Kommunale Integrationszentren NRW Gestaltungsrichtlinien und Empfehlungen
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Kommunale Integrationszentren NRW Arbeitspapier Denkanstöße für eine rassismuskritische Perspektive auf kommunale Integrationsarbeit Kommunale in den KommunalenIntegrationszentren Integrationszentren – NRW Ein Querschnittsthema Gestaltungsrichtlinien und Empfehlungen www.bra.nrw.de/laki
Inhaltsverzeichnis 1 Grundlegende Darstellung zur Rassismuskritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.1 Was ist Rassismus und was heißt Rassismuskritik?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.1.2 Eine wissenschaftliche Definition von Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.1.3 Abwehr, Widerspruch, Tabuisierung, Verlagerung in die Vergangenheit – Zum schwierigen Umgang mit Rassismus in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.1.4 Die Perspektive Rassismuskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1.5 Handlungsmöglichkeiten und Grenzen einer rassismuskritischen Auseinandersetzung (er-)kennen . . . . . . . 12 1.1.6 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2 Sprache – Macht – Rassismus: Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.2.2 Sprache als Herstellung sozialer Wirklichkeit und Ort der Bedeutungsproduktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.2.3 Sprache als symbolische Machtpraxis rassismuskritisch reflektieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.2.4 Das Verletzungspotenzial von an Rassismus anknüpfenden Sprechweisen erkennen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.2.5 Was heißt rassismuskritisch sprechen? Impulse für eine veränderte Sprach- und Denkpraxis . . . . . . . . . . . . 21 1.2.6 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2 Rassismuskritik in der Praxis Kommunaler Integrationszentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.1 Rassismuskritische Arbeit in der StädteRegion Aachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.1.1 Ausganglage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.1.2 Theoretischer Hintergrund: Ideologien der Ungleichheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.1.3 Rassismuskritische Arbeit in der StädteRegion Aachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1.4 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2 Migrantenselbstorganisationen im Kontext der kommunalen rassismuskritischen Arbeit des Kommunalen Integrationszentrums Bielefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.2.1 Migrantenselbstorganisationen aus wissenschaftlicher Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.2.2 Zusammenarbeit mit Migrantenselbstorganisationen auf kommunaler Ebene in Bielefeld. . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.2.3 Migrantenselbstorganisationen als wichtige Akteure für Rassismuskritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2.4 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.3 Bonn – aufklären, sensibilisieren, stärken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.3.1 Ausgangslage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.3.2 Beschreibung des Handlungsfeldes Antidiskriminierungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.3.3 Angebote und Projekte des Kommunalen Integrationszentrums Bonn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.3.4 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.4 Rassismuskritisches Arbeiten in Münster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.4.1 Rassismuskritisches Handeln als strategisches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.4.2 Rassismuskritisches Handeln in kommunalen Netzwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.4.3 Entwicklung der rassismuskritischen Arbeit in Münster – vom kommunalen zum europäischen Netzwerk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.4.4 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Rassismuskritik als kommunales Handlungsfeld in den Kommunalen Integrationszentren Einleitung ten Akteuren der Rassismuskritik in NRW, wie z.B. IDA- NRW und die FUMA-Fachstelle die Notwendigkeit, die Die gesamte konzeptionelle migrationsgesellschaftliche Rassismuskritik von einem versäulten Handlungsfeld zu Ausrichtung in den Kommunalen Integrationszentren einem Querschnittsthema in der kommunalen Integrati- (KI) ist nach dem Gesetz zur Förderung der gesellschaft- onsarbeit zu entwickeln, diskutiert. lichen Teilhabe und Integration in Nordrhein-Westfalen darauf angelegt, eine „Kultur der Anerkennung und des Ein weiterer Impuls erfolgte durch die Initiative der Kolle- gleichberechtigten Miteinanders auf der Basis der frei- gen*innen1 aus den KI der Stadt Bonn, der StädteRegion heitlich demokratischen Grundordnung“ zu schaffen und Aachen und des Kreises Unna im Frühjahr 2017 angesto- dabei „jede Form von Rassismus und Diskriminierung ßen. Im Zentrum dieser Initiative stand der Wunsch nach einzelner Bevölkerungsgruppen zu bekämpfen“ (Teilha- einem regelmäßigen und verbindlichen landesweiten be- und Integrationsgesetz vom 14.02.2012). Austausch der Mitarbeiter/innen in den KI zu dem The- ma Rassismuskritik. In diesem Rahmen wurde zunächst Schon in der Vorgängerstruktur der Kommunalen Integ- eine Umfrage über die Aktivitäten und Bedarfe der KI rationszentren, den Regionalen Arbeitsstellen zur Förde- im Kontext des Themas im gesamten NRW-Verbund rung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfami- durchgeführt. Das Ergebnis zeigte, dass bei insgesamt lien (RAA), ist die Notwendigkeit der Thematisierung von 30 Kommunalen Integrationszentren ein deutliches Rassismus und Diskriminierung erkannt und bearbeitet und breit gefächertes Interesse an dem Thema besteht worden. Allerdings wurde das Thema Rassismus auf- und/oder Zugänge dazu gesucht werden. Darüber hin- grund der eher schul- und bildungspolitischen Ausrich- aus wurde durch die Analyse der Daten gleichzeitig die tung der RAA in diesem Kontext betrachtet und seit 1995 große Spannbreite und Unterschiedlichkeit in der Bear- durch das Projekt „Schule ohne Rassismus“ in die Schul- beitung und Bedeutung, die dieses Thema innerhalb der strukturen hineingetragen. Seit 2001 wurde der Name vielfältigen Ausprägung der kommunalen Strukturen im des Programms durch den Zusatz „Schule mit Coura- NRW-Verbund der KI hat, deutlich. Das bei der Umfrage ge“ erweitert. Die Landeskoordination für dieses größte, benannte Spektrum reichte von Antidiskriminierungsar- bundesweite Schulnetzwerk wird in Nordrhein-Westfalen beit über Migrantionspädagogische Öffnung bis zu Anti- durch die Landesweite Koordinierungsstelle der Kommu- rassismus- und Rechtsextremismusarbeit. In einigen KI nalen Integrationszentren (LaKI) vorgenommen. werden zudem Aktivitäten im Kontext der Programme „NRWeltoffen“ und „Demokratie leben!“ entwickelt. In ein- Im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der RAA zelnen Kommunalen Integrationszentren ist das Thema zu den Kommunalen Integrationszentren und der damit Rassismuskritik ein Schwerpunkt in der strategischen verbundenen flächendeckenden Ausweitung dieser zen- Ausrichtung des jeweiligen KI. Entsprechend sind dort tralen integrationspolitischen kommunalen Infrastruktur auch personelle und konzeptionelle Prioritäten gesetzt, besteht nunmehr die Notwendigkeit, das Thema Rassis- oder sogar zusätzliche kommunale Mittel für die Bear- mus auch außerhalb der Schule als ein Querschnittsthe- beitung des Themas eingesetzt oder akquiriert worden. ma für die fachpolitischen Ansätze in den Kommunalen Integrationszentren zu positionieren. In anderen KI dagegen ist Rassismuskritik kein eigenes Handlungsfeld, sondern in andere Handlungsfelder ein- Dabei spielt die Frage, wie die Thematisierung von Ras- gelagert, z.B. in Übergang Schule und Beruf und wird sismus als ein gesellschaftliches Phänomen, das auch in quasi „nebenbei“ im Rahmen sonstiger Tätigkeiten bear- deren Mitte und nicht nur an den rechten Rändern wirk- beitet. Hinzu kommt, dass es insgesamt eine sehr breite sam ist und wie einer damit verbundenen Reduktion auf Streuung in der konkreten Erfahrung in der Bearbeitung den Antirassismus begegnet werden kann, eine zentrale des Themas in den KI gibt. So sind besonders die KI, die Rolle. auf der Vor-Struktur der RAA (1980 – 2012) aufbauen konnten und dort in bildungspolitischen Schwerpunk- ten tätig waren, in der Regel zumindest in der Initiative Entwicklung im KI-Verbund „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ engagiert. In der Beschäftigung mit diesen Fragen wurden auf ver- Diese unterschiedlichen strukturellen Bedingungen und schiedenen Veranstaltungen in Kooperation mit relevan- Voraussetzungen stellen die Grundlagen und Herausfor- 1 Der Stern steht für die Offenheit in Bezug auf Geschlechtsidentitäten. Er wird an eine Personenbezeichnung bzw. eine Abkürzung wie z. B. LGBTIQ- QA* angehängt und steht für alle Geschlechter und Geschlechtsidentitäten. 1
derungen für die Koordinierung und Weiterentwicklung Reader für den KI-Verbund der verbundweiten Aktivitäten der Landesweiten Koordi- nierungstelle im Handlungsfeld Rassismuskritik dar. Als drittes Element des Entwicklungsprozesses Rassis- muskritik im NRW-Verbund ist der vorliegende Reader zu verstehen, der unter Mitarbeit und wissenschaftli- Struktur und Arbeitsweise im KI-Verbund cher Begleitung von Veronika Kourabas vom Institut für Pädagogik Center for Migration, Education and Cultural Folgende drei Entwicklungen zum Thema Rassismuskri- Studies (CMC) der Universität Oldenburg und Kolleg*in- tik im KI-Verbund sind zu verzeichnen. nen aus den Kommunalen Integrationszentren in Aachen, Bielefeld, Bonn und Münster entstanden ist. Arbeitskreis Rassismuskritik Zur Förderung des Grundverständnis von rassismuskri- tischer Arbeit als Rahmen für die vielfältigen Aktivitäten Zum einen hat sich der landesweite Arbeitskreis Ras- und unterschiedlichen Ansätze, die sich auf die jeweilige sismuskritik herausgebildet, der mindestens zwei Mal kritische Thematisierung von Rassismus in strukturellen im Jahr von der LaKI in Kooperation mit einem KI vor und personellen Verhältnissen in den Kommunen in NRW, Ort durchgeführt wird. Dort werden dann kommunale in denen Kommunale Integrationszentren agieren, ist Vorgehensweisen vorgestellt und die Erfahrungen dar- auch der Titel „Denkanstöße für eine rassismuskritische über im Verbund ausgetauscht und diskutiert. Darüber Perspektive auf kommunale Integrationsarbeit in den hinaus werden im Arbeitskreis Rassismuskritik aktuelle Kommunalen Integrationszentren“ zu verstehen. überordnete Themen, wie z.B. die Rolle des Kommunalen Integrationszentrums im Kontext von entsprechenden Er dokumentiert den Entwicklungsschritt vom reinen An- kommunalen Netzwerkstrukturen oder neue wissen- ti-Rassismus zu einem erweiterten Verständnis von Ras- schaftliche Erkenntnisse zum Thema vorgestellt und ihre sismuskritik als einer reflexiven Praxis der Kommunalen Bedeutung für die Ausgestaltung der eigenen kommuna- Integrationszentren und soll dafür erste Anhaltspunkte len Arbeitsansätze erarbeitet. und Orientierungen bieten. Dazu dienen vor allen Dingen die grundlegenden Beiträge von Veronika Kourabas, die ausgehend von einer wissenschaftlichen Definition von Fortbildungsreihe „Rassismuskritik in Rassismus als gesellschaftsstrukturierendes Machtver- Kommunalen Integrationszentren“ hältnis die verschiedenen Dimensionen und Phänomene herausarbeiten und erste Hinweise auf Handlungsmög- Als zweites Entwicklungselement wird eine modulari- lichkeiten und Grenzen einer rassismuskritischen Denk-, sierte Fortbildungsreihe, gemeinsam organisiert mit IDA- Sprech- und Handlungsweise geben. NRW, für Mitarbeiter*innen der KI mit dem Handlungs- schwerpunkt Rassismuskritik durchgeführt, die sich auf Im zweiten Teil werden praktische Erfahrungen in der die Herausbildung und Förderung eines gemeinsamen rassismuskritischen Arbeit auf der kommunalen Ebene Verständnisses im Kontext von rassismuskritischen An- aus den ausgewählten Kommunalen Integrationszentren sätzen bezieht und vor diesem Hintergrund kommunale in der StädteRegion Aachen, Bielefeld, Bonn und Müns- Netzwerk- und Ansatzmöglichkeiten reflektiert. Als ein ter vorgestellt. Diese Beispiele zeigen Möglichkeiten der wesentlicher Bestandteil innerhalb der Fortbildungsrei- praktischen Arbeit in den KI auf, die einen Schwerpunkt he wird die Reflexion der Rolle, die aus den KI im Kon- in dem Thema gewählt haben und die sich mit den ver- text der kommunalen Netzwerkstruktur wahrgenommen schiedenen Dimensionen von Rassismus schon länger wird, behandelt werden. Diese Reflexion geschieht vor beschäftigen. dem Hintergrund, dass in dem Themenfeld Rassismus- kritik die KI nur ein Handelnder in einer Reihe von unter- Die einzelnen praxisorientierten Beiträge zeigen das gro- schiedlichen Akteuren*innen sind. Sie agieren deshalb ße Spektrum der kommunalen Verständnisse und Hand- auch im Verständnis eines Netzwerkpartners, der darin lungsansätze innerhalb des NRW Verbundes der Kommu- nicht vorrangig operative Aufgaben übernehmen sollte, nalen Integrationszentren auf. Insofern stehen sie auch sondern vielmehr sich als Gestalter*in entsprechender exemplarisch für ein bestimmtes Verständnis bzw. für ei- Netzwerkstrukturen zur Stärkung zivilgesellschaftlicher nen Handlungsschwerpunkt innerhalb der vorgestellten und antirassistischer Strukturen auf den jeweiligen kom- Kommunen. Die jeweils vorgestellten Arbeitsformen sind munalen Ebenen verstehen sollte. als unterschiedliche Beispiele für rassismuskritisches 2
kommunales Handeln zu verstehen. Diese müssen auf Rassismuskritik ist nicht als ein spezielles Fachgebiet die jeweils eigenen strukturellen Bedingungen geprüft für Expert*innen neben anderen zu verstehen, sondern und auf die Strukturen vor Ort angepasst werden. muss nach unserem Verständnis als ein Grundlagen- und Querschnittsthema in allen Integrationsdiskursen- und So fokussiert sich der Beitrag von Silke Peters aus der kommunalen Integrationspraxen wirkmächtig werden. StädteRegion Aachen auf die Darstellung kontinuierli- cher Arbeit gegen Rassismus, Laura Wende und Hidayet Grundlage für diese lokale Arbeit ist und bleibt im KI-Ver- Tuncer aus Bielefeld beschäftigen sich mit der besonde- bund ein gemeinsames Verständnis von Rassismus als ren Rolle von Migrantenorganisationen in rassismuskriti- einem System, in dem Benachteiligung und Degradie- schen Netzwerken. rung durch Unterscheidungen zwischen Menschengrup- pen, denen eine homogene und natürliche Gruppenei- Mariela Georg aus Bonn thematisiert Ansätze im Kontext genschaft unterstellt wird, gerechtfertigt wird. Damit von Antidiskriminierungskonzepten und Andrea Reckfort verbunden ist dann diese mit einer gesellschaftlichen aus Münster betont die Notwendigkeit, rassismuskriti- Macht zur Durchsetzung. Gleichzeitig wird durch die sche Arbeit immer in lokal ausgerichteten Netzwerken Verwendung des Begriffs der Rassismuskritik ein An- zu denken. stoß dafür gegeben, sich auch mit eigenen rassistischen Denkweisen und Praktiken auseinander zu setzen. Ras- In dem abschließenden dritten Teil werden in dem Glos- sismuskritische Arbeit bedeutet daher die Analyse von sar noch einmal alle wesentlichen Begriffe, die in dem Wegen und Formen des Rassismus und die Kritik an Ord- Zusammenhang von Rassismuskritik von Bedeutung nungen und Praktiken, die Rassismus hervorbringen und sind, in ihren verschiedenen Perspektiven und Bedeu- stärken sowie die Entwicklung und die Diskussion von tungskontexten erläutert. Wir möchten damit zu einer Denk- und Handlungsansätzen, die weniger auf Rassis- selbstreflexiven und kritischen Auseinandersetzung, mus angewiesen sind. auch im Umgang mit Sprache, im Kontext von Rassis- muskritik anregen. Dortmund, im Februar 2019 Insofern ist dieser Reader auch als Ausdruck eines ei- Dr. Christoph Berse Irmgard Harmann-Schütz genen Lernprozesses zu verstehen, der sich mit den Phänomenen des Rassismus nicht nur analytisch ausei- nandersetzt, sondern auch einen eigenen Weg zu einer entsprechenden kommunalpolitischen Praxis findet. In diesem Sinne ist das vorliegende Papier eher Ausdruck für ein erweitertes Verständnis von Rassismus und als Anregung für eigene kritische Überlegungen und kreati- ve Weiterentwicklungen bestehender Ansätze in Koope- ration mit anderen kommunalen Akteuren zu verstehen und nicht als fertiges „Rezeptbuch“ oder Gebrauchsan- leitung. Ausblick Mit der Weiterentwicklung und Verstetigung der oben genannte vielfältigen Aktivitäten wird es zukünftig dar- um gehen, diese innerhalb des NRW weiten Netzwerkes im KI-Verbund entwickelten kommunalen Handlungsan- sätze zu schärfen und landesweit zu verbreiten, sowie eine kohärente Gesamtlinie als „Marke“ in der Rassis- muskritik der Kommunalen Integrationszentren in den verschiedenen Formaten zu entwickeln. Dazu gehört auch die Herstellung einer strukturellen Verbindung von Rassismuskritik und Interkultureller Öffnung, denn 3
1 Grundlegende Darstellung zur Rassismuskritik Veronika Kourabas, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin, Institut für Pädagogik, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Arbeits- und Forschungsswerpunkte: Rassismustheorie und Rassismuskritik mit Be- zug auf den bundesdeutschen Kontext, Arbeitsmigration in Deutschland, Kritische Migrationsforschung, Soziale Ungleichheit, Geschlechtertheorie. 1.1 Was ist Rassismus und was heißt differenziert wie das Phänomen Rassismus selbst. Orien- Rassismuskritik? tiert an der angloamerikanischen Critical Race Theorie und deutschsprachiger Forschung zu Rassismustheorie und Rassismuskritik2 lässt sich Rassismus folgendermaßen 1.1.1 Einleitung charakterisieren: Im Rassismus kommt es zu einer Pro- duktion von Unterschieden. Diese gemachten Unterschie- Obwohl Rassismus in Alltagsgesprächen, in der media- de wirken sich für Menschen auf Zugänge zu materiellen len Berichterstattung, politischen Debatten wie auch in wie symbolischen Ressourcen auf allen relevanten, gesell- wissenschaftlichen Diskursen einen festen Bestandteil schaftlichen Ebenen aus. Rassismus funktioniert, indem darstellt, ist das Sprechen über Rassismus in Deutsch- auf körperliche Erscheinung, Sprache, Name etc. Bezug ge- land nach wie vor mit einem Tabu belegt. Gerade in de- nommen wird und diese mit einer Deutung und Bedeutung mokratisch verfassten, westlichen Staaten wie Deutsch- versehen werden. Diese sozial hergestellten Differenzen land wird der Gedanke abgewehrt, dass gegenwärtige werden als natürliche und unveränderliche Eigenschaften gesellschaftliche Verhältnisse trotz proklamierter und festgesetzt: sie werden naturalisiert. Eigenschaften werden rechtlich verankerter Gleichheitsgrundsätze maßgeb- dabei nicht nur zu einer reinen Unterscheidungsproduktion lich durch systematische Ungleichbehandlungen und genutzt, sondern die Unterscheidungsoperation dient zu- Ungleichverteilung wie Rassismus strukturiert sind und gleich einer Einteilung und Ordnung von Menschen in be- damit soziale Ungleichheit produzieren (vgl. Mecheril/ stimmte Gruppen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn – so der Melter 2010: 162). Versuche, Rassismus zu benennen, Sozialwissenschaftler Stuart Hall – „die Bevölkerung nicht stoßen auf Irritation, Unverständnis und werden nicht in Arme und Reiche, sondern z.B. in Weiße und Schwarze selten empört als unzulässiger Vorwurf zurückgewiesen. einteilt“ (Hall 2000: 7). Hautfarben3, Körper, Sprachen und Namen dienen dabei als „Bedeutungsträger, als Zeichen in- Im folgenden Text wird eine wissenschaftlichen Klärung nerhalb eines Diskurses um Differenz“ (Hall 2000: 7) und des Begriffs Rassismus vorgenommen und darauf auf- werden innerhalb rassistischer Praktiken als solche einge- bauend erläutert, warum die Auseinandersetzung mit setzt. Manuela Bojadžijev betont, dass es sich hierbei um Rassismus in Deutschland umkämpft ist. An diese Über- einen Bedeutungsprozess handelt, „in dem vorgefundenes legungen anknüpfend wird mit Rassismuskritik eine Per- wie auch erfundenes Material, Reales und Fiktives immer spektive vorgestellt, die eine reflexive und umfassende aufs Neue verknüpft werden. Das heißt, was als ‚Rasse’ Auseinandersetzung mit Rassismus als gesellschaftli- oder Ethnie bezeichnet wird, ist diskursiv hergestellt“ (Bo- chem Problem anstrebt. Der Beitrag schließt mit einem jadžijev 2012: 32). Menschen, die einer durch Differenzpro- Ausblick, der die Aufmerksamkeit auf Möglichkeiten und duktion konstruierten Gruppe angehören, werden zudem Grenzen einer rassismuskritischen Perspektive als Quer- als homogene Gruppe und nicht mehr als individuelle Ak- schnittsaufgabe für die Praxis richtet. teur*innen verstanden. Ihr Handeln wird allein durch ihre Hautfarbe, religiösen Symbole oder Praktiken ihrer Kultur etc. erklärt und damit äußerst eingeschränkt betrachtet. Es 1.1.2 Eine wissenschaftliche Definition findet eine reduktionistische und stereotype Einordnung von Rassismus des Handelns von Menschen statt, die sich überwiegend entlang der nationalstaatlich gedachten Kategorie Kultur Die Bandbreite wissenschaftlicher Definitions- und Erklä- vollzieht.4 rungsansätze zu Rassismus ist ebenso komplex und aus- 2 Vgl. für einen Überblick über Rassismustheorie und Rassismuskritik in Bezug auf den bundesdeutschen Kontext Claus Melter/Paul Mecheril (2009). 3 Hautfarben sind nicht biologisch gegeben, sondern werden in rassismustheoretischer Sicht als Träger von Bedeutung verstanden, die mit gesell- schaftlichen Unterschieden gekoppelt sind. 4 Rudolf Leiprecht stellt fest, dass Menschen wie Marionetten an ihrer Nationalkultur verhaftet und von dieser gesteuert gedacht werden. Sie werden dadurch lediglich als passive Kulturträger*in wahrgenommen. Dabei wird übersehen, dass Menschen ihre Kultur hervorbringen, verändern, sich von ihr distanzieren (vgl. ebd. 2004). 5
Diese naturalisierten, homogenisierten Eigenschaften fekte). Rassismus beschränkt sich jedoch nicht auf die und die daraus gebildeten Gruppen von Menschen wer- materielle Ebene wie beispielsweise Zugang zum Woh- den mit sich gegenseitig ausschließenden Eigenschaften nungs- und Arbeitsmarkt, sondern bietet zugleich ein verknüpft. All jene, die nicht zur eigenen Gruppe gezählt Deutungs- und Interpretationsmuster der Welt an, das werden, werden als anders, als diametral zum eigenen Wir Subjekten nicht äußerlich bleibt, sondern bildend auf verstanden. Es findet die Konstruktion einer Wir-Grup- der Ebene des Subjekts und der Gemeinschaft wirkt (vgl. pe und einer Gruppe „der Anderen“ statt (vgl. u.a. Hall Broden/Mecheril 2010). Subjekte fühlen sich einem Kol- 1997: 258). Trotz dieser Konstruktion eines maximalen lektiv zugehörig, werden einbezogen oder ausgegrenzt. Kontrasts zu dem als eigen Definierten besteht eine Re- Rassismus besitzt demzufolge ebenso symbolisch-dis- lation, eine Beziehung zwischen den Gruppen. So gilt bei- kursive und selbstbildende Effekte. Étienne Balibar um- spielsweise der Orient als Gegensatz und Gegenteil des schreibt Rassismus deshalb treffend als eine Praxis der Okzidents, der christliche Glaube als Differenz zum mus- Welterschließung und Weltdeutung, da Rassismus als limischen (vgl. Attia 2009). Der Begriff des „Otherings“ Schlüssel dient, „nicht nur das zu interpretieren, was die (ebd. 2009) beschreibt den Vorgang der Besonderung, Individuen erleben, sondern auch das, was sie innerhalb in dem andere Menschen zu wesentlich ‚Anderen’, zu der gesellschaftlichen Welt sind“ (Balibar 1992a: 26). ‚Fremden’ gemacht werden, während das, was der eige- Rassismus stellt damit ein gesellschaftlich akzeptiertes nen Gruppe zugeschrieben wird, als normal, bekannt, an- und gesellschaftlich eingelassenes Interpretations- und erkannt und positiv konnotiert gilt. Die Wir-Gruppe bildet Wissensreservoir bereit, wie die gegenwärtige Ordnung sich zugleich, indem sie sich als positive Absetzung zu der Ungleichheit zu begreifen ist und über diesen As- der Gruppe der ‚Anderen‘ definiert. Die Problematik der pekt hinaus, dass eben jene Ungleichheitsverhältnisse sozialen Differenzproduktion eines ‚Wirs’ und ‚die Ande- auf eine ‚höhere Ordnung’ bzw. einen auszumachenden ren’, die im Othering stattfindet, besteht in dem Prozess Grund zurückzuführen seien, die die Herabwürdigung einer Hierarchisierung von Menschen: Denn Rassismus der als anders und fremd klassifizierten Subjekte und produziert nicht nur Unterschiede, sondern „Unterschie- Subjektgruppen rechtfertige (vgl. Broden 2012: 8). Diese de, die einen Unterschied machen“ (Kalpaka 2009). Die Unterscheidung und Klassifikation bezieht ihre Sinnhaf- Wirkmächtigkeit der Unterscheidungspraxis liegt darin tigkeit darüber, dass die Produktion von Bedeutung an begründet, dass sie erstens eine Wertigkeit von Eigen- die Idee einer ‚Rasse’ geknüpft ist, die besagt, dass eine schaften, Werten und Normen sowie kulturellen Prakti- Klassifikation von Menschen anhand biologischer und/ ken vornimmt. Zweitens ist die gesellschaftliche Macht oder kultureller Merkmale möglich sei. Die Existenz von zur Durchsetzung dieser hierarchisierten Unterschei- menschlichen ‚Rassen’ wurde zwar mehrfach widerlegt dungslogik vorhanden. Paul Mecheril und Claus Melter und ist wissenschaftlich nicht haltbar (vgl. Deutsche UN- betonen, dass sich Rassismus „erst vollständig [entfal- ESCO-Kommission 1978/2009). Dennoch hält sich die tet], wenn die Mittel zum sozialen Wirksamwerden der Idee einer dem Menschen tiefer innewohnenden ‚Wahr- Unterschiedskonstruktion verfügbar sind“ (ebd. 2010: heit’, die sich in Form von ‚Rassen’ zeigen ließe, nach- 156). Man kann also erst dann von Rassismus sprechen, haltig. Die Rassismus- und Gendertheoretikerin Colette wenn die gesellschaftliche Macht zur Durchsetzung und Guillaumin hält diesen Widerspruch prägnant in dem Etablierung von hierarchisierten und strukturell ange- Satz fest: „Race does not exist, but it does kill people“ siedelten Unterscheidungen vorhanden ist.5 Wer verfügt (ebd. 1995: 107). also über die Macht, welches Wissen über wen zu pro- duzieren und dieses Wissen gesellschaftlich akzeptabel werden zu lassen? 1.1.2.1 Rassismus als gesellschaftsstrukturierendes Machtverhältnis In rassistischen Unterscheidungen werden soziale, poli- tische und rechtliche Ungleichbehandlungen, die zu Un- gleichheitsverhältnissen führen, produziert und zugleich legitimiert. Rassismus erfüllt dabei gesellschaftliche Ressourcen- und Verteilungsfunktionen (materielle Ef- 5 In Diskussionen über Rassismus wird oft das Argument angeführt, dass es auch einen ‚umgedrehten Rassismus’, gebe. Im gegenwärtigen Diskurs wird z.B. geäußert, es existierte eine „Deutschenfeindlichkeit“ von migrantischen Personen, die v.a. im Schulkontext verortet wird. Diese Argumen- tationslogik verkennt, dass es zwar Stereotype gibt, die gegen, deutsche Personen geäußert werden, diese aufgrund gesellschaftlicher Asymmet- rien jedoch nicht als Rassismus gelten können, da die persönliche Diffamierung nicht mit einer strukturellen Ungleichbehandlung korrespondiert. Denn die Gruppe migrantisierter Personen besitzt nicht die gesellschaftliche Macht zur Durchsetzung von stereotypem Wissen. Weiter wird mit Blick auf den historischen Kontext von Kolonialismus und Rassismus deutlich, dass eine historische Praxis der rassistischen Diskriminierung ge- genüber weißen und deutschen Menschen nicht existiert (hat) und entsprechende Versuche der Umkehr oder Gleichsetzung nicht als Rassismus bezeichnet werden können (vgl. Eggers 2012; Shooman 2015). 6
1.1.3 Abwehr, Widerspruch, Tabuisierung, delt es sich nicht um einen Einzelfall, sondern vielmehr Verlagerung in die Vergangenheit – Zum um eine gängige Form, in der sich Rassismus in Form ei- nes „Alltagsrassismus“ zeigt.8 In dem Zitat wird deutlich, schwierigen Umgang mit Rassismus in wie Rassismus in der Gegenwart salonfähig und akzepta- Deutschland bel ist: in der zunächst erfolgten Abgrenzung und Abwehr, „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber ...“6 rassistisch zu sein, lassen sich gleichzeitig rassistische Inhalte transportieren. Rassismus zeigt sich so in einer In einem gesellschaftlichen Klima, das Rassismus negiert paradoxen und für die bürgerliche Gesellschaft symp- und größtenteils nicht thematisiert, tritt Rassismus oft in tomatischen Form: einerseits wird er ent-nannt, ande- der Form eines Widerspruchs auf. Das diesem Abschnitt rerseits wird in der Ent-Nennung Rassismus produziert vorangestellte Zitat verdeutlicht dies exemplarisch: dem (vgl. Terkessidis 2004: 97). Diese paradoxe Form, in der Bestreiten, ‚etwas gegen Ausländer zu haben’, was nicht Rassismus ausagiert wird, geschieht meist unbewusst weiter ausgeführt, sondern nur angedeutet wird, folgt ein oder nicht direkt intendiert; oftmals fehlt ein fundiertes einschränkendes ‚aber’. Diesem ‚aber’ folgt in Gesprä- Wissen über Rassismus. Andererseits wird die rassisti- chen oftmals eine Auflistung an Äußerungen, die auf ein sche Provokation und verharmlosende Ent-nennung von gesellschaftlich verankertes, durch Rassismus verbrei- Rassismus bewusst genutzt und eingesetzt. Stephan tetes Wissen über „‚Ausländer*innen’“7 Bezug nimmt. Zinflou konstatiert, dass die „vemeintlich mutige Offen- Dabei werden rassistische Stereotype bedient und an heit, zeitweise für rassistische Positionen aknüpfungs- „rassistisches Wissen“ (vgl. Terkessidis 2004: 91 ff.) ange- fähig zu sein, [...] innerhalb des budesrepublikanischen knüpft. Mit dem Begriff des rassistischen Wissens betont Mehrheitsdiskurses mittlerweile zum Standardreper- Mark Terkessidis im Anschluss an Michel Foucault die toire [gehört]“ (ebd. 2007: 56). Für rechtspopulistische Verbindung zwischen Wissensproduktion und Macht, da und rechtsextreme Parteien und deren Anhänger*innen über Wissen gesellschaftlich akzeptiertes, wahres Wis- gehört die bewusste und systematische Leugnung ras- sen produziert wird (vgl. Cameron/Kourabas 2013: 260). sistischer und antisemitischer Tatsachen seit jeher zum Wissenschaftliche, mediale, politische, juristische sowie festen Bestandteil ihrer Politik. alltägliche Diskurse wirken hier zusammen und manifes- tieren sich als gesellschaftliche Realität und als Wissens- Formen der Ent-Nennung sind auch in einer Verschie- bestand, der gesellschaftlich geteilt wird und vefügbar bung von einem einst primär biologistischen Rassismus gemacht wird. Wenn über „‚Ausländer*innen’“ gespro- zu einem „kulturellen Rassismus“ (Balibar 1992a) fest- chen wird, wird das vermeintliche Wissen über „‚Aus- zustellen, der von der Unvereinbarkeit verschiedener länder*innen’“ in Form rassistischen Wissens diskursiv Kulturen ausgeht. Der kulturelle Rassismus zeigt sich bekräftigt. Rassismus wirkt hier nicht als offensichtliche insbesondere seit dem 11. September 2001 verstärkt Gewalt, sondern in Form akzeptierter Aussagen, die „ins als „antimuslimischer Rassismus“ (Attia/Keskinkılıç ‚normale’ gesellschaftliche Funktionieren eingelassen 2016) und proklamiert vor allem die vorgestellte Unver- sind“ (ebd. 2004: 119). Diese gesellschaftlich normali- einbarkeit von christlichen Menschen und Menschen, sierten Formen sind fast wichtiger als „intentionale For- die als muslimisch fremdbezeichnet werden (vgl. Çağlar men“, die Rassismus annimmt („Terkessidis 2004: 119; 2002). Diese als „Anschmiegungen und Anpassungs- vgl. auch Mecheril 2007), da sie aufgrund ihres Selbst- prozesse des Rassismus“ (Mecheril/Melter 2010: 153) verständlichkeitscharakters besonders produktiv und zu verstehenden Wandlungen von Rassismus zu einem unhinterfragt wirken können, ohne als eine Spielart des kultur- und religionsorientierten Sprechen über als an- Rassismus erkannt zu werden. ders markierte Gruppen ermöglichen die Persistenz von Rassismus bei einer gleichzeitigen Diskreditierung des Die Unterscheidung und Bezeichnung von Menschen als ‚Rassebegriffs’. „Ausländer*innen“ und die Zuschreibung von Eigenschaf- ten gegenüber dieser Gruppe stellen eine Form des Othe- 1.1.3.1 Rassismus als Problem des ‚rechten Randes’? rings dar, da diese als Andere markiert und zu Anderen Eine weitere „Schwierigkeit, über Rassismus zu sprechen“ gemacht werden. Es handelt sich um eine Unterschei- (Mecheril/Melter 2010: 162 ff.) zeigt sich in Deutschland dung, die gewöhnlich und größtenteils unhinterfragt sowohl im Alltags- als auch im wissenschaftlichen wie stattfindet, jedoch aus rassismustheoretischer Perspek- politischen Diskurs, wenn Rassismus primär als Problem tive problematisch ist. Bei Satzanfängen wie diesen han- sogenannter gesellschaftlicher Randgruppen verstan- 6 Das Zitat entstammt dem Alltagsdiskurs und findet auch in dem Titel des Sammelbandes der Herausgeber*innen Britta Marschke und Heinz Ulrich Brinkmann (2015) Verwendung, um Alltagsrassismus in Deutschland zu analysieren. 7 Der Begriff „Ausländer*innen“ wird in Anführungsstrichen gesetzt, da er sich im gesellschaftlichen Diskurs nicht auf alle Personen bezieht, die in Deutschland in formaljuristischer Hinsicht als Ausländer*innen gelten, sondern eine spezifische Gruppe an Personen begreift. Vgl. hierzu die aus- führliche Begriffsdefinition im Glossar. 8 Philomena Essed hat den Begriff des Alltagsrassismus geprägt und mit ihren Arbeiten in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt (vgl. ebd. 1991). 7
den wird. Die Verlagerung von Rassismus an den extre- spiel mit Antisemitismus differenziert aufeinander zu mistischen, ‚rechten Rand’9 ist aus rassismustheoreti- beziehen und zugleich die Unterschiede zu betonen (vgl. scher Perspektive ein wenig konstruktiver Vorgang für hierzu Messerschmidt 2008; 2015). Ferner ist zu ver- eine fundierte Analyse und Kritik von Rassismus. Erstens deutlichen, dass Rassismus als (Dis-)Kontinuität wirk- verschieben sich gerade im aktuellen politischen, aber sam ist. Denn „[t]rotz oder wegen aller Bemühungen, mit auch gesamtgesellschaftlichen Diskurs rechtspopulisti- der NS-Vergangenheit fertig zu werden“, ist diese nicht sche und klassisch rassistische Positionen immer mehr zuletzt in der „Form der Welt- und Menschenbilder, die in die gesellschaftliche Mitte und die etablierten Partei- in der NS-Ideologie geprägt worden sind“, gegenwärtig en.10 Die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber öffent- und hat gerade die Bilder „vom Anderen, vom Fremden lich geäußerten, rassistischen Positionen erfährt gegen- nachhaltig beeinflusst“ (Messerschmidt 2007: 49). wärtig eine Ausweitung und wachsende Legitimität (vgl. Kourabas Im Erscheinen). Zweitens ist die Verschiebung 1.1.3.3 „Xenophobie“, „Fremdenfeindlichkeit“ und des Problems Rassismus an den rechten Rand vielmehr „Ausländer*innenfeindlichkeit“ als Dethematisierung als Entlastungs- und Entschuldigungsstrategie zu ana- von Rassismus lysieren und zu fragen, welche Funktion diese Verschie- Konzepte, die mit Begriffen wie „Fremdenhass“, „Xeno- bung von Rassismus als ‚Problem der Anderen’ für das phobie“ oder „Ausländer*innenfeindlichkeit“ operieren, demokratische Selbstbild einer Gesellschaft besitzt (vgl. sind aus rassismustheoretischer Sicht nicht in der Lage, Messerschmidt 2010: 45 ff.). Alle, die dem rechtsextre- historische Formen, Fortsetzungen und Diskontinuitäten men Spektrum nicht angehören, werden vom Rassismus von Rassismus als gesellschaftsstrukturierendes Phäno- entlastet und die, die als rechtsextrem identifiziert wer- men der Vergangenheit und Gegenwart zu erfassen (vgl. den, können stellvertretend geächtet und moralisch ver- Terkessidis 2004: 13-66; Mecheril/Melter 2010: 165). Sie urteilt werden. Rassismus wird durch die Verlagerung an fragen kaum nach der ordnenden Funktion, die Rassismus den ‚rechten Rand’ zudem als außergewöhnliches Phä- für Alle und gesellschaftliche Strukturen im Allgemeinen nomen, als pathologische Abweichung von einer Norm hat und individualisieren daher das Problem Rassismus. verstanden, die in der Mitte gewahrt scheint. Damit wird auch die breitenwirksame Struktur und Funktion von Die Angst vor ‚dem Fremden’ – die in den Begriffen „Frem- Rassismus als historisches und gegenwärtiges Phäno- denhass“ und „Xenophobie“ ihren Ausdruck finden – sug- men banalisiert. gerieren, dass „Fremdenfeindlichkeit“ und „Angst vor dem Fremden“ natürliche, menschliche Verhaltenswei- 1.1.3.2 Verlagerung von Rassismus in die Vergangenheit sen seien. Rassismus wird durch diese anthropologisie- Astrid Messerschmidt sieht ein weiteres „Distanzie- rende Perspektive verklärt und letztlich legitimiert (vgl. rungsmuster“ im Umgang mit Rassismus in der Tabu- Mecheril/Melter 2010: 165). ‚Ausländer*innenfeindlich- isierung des Rassismusbegriffs, da dieser eng mit dem keit’ entstehe v.a. dann, wenn zu viele ‚Ausländer*innen’ Nationalsozialismus verknüpft wird und damit als his- da seien. Unbeantwortet bleibt jedoch, warum nicht alle torisches und überwundenes Problem gilt (ebd. 2010: Personen, die formaljuristisch Ausländer*innen sind, Ziel 52). Mit der Demokratisierung Deutschlands und dem von Feindlichkeit sind und warum einige zu Fremden ge- Mythos des Neuanfangs nach 1945 scheint er überwun- macht werden, andere hingegen nicht. In dem „‚Auslän- den. Zudem macht die enge Verknüpfung von Rassismus der*innendiskurs’“ ist beispielsweise nicht die Rede von mit den nationalsozialistischen Verbrechen es schwer, weißen Amerikaner*innen, denn ‚Ausländer*innenfeind- gegenwärtige Formen von Rassismus angemessen zu lichkeit‚ bezieht sich auf eine bestimmte Gruppe von Aus- thematisieren (vgl. Messerschmidt 2010: 52 f.). Auch ge- länder*innen, die einer rassifizierten und dominierten raten rassistische Praxen und Strukturen aus dem Blick, Gruppe angehören. Konzepte wie „Fremdenfeindlichkeit“, die vor allem während des deutschen Kolonialismus und „Xenophobie“ und „Ausländer*innenfeindlichkeit“ folgen damit bereits vor dem Nationalsozialismus zum Alltag sogar teilweise einem umgedrehten Kausalzusammen- gehörten (vgl. Mecheril/Melter 2010: 164). Dennoch hang: es wird suggeriert, es existieren Feindlichkeit, Hass, wird die Verwendung des Rassismusbegriffs oftmals als Angst oder Vorurteile, weil es ‚Ausländer*innen’ und Frem- Skandal empfunden und als unzulässige Unterstellung de im nationalstaatlichen Raum gibt (vgl. auch Balibar zurückgewiesen (vgl. Messerschmidt 2010: 42 ff.; 52 1992b: 49). Oder zugespitzt formuliert: es gibt Rassismus, ff.). Christian Schneider interpretiert die Abwehr in der weil ‚Rassen’ existieren würden. Dies ist eine Verkehrung Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als der Argumentationslogik. Vielmehr ist mit Stuart Hall fest- „Wunsch, unschuldig zu sein“ (Schneider 2010: 122). Eine zuhalten: „‚Rasse’ existiert nicht, aber Rassismus kann in Analyse von Rassismus als Gegenwartsphänomen ist he- sozialen Praxen produziert werden“ (Hall 2000: 7) und ist rausgefordert, Rassismus in der Abgrenzung zu seinen fester Bestandteil gesellschaftlicher Praxis und Struktur- historischen Formen zu begreifen, in seinem Zusammen- bildung. 9 Vgl. für eine Übersicht rechter Gewalttaten und ihren Opfern in Deutschland u.a. Staud (2013). 10 Oliver Kiess und Johannes Decker et al. veranlasst dies in ihrer Studie, von einer „enthemmte[n] Mitte“ zu sprechen (ebd. 2006). 8
1.1.3.4 Rassismus als Bestandteil von Aufklärung und mit exzesshaften und vereinzelten Vorfällen der sichtba- Moderne begreifen ren, körperlichen Gewalt zu tun hat oder in der Vergan- Rassismus ist als paradoxes Moment, als innerer Wi- genheit konserviert wird, sondern sich als überwiegend derspruch aufklärerischer Bewegungen und damit ver- selbstverständlich geteilte Praxis und Wahrnehmung in bundenen Emanzipations- und Freiheitsbewegungen zu der Gegenwart zeigt (vgl. Mecheril 2007). Es handelt sich verstehen und kann nicht aus gesellschaftlichen Ent- um „gewöhnliche Unterscheidungen“ wie Paul Mecheril wicklungsprozessen extrahiert werden. Gerade das im und Claus Melter betonen (ebd. 2010); Mark Terkessidis westlichen Europa progressiv gedeutete Zeitalter der spricht von der „Banalität des Rassismus“ (ebd. 2004). Aufklärung und der Moderne, das die Freiheit von weißen Diese analytischen Zugänge sind jedoch nicht als Baga- Männern ausweitete, war aufs Engste mit der Unfreiheit tellisierungen und Nivellierungen von Rassismus zu ver- von Schwarzen Menschen und People of Color aufgrund stehen. rassistischer Abwertungen und Wissensproduktionen verbunden. Die Moderne beinhaltete die Manifestierung Die Alltäglichkeit mindert nicht die Gewaltförmigkeit von und drastische Verschärfung der Unfreiheit, Versklavung, Rassismus und die konkreten, lebensbedrohlichen, be- Kolonialisierung, Entmenschlichung und Ermordung von schädigenden, verletzenden und demütigenden Effek- Schwarzen Menschen (vgl. u.a. Mbembe 2014). Insbe- ten für rassifizierte Subjekte und den Privilegien, die für sondere die modernen Wissenschaften im weißen Euro- Subjekte entstehen, die nicht als Andere rassifiziert wer- pa waren an der Entstehung von Rassismus und seiner den. Eine rassismuskritische Perspektive macht jedoch pseudowissenschaftlichen Legitimation beteiligt: die Er- erstens deutlich, dass sich Rassismus in vielerlei Formen, forschung, Klassifikation und der Versuch, Menschen in in offener und massiver Weise, subtil und mitunter auch Gruppen zu unterteilen, war (und ist) wesentlich für Ras- ungewollt in vermeintlich positiven, z.B. exotisierenden sismus (vgl. Mosse 1990). So hat ein Zuwachs an Wissen Äußerungen zeigt und nur schwer angreifbar ist. Ähn- und Aufklärung nicht zu einer Abschaffung des Rassis- lich wie im Geschlechterverhältnis die männliche Herr- mus geführt, sondern diesen mit bedingt, wenn nicht gar schaft – so Pierre Bourdieu – primär als „sanfte Gewalt“ stabil gegen kritische Einwände werden lassen. Denn ihre Wirkung und Macht bei Beherrschten wie Beherr- in der Verschränkung von Macht und Wissen – Michel schenden entfaltet (vgl. Bourdieu 1997; Krais 2004: 181), Foucault spricht von Macht-Wissen-Komplexen – wird zeigt sich Rassismus als eingelassene Alltäglichkeit und Macht nicht suspendiert. Vielmehr bringt Macht Wissen Gewöhnlichkeit. Neben der Betonung dieses Aspekts soll hervor und es gibt „keine Machtbeziehung [...], ohne daß in einer rassismuskritischen Perspektive zweitens zum sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und Ausdruck gebracht werden, dass wir alle von Rassismus kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen betroffen sind. Wir alle sind mit rassistischem Wissen voraussetzt und konstituiert“ (ebd. 1994: 39). groß geworden, sind von natio-ethno-kulturellen Zuge- hörigkeitsordnungen und Unterscheidungspraktiken, die mit rassistischen In- und Exklusionsmechanismen ver- 1.1.4 Die Perspektive Rassismuskritik bunden sind, umgeben und in sie involviert. Hier knüpft die rassismuskritische Perspektive an Überlegungen von 1.1.4.1 Die Normalität und Alltäglichkeit von Rassismus Michel Foucault an, der Macht als ein allgegenwärtiges In einer rassismuskritischen Perspektive wird Rassismus Netz von Kräfteverhältnissen versteht (vgl. 1983: 48 ff.; in der Gegenwart und in der Normalität des gesellschaft- 1994: 173 ff.). Macht durchzieht alle gesellschaftlichen lichen Alltags verortet. Bereiche, aber auch die Subjekte, in ihrem Denken, Füh- len und Handeln. Es gibt demnach kein Außerhalb dieser Das heißt, dass Macht, kein Heraustreten aus gesellschaftlichen Verhält- nissen. „Rassismus als Strukturierungsgröße gesellschaft- licher Realität gewissermaßen uns alle betrifft. Das 1.1.4.2 Wer ist von Rassismus betroffen? ist die Alltäglichkeit des Rassismus. Wir alle sind in Wenngleich alle Subjekte in Rassismus eingebunden und einer Gesellschaft, die zwischen legitim natio-eth- von diesem betroffen sind, so machen Menschen den- no-kulturell Zugehörigen und legitim nicht Zugehö- noch unterschiedliche Erfahrungen in von Rassismus rigen unterscheidet – vielleicht analog der patriar- durchdrungenen, gesellschaftlichen Verhältnissen. Ras- chalen Struktur, die zwischen Männern und Frauen sismus produziert – wie eingangs erläutert – machtvolle unterscheidet – wir alle sind in diesem System posi- Unterscheidungen, die unterschiedliche Effekte für die tioniert und von dieser Position betroffen“ (Mecheril Handlungsoptionen und gesellschaftlichen Zugänge von 2007: 11). Menschen zur Folge haben. Mit dieser Sichtweise wird es möglich, Rassismus als So gibt es strukturell gesehen Personen, die von Rassis- gesellschaftsstrukturierendes und gesellschaftsstruktu- mus nicht negativ betroffen sind, also keine strukturellen rierte Unterscheidungspraxis zu begreifen, der nicht nur Zugangsbarrieren, keine Ausschlüsse auf sozialen, poli- 9
tischen und rechtlichen Ebenen kennen, keine alltags- der abgrenzt, jedoch nicht gegeneinander ausspielt und rassistischen Bemerkungen und Verletzungen erfahren. zugleich anstrebt, die Verbindungen und Gemeinsamkei- Diese Positionen können mit dem Begriff der ‚Positiven ten von Unterdrückungsmechanismen herauszustellen, Betroffenheit’ gefasst werden, da diese Positionen – oft- um der „Komplexität des Sozialen“ gerecht zu werden mals nicht bewusst – von Rassismus profitieren. Dem- (vgl. Heinemann/Mecheril 2017: 120). Eine wichtige Ge- gegenüber stehen Personen, die all diese Erfahrungen meinsamkeit rassismus- und diskriminierungskritischer machen, auf Grenzen und Abwertungen im Leben sto- Ansätze kann in der normativen Verortung und Bestre- ßen; Menschen, für die negative Konsequenzen von Ras- bung gesehen werden, „den sozialen Raum der Geltung sismus spürbar und alltäglich sind, die Rassismuserfah- von Rechten und damit der Schwäche diskriminierender rungen11 machen und machen müssen. Diese Position Normalitätsordnungen auszuweiten“ (Heinemann/Me- kann als ‚Negative Betroffenheit’ markiert werden. Beide cheril 2017: 121). Eine rassismuskritische Perspektive ist ‚Betroffenheiten’ sind in Anführungsstrichen und mit Vor- neben dieser anspruchsvollen Bewegung einer Analyse sicht zu verwenden, da Rassismus ebenfalls schädigen- spezifischer Macht- und Herrschaftsformen und der Be- de Momente für Personen bereithält, die zwar faktisch rücksichtigun ihrer Einbettung und Verbindung zu ande- von Rassismus profitieren bzw. nicht von Rassismus in ren Formen der Diskriminierung und Unterdrückung he- ihrer Lebensgestaltung spürbar eingeschränkt werden, rausgefordert, einerseits an Alltagsbegriffe anzuknüpfen, jedoch ebenfalls Deformationen in einer Abspaltung ne- um eine Auseinandersetzung und Öffnung des Themas gativer Eigenschaften und Projektionen auf rassifizierte nicht nur im akademischen Diskurs zu erreichen. Ande- Menschen in sich tragen (vgl. Fanon 1952/2008: xiii; Ki- rerseits gilt es auch, analytisch Begriffe zu entwickeln, lomba 2008: 18 ff.).12 die Macht- und Herrschaftsverhältnisse präzise erfassen und gesellschaftliche Abwehrmechanismen aufbrechen, 1.1.4.3 Mit welchen Begriffen über Rassismus sprechen? anstatt sich diesen anzuschließen und sie damit fortzu- In dem vorliegenden Text wird Rassismus als gesell- führen. Rassismuskritische Ansätze bewegen sich damit schaftliche Strukturkategorie fokussiert; die Analyse in einem Spannungsverhältnis von Anschlussfähigkeit an wird deutlich komplexer, wenn auch andere Kategorien gegebene Verhältnisse und der Entwicklung gesellschaft- der strukturellen Privilegiertheit und Deprivilegiertheit licher Transformation, wie beispielhaft an der Diskussion wie beispielsweise Alter, soziale Herkunft/Klasse, Ge- über die Verwendung des ‚Rasse‘-Begriffs deutlich wird, schlecht einbezogen werden und damit eine intersek- die im nachfolgenden Exkurs kurz erläutert wird. tionale Analyseperspektive vertreten wird, wie sie auf Kimberlé Crenshaw (1989) zurückgeht. In einer inter- Exkurs: Die Verwendung des ‚Rasse‘-Begriffs sektionalen Perspektive können verschiedene Achsen Die Verwendung des Begriffs ‚Rasse‘ ist im wissenschaft- und Kreuzungspunkte, anhand derer sich Diskriminie- lichen aber auch im gesellschaftlichen Diskurs Gegen- rungen ereignen, festgestellt werden. Wenngleich oft- stand kontroverser Debatten. Grundlegend stehen sich mals von rassistischer Diskriminierung die Rede ist und zwei Positionen gegenüber, die beispielhaft in der Dis- Diskriminierung13 als Oberbegriff für die unrechtmäßige, kussion über die Verwendung oder Streichung des ‚Ras- unterschiedliche Betrachtung und Behandlung von Per- se‘-Begriffs im Rahmen juristischer Texte verdeutlicht sonengruppen Verwendung findet, so wird hier dennoch werden können. Im Grundgesetz der Bundesrepublik der Begriff Rassismus und eine rassismuskritische Per- Deutschland, aber auch in internationalen Rechtsdoku- spektive bevorzugt. Die Fokussierung auf Rassismuskri- menten findet der Begriff ‚Rasse’ Verwendung. Auch das tik erfolgt deshalb, da der historische Kontext, in dem Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) arbeitet in sich Rassismus ereignet und ereignet hat, spezifiziert § 1 mit dem Diskriminierungsmerkmal „Benachteiligun- betrachtet werden kann. Dieser besitzt eine andere, gen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen wenngleich auch immer verknüpfte Geschichte und Ge- Herkunft“ (AGG 2006, § 1). Kritiker*innen fordern eine genwart beispielsweise mit genderbezogenen Diskrimi- Streichung des Begriffs, da dieser die Vorstellung einer nierungsformen. Praktikabel und sinnvoll erscheint als Existenz von ‚Rassen’ befürworte (vgl. Barskanmaz 2011: Hintergrundfolie für die dezidierte Analyse von Rassis- 382), vor allem wenn der Begriff ohne Anführunggstriche mus eine umfassende theoretische und praktische Per- und Kommentierung verwendet wird. Autor*innen, die für spektive auf gesellschaftliche Macht- und Herrschafts- die Beibehaltung des Begriffs plädieren, argumentieren verhältnisse, die diese in ihren jeweiligen, spezifischen hingegen, dass nicht ‚Rasse’ Rassismus produziere, son- Charakteristika und Kontexten berücksichtigt, voneinan- dern vielmehr Rassismus die Kategorie ‚Rasse’ reprodu- 11 Vgl. hierzu die Arbeiten von Paul Mecheril (ebd. 2015; Mecheril/Melter 2010: 157 f.). 12 Eine andere Unterscheidung, die im Fachdiskurs verwendet wird stammt von Maureen M. Eggers, die von rassismuserfahrenen und rassismusuner- fahrenen Personen spricht (vgl. ebd. 2013: 4 f.). 13 Eine aktuelle Übersicht über Diskriminierungen in verschiedenen gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsbereichen in Deutschland liefert der dritte Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ebd. 2017). Vgl. zur Diskriminierungsforschung den Sammelband der Herausgeber*innen Ulrike Hormel und Albert Scherr (2010). 10
ziere (Ahmed zit. nach Barskanmaz 2011: 383). Solange Eine rassismuskritische Perspektive verortet den zentra- Rassismus die Idee von ‚Rassen’ produziere und ‚Rasse’ len Ausgangspunkt in einer macht- und selbstreflexiven eine Kategorie darstelle, die Gesellschaft im Sinne von Auseinandersetzung mit der eigenen Person und gesell- Ungleichheitsbeziehungen strukturiere, sei es zentral, schaftlichen Ordnungen. Die eigene Person wird nicht im den Begriff auch als rechtliche Ungleichheitskategorie luftleeren Raum verortet oder individualisiert, sondern als sichtbar zu machen (vgl. Ahmed zit. Barskanmaz 2011: in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebundene und 383). Trotz der unterschiedlichen Positionen treffen sich diese mitgestaltende verstanden. Das Subjekt ist daher Befürworter*innen wie Gegner*innen in der Überzeu- weder autonom außerhalb gesellschaftlicher Strukturen gung, dass – wird der ‚Rasse‘-Begriff verwendet oder auf denkbar, noch durch diese determiniert zu verstehen. Es ihn verzichtet – der rassistische Konstruktionscharakter sind Spielräume und Gestaltungsmöglichkeiten, aber hervorzuheben ist, um nicht biologistischen Vorstellun- auch Grenzen der Einflussnahme vorhanden. Eine rassis- gen Vorschub zu leisten. Ebenso ist der Begriff „ethnische muskritische Perspektive geht von einer relationalen und Herkunft“, nicht als essentialistische Kategorie, sondern kontextgebundenen Handlungsfähigkeit aus, die es in ras- als sozial hergestelltes Produkt von Zugehörigkeitsord- sismuskritischer Absicht produktiv zu nutzen gilt. Erste nungen zu verstehen, die an rassistisch vermittelte Bil- Anregungen für eine sich selbst und die eigenen Weltbilder der anknüpfen. Als übegreifendes Ziel beider Positionen befragende Auseinandersetzung können die nachfolgen- kann trotz ihrer konträren Stellung zum Begriff ‚Rasse‘ den Fragen bieten. die kritische Auseinandersetzung mit ihm wie die Fokus- sierung auf soziale Ungleichheiteffekte genannt werden, Anregungen für eine rassismuskritische Auseinander- die durch rassistische und ethnisierte Diskriminierungen setzung: entstehen und durch rechtliche Benennung geahndet • Wie bin ich als Person an rassistischen Unterscheidungs- werden können (vgl. Barskanmaz 2011: 385). praxen ungewollt beteiligt? • Wie bin ich von Rassismus betroffen? Mache ich Rassis- 1.1.4.4 Rassismuskritik als (selbst-)reflexive Auseinan- muserfahrungen, d.h. erlebe ich rassistische Diskrimi- dersetzung mit Rassismus nierungen oder nicht? Rassismuskritik thematisiert • Was sind meine eigenen stereotypen Bilder und wie kom- men diese in meiner professionellen Arbeit zum Tragen? „in welcher Weise, unter welchen Bedingungen und • Welche Bezeichnungen verwende ich, um Menschen an- mit welchen Konsequenzen Selbstverständnisse zusprechen? Woher stammen die Bezeichnungen? Wel- und Handlungsweisen von Individuen, Gruppen, In- ches rassistische Verletzungspotenzial bergen bestimm- stitutionen und Strukturen durch Rassismen vermit- te Begriffe? telt sind und Rassismen stärken. Rassismuskritik • Welche Bezeichnungen diskriminieren mich? Welche zielt darauf ab, auf Rassekonstruktionen beruhende Auswirkungen haben diese Bezeichnungen für mein be- beeinträchtigende, disziplinierende und gewaltvolle rufliches wie privates Umfeld? Unterscheidungen zu untersuchen, zu schwächen • Wie kann ich Kolleg*innen, Klient*innen, Vorgesetzte etc. und alternative Unterscheidungen deutlich zu ma- hierauf ansprechen? chen“ (Mecheril/Melter 2010: 172). • Wie kann ich anders, d.h. weniger rassistisch in meinem beruflichen und privaten Alltag handeln? Rassismuskritik stellt eine reflexive Haltung dar, „die • Welche Anregungen, Beratungs- und Austauschmöglich- von der Überzeugung getragen wird, dass es sinnvoll ist, keiten, welches Wissen brauche ich für Veränderungen nicht in dieser Weise auf rassistische Handlungs-, Erfah- von wem? rungs- und Denkformen angewiesen zu sein“ (Mecheril/ Melter 2010: 172). Damit versuchen rassismuskritische 1.1.4.5 Wie kann man Rassismus konstruktiv zum The- Ansätze, einen „Beitrag zu alternativen, »gerechteren« ma machen? sozialen Verhältnissen zu leisten“ (Mecheril/Melter 2010: Rassismuskritik thematisiert die sozial ungleichen Positio- 172). Im Unterschied zu antirassistischen Ansätzen geht nen und Effekte, die für Personen im Rassismus entstehen Rassismuskritik jedoch nicht davon aus, dass Rassismus und die gesellschaftliche Strukturen gestalten. Anschlie- einfach abzuschaffen oder zu überwinden sei. Nach dem ßend an die Unterscheidung von strukturell ‚Negativer’ Machtverständnis, auf das sich Rassismuskritik bezieht, und strukturell ‚Positiver’ Betroffenheit, die im Text bereits können wir uns nicht gänzlich aus den Verhältnissen ver- vorgestellt wurde, gilt für beide Gruppen – Personen mit abschieden, sondern uns nur immanent in ihnen bewegen ‚Positiver’ wie Personen mit ‚Negativer Betroffenheit’ – der und sie im Innern partiell verändern.14 Fokus einer selbstreflexiven Auseinandersetzung mit eige- nen, stereotypen Bildern, Sprech- und Handlungsweisen. 14 Hier lehnt sich die rassismuskritische Perspektive erneut an Michel Foucault an, der Kritik als „Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“ definiert, (ebd. 1992: 12). 11
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