Kommunale Integrationszentren NRW Gestaltungsrichtlinien und Empfehlungen

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Kommunale Integrationszentren NRW Gestaltungsrichtlinien und Empfehlungen
Kommunale
            Integrationszentren
            NRW

Arbeitspapier
Denkanstöße für eine rassismuskritische
Perspektive auf kommunale Integrationsarbeit
   Kommunale
in den KommunalenIntegrationszentren
                    Integrationszentren –   NRW
Ein Querschnittsthema
  Gestaltungsrichtlinien und Empfehlungen

                                          www.bra.nrw.de/laki
Kommunale Integrationszentren NRW Gestaltungsrichtlinien und Empfehlungen
Kommunale Integrationszentren NRW Gestaltungsrichtlinien und Empfehlungen
Inhaltsverzeichnis
1       Grundlegende Darstellung zur Rassismuskritik. .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 5
1.1     Was ist Rassismus und was heißt Rassismuskritik?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.1.1   Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.1.2   Eine wissenschaftliche Definition von Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.1.3   Abwehr, Widerspruch, Tabuisierung, Verlagerung in die Vergangenheit – Zum schwierigen Umgang mit
        Rassismus in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.1.4   Die Perspektive Rassismuskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.1.5   Handlungsmöglichkeiten und Grenzen einer rassismuskritischen Auseinandersetzung (er-)kennen . . . . . . . 12
1.1.6   Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.2     Sprache – Macht – Rassismus: Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.2.1   Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.2.2   Sprache als Herstellung sozialer Wirklichkeit und Ort der Bedeutungsproduktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.2.3   Sprache als symbolische Machtpraxis rassismuskritisch reflektieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
1.2.4   Das Verletzungspotenzial von an Rassismus anknüpfenden Sprechweisen erkennen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
1.2.5   Was heißt rassismuskritisch sprechen? Impulse für eine veränderte Sprach- und Denkpraxis . . . . . . . . . . . . 21
1.2.6   Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

2       Rassismuskritik in der Praxis Kommunaler Integrationszentren .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 26
2.1     Rassismuskritische Arbeit in der StädteRegion Aachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.1.1   Ausganglage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.1.2   Theoretischer Hintergrund: Ideologien der Ungleichheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
2.1.3   Rassismuskritische Arbeit in der StädteRegion Aachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
2.1.4   Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
2.2     Migrantenselbstorganisationen im Kontext der kommunalen rassismuskritischen Arbeit des
        Kommunalen Integrationszentrums Bielefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
2.2.1   Migrantenselbstorganisationen aus wissenschaftlicher Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
2.2.2   Zusammenarbeit mit Migrantenselbstorganisationen auf kommunaler Ebene in Bielefeld. . . . . . . . . . . . . . . . 36
2.2.3   Migrantenselbstorganisationen als wichtige Akteure für Rassismuskritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
2.2.4   Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
2.3     Bonn – aufklären, sensibilisieren, stärken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
2.3.1   Ausgangslage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
2.3.2   Beschreibung des Handlungsfeldes Antidiskriminierungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
2.3.3   Angebote und Projekte des Kommunalen Integrationszentrums Bonn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
2.3.4   Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
2.4     Rassismuskritisches Arbeiten in Münster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
2.4.1   Rassismuskritisches Handeln als strategisches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
2.4.2   Rassismuskritisches Handeln in kommunalen Netzwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
2.4.3   Entwicklung der rassismuskritischen Arbeit in Münster – vom kommunalen zum europäischen
        Netzwerk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
2.4.4   Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

3       Glossar .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 57
Kommunale Integrationszentren NRW Gestaltungsrichtlinien und Empfehlungen
Kommunale Integrationszentren NRW Gestaltungsrichtlinien und Empfehlungen
Rassismuskritik als kommunales Handlungsfeld in
den Kommunalen Integrationszentren

Einleitung                                                                  ten Akteuren der Rassismuskritik in NRW, wie z.B. IDA-
                                                                            NRW und die FUMA-Fachstelle die Notwendigkeit, die
Die gesamte konzeptionelle migrationsgesellschaftliche                      Rassismuskritik von einem versäulten Handlungsfeld zu
Ausrichtung in den Kommunalen Integrationszentren                           einem Querschnittsthema in der kommunalen Integrati-
(KI) ist nach dem Gesetz zur Förderung der gesellschaft-                    onsarbeit zu entwickeln, diskutiert.
lichen Teilhabe und Integration in Nordrhein-Westfalen
darauf angelegt, eine „Kultur der Anerkennung und des                      Ein weiterer Impuls erfolgte durch die Initiative der Kolle-
gleichberechtigten Miteinanders auf der Basis der frei-                    gen*innen1 aus den KI der Stadt Bonn, der StädteRegion
heitlich demokratischen Grundordnung“ zu schaffen und                      Aachen und des Kreises Unna im Frühjahr 2017 angesto-
dabei „jede Form von Rassismus und Diskriminierung                         ßen. Im Zentrum dieser Initiative stand der Wunsch nach
einzelner Bevölkerungsgruppen zu bekämpfen“ (Teilha-                       einem regelmäßigen und verbindlichen landesweiten
be- und Integrationsgesetz vom 14.02.2012).                                Austausch der Mitarbeiter/innen in den KI zu dem The-
                                                                           ma Rassismuskritik. In diesem Rahmen wurde zunächst
Schon in der Vorgängerstruktur der Kommunalen Integ-                       eine Umfrage über die Aktivitäten und Bedarfe der KI
rationszentren, den Regionalen Arbeitsstellen zur Förde-                   im Kontext des Themas im gesamten NRW-Verbund
rung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfami-                      durchgeführt. Das Ergebnis zeigte, dass bei insgesamt
lien (RAA), ist die Notwendigkeit der Thematisierung von                   30 Kommunalen Integrationszentren ein deutliches
Rassismus und Diskriminierung erkannt und bearbeitet                       und breit gefächertes Interesse an dem Thema besteht
worden. Allerdings wurde das Thema Rassismus auf-                          und/oder Zugänge dazu gesucht werden. Darüber hin-
grund der eher schul- und bildungspolitischen Ausrich-                     aus wurde durch die Analyse der Daten gleichzeitig die
tung der RAA in diesem Kontext betrachtet und seit 1995                    große Spannbreite und Unterschiedlichkeit in der Bear-
durch das Projekt „Schule ohne Rassismus“ in die Schul-                    beitung und Bedeutung, die dieses Thema innerhalb der
strukturen hineingetragen. Seit 2001 wurde der Name                        vielfältigen Ausprägung der kommunalen Strukturen im
des Programms durch den Zusatz „Schule mit Coura-                          NRW-Verbund der KI hat, deutlich. Das bei der Umfrage
ge“ erweitert. Die Landeskoordination für dieses größte,                   benannte Spektrum reichte von Antidiskriminierungsar-
bundesweite Schulnetzwerk wird in Nordrhein-Westfalen                      beit über Migrantionspädagogische Öffnung bis zu Anti-
durch die Landesweite Koordinierungsstelle der Kommu-                      rassismus- und Rechtsextremismusarbeit. In einigen KI
nalen Integrationszentren (LaKI) vorgenommen.                              werden zudem Aktivitäten im Kontext der Programme
                                                                          „NRWeltoffen“ und „Demokratie leben!“ entwickelt. In ein-
Im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der RAA                          zelnen Kommunalen Integrationszentren ist das Thema
zu den Kommunalen Integrationszentren und der damit                        Rassismuskritik ein Schwerpunkt in der strategischen
verbundenen flächendeckenden Ausweitung dieser zen-                        Ausrichtung des jeweiligen KI. Entsprechend sind dort
tralen integrationspolitischen kommunalen Infrastruktur                    auch personelle und konzeptionelle Prioritäten gesetzt,
besteht nunmehr die Notwendigkeit, das Thema Rassis-                       oder sogar zusätzliche kommunale Mittel für die Bear-
mus auch außerhalb der Schule als ein Querschnittsthe-                     beitung des Themas eingesetzt oder akquiriert worden.
ma für die fachpolitischen Ansätze in den Kommunalen
Integrationszentren zu positionieren.                    In anderen KI dagegen ist Rassismuskritik kein eigenes
                                                         Handlungsfeld, sondern in andere Handlungsfelder ein-
Dabei spielt die Frage, wie die Thematisierung von Ras- gelagert, z.B. in Übergang Schule und Beruf und wird
sismus als ein gesellschaftliches Phänomen, das auch in  quasi „nebenbei“ im Rahmen sonstiger Tätigkeiten bear-
deren Mitte und nicht nur an den rechten Rändern wirk- beitet. Hinzu kommt, dass es insgesamt eine sehr breite
sam ist und wie einer damit verbundenen Reduktion auf    Streuung in der konkreten Erfahrung in der Bearbeitung
den Antirassismus begegnet werden kann, eine zentrale    des Themas in den KI gibt. So sind besonders die KI, die
Rolle.                                                   auf der Vor-Struktur der RAA (1980 – 2012) aufbauen
                                                         konnten und dort in bildungspolitischen Schwerpunk-
                                                         ten tätig waren, in der Regel zumindest in der Initiative
Entwicklung im KI-Verbund                               „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ engagiert.

In der Beschäftigung mit diesen Fragen wurden auf ver-                     Diese unterschiedlichen strukturellen Bedingungen und
schiedenen Veranstaltungen in Kooperation mit relevan-                     Voraussetzungen stellen die Grundlagen und Herausfor-

1   Der Stern steht für die Offenheit in Bezug auf Geschlechtsidentitäten. Er wird an eine Personenbezeichnung bzw. eine Abkürzung wie z. B. LGBTIQ-
    QA* angehängt und steht für alle Geschlechter und Geschlechtsidentitäten.

                                                                                                                                                  1
Kommunale Integrationszentren NRW Gestaltungsrichtlinien und Empfehlungen
derungen für die Koordinierung und Weiterentwicklung         Reader für den KI-Verbund
der verbundweiten Aktivitäten der Landesweiten Koordi-
nierungstelle im Handlungsfeld Rassismuskritik dar.          Als drittes Element des Entwicklungsprozesses Rassis-
                                                             muskritik im NRW-Verbund ist der vorliegende Reader
                                                             zu verstehen, der unter Mitarbeit und wissenschaftli-
Struktur und Arbeitsweise im KI-Verbund                      cher Begleitung von Veronika Kourabas vom Institut für
                                                             Pädagogik Center for Migration, Education and Cultural
Folgende drei Entwicklungen zum Thema Rassismuskri-          Studies (CMC) der Universität Oldenburg und Kolleg*in-
tik im KI-Verbund sind zu verzeichnen.                       nen aus den Kommunalen Integrationszentren in Aachen,
                                                             Bielefeld, Bonn und Münster entstanden ist.

Arbeitskreis Rassismuskritik                                 Zur Förderung des Grundverständnis von rassismuskri-
                                                             tischer Arbeit als Rahmen für die vielfältigen Aktivitäten
Zum einen hat sich der landesweite Arbeitskreis Ras-         und unterschiedlichen Ansätze, die sich auf die jeweilige
sismuskritik herausgebildet, der mindestens zwei Mal         kritische Thematisierung von Rassismus in strukturellen
im Jahr von der LaKI in Kooperation mit einem KI vor         und personellen Verhältnissen in den Kommunen in NRW,
Ort durchgeführt wird. Dort werden dann kommunale            in denen Kommunale Integrationszentren agieren, ist
Vorgehensweisen vorgestellt und die Erfahrungen dar-         auch der Titel „Denkanstöße für eine rassismuskritische
über im Verbund ausgetauscht und diskutiert. Darüber         Perspektive auf kommunale Integrationsarbeit in den
hinaus werden im Arbeitskreis Rassismuskritik aktuelle       Kommunalen Integrationszentren“ zu verstehen.
überordnete Themen, wie z.B. die Rolle des Kommunalen
Integrationszentrums im Kontext von entsprechenden           Er dokumentiert den Entwicklungsschritt vom reinen An-
kommunalen Netzwerkstrukturen oder neue wissen-              ti-Rassismus zu einem erweiterten Verständnis von Ras-
schaftliche Erkenntnisse zum Thema vorgestellt und ihre      sismuskritik als einer reflexiven Praxis der Kommunalen
Bedeutung für die Ausgestaltung der eigenen kommuna-         Integrationszentren und soll dafür erste Anhaltspunkte
len Arbeitsansätze erarbeitet.                               und Orientierungen bieten. Dazu dienen vor allen Dingen
                                                             die grundlegenden Beiträge von Veronika Kourabas, die
                                                             ausgehend von einer wissenschaftlichen Definition von
Fortbildungsreihe „Rassismuskritik in                        Rassismus als gesellschaftsstrukturierendes Machtver-
Kommunalen Integrationszentren“                              hältnis die verschiedenen Dimensionen und Phänomene
                                                             herausarbeiten und erste Hinweise auf Handlungsmög-
Als zweites Entwicklungselement wird eine modulari-          lichkeiten und Grenzen einer rassismuskritischen Denk-,
sierte Fortbildungsreihe, gemeinsam organisiert mit IDA-     Sprech- und Handlungsweise geben.
NRW, für Mitarbeiter*innen der KI mit dem Handlungs-
schwerpunkt Rassismuskritik durchgeführt, die sich auf       Im zweiten Teil werden praktische Erfahrungen in der
die Herausbildung und Förderung eines gemeinsamen            rassismuskritischen Arbeit auf der kommunalen Ebene
Verständnisses im Kontext von rassismuskritischen An-        aus den ausgewählten Kommunalen Integrationszentren
sätzen bezieht und vor diesem Hintergrund kommunale          in der StädteRegion Aachen, Bielefeld, Bonn und Müns-
Netzwerk- und Ansatzmöglichkeiten reflektiert. Als ein       ter vorgestellt. Diese Beispiele zeigen Möglichkeiten der
wesentlicher Bestandteil innerhalb der Fortbildungsrei-      praktischen Arbeit in den KI auf, die einen Schwerpunkt
he wird die Reflexion der Rolle, die aus den KI im Kon-      in dem Thema gewählt haben und die sich mit den ver-
text der kommunalen Netzwerkstruktur wahrgenommen            schiedenen Dimensionen von Rassismus schon länger
wird, behandelt werden. Diese Reflexion geschieht vor        beschäftigen.
dem Hintergrund, dass in dem Themenfeld Rassismus-
kritik die KI nur ein Handelnder in einer Reihe von unter-   Die einzelnen praxisorientierten Beiträge zeigen das gro-
schiedlichen Akteuren*innen sind. Sie agieren deshalb        ße Spektrum der kommunalen Verständnisse und Hand-
auch im Verständnis eines Netzwerkpartners, der darin        lungsansätze innerhalb des NRW Verbundes der Kommu-
nicht vorrangig operative Aufgaben übernehmen sollte,        nalen Integrationszentren auf. Insofern stehen sie auch
sondern vielmehr sich als Gestalter*in entsprechender        exemplarisch für ein bestimmtes Verständnis bzw. für ei-
Netzwerkstrukturen zur Stärkung zivilgesellschaftlicher      nen Handlungsschwerpunkt innerhalb der vorgestellten
und antirassistischer Strukturen auf den jeweiligen kom-     Kommunen. Die jeweils vorgestellten Arbeitsformen sind
munalen Ebenen verstehen sollte.                             als unterschiedliche Beispiele für rassismuskritisches

2
Kommunale Integrationszentren NRW Gestaltungsrichtlinien und Empfehlungen
kommunales Handeln zu verstehen. Diese müssen auf          Rassismuskritik ist nicht als ein spezielles Fachgebiet
die jeweils eigenen strukturellen Bedingungen geprüft      für Expert*innen neben anderen zu verstehen, sondern
und auf die Strukturen vor Ort angepasst werden.           muss nach unserem Verständnis als ein Grundlagen- und
                                                           Querschnittsthema in allen Integrationsdiskursen- und
So fokussiert sich der Beitrag von Silke Peters aus der    kommunalen Integrationspraxen wirkmächtig werden.
StädteRegion Aachen auf die Darstellung kontinuierli-
cher Arbeit gegen Rassismus, Laura Wende und Hidayet       Grundlage für diese lokale Arbeit ist und bleibt im KI-Ver-
Tuncer aus Bielefeld beschäftigen sich mit der besonde-    bund ein gemeinsames Verständnis von Rassismus als
ren Rolle von Migrantenorganisationen in rassismuskriti-   einem System, in dem Benachteiligung und Degradie-
schen Netzwerken.                                          rung durch Unterscheidungen zwischen Menschengrup-
                                                           pen, denen eine homogene und natürliche Gruppenei-
Mariela Georg aus Bonn thematisiert Ansätze im Kontext     genschaft unterstellt wird, gerechtfertigt wird. Damit
von Antidiskriminierungskonzepten und Andrea Reckfort      verbunden ist dann diese mit einer gesellschaftlichen
aus Münster betont die Notwendigkeit, rassismuskriti-      Macht zur Durchsetzung. Gleichzeitig wird durch die
sche Arbeit immer in lokal ausgerichteten Netzwerken       Verwendung des Begriffs der Rassismuskritik ein An-
zu denken.                                                 stoß dafür gegeben, sich auch mit eigenen rassistischen
                                                           Denkweisen und Praktiken auseinander zu setzen. Ras-
In dem abschließenden dritten Teil werden in dem Glos-     sismuskritische Arbeit bedeutet daher die Analyse von
sar noch einmal alle wesentlichen Begriffe, die in dem     Wegen und Formen des Rassismus und die Kritik an Ord-
Zusammenhang von Rassismuskritik von Bedeutung             nungen und Praktiken, die Rassismus hervorbringen und
sind, in ihren verschiedenen Perspektiven und Bedeu-       stärken sowie die Entwicklung und die Diskussion von
tungskontexten erläutert. Wir möchten damit zu einer       Denk- und Handlungsansätzen, die weniger auf Rassis-
selbstreflexiven und kritischen Auseinandersetzung,        mus angewiesen sind.
auch im Umgang mit Sprache, im Kontext von Rassis-
muskritik anregen.                                         Dortmund, im Februar 2019

Insofern ist dieser Reader auch als Ausdruck eines ei-     Dr. Christoph Berse        Irmgard Harmann-Schütz
genen Lernprozesses zu verstehen, der sich mit den
Phänomenen des Rassismus nicht nur analytisch ausei-
nandersetzt, sondern auch einen eigenen Weg zu einer
entsprechenden kommunalpolitischen Praxis findet. In
diesem Sinne ist das vorliegende Papier eher Ausdruck
für ein erweitertes Verständnis von Rassismus und als
Anregung für eigene kritische Überlegungen und kreati-
ve Weiterentwicklungen bestehender Ansätze in Koope-
ration mit anderen kommunalen Akteuren zu verstehen
und nicht als fertiges „Rezeptbuch“ oder Gebrauchsan-
leitung.

Ausblick

Mit der Weiterentwicklung und Verstetigung der oben
genannte vielfältigen Aktivitäten wird es zukünftig dar-
um gehen, diese innerhalb des NRW weiten Netzwerkes
im KI-Verbund entwickelten kommunalen Handlungsan-
sätze zu schärfen und landesweit zu verbreiten, sowie
eine kohärente Gesamtlinie als „Marke“ in der Rassis-
muskritik der Kommunalen Integrationszentren in den
verschiedenen Formaten zu entwickeln. Dazu gehört
auch die Herstellung einer strukturellen Verbindung
von Rassismuskritik und Interkultureller Öffnung, denn

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Kommunale Integrationszentren NRW Gestaltungsrichtlinien und Empfehlungen
4
Kommunale Integrationszentren NRW Gestaltungsrichtlinien und Empfehlungen
1 Grundlegende Darstellung zur Rassismuskritik
                                         Veronika Kourabas, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin, Institut für
                                         Pädagogik, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

                                         Arbeits- und Forschungsswerpunkte: Rassismustheorie und Rassismuskritik mit Be-
                                         zug auf den bundesdeutschen Kontext, Arbeitsmigration in Deutschland, Kritische
                                         Migrationsforschung, Soziale Ungleichheit, Geschlechtertheorie.

1.1 Was ist Rassismus und was heißt                                        differenziert wie das Phänomen Rassismus selbst. Orien-
Rassismuskritik?                                                           tiert an der angloamerikanischen Critical Race Theorie und
                                                                           deutschsprachiger Forschung zu Rassismustheorie und
                                                                           Rassismuskritik2 lässt sich Rassismus folgendermaßen
1.1.1 Einleitung                                                           charakterisieren: Im Rassismus kommt es zu einer Pro-
                                                                           duktion von Unterschieden. Diese gemachten Unterschie-
Obwohl Rassismus in Alltagsgesprächen, in der media-                       de wirken sich für Menschen auf Zugänge zu materiellen
len Berichterstattung, politischen Debatten wie auch in                    wie symbolischen Ressourcen auf allen relevanten, gesell-
wissenschaftlichen Diskursen einen festen Bestandteil                      schaftlichen Ebenen aus. Rassismus funktioniert, indem
darstellt, ist das Sprechen über Rassismus in Deutsch-                     auf körperliche Erscheinung, Sprache, Name etc. Bezug ge-
land nach wie vor mit einem Tabu belegt. Gerade in de-                     nommen wird und diese mit einer Deutung und Bedeutung
mokratisch verfassten, westlichen Staaten wie Deutsch-                     versehen werden. Diese sozial hergestellten Differenzen
land wird der Gedanke abgewehrt, dass gegenwärtige                         werden als natürliche und unveränderliche Eigenschaften
gesellschaftliche Verhältnisse trotz proklamierter und                     festgesetzt: sie werden naturalisiert. Eigenschaften werden
rechtlich verankerter Gleichheitsgrundsätze maßgeb-                        dabei nicht nur zu einer reinen Unterscheidungsproduktion
lich durch systematische Ungleichbehandlungen und                          genutzt, sondern die Unterscheidungsoperation dient zu-
Ungleichverteilung wie Rassismus strukturiert sind und                     gleich einer Einteilung und Ordnung von Menschen in be-
damit soziale Ungleichheit produzieren (vgl. Mecheril/                     stimmte Gruppen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn – so der
Melter 2010: 162). Versuche, Rassismus zu benennen,                        Sozialwissenschaftler Stuart Hall – „die Bevölkerung nicht
stoßen auf Irritation, Unverständnis und werden nicht                      in Arme und Reiche, sondern z.B. in Weiße und Schwarze
selten empört als unzulässiger Vorwurf zurückgewiesen.                     einteilt“ (Hall 2000: 7). Hautfarben3, Körper, Sprachen und
                                                                           Namen dienen dabei als „Bedeutungsträger, als Zeichen in-
Im folgenden Text wird eine wissenschaftlichen Klärung                     nerhalb eines Diskurses um Differenz“ (Hall 2000: 7) und
des Begriffs Rassismus vorgenommen und darauf auf-                         werden innerhalb rassistischer Praktiken als solche einge-
bauend erläutert, warum die Auseinandersetzung mit                         setzt. Manuela Bojadžijev betont, dass es sich hierbei um
Rassismus in Deutschland umkämpft ist. An diese Über-                      einen Bedeutungsprozess handelt, „in dem vorgefundenes
legungen anknüpfend wird mit Rassismuskritik eine Per-                     wie auch erfundenes Material, Reales und Fiktives immer
spektive vorgestellt, die eine reflexive und umfassende                    aufs Neue verknüpft werden. Das heißt, was als ‚Rasse’
Auseinandersetzung mit Rassismus als gesellschaftli-                       oder Ethnie bezeichnet wird, ist diskursiv hergestellt“ (Bo-
chem Problem anstrebt. Der Beitrag schließt mit einem                      jadžijev 2012: 32). Menschen, die einer durch Differenzpro-
Ausblick, der die Aufmerksamkeit auf Möglichkeiten und                     duktion konstruierten Gruppe angehören, werden zudem
Grenzen einer rassismuskritischen Perspektive als Quer-                    als homogene Gruppe und nicht mehr als individuelle Ak-
schnittsaufgabe für die Praxis richtet.                                    teur*innen verstanden. Ihr Handeln wird allein durch ihre
                                                                           Hautfarbe, religiösen Symbole oder Praktiken ihrer Kultur
                                                                           etc. erklärt und damit äußerst eingeschränkt betrachtet. Es
1.1.2 Eine wissenschaftliche Definition                                    findet eine reduktionistische und stereotype Einordnung
von Rassismus                                                              des Handelns von Menschen statt, die sich überwiegend
                                                                           entlang der nationalstaatlich gedachten Kategorie Kultur
Die Bandbreite wissenschaftlicher Definitions- und Erklä-                  vollzieht.4
rungsansätze zu Rassismus ist ebenso komplex und aus-

2 Vgl. für einen Überblick über Rassismustheorie und Rassismuskritik in Bezug auf den bundesdeutschen Kontext Claus Melter/Paul Mecheril (2009).
3   Hautfarben sind nicht biologisch gegeben, sondern werden in rassismustheoretischer Sicht als Träger von Bedeutung verstanden, die mit gesell-
    schaftlichen Unterschieden gekoppelt sind.
4 Rudolf Leiprecht stellt fest, dass Menschen wie Marionetten an ihrer Nationalkultur verhaftet und von dieser gesteuert gedacht werden. Sie werden
    dadurch lediglich als passive Kulturträger*in wahrgenommen. Dabei wird übersehen, dass Menschen ihre Kultur hervorbringen, verändern, sich von
    ihr distanzieren (vgl. ebd. 2004).

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Kommunale Integrationszentren NRW Gestaltungsrichtlinien und Empfehlungen
Diese naturalisierten, homogenisierten Eigenschaften                        fekte). Rassismus beschränkt sich jedoch nicht auf die
 und die daraus gebildeten Gruppen von Menschen wer-                         materielle Ebene wie beispielsweise Zugang zum Woh-
 den mit sich gegenseitig ausschließenden Eigenschaften                      nungs- und Arbeitsmarkt, sondern bietet zugleich ein
 verknüpft. All jene, die nicht zur eigenen Gruppe gezählt                   Deutungs- und Interpretationsmuster der Welt an, das
 werden, werden als anders, als diametral zum eigenen Wir                    Subjekten nicht äußerlich bleibt, sondern bildend auf
 verstanden. Es findet die Konstruktion einer Wir-Grup-                      der Ebene des Subjekts und der Gemeinschaft wirkt (vgl.
 pe und einer Gruppe „der Anderen“ statt (vgl. u.a. Hall                     Broden/Mecheril 2010). Subjekte fühlen sich einem Kol-
 1997: 258). Trotz dieser Konstruktion eines maximalen                       lektiv zugehörig, werden einbezogen oder ausgegrenzt.
 Kontrasts zu dem als eigen Definierten besteht eine Re-                     Rassismus besitzt demzufolge ebenso symbolisch-dis-
 lation, eine Beziehung zwischen den Gruppen. So gilt bei-                   kursive und selbstbildende Effekte. Étienne Balibar um-
 spielsweise der Orient als Gegensatz und Gegenteil des                      schreibt Rassismus deshalb treffend als eine Praxis der
 Okzidents, der christliche Glaube als Differenz zum mus-                    Welterschließung und Weltdeutung, da Rassismus als
 limischen (vgl. Attia 2009). Der Begriff des „Otherings“                    Schlüssel dient, „nicht nur das zu interpretieren, was die
 (ebd. 2009) beschreibt den Vorgang der Besonderung,                         Individuen erleben, sondern auch das, was sie innerhalb
 in dem andere Menschen zu wesentlich ‚Anderen’, zu                          der gesellschaftlichen Welt sind“ (Balibar 1992a: 26).
‚Fremden’ gemacht werden, während das, was der eige-                         Rassismus stellt damit ein gesellschaftlich akzeptiertes
 nen Gruppe zugeschrieben wird, als normal, bekannt, an-                     und gesellschaftlich eingelassenes Interpretations- und
 erkannt und positiv konnotiert gilt. Die Wir-Gruppe bildet                  Wissensreservoir bereit, wie die gegenwärtige Ordnung
 sich zugleich, indem sie sich als positive Absetzung zu                     der Ungleichheit zu begreifen ist und über diesen As-
 der Gruppe der ‚Anderen‘ definiert. Die Problematik der                     pekt hinaus, dass eben jene Ungleichheitsverhältnisse
 sozialen Differenzproduktion eines ‚Wirs’ und ‚die Ande-                    auf eine ‚höhere Ordnung’ bzw. einen auszumachenden
 ren’, die im Othering stattfindet, besteht in dem Prozess                   Grund zurückzuführen seien, die die Herabwürdigung
 einer Hierarchisierung von Menschen: Denn Rassismus                         der als anders und fremd klassifizierten Subjekte und
 produziert nicht nur Unterschiede, sondern „Unterschie-                     Subjektgruppen rechtfertige (vgl. Broden 2012: 8). Diese
 de, die einen Unterschied machen“ (Kalpaka 2009). Die                       Unterscheidung und Klassifikation bezieht ihre Sinnhaf-
 Wirkmächtigkeit der Unterscheidungspraxis liegt darin                       tigkeit darüber, dass die Produktion von Bedeutung an
 begründet, dass sie erstens eine Wertigkeit von Eigen-                      die Idee einer ‚Rasse’ geknüpft ist, die besagt, dass eine
 schaften, Werten und Normen sowie kulturellen Prakti-                       Klassifikation von Menschen anhand biologischer und/
 ken vornimmt. Zweitens ist die gesellschaftliche Macht                      oder kultureller Merkmale möglich sei. Die Existenz von
 zur Durchsetzung dieser hierarchisierten Unterschei-                        menschlichen ‚Rassen’ wurde zwar mehrfach widerlegt
 dungslogik vorhanden. Paul Mecheril und Claus Melter                        und ist wissenschaftlich nicht haltbar (vgl. Deutsche UN-
 betonen, dass sich Rassismus „erst vollständig [entfal-                     ESCO-Kommission 1978/2009). Dennoch hält sich die
 tet], wenn die Mittel zum sozialen Wirksamwerden der                        Idee einer dem Menschen tiefer innewohnenden ‚Wahr-
 Unterschiedskonstruktion verfügbar sind“ (ebd. 2010:                        heit’, die sich in Form von ‚Rassen’ zeigen ließe, nach-
 156). Man kann also erst dann von Rassismus sprechen,                       haltig. Die Rassismus- und Gendertheoretikerin Colette
 wenn die gesellschaftliche Macht zur Durchsetzung und                       Guillaumin hält diesen Widerspruch prägnant in dem
 Etablierung von hierarchisierten und strukturell ange-                      Satz fest: „Race does not exist, but it does kill people“
 siedelten Unterscheidungen vorhanden ist.5 Wer verfügt                      (ebd. 1995: 107).
 also über die Macht, welches Wissen über wen zu pro-
 duzieren und dieses Wissen gesellschaftlich akzeptabel
 werden zu lassen?

1.1.2.1 Rassismus als gesellschaftsstrukturierendes
Machtverhältnis
In rassistischen Unterscheidungen werden soziale, poli-
tische und rechtliche Ungleichbehandlungen, die zu Un-
gleichheitsverhältnissen führen, produziert und zugleich
legitimiert. Rassismus erfüllt dabei gesellschaftliche
Ressourcen- und Verteilungsfunktionen (materielle Ef-

5 In Diskussionen über Rassismus wird oft das Argument angeführt, dass es auch einen ‚umgedrehten Rassismus’, gebe. Im gegenwärtigen Diskurs
    wird z.B. geäußert, es existierte eine „Deutschenfeindlichkeit“ von migrantischen Personen, die v.a. im Schulkontext verortet wird. Diese Argumen-
    tationslogik verkennt, dass es zwar Stereotype gibt, die gegen, deutsche Personen geäußert werden, diese aufgrund gesellschaftlicher Asymmet-
    rien jedoch nicht als Rassismus gelten können, da die persönliche Diffamierung nicht mit einer strukturellen Ungleichbehandlung korrespondiert.
    Denn die Gruppe migrantisierter Personen besitzt nicht die gesellschaftliche Macht zur Durchsetzung von stereotypem Wissen. Weiter wird mit
    Blick auf den historischen Kontext von Kolonialismus und Rassismus deutlich, dass eine historische Praxis der rassistischen Diskriminierung ge-
    genüber weißen und deutschen Menschen nicht existiert (hat) und entsprechende Versuche der Umkehr oder Gleichsetzung nicht als Rassismus
    bezeichnet werden können (vgl. Eggers 2012; Shooman 2015).

6
1.1.3 Abwehr, Widerspruch, Tabuisierung,                                     delt es sich nicht um einen Einzelfall, sondern vielmehr
Verlagerung in die Vergangenheit – Zum                                       um eine gängige Form, in der sich Rassismus in Form ei-
                                                                             nes „Alltagsrassismus“ zeigt.8 In dem Zitat wird deutlich,
schwierigen Umgang mit Rassismus in
                                                                             wie Rassismus in der Gegenwart salonfähig und akzepta-
Deutschland                                                                  bel ist: in der zunächst erfolgten Abgrenzung und Abwehr,
„Ich habe nichts gegen Ausländer, aber ...“6                                 rassistisch zu sein, lassen sich gleichzeitig rassistische
                                                                             Inhalte transportieren. Rassismus zeigt sich so in einer
 In einem gesellschaftlichen Klima, das Rassismus negiert                    paradoxen und für die bürgerliche Gesellschaft symp-
 und größtenteils nicht thematisiert, tritt Rassismus oft in                 tomatischen Form: einerseits wird er ent-nannt, ande-
 der Form eines Widerspruchs auf. Das diesem Abschnitt                       rerseits wird in der Ent-Nennung Rassismus produziert
 vorangestellte Zitat verdeutlicht dies exemplarisch: dem                    (vgl. Terkessidis 2004: 97). Diese paradoxe Form, in der
 Bestreiten, ‚etwas gegen Ausländer zu haben’, was nicht                     Rassismus ausagiert wird, geschieht meist unbewusst
 weiter ausgeführt, sondern nur angedeutet wird, folgt ein                   oder nicht direkt intendiert; oftmals fehlt ein fundiertes
 einschränkendes ‚aber’. Diesem ‚aber’ folgt in Gesprä-                      Wissen über Rassismus. Andererseits wird die rassisti-
 chen oftmals eine Auflistung an Äußerungen, die auf ein                     sche Provokation und verharmlosende Ent-nennung von
 gesellschaftlich verankertes, durch Rassismus verbrei-                      Rassismus bewusst genutzt und eingesetzt. Stephan
 tetes Wissen über „‚Ausländer*innen’“7 Bezug nimmt.                         Zinflou konstatiert, dass die „vemeintlich mutige Offen-
 Dabei werden rassistische Stereotype bedient und an                         heit, zeitweise für rassistische Positionen aknüpfungs-
„rassistisches Wissen“ (vgl. Terkessidis 2004: 91 ff.) ange-                 fähig zu sein, [...] innerhalb des budesrepublikanischen
 knüpft. Mit dem Begriff des rassistischen Wissens betont                    Mehrheitsdiskurses mittlerweile zum Standardreper-
 Mark Terkessidis im Anschluss an Michel Foucault die                        toire [gehört]“ (ebd. 2007: 56). Für rechtspopulistische
 Verbindung zwischen Wissensproduktion und Macht, da                         und rechtsextreme Parteien und deren Anhänger*innen
 über Wissen gesellschaftlich akzeptiertes, wahres Wis-                      gehört die bewusste und systematische Leugnung ras-
 sen produziert wird (vgl. Cameron/Kourabas 2013: 260).                      sistischer und antisemitischer Tatsachen seit jeher zum
 Wissenschaftliche, mediale, politische, juristische sowie                   festen Bestandteil ihrer Politik.
 alltägliche Diskurse wirken hier zusammen und manifes-
 tieren sich als gesellschaftliche Realität und als Wissens-                 Formen der Ent-Nennung sind auch in einer Verschie-
 bestand, der gesellschaftlich geteilt wird und vefügbar                     bung von einem einst primär biologistischen Rassismus
 gemacht wird. Wenn über „‚Ausländer*innen’“ gespro-                         zu einem „kulturellen Rassismus“ (Balibar 1992a) fest-
 chen wird, wird das vermeintliche Wissen über „‚Aus-                        zustellen, der von der Unvereinbarkeit verschiedener
 länder*innen’“ in Form rassistischen Wissens diskursiv                      Kulturen ausgeht. Der kulturelle Rassismus zeigt sich
 bekräftigt. Rassismus wirkt hier nicht als offensichtliche                  insbesondere seit dem 11. September 2001 verstärkt
 Gewalt, sondern in Form akzeptierter Aussagen, die „ins                     als „antimuslimischer Rassismus“ (Attia/Keskinkılıç
‚normale’ gesellschaftliche Funktionieren eingelassen                        2016) und proklamiert vor allem die vorgestellte Unver-
 sind“ (ebd. 2004: 119). Diese gesellschaftlich normali-                     einbarkeit von christlichen Menschen und Menschen,
 sierten Formen sind fast wichtiger als „intentionale For-                   die als muslimisch fremdbezeichnet werden (vgl. Çağlar
 men“, die Rassismus annimmt („Terkessidis 2004: 119;                        2002). Diese als „Anschmiegungen und Anpassungs-
 vgl. auch Mecheril 2007), da sie aufgrund ihres Selbst-                     prozesse des Rassismus“ (Mecheril/Melter 2010: 153)
 verständlichkeitscharakters besonders produktiv und                         zu verstehenden Wandlungen von Rassismus zu einem
 unhinterfragt wirken können, ohne als eine Spielart des                     kultur- und religionsorientierten Sprechen über als an-
 Rassismus erkannt zu werden.                                                ders markierte Gruppen ermöglichen die Persistenz von
                                                                             Rassismus bei einer gleichzeitigen Diskreditierung des
 Die Unterscheidung und Bezeichnung von Menschen als                        ‚Rassebegriffs’.
„Ausländer*innen“ und die Zuschreibung von Eigenschaf-
 ten gegenüber dieser Gruppe stellen eine Form des Othe-                     1.1.3.1 Rassismus als Problem des ‚rechten Randes’?
 rings dar, da diese als Andere markiert und zu Anderen                      Eine weitere „Schwierigkeit, über Rassismus zu sprechen“
 gemacht werden. Es handelt sich um eine Unterschei-                         (Mecheril/Melter 2010: 162 ff.) zeigt sich in Deutschland
 dung, die gewöhnlich und größtenteils unhinterfragt                         sowohl im Alltags- als auch im wissenschaftlichen wie
 stattfindet, jedoch aus rassismustheoretischer Perspek-                     politischen Diskurs, wenn Rassismus primär als Problem
 tive problematisch ist. Bei Satzanfängen wie diesen han-                    sogenannter gesellschaftlicher Randgruppen verstan-

6 Das Zitat entstammt dem Alltagsdiskurs und findet auch in dem Titel des Sammelbandes der Herausgeber*innen Britta Marschke und Heinz Ulrich
    Brinkmann (2015) Verwendung, um Alltagsrassismus in Deutschland zu analysieren.
7   Der Begriff „Ausländer*innen“ wird in Anführungsstrichen gesetzt, da er sich im gesellschaftlichen Diskurs nicht auf alle Personen bezieht, die in
    Deutschland in formaljuristischer Hinsicht als Ausländer*innen gelten, sondern eine spezifische Gruppe an Personen begreift. Vgl. hierzu die aus-
    führliche Begriffsdefinition im Glossar.
 8 Philomena Essed hat den Begriff des Alltagsrassismus geprägt und mit ihren Arbeiten in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt (vgl. ebd. 1991).

                                                                                                                                                    7
den wird. Die Verlagerung von Rassismus an den extre- spiel mit Antisemitismus differenziert aufeinander zu
 mistischen, ‚rechten Rand’9 ist aus rassismustheoreti- beziehen und zugleich die Unterschiede zu betonen (vgl.
 scher Perspektive ein wenig konstruktiver Vorgang für      hierzu Messerschmidt 2008; 2015). Ferner ist zu ver-
 eine fundierte Analyse und Kritik von Rassismus. Erstens   deutlichen, dass Rassismus als (Dis-)Kontinuität wirk-
 verschieben sich gerade im aktuellen politischen, aber     sam ist. Denn „[t]rotz oder wegen aller Bemühungen, mit
 auch gesamtgesellschaftlichen Diskurs rechtspopulisti- der NS-Vergangenheit fertig zu werden“, ist diese nicht
 sche und klassisch rassistische Positionen immer mehr      zuletzt in der „Form der Welt- und Menschenbilder, die
 in die gesellschaftliche Mitte und die etablierten Partei- in der NS-Ideologie geprägt worden sind“, gegenwärtig
 en.10 Die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber öffent- und hat gerade die Bilder „vom Anderen, vom Fremden
 lich geäußerten, rassistischen Positionen erfährt gegen- nachhaltig beeinflusst“ (Messerschmidt 2007: 49).
 wärtig eine Ausweitung und wachsende Legitimität (vgl.
 Kourabas Im Erscheinen). Zweitens ist die Verschiebung     1.1.3.3 „Xenophobie“, „Fremdenfeindlichkeit“ und
 des Problems Rassismus an den rechten Rand vielmehr „Ausländer*innenfeindlichkeit“ als Dethematisierung
 als Entlastungs- und Entschuldigungsstrategie zu ana- von Rassismus
 lysieren und zu fragen, welche Funktion diese Verschie- Konzepte, die mit Begriffen wie „Fremdenhass“, „Xeno-
 bung von Rassismus als ‚Problem der Anderen’ für das       phobie“ oder „Ausländer*innenfeindlichkeit“ operieren,
 demokratische Selbstbild einer Gesellschaft besitzt (vgl. sind aus rassismustheoretischer Sicht nicht in der Lage,
 Messerschmidt 2010: 45 ff.). Alle, die dem rechtsextre- historische Formen, Fortsetzungen und Diskontinuitäten
 men Spektrum nicht angehören, werden vom Rassismus         von Rassismus als gesellschaftsstrukturierendes Phäno-
 entlastet und die, die als rechtsextrem identifiziert wer- men der Vergangenheit und Gegenwart zu erfassen (vgl.
 den, können stellvertretend geächtet und moralisch ver- Terkessidis 2004: 13-66; Mecheril/Melter 2010: 165). Sie
 urteilt werden. Rassismus wird durch die Verlagerung an    fragen kaum nach der ordnenden Funktion, die Rassismus
 den ‚rechten Rand’ zudem als außergewöhnliches Phä- für Alle und gesellschaftliche Strukturen im Allgemeinen
 nomen, als pathologische Abweichung von einer Norm         hat und individualisieren daher das Problem Rassismus.
 verstanden, die in der Mitte gewahrt scheint. Damit wird
 auch die breitenwirksame Struktur und Funktion von         Die Angst vor ‚dem Fremden’ – die in den Begriffen „Frem-
 Rassismus als historisches und gegenwärtiges Phäno- denhass“ und „Xenophobie“ ihren Ausdruck finden – sug-
 men banalisiert.                                           gerieren, dass „Fremdenfeindlichkeit“ und „Angst vor
                                                            dem Fremden“ natürliche, menschliche Verhaltenswei-
 1.1.3.2 Verlagerung von Rassismus in die Vergangenheit     sen seien. Rassismus wird durch diese anthropologisie-
 Astrid Messerschmidt sieht ein weiteres „Distanzie- rende Perspektive verklärt und letztlich legitimiert (vgl.
 rungsmuster“ im Umgang mit Rassismus in der Tabu- Mecheril/Melter 2010: 165). ‚Ausländer*innenfeindlich-
 isierung des Rassismusbegriffs, da dieser eng mit dem      keit’ entstehe v.a. dann, wenn zu viele ‚Ausländer*innen’
 Nationalsozialismus verknüpft wird und damit als his- da seien. Unbeantwortet bleibt jedoch, warum nicht alle
 torisches und überwundenes Problem gilt (ebd. 2010:        Personen, die formaljuristisch Ausländer*innen sind, Ziel
 52). Mit der Demokratisierung Deutschlands und dem         von Feindlichkeit sind und warum einige zu Fremden ge-
 Mythos des Neuanfangs nach 1945 scheint er überwun- macht werden, andere hingegen nicht. In dem „‚Auslän-
 den. Zudem macht die enge Verknüpfung von Rassismus        der*innendiskurs’“ ist beispielsweise nicht die Rede von
 mit den nationalsozialistischen Verbrechen es schwer, weißen Amerikaner*innen, denn ‚Ausländer*innenfeind-
 gegenwärtige Formen von Rassismus angemessen zu            lichkeit‚ bezieht sich auf eine bestimmte Gruppe von Aus-
 thematisieren (vgl. Messerschmidt 2010: 52 f.). Auch ge- länder*innen, die einer rassifizierten und dominierten
 raten rassistische Praxen und Strukturen aus dem Blick, Gruppe angehören. Konzepte wie „Fremdenfeindlichkeit“,
 die vor allem während des deutschen Kolonialismus und „Xenophobie“ und „Ausländer*innenfeindlichkeit“ folgen
 damit bereits vor dem Nationalsozialismus zum Alltag       sogar teilweise einem umgedrehten Kausalzusammen-
 gehörten (vgl. Mecheril/Melter 2010: 164). Dennoch         hang: es wird suggeriert, es existieren Feindlichkeit, Hass,
 wird die Verwendung des Rassismusbegriffs oftmals als      Angst oder Vorurteile, weil es ‚Ausländer*innen’ und Frem-
 Skandal empfunden und als unzulässige Unterstellung        de im nationalstaatlichen Raum gibt (vgl. auch Balibar
 zurückgewiesen (vgl. Messerschmidt 2010: 42 ff.; 52        1992b: 49). Oder zugespitzt formuliert: es gibt Rassismus,
 ff.). Christian Schneider interpretiert die Abwehr in der  weil ‚Rassen’ existieren würden. Dies ist eine Verkehrung
 Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als         der Argumentationslogik. Vielmehr ist mit Stuart Hall fest-
„Wunsch, unschuldig zu sein“ (Schneider 2010: 122). Eine    zuhalten: „‚Rasse’ existiert nicht, aber Rassismus kann in
 Analyse von Rassismus als Gegenwartsphänomen ist he- sozialen Praxen produziert werden“ (Hall 2000: 7) und ist
 rausgefordert, Rassismus in der Abgrenzung zu seinen       fester Bestandteil gesellschaftlicher Praxis und Struktur-
 historischen Formen zu begreifen, in seinem Zusammen- bildung.

9 Vgl. für eine Übersicht rechter Gewalttaten und ihren Opfern in Deutschland u.a. Staud (2013).
10 Oliver Kiess und Johannes Decker et al. veranlasst dies in ihrer Studie, von einer „enthemmte[n] Mitte“ zu sprechen (ebd. 2006).

8
1.1.3.4 Rassismus als Bestandteil von Aufklärung und         mit exzesshaften und vereinzelten Vorfällen der sichtba-
Moderne begreifen                                            ren, körperlichen Gewalt zu tun hat oder in der Vergan-
Rassismus ist als paradoxes Moment, als innerer Wi-          genheit konserviert wird, sondern sich als überwiegend
derspruch aufklärerischer Bewegungen und damit ver-          selbstverständlich geteilte Praxis und Wahrnehmung in
bundenen Emanzipations- und Freiheitsbewegungen zu           der Gegenwart zeigt (vgl. Mecheril 2007). Es handelt sich
verstehen und kann nicht aus gesellschaftlichen Ent-         um „gewöhnliche Unterscheidungen“ wie Paul Mecheril
wicklungsprozessen extrahiert werden. Gerade das im          und Claus Melter betonen (ebd. 2010); Mark Terkessidis
westlichen Europa progressiv gedeutete Zeitalter der         spricht von der „Banalität des Rassismus“ (ebd. 2004).
Aufklärung und der Moderne, das die Freiheit von weißen      Diese analytischen Zugänge sind jedoch nicht als Baga-
Männern ausweitete, war aufs Engste mit der Unfreiheit       tellisierungen und Nivellierungen von Rassismus zu ver-
von Schwarzen Menschen und People of Color aufgrund          stehen.
rassistischer Abwertungen und Wissensproduktionen
verbunden. Die Moderne beinhaltete die Manifestierung        Die Alltäglichkeit mindert nicht die Gewaltförmigkeit von
und drastische Verschärfung der Unfreiheit, Versklavung,     Rassismus und die konkreten, lebensbedrohlichen, be-
Kolonialisierung, Entmenschlichung und Ermordung von         schädigenden, verletzenden und demütigenden Effek-
Schwarzen Menschen (vgl. u.a. Mbembe 2014). Insbe-           ten für rassifizierte Subjekte und den Privilegien, die für
sondere die modernen Wissenschaften im weißen Euro-          Subjekte entstehen, die nicht als Andere rassifiziert wer-
pa waren an der Entstehung von Rassismus und seiner          den. Eine rassismuskritische Perspektive macht jedoch
pseudowissenschaftlichen Legitimation beteiligt: die Er-     erstens deutlich, dass sich Rassismus in vielerlei Formen,
forschung, Klassifikation und der Versuch, Menschen in       in offener und massiver Weise, subtil und mitunter auch
Gruppen zu unterteilen, war (und ist) wesentlich für Ras-    ungewollt in vermeintlich positiven, z.B. exotisierenden
sismus (vgl. Mosse 1990). So hat ein Zuwachs an Wissen       Äußerungen zeigt und nur schwer angreifbar ist. Ähn-
und Aufklärung nicht zu einer Abschaffung des Rassis-        lich wie im Geschlechterverhältnis die männliche Herr-
mus geführt, sondern diesen mit bedingt, wenn nicht gar      schaft – so Pierre Bourdieu – primär als „sanfte Gewalt“
stabil gegen kritische Einwände werden lassen. Denn          ihre Wirkung und Macht bei Beherrschten wie Beherr-
in der Verschränkung von Macht und Wissen – Michel           schenden entfaltet (vgl. Bourdieu 1997; Krais 2004: 181),
Foucault spricht von Macht-Wissen-Komplexen – wird           zeigt sich Rassismus als eingelassene Alltäglichkeit und
Macht nicht suspendiert. Vielmehr bringt Macht Wissen        Gewöhnlichkeit. Neben der Betonung dieses Aspekts soll
hervor und es gibt „keine Machtbeziehung [...], ohne daß     in einer rassismuskritischen Perspektive zweitens zum
sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und        Ausdruck gebracht werden, dass wir alle von Rassismus
kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen         betroffen sind. Wir alle sind mit rassistischem Wissen
voraussetzt und konstituiert“ (ebd. 1994: 39).               groß geworden, sind von natio-ethno-kulturellen Zuge-
                                                             hörigkeitsordnungen und Unterscheidungspraktiken, die
                                                             mit rassistischen In- und Exklusionsmechanismen ver-
1.1.4 Die Perspektive Rassismuskritik                        bunden sind, umgeben und in sie involviert. Hier knüpft
                                                             die rassismuskritische Perspektive an Überlegungen von
1.1.4.1 Die Normalität und Alltäglichkeit von Rassismus      Michel Foucault an, der Macht als ein allgegenwärtiges
In einer rassismuskritischen Perspektive wird Rassismus      Netz von Kräfteverhältnissen versteht (vgl. 1983: 48 ff.;
in der Gegenwart und in der Normalität des gesellschaft-     1994: 173 ff.). Macht durchzieht alle gesellschaftlichen
lichen Alltags verortet.                                     Bereiche, aber auch die Subjekte, in ihrem Denken, Füh-
                                                             len und Handeln. Es gibt demnach kein Außerhalb dieser
Das heißt, dass                                              Macht, kein Heraustreten aus gesellschaftlichen Verhält-
                                                             nissen.
   „Rassismus als Strukturierungsgröße gesellschaft-
    licher Realität gewissermaßen uns alle betrifft. Das     1.1.4.2 Wer ist von Rassismus betroffen?
    ist die Alltäglichkeit des Rassismus. Wir alle sind in   Wenngleich alle Subjekte in Rassismus eingebunden und
    einer Gesellschaft, die zwischen legitim natio-eth-      von diesem betroffen sind, so machen Menschen den-
    no-kulturell Zugehörigen und legitim nicht Zugehö-       noch unterschiedliche Erfahrungen in von Rassismus
    rigen unterscheidet – vielleicht analog der patriar-     durchdrungenen, gesellschaftlichen Verhältnissen. Ras-
    chalen Struktur, die zwischen Männern und Frauen         sismus produziert – wie eingangs erläutert – machtvolle
    unterscheidet – wir alle sind in diesem System posi-     Unterscheidungen, die unterschiedliche Effekte für die
    tioniert und von dieser Position betroffen“ (Mecheril    Handlungsoptionen und gesellschaftlichen Zugänge von
    2007: 11).                                               Menschen zur Folge haben.

Mit dieser Sichtweise wird es möglich, Rassismus als         So gibt es strukturell gesehen Personen, die von Rassis-
gesellschaftsstrukturierendes und gesellschaftsstruktu-      mus nicht negativ betroffen sind, also keine strukturellen
rierte Unterscheidungspraxis zu begreifen, der nicht nur     Zugangsbarrieren, keine Ausschlüsse auf sozialen, poli-

                                                                                                                      9
tischen und rechtlichen Ebenen kennen, keine alltags-                        der abgrenzt, jedoch nicht gegeneinander ausspielt und
 rassistischen Bemerkungen und Verletzungen erfahren.                         zugleich anstrebt, die Verbindungen und Gemeinsamkei-
 Diese Positionen können mit dem Begriff der ‚Positiven                       ten von Unterdrückungsmechanismen herauszustellen,
 Betroffenheit’ gefasst werden, da diese Positionen – oft-                    um der „Komplexität des Sozialen“ gerecht zu werden
 mals nicht bewusst – von Rassismus profitieren. Dem-                         (vgl. Heinemann/Mecheril 2017: 120). Eine wichtige Ge-
 gegenüber stehen Personen, die all diese Erfahrungen                         meinsamkeit rassismus- und diskriminierungskritischer
 machen, auf Grenzen und Abwertungen im Leben sto-                            Ansätze kann in der normativen Verortung und Bestre-
 ßen; Menschen, für die negative Konsequenzen von Ras-                        bung gesehen werden, „den sozialen Raum der Geltung
 sismus spürbar und alltäglich sind, die Rassismuserfah-                      von Rechten und damit der Schwäche diskriminierender
 rungen11 machen und machen müssen. Diese Position                            Normalitätsordnungen auszuweiten“ (Heinemann/Me-
 kann als ‚Negative Betroffenheit’ markiert werden. Beide                     cheril 2017: 121). Eine rassismuskritische Perspektive ist
‚Betroffenheiten’ sind in Anführungsstrichen und mit Vor-                     neben dieser anspruchsvollen Bewegung einer Analyse
 sicht zu verwenden, da Rassismus ebenfalls schädigen-                        spezifischer Macht- und Herrschaftsformen und der Be-
 de Momente für Personen bereithält, die zwar faktisch                        rücksichtigun ihrer Einbettung und Verbindung zu ande-
 von Rassismus profitieren bzw. nicht von Rassismus in                        ren Formen der Diskriminierung und Unterdrückung he-
 ihrer Lebensgestaltung spürbar eingeschränkt werden,                         rausgefordert, einerseits an Alltagsbegriffe anzuknüpfen,
 jedoch ebenfalls Deformationen in einer Abspaltung ne-                       um eine Auseinandersetzung und Öffnung des Themas
 gativer Eigenschaften und Projektionen auf rassifizierte                     nicht nur im akademischen Diskurs zu erreichen. Ande-
 Menschen in sich tragen (vgl. Fanon 1952/2008: xiii; Ki-                     rerseits gilt es auch, analytisch Begriffe zu entwickeln,
 lomba 2008: 18 ff.).12                                                       die Macht- und Herrschaftsverhältnisse präzise erfassen
                                                                              und gesellschaftliche Abwehrmechanismen aufbrechen,
1.1.4.3 Mit welchen Begriffen über Rassismus sprechen?                        anstatt sich diesen anzuschließen und sie damit fortzu-
In dem vorliegenden Text wird Rassismus als gesell-                           führen. Rassismuskritische Ansätze bewegen sich damit
schaftliche Strukturkategorie fokussiert; die Analyse                         in einem Spannungsverhältnis von Anschlussfähigkeit an
wird deutlich komplexer, wenn auch andere Kategorien                          gegebene Verhältnisse und der Entwicklung gesellschaft-
der strukturellen Privilegiertheit und Deprivilegiertheit                     licher Transformation, wie beispielhaft an der Diskussion
wie beispielsweise Alter, soziale Herkunft/Klasse, Ge-                        über die Verwendung des ‚Rasse‘-Begriffs deutlich wird,
schlecht einbezogen werden und damit eine intersek-                           die im nachfolgenden Exkurs kurz erläutert wird.
tionale Analyseperspektive vertreten wird, wie sie auf
Kimberlé Crenshaw (1989) zurückgeht. In einer inter-                          Exkurs: Die Verwendung des ‚Rasse‘-Begriffs
sektionalen Perspektive können verschiedene Achsen                            Die Verwendung des Begriffs ‚Rasse‘ ist im wissenschaft-
und Kreuzungspunkte, anhand derer sich Diskriminie-                           lichen aber auch im gesellschaftlichen Diskurs Gegen-
rungen ereignen, festgestellt werden. Wenngleich oft-                         stand kontroverser Debatten. Grundlegend stehen sich
mals von rassistischer Diskriminierung die Rede ist und                       zwei Positionen gegenüber, die beispielhaft in der Dis-
Diskriminierung13 als Oberbegriff für die unrechtmäßige,                      kussion über die Verwendung oder Streichung des ‚Ras-
unterschiedliche Betrachtung und Behandlung von Per-                          se‘-Begriffs im Rahmen juristischer Texte verdeutlicht
sonengruppen Verwendung findet, so wird hier dennoch                          werden können. Im Grundgesetz der Bundesrepublik
der Begriff Rassismus und eine rassismuskritische Per-                        Deutschland, aber auch in internationalen Rechtsdoku-
spektive bevorzugt. Die Fokussierung auf Rassismuskri-                        menten findet der Begriff ‚Rasse’ Verwendung. Auch das
tik erfolgt deshalb, da der historische Kontext, in dem                       Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) arbeitet in
sich Rassismus ereignet und ereignet hat, spezifiziert                        § 1 mit dem Diskriminierungsmerkmal „Benachteiligun-
betrachtet werden kann. Dieser besitzt eine andere,                           gen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen
wenngleich auch immer verknüpfte Geschichte und Ge-                           Herkunft“ (AGG 2006, § 1). Kritiker*innen fordern eine
genwart beispielsweise mit genderbezogenen Diskrimi-                          Streichung des Begriffs, da dieser die Vorstellung einer
nierungsformen. Praktikabel und sinnvoll erscheint als                        Existenz von ‚Rassen’ befürworte (vgl. Barskanmaz 2011:
Hintergrundfolie für die dezidierte Analyse von Rassis-                       382), vor allem wenn der Begriff ohne Anführunggstriche
mus eine umfassende theoretische und praktische Per-                          und Kommentierung verwendet wird. Autor*innen, die für
spektive auf gesellschaftliche Macht- und Herrschafts-                        die Beibehaltung des Begriffs plädieren, argumentieren
verhältnisse, die diese in ihren jeweiligen, spezifischen                     hingegen, dass nicht ‚Rasse’ Rassismus produziere, son-
Charakteristika und Kontexten berücksichtigt, voneinan-                       dern vielmehr Rassismus die Kategorie ‚Rasse’ reprodu-

11 Vgl. hierzu die Arbeiten von Paul Mecheril (ebd. 2015; Mecheril/Melter 2010: 157 f.).
12 Eine andere Unterscheidung, die im Fachdiskurs verwendet wird stammt von Maureen M. Eggers, die von rassismuserfahrenen und rassismusuner-
     fahrenen Personen spricht (vgl. ebd. 2013: 4 f.).
13 Eine aktuelle Übersicht über Diskriminierungen in verschiedenen gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsbereichen in Deutschland liefert der dritte
     Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ebd. 2017). Vgl. zur Diskriminierungsforschung den Sammelband der Herausgeber*innen Ulrike
     Hormel und Albert Scherr (2010).

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ziere (Ahmed zit. nach Barskanmaz 2011: 383). Solange       Eine rassismuskritische Perspektive verortet den zentra-
Rassismus die Idee von ‚Rassen’ produziere und ‚Rasse’ len Ausgangspunkt in einer macht- und selbstreflexiven
eine Kategorie darstelle, die Gesellschaft im Sinne von     Auseinandersetzung mit der eigenen Person und gesell-
Ungleichheitsbeziehungen strukturiere, sei es zentral, schaftlichen Ordnungen. Die eigene Person wird nicht im
den Begriff auch als rechtliche Ungleichheitskategorie      luftleeren Raum verortet oder individualisiert, sondern als
sichtbar zu machen (vgl. Ahmed zit. Barskanmaz 2011:        in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebundene und
383). Trotz der unterschiedlichen Positionen treffen sich   diese mitgestaltende verstanden. Das Subjekt ist daher
Befürworter*innen wie Gegner*innen in der Überzeu- weder autonom außerhalb gesellschaftlicher Strukturen
gung, dass – wird der ‚Rasse‘-Begriff verwendet oder auf    denkbar, noch durch diese determiniert zu verstehen. Es
ihn verzichtet – der rassistische Konstruktionscharakter    sind Spielräume und Gestaltungsmöglichkeiten, aber
hervorzuheben ist, um nicht biologistischen Vorstellun- auch Grenzen der Einflussnahme vorhanden. Eine rassis-
gen Vorschub zu leisten. Ebenso ist der Begriff „ethnische  muskritische Perspektive geht von einer relationalen und
Herkunft“, nicht als essentialistische Kategorie, sondern   kontextgebundenen Handlungsfähigkeit aus, die es in ras-
als sozial hergestelltes Produkt von Zugehörigkeitsord- sismuskritischer Absicht produktiv zu nutzen gilt. Erste
nungen zu verstehen, die an rassistisch vermittelte Bil- Anregungen für eine sich selbst und die eigenen Weltbilder
der anknüpfen. Als übegreifendes Ziel beider Positionen     befragende Auseinandersetzung können die nachfolgen-
kann trotz ihrer konträren Stellung zum Begriff ‚Rasse‘ den Fragen bieten.
die kritische Auseinandersetzung mit ihm wie die Fokus-
sierung auf soziale Ungleichheiteffekte genannt werden, Anregungen für eine rassismuskritische Auseinander-
die durch rassistische und ethnisierte Diskriminierungen    setzung:
entstehen und durch rechtliche Benennung geahndet • Wie bin ich als Person an rassistischen Unterscheidungs-
werden können (vgl. Barskanmaz 2011: 385).                    praxen ungewollt beteiligt?
                                                           • Wie bin ich von Rassismus betroffen? Mache ich Rassis-
1.1.4.4 Rassismuskritik als (selbst-)reflexive Auseinan-      muserfahrungen, d.h. erlebe ich rassistische Diskrimi-
dersetzung mit Rassismus                                      nierungen oder nicht?
Rassismuskritik thematisiert                               • Was sind meine eigenen stereotypen Bilder und wie kom-
                                                              men diese in meiner professionellen Arbeit zum Tragen?
    „in welcher Weise, unter welchen Bedingungen und • Welche Bezeichnungen verwende ich, um Menschen an-
     mit welchen Konsequenzen Selbstverständnisse             zusprechen? Woher stammen die Bezeichnungen? Wel-
     und Handlungsweisen von Individuen, Gruppen, In-         ches rassistische Verletzungspotenzial bergen bestimm-
     stitutionen und Strukturen durch Rassismen vermit-       te Begriffe?
     telt sind und Rassismen stärken. Rassismuskritik • Welche Bezeichnungen diskriminieren mich? Welche
     zielt darauf ab, auf Rassekonstruktionen beruhende       Auswirkungen haben diese Bezeichnungen für mein be-
     beeinträchtigende, disziplinierende und gewaltvolle      rufliches wie privates Umfeld?
     Unterscheidungen zu untersuchen, zu schwächen • Wie kann ich Kolleg*innen, Klient*innen, Vorgesetzte etc.
     und alternative Unterscheidungen deutlich zu ma-         hierauf ansprechen?
     chen“ (Mecheril/Melter 2010: 172).                    • Wie kann ich anders, d.h. weniger rassistisch in meinem
                                                              beruflichen und privaten Alltag handeln?
Rassismuskritik stellt eine reflexive Haltung dar, „die • Welche Anregungen, Beratungs- und Austauschmöglich-
von der Überzeugung getragen wird, dass es sinnvoll ist,      keiten, welches Wissen brauche ich für Veränderungen
nicht in dieser Weise auf rassistische Handlungs-, Erfah-     von wem?
rungs- und Denkformen angewiesen zu sein“ (Mecheril/
Melter 2010: 172). Damit versuchen rassismuskritische       1.1.4.5 Wie kann man Rassismus konstruktiv zum The-
Ansätze, einen „Beitrag zu alternativen, »gerechteren«      ma machen?
sozialen Verhältnissen zu leisten“ (Mecheril/Melter 2010:   Rassismuskritik thematisiert die sozial ungleichen Positio-
172). Im Unterschied zu antirassistischen Ansätzen geht     nen und Effekte, die für Personen im Rassismus entstehen
Rassismuskritik jedoch nicht davon aus, dass Rassismus      und die gesellschaftliche Strukturen gestalten. Anschlie-
einfach abzuschaffen oder zu überwinden sei. Nach dem       ßend an die Unterscheidung von strukturell ‚Negativer’
Machtverständnis, auf das sich Rassismuskritik bezieht, und strukturell ‚Positiver’ Betroffenheit, die im Text bereits
können wir uns nicht gänzlich aus den Verhältnissen ver- vorgestellt wurde, gilt für beide Gruppen – Personen mit
abschieden, sondern uns nur immanent in ihnen bewegen ‚Positiver’ wie Personen mit ‚Negativer Betroffenheit’ – der
und sie im Innern partiell verändern.14                     Fokus einer selbstreflexiven Auseinandersetzung mit eige-
                                                            nen, stereotypen Bildern, Sprech- und Handlungsweisen.

14 Hier lehnt sich die rassismuskritische Perspektive erneut an Michel Foucault an, der Kritik als „Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“ definiert,
   (ebd. 1992: 12).

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