beklagte er, dass der Planet, „die Heimstätte der im Krieg nicht zu stürzen sei. Vielmehr sollte er im Menschenkinder“29, in Nationalstaaten aufgeteilt Interesse des Proletariats erhalten bleiben, damit die sei, und 1916 postulierte er: „Die Geschichte drängt Arbeiter:innenbewegung ihn später für ihre Zwecke nach übernationalen Gestaltungen, nach Staaten, der sozialen und politischen Emanzipation würde die mehr sind als eine Nation.“30 In diesem Zusam- übernehmen können. menhang taucht auch wieder die Schweiz als „eu- ropäische Schweiz“ bzw. „Weltschweiz“ auf. Ebenso Seine Idee des „Weltstaates“ kehrte in Gestalt der war Renner davon überzeugt, dass die Dynamik der Vereinten Nationen unmittelbar nach 1945 wieder. modernen Ökonomie – die globale Kapitalisierung Als Staatskanzler der provisorischen Regierung er- – mit ihren destruktiven Potenzialen des unkontrol- hoffte er sich von den Vereinten Nationen eine Ga- lierten Marktes sich nicht von kleinlichen (Natio- rantie der österreichischen Unabhängigkeit. Anfang nal-) Staaten mit ihren engen Grenzen verhindern 1946, als Bundespräsident, spekulierte Renner in bzw. steuern lasse. Es ist auch zu betonen, dass für einem Brief an den Rektor der Universität Wien, Renner klar war, dass damit die Frage nationaler Ludwig Adamovich, sogar mit dem Gedanken, eine Identität in all ihren Schattierungen bis hin zum zer- Delegation zu den Vereinten Nationen zu schicken störerischen chauvinistischen Nationalismus auch mit dem Begehren, diese möge Österreich ange- in einem sozialistischen Staat nicht gleichsam auto- sichts der Vierfachbesetzung und der Unabsehbar- matisch überflüssig werden würde. keit ihrer Dauer unter das Mandat des Treuhand- schaftsrats der Vereinten Nationen stellen. Den Herausforderungen beider Zerstörungspoten- ziale, dem unkontrollierten Markt und dem entfes- Man wollte lieber quasi „Kolonie“ der Weltgemein- selten Nationalismus, stellte er mit den Begriffen schaft sein, als unter den vier Besatzungsmächten „Durchstaatlichung des Wirtschaftslebens und der eine Teilung des Landes zu riskieren.32 Renner war Verwirtschaftlichung der Staatsgewalt“31 und „über- so auch einer der ersten, der nach 1945 eine „Neu- nationaler Staat“ mögliche Lösungsansätze gegen- tralisierung“ Österreichs ins Auge fasste. In der Wie- über. Diese These vertrat er vehement in seinem ner Zeitung schrieb Renner 1947 einen großen Ar- 1917 erschienenen Werk „Marxismus, Krieg und tikel über die „Ideologische Ausrichtung der Politik Internationale“. Darin sah er dieser Logik folgend im Österreichs“. Darin vertrat er als Bundespräsident Weltkrieg einen großen Transformator und somit eine das Ziel der Neutralität: „Wiederholt ist hingewiesen Vorbereitung für den Sozialismus, der wiederum die worden, daß die Republik Österreich für alle Zukunft Basis eines anzustrebenden friedlichen Weltstaats eine ähnliche Rolle und Bestimmung beansprucht sein sollte. Das brachte ihm innerparteilich den Vor- wie die Schweizer Eidgenossenschaft.“33 Und er for- wurf des „Kriegssozialismus“, der Gutheißung einer derte darin vehement eine „bewusste Internationali- Eroberungspolitik und des habsburgischen Kriegs- tät des Denkens“ ein. 16
Der Kampf um das allgemeine Wahlrecht oder die Selbstsucht der Stände Den zweiten Grundton des Denkens Karl Renners in der Monarchie bildete der Kampf um das allgemei- ne gleiche Wahlrecht. Er baute seine Kritik am habs- burgischen Zensus- und Kurienwahlrecht vor allem an dessen ständischer reaktionärer Grundstruktur auf. Dieses Steuer-, Besitz- und Privilegienwahlrecht wurde zwar ständig reformiert und erweiterte lau- fend den Kreis der Wahlberechtigten, es blieb den- noch ungleich und ständisch und verschärfte sogar die Ungleichgewichtigkeit der Stimmen und somit die Ungleichwertigkeit der Staatsbürger:innen nach Klasse und Geschlecht. Selbst 1897 nach Einfüh- rung einer fünften allgemeinen Wählerklasse, also einer Kurie für Männer ab 24 Jahren, die keine di- rekten Steuern zahlten, brauchte es für ein Mandat Nach der gewonnenen Wahl zum Abgeordnetenhaus des Reichs- in der privilegiertesten Kurie, jener der Großgrund- rats widmete Luise Renner ihrem Ehemann dieses Gruppenbild besitzer (85 Mandate), 64 Stimmen und in der all- mit Wählern und Unterstützer:innen, 1907 gemeinen Kurie (72 Mandate) 69.697 Stimmen. Hinzukam, dass alle Wahlberechtigten der anderen listischen Gesellschaft absurd und eine Moderni- Kurien, Großgrundbesitzer, Städte und Landge- sierungsbremse. Vor allem die verfassungsmäßig meinden, ebenso in der allgemeinen Kurie wählen garantierten Privilegien des grundbesitzenden Feu- durften, Mehrfachstimmen also selbstverständlich daladels erstickten alle Modernisierung im Keim. Im waren. Von den 5.018.217 Wahlberechtigten der Parlament fehle der institutionelle Rahmen, der die fünften Kurie durften so 1.831.439 auch in ande- kontrollierte Konfliktaustragung und die kontrover- ren Kurien wählen.34 Dadurch sollte verhindert wer- sielle Kompromissfindung ermögliche. Die in diesem den, dass die allgemeine Kurie von Proletariat und Parlament vertretenen Parteien könnten so nicht anderen kleinen Leuten dominiert werden würde. ihre Funktion erfüllen, da sie für den sozialen Kampf Die Interessen der Besitzenden sollten so geschützt immer untüchtiger werden würden und schließlich werden.35 Dadurch sei für Renner das Abgeordne- im Inneren nur durch nationalistische Ideologien, tenhaus in Österreich das „Gespött der Welt“, eine aber nicht durch ihre ökonomisch-politischen Inter- „Kammer von Privilegierten, in der die Selbstsucht essen zusammengehalten werden würden. Alles in der Stände und Nationen durch Jahrzehnte getobt allem, wie Renner sagte, sei das ein „Kartenhaus hat“.36 Das Maß an Ungleichheit und Ungleichwer- fauler Vorrechte“.37 Die Einführung des allgemei- tigkeit sei unerträglich. nen gleichen Wahlrechts und die Beseitigung aller ständischen und privilegierten Unvernunft sei die In seiner programmatischen Schrift „Staat und Par- Voraussetzung zur Reform und Erhaltung des Viel- lament“ aus dem Jahr 1901 entfaltete Karl Renner völkerreichs. Nur wenn das Staatsvolk mit all sei- seine Vorstellung von Parlamentarismus in der Mon- nen widerstreitenden individuellen und kollektiven archie. Das bestehende Parlament bilde auf Grund Interessen im Staat einen legitimen Repräsentanten des Wahlrechts nur ständische Besitzinteressen, erkennen kann und der Staat in der Lage ist, einen Berufsinteressen und die Interessen der Nationali- so abgebildeten „Gesamtwillen“ in Gesetzen abzu- täten und Religionsgemeinschaften ab. Dies sei für bilden, nur dann könne die österreichische Monar- ihn in einer entwickelten bürgerlichen und kapita- chie als Staat Bestand haben. 17
am Steinfelde, Buchbach, Gloggnitz, Pottschach, Reichenau und Wimpassing zusammengefasst wur- den. In Österreich unter der Enns (= heutiges Niede- rösterreich inklusive Wien) wurden 64 Wahlbezirke geschaffen, 43 Stadtwahlkreise, 33 davon in Wien. Die Wahl wurde am 14. Mai 1907 durchgeführt. Karl Renner siegte mit 4.113 Stimmen auf Anhieb und ließ seine Konkurrenten, den Christlichsozialen Matthias Lackner mit 2.416 und Wilhelm Frey von der Deutschen Volkspartei mit 1.330 Stimmen, klar hinter sich. Er wurde einer von zwölf sozialdemo- Die Gloggnitzer Villa um 1920 kratischen Kandidaten, die in Niederösterreich und Wien ein Mandat erhielten.38 Dieser Wahlsieg führte All das sei für Renner nur mit einem mit dem all- schließlich dazu, dass die Familie Renner sich einen gemeinen gleichen Verhältniswahlrecht gewählten Wohnsitz in der Region suchte und ihr Domizil in Parlament möglich. Darin kämen alle Interessen zu einer Villa in Gloggnitz aufschlagen sollte. Wort und stünden sich in ihrem gesellschaftlichen Gewicht gegenüber. Dort werden dann Konflikte ge- Dass Karl Renner am Ende der Monarchie und am ordnet ausgetragen und schließlich über den Weg Anfang der Republik mit den anderen Parteien über des Kompromisses bzw. der Mehrheitsbildung Ei- das republikanische Wahlrecht verhandelte, passte nigungen, sprich Gesetze zu Stande gebracht. Die gut zusammen. Einer der Knackpunkte 1918 betraf vorangehende eingehende Erörterung, die logische natürlich das Frauenwahlrecht, das bei den bürger- Überprüfung und die Klärung über die Mehrheits- lichen Parteien auf verschiedene Intensitäten der verhältnisse sei das Prozedere eines gut funktionie- Ablehnung stieß, obwohl der Widerstand dagegen renden parlamentarischen Repräsentativsystems. im Verlauf des Krieges massiv abgenommen hatte. Für Renner könne so auch der Fokus des politischen Staatskanzler Karl Renner schaltete sich immer wie- Bewusstseins vom Nationalitätenkampf auf die wirt- der in die Debatten ein und stellte sicher, dass das schaftlichen Interessen verlagert werden. Frauenwahlrecht gleichberechtigt realisiert wurde. Einwände wie die angebliche „Verantwortungslosig- Dem Ziel eines allgemeinen, gleichen, geheimen keit“ des passiven Frauenwahlrechts in „ganz klei- und direkten Wahlrechts kam Karl Renner im Jahr nen Gemeinden“39 und „die sehr großen Bedenken 1907 etwas näher, da in diesem Jahr in Cisleithanien in agrarischen Kreisen“ wurden zurückgewiesen.40 das Abgeordnetenhaus des Reichsrats erstmals mit Es wurde tatsächlich die Sorge artikuliert, dass Frau- dem allgemeinen gleichen Männerwahlrecht gewählt en nur Frauen wählen und so durch den kriegsbe- wurde. Für den transleithanischen Reichstag wurde dingten Männermangel Gemeindeausschüsse aus dieser Etappensieg bis zum Ende der Monarchie nie lauter Frauen bestehend entstehen könnten. Ren- erzielt. Die Wahl wurde mittels Mehrheitswahlrecht ner selbst betonte in seiner 1929 anlässlich des durchgeführt und das Staatsgebiet (bis auf Galizien) Frauentages erschienenen Festschrift „Der Staatsrat in Einer-Wahlkreise (jeder Wahlkreis erhält ein direkt beschließt das Frauenstimmrecht“, dass er dessen gewähltes Mandat) eingeteilt. Somit musste die So- Einführung während der Verhandlungen auf eine zialdemokratie Wahlkreise identifizieren, in denen nichtverhandelbare Selbstverständlichkeit redu- es eine reale Chance gab, zu gewinnen. Dort muss- zierte, um nicht zu viel bürgerlichen Widerstand und ten dann fähige Kandidaten entsandt werden. Jener öffentliche Aufmerksamkeit zu provozieren.41 Kandidat, der beim ersten Durchgang eine absolute Mehrheit erreichte, erhielt das Mandat. Hatte keiner Ebenso drohte er mit der Unzufriedenheit der Arbei- eine absolute Mehrheit, musste am 23. des Monats ter:innenschaft in einer revolutionären Grundstim- zwischen den beiden Erstplatzierten eine Stichwahl mung und somit mit einem Arbeiter:innenaufstand, durchgeführt werden. Karl Renner wurde für den der, mit Karl Seitz’ Worten im Staatsrat, „in den Frau- Stadtwahlkreis Neunkirchen auserkoren, in dem en das aller aufreizendste Element“ haben wird.42 Neunkirchen, Dunkelstein, Sankt Johann am Stein- Die Einführung des allgemeinen gleichen direkten felde, Pitten, Puchberg am Schneeberg, Rohrbach Männer- und Frauenwahlrechts auf allen Ebenen 18
Sie können auch lesen