Pädagogik in den Bäumen - Ein erlebnispädagogisches Projekt von Jugendarbeit und Schule - kinderkultur-stadt-hannover.de

Die Seite wird erstellt Hortensia-Luzy Noack
 
WEITER LESEN
Pädagogik in den Bäumen - Ein erlebnispädagogisches Projekt von Jugendarbeit und Schule - kinderkultur-stadt-hannover.de
Pädagogik
                          in den
                          Bäumen
Ein erlebnispädagogisches Projekt von Jugendarbeit und Schule
Pädagogik in den Bäumen - Ein erlebnispädagogisches Projekt von Jugendarbeit und Schule - kinderkultur-stadt-hannover.de
Inhalt

Vorwort.......................................................................... 1
Einleitung....................................................................... 2
Die Entstehungsgeschichte
des Seilgartens Hannover................................................ 3
Erlebnispädagogik – konzeptionelle Grundlage
des Seilgartens Hannover.................................................. 9
Wie funktioniert eigentlich Erlebnispädagogik?............. 13
Der Seilgarten als Handlungsfeld.................................. 17
Risiko und Sicherheit..................................................... 21
Pädagogische Zielsetzungen im Wandel....................... 23
Fazit – 10 Jahre Erfolg................................................... 25
Literatur und Quellen.................................................... 26

Kooperationspartner
Verein für Erlebnispädagogik
und Jugendsozialarbeit e.V............................................ 27
Landeshauptstadt Hannover......................................... 28
Albert-Schweitzer-Schule,
Berufsbildungszentrum des Stephansstiftes und
Berufsbildende Schulen in Burgdorf.............................. 29
Jugendverband der Evangelischen Freikirchen............... 30
BBS 3 – Schule für Berufe am Bau................................. 31
Der Jugendverband der SJD-Die Falken......................... 32

Schulen im Hochseilgarten
Am Beispiel der IGS Linden........................................... 34

Anschriften................................................................... 35
Pädagogik in den Bäumen - Ein erlebnispädagogisches Projekt von Jugendarbeit und Schule - kinderkultur-stadt-hannover.de
Vorwort

D     er Seilgarten im hannoverschen Stadtwald Eilenriede
      auf dem Gelände des Spielparks WAKITU ist in vieler-
lei Hinsicht ein ganz besonderes Projekt. Seine Entstehung
                                                             fahrungen mit pädagogischen Gruppenprozessen. Im
                                                             Vordergrund steht nicht das kurzfristige Erlebnis, sondern
                                                             die intensive Vorbereitung und Durchführung von unbe-
verdankt er einigen überwiegend an der Basis tätigen         kannten Situationen und die dafür notwendige gemeinsa-
sport- und erlebnispädagogischen Jugendarbeitern/innen       me Verantwortung in der Gruppe. Sich auf seine Partnerin
sowie Lehrern/innen, die mit großem Engagement und           bzw. seinen Partner und die Gruppe verlassen zu können,
der notwendigen Beharrlichkeit ein modernes Angebot          spielt hier eine besondere Rolle.
für die Kinder und Jugendlichen dieser Stadt entwickelt          Nicht zuletzt spielt der Seilgarten auch für die Ent-
haben.                                                       wicklung der Kinder- und Jugendarbeit eine besondere
     Da die Entwickler/innen des Seilgartens aus vielen      Rolle. Auf dem Gelände lassen sich gemeinsam Erfahrun-
verschiedenen Arbeitszusammenhängen der Kinder- und          gen entwickeln, wie sie in keinem Jugendzentrum, in kei-
Jugendhilfe kamen, ist der Seilgarten auch ein im besten     ner Schule und auch in keinem Betreuungszusammenhang
Sinne vernetztes Kooperationsprojekt. Fast alle Arbeits-     gemacht werden können. Auch für viele Mitarbeiter/innen
bereiche der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Ju-        aus diesen unterschiedlichen Arbeitszusammenhängen ist
gendlichen sind im Seilgarten verantwortlich organisato-     der Seilgarten mehr als eine willkommene Abwechslung im
risch miteinander verbunden und bilden das Gerüst der        Arbeitsalltag. Er bietet auf sehr praktische (nonformelle) Art
Einrichtung. Träger, Einrichtungen und Mitarbeitende aus     eine Vermittlung von Bildung, die den beteiligten Kindern
der Kinder- und Jugendarbeit, Erziehungshilfe, Schule und    und Jugendlichen sehr lange und damit nachhaltig in Er-
Jugendsozialarbeit tragen gemeinsam Verantwortung für        innerung bleibt. Dass der hannoversche Seilgarten im WA-
die Angebote des Seilgartens und sorgen dafür, dass der      KITU sich dementsprechend als „Non-Profit“-Angebot in
Seilgarten sich vor interessierten Nutzern/innen kaum ret-   seinen Standards und Erfahrungsmöglichkeiten von vielen
ten kann. Das besondere an dieser Kooperation ist, dass      kommerziellen Angeboten erheblich unterscheidet, ist in
auf dem Seilgarten die häufig eher beschworene Zusam-        diesem Zusammenhang schon fast müßig zu erwähnen.
menarbeit „auf Augenhöhe“ tatsächlich stattfindet. Die           In diesem Sinne wird uns der Seilgarten als pädagogi-
Mitwirkenden von den diversen Kooperationspartnern           sches Kooperationsprojekt der Kinder- und Jugendarbeit,
bringen sich dabei gleichberechtigt, sehr konkret und        Jugendhilfe, Schule und Jugendsozialarbeit hoffentlich
handfest in das Projekt ein.                                 noch lange erhalten bleiben und sich dank des Engage-
     Für die Kinder und Jugendlichen ist der Seilgarten im   ments der beteiligten Träger, Einrichtungen und Mitar-
WAKITU weit mehr als ein freizeitpädagogisches Angebot.      beitenden den Anforderungen entsprechend weiterent-
Vielmehr verbindet er persönliche Erfolgs- und Grenzer-      wickeln.
                                                             Volker Rohde,
                                                             Stadtjugendpfleger

                                                                                                                         1
Pädagogik in den Bäumen - Ein erlebnispädagogisches Projekt von Jugendarbeit und Schule - kinderkultur-stadt-hannover.de
Einleitung

D     ie Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen ha-
      ben sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Der
frühe Einstieg in Betreuungseinrichtungen wie Krabbelstu-
                                                                 nungsfeld und ein ausgezeichnetes Lernfeld für Politik und
                                                                 Pädagogik.
                                                                      Der Fachtag zum zehnjährigen Bestehen erlaubte ei-
ben, Kindertagesstätten und der Ausbau der Ganztags-             nen genaueren Blick auf die Entstehungsgeschichte und
schulen sollen zu einer Entlastung familiärer Strukturen         die pädagogische Arbeit des Seilgartens. Die Arbeit im
führen, die durch zunehmende Berufstätigkeit der Eltern          Seilgarten wird von Kindern und Jugendlichen, Schülern
und der damit verbundenen Mehrfachbelastung an ihre              und Schülerinnen, Lehrern und Lehrerinnen, den Fach-
Grenzen kommen. So gewinnen Bildungssysteme außer-               kräften, aber auch von den mitarbeitenden Kollegen und
halb der Familie zunehmend an Bedeutung. Innerhalb               Kolleginnen besonders geschätzt. Viele Rückmeldungen
der unterschiedlichen Betreuungs- und Bildungseinrich-           bestätigen, dass dieses gewachsene Projekt zwischen den
tungen wie Kindertagesstätten, Schule und Jugendarbeit           Bäumen der Eilenriede nachhaltig im Erleben unserer Be-
stellt sich so die Frage, welche spezifischen Schwerpunkte       sucher und Besucherinnen ist. Aber was sind die Faktoren,
die Fachkräfte aus der Jugendarbeit in diesem veränderten        die den Seilgarten Hannover so besonders machen und
Lebensraum von Kindern und Jugendlichen einbringen               vielfältigste Impulse für die pädagogische Arbeit in Stadt
können.                                                          und Region aussenden?
     Dass die Schule in der Zukunft für den Unterricht zustän-        Die folgende Dokumentation soll informieren, Mög-
dig und die Einrichtungen der Jugendhilfe für Freizeitan-        lichkeiten außerschulischer Lernorte beschreiben und
gebote in der Schule sorgen, wäre zu kurz gedacht. Eine          Anregungen für ähnliche Projekte geben, in denen sich
wirkliche Vernetzung zwischen Schule und Jugendarbeit            Schule und Jugendarbeit sehr gut ergänzen können. Der
bringt beiden Seiten eine Vielzahl von Vorteilen, sofern         Seilgarten Hannover stützt sein Konzept auf die Erlebnis-
sinnvolle Rahmenbedingungen geschaffen werden. Der               pädagogik, auf die in der folgenden Dokumentation nä-
Seilgarten in Hannover ist ein Projekt in diesem Span-           her eingegangen wird.

2
Pädagogik in den Bäumen - Ein erlebnispädagogisches Projekt von Jugendarbeit und Schule - kinderkultur-stadt-hannover.de
Die Entstehungsgeschichte des Seilgartens Hannover

Wie alles anfing – die 90er Jahre

Z   u Beginn der 90er Jahre entwickelte sich im Bereich
    der hannoverschen Kinder- und Jugendarbeit ein
sehr aktives Netzwerk von Einrichtungen in kommunaler,
                                                                           existierende „Mitternachtssport“ in Hannover ist z.B. ein
                                                                           Ergebnis dieses Zusammenwirkens von konzeptioneller
                                                                           kommunaler Jugendarbeit, engagierten Jugendarbeiter/
kirchlicher und freier Trägerschaft, das einrichtungsüber-                 innen und vor Ort wirkender angewandter Wissenschaft.
greifend Angebote im Bereich Sport, Spiel und Bewegung                         Beeinflusst von der damals neu entflammten Dis-
organisierte. Getragen wurde dieses Netzwerk von Ju-                       kussion um die Bedeutung von Erlebnispädagogik in der
gendarbeitern/innen, die sich den Stellenwert, den Sport                   Jugendarbeit1 entdeckte dieses Netzwerk Ende der 90er
und Bewegung im Alltag von Kindern und Jugendlichen                        Jahre auch erlebnispädagogische Angebote für sich.
haben, für die pädagogische Praxis nutzbar machten.                            Während traditionelle erlebnispädagogische Me-
    Fachlich beeinflusst wurde dieser Kreis u.a. auch von                  thoden wie Kanufahren von der „Sportgemeinschaft“ in
den Arbeiten des Soziologen Gunter A. Pilz, der damals                     Eigenregie durchgeführt wurden, fehlten für Kletterver-
am Institut für Sportwissenschaft der Universität Han-                     anstaltungen die technischen und fachlichen Kompeten-
nover forschte und lehrte und die präventive Bedeutung                     zen. So entstand die Zusammenarbeit mit dem „Verein
von sport- und bewegungsbezogenen Angeboten in der                         für Erlebnispädagogik und Jugendsozialarbeit (VEJ e.V.),
Arbeit mit „schwierigen“ Jugendlichen herausarbeitete.                     die bis heute anhält. Der VEJ e.V. war ein in Hannover
Parallel dazu installierte die kommunale Jugendarbeit                      gegründeter Zusammenschluss von kletterbegeisterten
Mitte der 90er eine Stelle für „Sportkoordination“. Diese                  Pädagogen/innen, die erlebnispädagogische Angebote
beim Fachbereich Jugend und Familie der Landeshaupt-                       mit dem Schwerpunkt Klettern entwickelten und auf ihre
stadt Hannover angesiedelte Stelle hatte primär die För-                   Praxistauglichkeit für Jugendarbeit und Jugendhilfe über-
derung und Vernetzung von sport- und bewegungsbezo-                        prüften2.
genen Angeboten in der außerschulischen Jugendarbeit                           Eine erste gemeinsame Aktion war 1999 eine
zur Aufgabe und arbeitete eng und regelmäßig mit dem                       Abseilaktion verschiedener Jugendeinrichtungen
Netzwerk „Sportgemeinschaft hannoverscher Jugendein-                       am Kirchturm der „ev.-luth. Bethlehem-Kirchge-
richtungen“ (im Folgenden „Sportgemeinschaft“ genannt)                     meinde“ in Linden-Nord. Mit dem Engagement
zusammen. Der breit aufgestellte und bis heute noch                        der im Keller der Kirche angesiedelten Jugendar-

1   Vergl. Heckmaier, B./Michl, W.(1993): Erleben und Lernen. Einstieg in die Erlebnispädagogik und
    Fischer, D./Klawe, W./Thiessen, H.-J. (1997): (Er)leben statt Reden. Erlebnispädagogik in der offenen Jugendarbeit
2   Vergl. Pilz, G./Böhmer, H. (Hrsg) 2002: Wahrnehmen–Bewegen–Verändern. Beiträge zur Theorie und Praxis sport-, körper-
    und bewegungsbezogener sozialer Arbeit und Höser, T. (2000): Mosaikstein Erlebnispädagogik. Felsklettern mit Jugendlichen
    aus der Nordstadt von Hannover

                                                                                                                                  3
Pädagogik in den Bäumen - Ein erlebnispädagogisches Projekt von Jugendarbeit und Schule - kinderkultur-stadt-hannover.de
beit („Bethlehem-Kellertreff“) hatte die Kirchengemeinde
ihren Kirchturm in den 90er Jahren klettergerecht ausge-
baut und in ihre Jugendarbeit integriert.

Qualifikationsphase – die Jahre 1999 bis 2003

     Der VEJ e.V. entwickelte neben erlebnispädagogischen
Angeboten auch Qualifizierungsmaßnahmen, die prakti-
sche Kenntnisse im Bereich Klettern in pädagogischen
Arbeitsbereichen vermittelten. So ließen sich 1999 und
2000 die ersten Mitarbeiter/innen einiger Jugendeinrich-
tungen in der Kletterhalle der Waldorfschule am Maschsee
an Kletterwänden ausbilden, um selbständig mit Jugend-
lichen Angebote dort durchzuführen.
     Die Jugendarbeit erkannte schnell die Vorteile, die
eine technische und pädagogische Qualifikation für die
eigene Arbeit hatte, und die es ermöglichte, erlebnispäda-
gogische Angebote sozialräumlich orientiert vorzuhalten.
Kistenklettern, Felskletteraktionen im Ith, Abseilaktionen,
Seilbrückenbau im Rahmen von Schulprojekten und vieles
mehr erweiterte in den Jahren 99 bis 2003 die Angebot-
spalette einiger Jugendeinrichtungen im Bereich sport-
und bewegungsbezogener Angebote.
     In den Jahren 2000–2002 bildete der VEJ e.V. zum ers-
ten Mal eine größere Gruppe hannoverscher Jugendarbei-
ter/innen und Mitglieder von Jugendverbänden zu „Ropes
Course Trainern“ aus3. Diese Ausbildung qualifizierte zum
fachgerechten Aufbau von temporären niedrigen und ho-
hen Kletterelementen, vorwiegend in Baumbeständen.
     Qualifiziert durch diese Ausbildung führte die „Sport-
gemeinschaft“ in den Jahren 2000–2003 in den Ferien
ein- bis dreitägige Maßnahmen an temporären Hochseil-
elementen in der Eilenriede durch. Im Jahr 2002 begann
auch die erste Zusammenarbeit mit der kommunalen Fe-
riencard, die ebenfalls bis heute andauert.

3   Heute heißt diese Ausbildung „ERCA zertifizierter Konstrukteur/in
    für temporäre Seilaufbauten“.

4
Pädagogik in den Bäumen - Ein erlebnispädagogisches Projekt von Jugendarbeit und Schule - kinderkultur-stadt-hannover.de
Angespornt durch die Teilnahme von mehreren hun-                   über 500 Teilnehmer/innen aus Schulen und Jugendein-
dert Jugendlichen an den diversen Angeboten in diesen                  richtungen im September 2003 einen weiteren Erfolg.
Jahren entstand Ende 2002 die Idee, einen mobilen Seil-                     Ermuntert durch die nicht erwartete Resonanz auf die-
garten über einen längeren Zeitraum anzubieten.                        ses kurzzeitpädagogische Projekt entwickelte sich schnell
                                                                       die Idee, 2004 den Seilgarten auf ein halbes Jahr auszu-
                                                                       dehnen5. Die Zahl der Teilnehmenden stieg im Zeitraum
Die ersten temporären Seilgärten in Hannover –                         April bis Oktober auf 2.400 Kinder und Jugendliche an.
die Jahre 2003 bis 2006                                                Die Anlage war mobil konzipiert, der Aufbau dauerte acht,
                                                                       der Abbau zwei Tage. Die temporäre Anlage bestand aus
     Am 02.09.2003 startete der Seilgarten zum ersten Mal              zehn selbstentworfenen und gebauten Hochseilelemen-
als vierwöchiges Projekt des Jugendverbandes der SJD-Die               ten, die anschließend den Winter über mit dem übrigen
Falken und seiner Jugendeinrichtung „Lister Turm“ auf dem              Material wie Gurten und Helmen in einer Jugendeinrich-
                                                                       tung gelagert wurden.
                                                                            In der Planungsphase Anfang 2004 wurde schnell klar,
                                                                       dass ein derartiges Projekt von einem Träger alleine nicht zu
                                                                       bewältigen ist. So entstand das Konzept, einen Seilgarten
                                                                       als Kooperationsverbund zu organisieren. Dabei kam dem
                                                                       Projekt zugute, dass einige Initiatoren gut vernetzt in der
                                                                       „Sportgemeinschaft“ waren. Es beteiligten sich nun neben
                                                                       SJD-Die Falken zwei weitere Jugendverbände, der Jugend-
                                                                       verband der Evangelischen Freikirchen in Hannover und
                                                                       das Kreisjugendwerk der AWO, drei Jugendeinrichtungen
                                                                       der kommunalen Jugendarbeit, zwei Kirchengemeinden,
                                                                       der „Verein für Erlebnispädagogik und Jugendsozialarbeit
                                                                       VEJ e.V.“ und aus der Region die Jugendpflege Hemmin-
                                                                       gen. Die Anzahl der beteiligten Trainer/innen verdoppelte
                                                                       sich, zum ersten Mal wurden auch Honorartrainer/innen
                                                                       mit in den Pool der Mitarbeiter/innen aufgenommen. Die
Gelände des Erlebnishofs Wakitu4. Ein Teil der mit Bäumen              Hauptlast der Betreuungsstunden leisteten aber weiterhin
bewachsenen Außenfläche des WAKITUs wurde für das                      pädagogische Fachkräfte aus Jugendeinrichtungen und
Projekt zur Verfügung gestellt. Mit elf Trainern, einem be-            Jugendverbänden.
scheidenen finanziellen Zuschuss und fast 500 Stunden                       2005 gab es eine wichtige Premiere: mit der BBS 3
ehrenamtlichem Engagement feierten die Initiatoren mit                 stieß eine Schule zum Seilgarten. Die BBS 3 ist mit 2000

4   Der „Erlebnishof Wakitu“ ist eine kommunale Kinder- und Jugendeinrichtung am Rand des großen Stadtwaldes Eilenriede gelegen. Das
    „Falken-Jugendzentrum Lister Turm“ ist 50m Luftlinie vom Seilgarten entfernt.
5   Unterstützt von der kommunalen „Sportkoordination“ konnte das Projekt durch städtische Projektmittel, mit Geldern aus den Etats eini-
    ger Bezirksräte, zahlreiche Spenden und vor allen Dingen einer 5-stellingen Zuwendung aus einem Förderprogramm der „Aktion Mensch“
    auf eine breitere finanzielle Grundlage gestellt werden.

                                                                                                                                       5
Pädagogik in den Bäumen - Ein erlebnispädagogisches Projekt von Jugendarbeit und Schule - kinderkultur-stadt-hannover.de
Schülern eine große Berufsbildende Schule, die überwie-                 gejahre bis 2013
gend für Berufe am Bau qualifiziert. Neben zahlreichen                  ein. Obwohl die
Klassen, die Programme im Seilgarten durchliefen, stellte               Nachfrage        grö-
die BBS 3 auch einen Lehrer zur Verfügung, der im Seil-                 ßer ist, reichen
garten Klassen betreute und das Projekt in die Schule hi-               die Kapazität der
nein vermittelte. In den Folgejahren baute die BBS 3 ihr                Anlage und die
Engagement kontinuierlich aus, zeitweise waren bis zu                   organisatorischen
fünf Lehrer am Projekt beteiligt. Ein Lehrer sitzt in der               und      personellen
Projektleitung, dem Steuerungsgremium des Seilgartens.                  Ressourcen nicht
Jährlich durchlaufen an die 45 Klassen der BBS Trainings-               aus, um weiter zu
programme zur Förderung von Sozialkompetenz, berufs-                    wachsen. Mit der
bezogenen Schlüsselqualifikationen und Teamprozessen                    Albert-Schweitzer-
den Seilgarten.                                                         Grundschule       aus
     2005 tritt der Seilgarten Hannover auch offiziell der              Linden-Nord stieß
ERCA6 als Mitglied bei und arbeitet seitdem kontinuierlich              2012 erstmals eine
im Dachverband mit und bringt seine Praxiserfahrungen                   allgemeinbildende
in verschiedene Gremien ein. Aktuell übt ein Mitglied des               Schule zum Seil-
Trainerteams dort eine Vorstandstätigkeit aus.                          gartenverbund dazu. 2013 wurde mit der Berufsbildenden
     Bis 2007 wurde die Anlage weiterhin als temporäre                  Schule aus Burgdorf und dem Berufsbildungszentrum des
Anlage betrieben, d.h. ein Großteil der Elemente wurde zu               Stephansstiftes der Bereich der Beruflichen Bildung und
Beginn der Saison aufgebaut, im Herbst wieder abgebaut                  des Übergangssystems „Schule/Beruf“ im Seilgartenver-
und den Winter über eingelagert. Ein Teil dieser Arbeiten               bund weiter gestärkt und um den Bereich Jugendhilfe er-
wurde weiterhin ehrenamtlich geleistet. Diese Konzeption                weitert.
stieß aber mit knapp 30 Hohen Elementen zunehmend an                         Von den Gründungsmitgliedern sind weiterhin die
personelle Grenzen. 2008 wurde daher mit dem Fachbe-                    Stadt Hannover, die Jugendverbände der Falken und der
reich Umwelt vereinbart, dass ein Großteil der Sicherungs-              Evangelischen Freikirchen, der VEJ e.V. und die BBS 3 en-
und Aktionssysteme in den Bäumen belassen werden kön-                   gagiert.
nen. Damit war der Schritt zu einer stationären Anlage                       Das rasante Wachstum und zunehmende Sicherheits-
vollzogen.                                                              anforderungen im Bereich Hochseilgärten machten eine
                                                                        weitere Professionalisierung erforderlich. Die Geschäfts-
Wachstum, Professionalisierung und                                      führung wird heute hauptamtlich geleistet. Innerhalb des
Konsolidierung – die Jahre 2008 bis 2014                                Projektverbundes hat sich eine starke Arbeitsteilung etab-
                                                                        liert, die sich in die Bereiche Sicherheit, Ausbildung und
    Bis 2011 stiegen die Zahlen der Teilnehmenden kon-                  Qualifizierung, Anlagenbetreuung, Konzeptentwicklung
tinuierlich auf durchschnittlich 11.000 Teilnehmer/innen                und laufende Geschäftsführung gliedert. Die Hauptver-
an. Auf diesem Niveau pendelten sich die Zahlen der Fol-                antwortung liegt bei den vier Trägern, die das Steuerungs-

6   European Ropes Courses Association e.V., Die ERCA ist der europäische Dachverband der Seilgartenbranche. Der Verein repräsentiert euro-
    päische Trainer, Seilgartenbauer und Organisationen, die temporäre, mobile und stationäre Seilgärten betreiben.

6
Pädagogik in den Bäumen - Ein erlebnispädagogisches Projekt von Jugendarbeit und Schule - kinderkultur-stadt-hannover.de
gremium „Projekt-               entscheidende Qualität in der Betreuung von Gruppen
                                        leitung“ bilden.                ausmachen.
                                             Im Jahr 2008                   Der Seilgarten Hannover ist im Laufe seiner Entwicklung
                                        wird der Seilgarten             seinen Grundideen aus den ersten Jahren bis heute treu ge-
                                        im Haushalt der                 blieben und stützt seine Arbeit auf folgende Säulen:
                                        Stadt aufgenom-
                                        men, so dass seit-              • Kooperation: Als Verbund aus acht Trägern bündelt
                                        dem eine verläss-                 der Seilgarten Kompetenzen aus sehr unterschiedlichen
                                        lichere Kalkulation               pädagogischen Handlungsfeldern wie Jugendarbeit,
                                        möglich wird. Die                 Jugendverbandsarbeit, Jugendhilfe, berufliche Bildung,
                                        Mischfinanzierung                 Schulpädagogik und Erwachsenenbildung. Vorteile, die
                                        aus kommunaler                    einzelne Träger auch aufgrund ihrer unterschiedlichen
                                        Förderung        (ca.             Organisationsstruktur, Trägerkultur und unterschiedli-
                                        25%) und Eigen-                   chen Fachlichkeit haben, können in vielfältiger Weise
                                        mitteln des Seil-                 produktiv synergetisch genutzt werden. Die Partner
                                        gartens (ca. 75%)                 kooperieren auf Augenhöhe und einvernehmlich, die
                                        garantiert     somit              Dominanz eines einzelnen Trägers besteht nicht.
auch weiterhin Nutzungstarife, die für Kinder und Jugend-
liche aus sozialen Brennpunkten und sozial benachteilig-                • Pädagogische Fachlichkeit: Die strukturelle und perso-
ten Familien bezahlbar sind und der kommunalen Leitidee                   nelle Verankerung in den Bereichen Jugendhilfe, Schule
„Hannover als soziale Stadt“ Zugang zu Bildung für alle zu                und Jugendarbeit garantiert hohe pädagogische Quali-
ermöglichen, gerecht wird.                                                tät durch Fachkräfte, die eben nicht nur sicherungstech-
     Der Pool der Trainer/innen, die auf der Anlage arbei-                nische, sondern auch praxiserprobte fachliche Kompe-
ten, besteht mittlerweile aus 60 Mitarbeiter/innen. Die Ko-               tenzen einbringen. Unser Konzept ermöglicht einen
operationsträger stellen nur noch ein Fünftel der Stunden                 hohen Betreuungsschlüssel, der Voraussetzung für eine
zur Verfügung, die für die Betreuung der Gruppen aufge-                   pädagogische Arbeit ist. Das gilt auch für Kinder und
wendet werden. Der größere Teil wird mittlerweile von                     Jugendliche, die Handicaps haben oder Zeit brauchen,
nebenberuflich tätigen Honorartrainern/innen beigesteu-                   um sich mit ihren körperlichen und mentalen Grenzen
ert, von denen die meisten eine fachliche pädagogische                    im Bereich Höhe auseinanderzusetzen.
Ausbildung nachweisen können.
     Der Anteil der Trainer/innen, die bei den aktuell 8 Ko-            • Top Rope7 statt Selbstsicherung: Wir haben uns be-
operationsträgern angestellt sind und punktuell im Seil-                  wusst für einen Tope Rope Parcours entschieden, der
garten mitarbeiten, ist mit 26 Personen aber weiterhin                    zwar personalintensiver ist, dafür aber eine wesentlich
hoch und mitverantwortlich dafür, dass praxiserprobte,                    intensivere Betreuung und Begleitung von Gruppen er-
pädagogische Fachkompetenz und Lebensweltkenntnis-                        möglicht. Verbunden durch das Seil entsteht auch auf
se über die vielfältigen jugendlichen Nutzergruppen eine                  der symbolischen Ebene eine kurzfristige Verbundenheit

7   Top Rope ist eine Sicherungsmethode, bei der das Sicherungsseil immer über dem Teilnehmenden mitläuft und er jederzeit mit Hilfe des
    Sicherungsseiles abgelassen werden kann.

                                                                                                                                           7
Pädagogik in den Bäumen - Ein erlebnispädagogisches Projekt von Jugendarbeit und Schule - kinderkultur-stadt-hannover.de
zwischen Trainer/in und kletternden Teilnehmer/in. So             • Soziales Kinder- und Jugendprojekt: Laut offizieller
     wird der Rahmen für offene Kommunikationsprozesse                   Statistik gelten 25%–30% Prozent der Kinder und Ju-
     und gemeinsames Erleben und Lernen geschaffen. Die-                 gendlichen im Stadtgebiet als arm. Ein Leitbild kom-
     ses Kleingruppenprinzip, sechs Teilnehmende werden                  munaler Politik ist es daher, primär auch „Kinder und
     von einem Trainer/in begleitet, bilden eine entschei-               Jugendliche, deren Teilhabechancen aus materiellen und
     dende Grundlage für diesen Prozess.                                 anderen Gründen gefährdet sind“ zu erreichen8. Dank
                                                                         der Konzeption als gemeinnütziges Projekt ist es uns
• Abenteuer im lokalen Sozialraum: Schon bei der                         auch heute noch möglich, sozial benachteiligten Kin-
  Gründungsidee war ein handlungsleitendes Motiv, den                    dern und Jugendlichen aus dem Stadtgebiet bezahlba-
  Seilgarten als sozialräumliches Angebot zu verankern,                  re Seilgartenprogramme anzubieten.

                                                                       • Gemeinnützigkeit statt Gewinnorientierung: Der
                                                                         Seilgarten ist ein Projekt, das fast ausschließlich von Kin-
                                                                         dern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen genutzt
                                                                         wird, die mit Schulen, Jugendgruppen oder Sportverei-
                                                                         nen Programme buchen. Die Mischfinanzierung durch
                                                                         institutionelle Förderung einerseits und Einnahmen
                                                                         durch Nutzungsentgelte andererseits garantiert mode-
                                                                         rate Teilnahmebeiträge für Schulklassen und Jugend-
                                                                         gruppen und vermeidet so unnötige Zugangsbarrieren
                                                                         zu diesem abenteuerpädagogischen Bildungsprojekt.

                                                                       • Der Seilgarten als Bildungsprojekt: Die Typen der
                                                                         Programmangebote des Seilgartens Hannover lassen
                                                                         sich in zwei Gruppen einteilen: Klettern im Rahmen von
                                                                         bewegungsbezogenen Freizeitaktivitäten, die haupt-
                                                                         sächlich von der Jugendarbeit nachgefragt werden,
     um einen Bezug der Nutzer zu ihrer lokalen Alltagswelt              und Trainingsprogramme zur Förderung von sozialer
     in der Stadt herzustellen. Auch unter finanziellen Aspek-           und persönlicher Kompetenz, deren Hauptnutzergrup-
     ten sollten lange Anreisewege für die Gruppen wegfal-               pen Schulen, die Jugendhilfe, der Sport und Gruppen
     len. Mit seiner Lage inmitten der Stadt, am Rande der               aus dem Gesundheitsbereich sind. Hier stehen Lerner-
     Eilenriede, zwei U-Bahnhaltestellen vom Hauptbahnhof                fahrungen im Vordergrund, die in den traditionellen
     entfernt, wird der abenteuerliche Aktionsraum in die                Bildungseinrichtungen mit ihrem Schwerpunkt auf for-
     Stadt verlegt und vermeidet damit einen Exklusivitäts-              maler Bildung so nicht herstellbar sind. Der Seilgarten
     charakter, der sonst manche aufwändige erlebnispäda-                Hannover begreift sich daher auch als Bestandteil der
     gogische Settings auszeichnet.                                      lokalen Bildungslandschaft.

8   Landeshauptstadt Hannover: Der hannoversche Weg. Lokaler Beitrag für Perspektiven von Kindern in Armut unter:
    http://www.hannover.de/Leben-in-der-Region-Hannover/Soziales/Kinder-Jugendliche/Kinderarmut-in-Hannover

8
Erlebnispädagogik – konzeptionelle Grundlage des Seilgartens Hannover

I n den letzten 30 Jahren hat sich die Erlebnispädagogik
  im Arbeitsfeld der Jugendarbeit und Jugendhilfe zu ei-
nem wichtigen Bestandteil entwickelt. Im Bereich der
                                                                rum Bildungsinstitutionen der formalen Bildung (Schu-
                                                                le, Hochschule) bisher wenig von der Erlebnispädagogik
                                                                Gebrauch machen. Im Gegensatz zu der formalisierten
Schule gibt es jedoch gegenüber der Erlebnispädagogik           Bildung, die durch Lehrpläne, Prüfungen und Zertifizie-
diverse Vorbehalte, die sich erst in den letzten Jahren lang-   rungen gekennzeichnet ist, wird das informelle aber auch
sam auflösen. Ein Blick auf die Entstehung der Erlebnispä-      das non-formale Lernen durch die Betreffenden selbst ge-
dagogik kann vielleicht helfen die Nähe zur Schule wieder       steuert. Eigene Interessen, Begabungen, Motivation und
neu zu entdecken.                                               auch die emotionale Beteiligung der Lernenden sind dabei
     Die Erlebnispädagogik ist heute ein Teilgebiet der Pä-     wichtige Faktoren. So findet dieser Teil des Lernens bisher
dagogik. Ihr Ziel es ist, mit herausfordernden Handlungs-       zum größten Teil außerhalb der klassischen Bildungsinsti-
feldern Impulse für das soziale Lernen und die Persönlich-      tutionen statt. Lernen von Gleichaltrigen, interessengelei-
keitsentwicklung zu geben. Die klassischen Handlungsfel-        tetes, beobachtendes (soziales) Lernen wird hierbei bei-
der waren schon lange Natursportarten wie Segeln, Klet-         läufig, nebenbei, unbeabsichtigt und auch gelegentlich
tern, Kanu und Kajak, Wanderungen und Bergtouren, die           ungeplant initiiert.
in den letzten Jahren durch Methoden der Spiel-, Theater-
und Kulturpädagogik ergänzt wurden. Die Erlebnispäda-           Ein Rückblick
gogik ist dabei eher der informellen und der non-formalen
Bildung zugeordnet.                                                Wenn wir uns heute die Geschichte der Erlebnispä-
     Das erklärt                                                  dagogik anschauen, entdecken wir unterschiedliche
auch,                                                                 Wurzeln, die sich zeitlich versetzt international
wa-                                                                      entwickelt haben. Eine der wichtigsten Wur-
                                                                            zeln ist sicherlich die Reformpädagogik, die
                                                                               sich Ende des 19. und Anfang des 20.
                                                                                 Jahrhunderts an Bedeutung gewann.
                                                                                   Die reformpädagogische Bewegung
                                                                                     hatte zum Ziel, das autoritäre Bil-
                                                                                      dungssystem (Zucht, Ordnung
                                                                                       und Disziplin) durch mehr hand-
                                                                                        lungsorientierten Unterricht und
                                                                                        einer stärkeren Beteiligung der
                                                                                        Schüler und Schülerinnen zu ver-
                                                                                       ändern. Zu diesem Zweck kam
                                                                                       es in dieser Phase zu unterschied-
                                                                                     lichsten      Schulneugründungen,
                                                                                   aber auch Reformen im Bildungs-

                                                                                                                         9
system. Einige Beispiele sind die Landerziehungsheimbewe-     • Mangel an Initiative und Spontanität
gung, die eine Veränderung des Lernumfeldes propagierte       • Mangel an Sorgsamkeit
und diverse Schulgründungen außerhalb der Städte nach
sich zog und die von Georg Kerschensteiner gegründete         sollte mit seinem erlebnistherapeutischen Konzept, das
Arbeitsschule zur beruflichen Bildung der Bevölkerung (Vor-   auf
läuferin der heutigen Berufs- und Fachschulen).
    Als einer der Gründungsväter der deutschen                • körperlichem Training (u.a. Leichtathletik, Segeln, Kanu,
Erlebnispäda­gogik wird auch immer wieder Kurt Hahn              Wandern),

                                                                                                   • dem Dienst am
                                                                                                       Nächsten (Ret-
                                                                                                          tungsübun-
                                                                                                            gen, Betei-
                                                                                                                ligung
                                                                                                                    an

                                                                                        Feuer-
                                                                                       wehr- und
                                                                                      Rettungs-
                                                                                      dienst),
                                                                                       • dem Projekt (Ein hohes er-
                                                                                       reichbares Ziel, bei selbststän-
                                                                                       diger Planung im technischen
                                                                                       oder künstlerischen Bereich),
                                                                                    • der Expedition (mehrtägige Tour
                                                                                  mit lebenspraktischen und sozialen Er-
                                                                                  fahrungen)

zitiert, der von 1920 bis 1933 das Landerziehungsheim         baute, etwas entgegen gesetzt werden.
Schloss Salem am Bodensee leitete. Durch seine kritische
Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus drohte ihm              Auch die in England entstandene Pfadfinderbewegung,
die Verfolgung, woraufhin er nach England immigrierte         die 1907 von Baden Powell gegründet wurde, beeinfluss-
und dort die Internatsschule Gordonstoun aufbaute. Die        te die Erlebnispädagogik maßgeblich. Die heute weltweit
von ihm diagnostizierten Erscheinungen wie                    verbreitete Bewegung hat mit ihren Grundprinzipien, Kin-
                                                              dern und Jugendlichen Verantwortung zu übertragen und
• Mangel an menschlicher Anteilnahme                          durch das eigene Handeln zu lernen, viel zur Entwicklung
• Verfall körperlicher Tauglichkeit                           der Erlebnispädagogik beigetragen.

10
Einen weiteren Einfluss auf die heutige Erlebnispäda-             gogik und der Jugendarbeit hatten mit der Machtergrei-
gogik ist der Kunsterziehungsbewegung und der deutschen                fung der Nationalsozialisten 1933 ein plötzliches Ende.
Jugendbewegung zuzuschreiben. Die Kunsterziehungs-                     Die Jugendverbände mussten sich entweder auflösen, mit
bewegung wurde maßgeblich durch Alfred Lichtwark                       der Hitler-Jugend (HJ) fusionieren oder wurden zerschla-
geprägt und hatte zum Ziel, Kindern mehr künstlerische                 gen. Die Selbstbestimmung der Jugendverbände endete
Ausdrucksformen zu ermöglichen und ihnen Gestaltungs-                  so abrupt und musste sich der völkisch-nationalen und
stile näher zu bringen.                                                faschistischen Grundstimmung unterwerfen. Nur wenige
     Die Jugendbewegung und das Treffen 1913 auf dem                   Verbände konnten ihre Strukturen in der Illegalität erhal-
Hohen Meißner schufen
einen eigenständigen Ju-
gendbegriff. Mit der For-
mel: „Die Freideutsche
Jugend will aus eigener
Bestimmung vor eigener
Verantwortung mit inne-
rer Wahrhaftigkeit ihr Le-
ben gestalten. Für diese in-
nere Freiheit tritt sie unter
allen Umständen
geschlossen

ein.“9 trat sie in die Öf-
fentlichkeit und bildete
den Impuls zur Gründung
vieler Jugendverbände. Jedoch darf dabei nicht außer Acht              ten. Dabei bedienten sich die Nationalsozialisten vieler
gelassen werden, dass sich in der deutschen Jugendbewe-                Prinzipien der Jugendverbände, um Jugend an sich zu
gung auch nationalistische und völkische weltanschauliche              binden und im Zuge der Militarisierung auf einen Krieg
Versatzstücke artikulierten und die nationale Begeisterung             vorzubereiten, der fast 70 Millionen Menschen das Leben
viele junge Menschen in die Schützengräben des ersten                  kostete.
Weltkrieges führte.                                                        Dies war sicherlich auch einer der Gründe, weshalb
     Die verschiedenen neuen Ansätze der Reformpäda-                   die Erlebnispädagogik nach dem Krieg viele Jahre brauch-

9   Ahlborn, K. 1913: Das Meißnerfest der Freideutschen Jugend. In: Kindt, W. (Hrsg.) 1963, Grundschriften der deutschen Jugendbewegung

                                                                                                                                     11
te, um wieder als positiver
          Bestandteil der Pädagogik wahrgenommen zu              ist entscheidend
werden. Die Uniformierung, das Lagerleben, gemeinsame            für die Motivation und dem
Rituale und das Eigenleben der Jugendverbände waren              damit verbundenen Lernerfolg.)
vielen Pädagogen und Pädagoginnen, in der gesellschafts-       • Ganzheitlichkeit (Alle Ebenen der Persönlich-
kritischen und stark intellektuell geprägten Zeit der „68er“     keit des/der Lernenden sollen angesprochen werden,
suspekt.                                                         ein Lernen mit Kopf, Herz und Hand.)
     Erst in den siebziger und achtziger Jahren vollzog sich   • Ein pädagogisches Konzept (Der Übergang vom Er-
ein langsamer Wandel. Insbesondere in der Jugendarbeit           lebnis zur Erfahrung soll initiiert, gestaltet, unterstützt
und der Sozialpädagogik wurde das handlungsorientierte           und moderiert werden.)
Lernen zu einer der neuen Säulen in der Sozialarbeit und
Pädagogik. Auch wenn bis heute die Erlebnispädagogik                Dieses pädagogische Gesamtkonzept ist heute eines
nicht einheitlich definiert werden kann, haben sich doch       der wichtigsten Merkmale der modernen Erlebnispäda-
Grundprinzipien herausgebildet, die bis heute Bestand ha-      gogik. Das Erlebnis über unterschiedlichste Formen der
ben. Merkmale moderner Erlebnispädagogik sind:                 Reflexion in den Kontext der persönlichen Erfahrungen
                                                               zu transferieren, um so Lernprozesse zu initiieren, ist und
• Handlungs- und Bewegungsorientierung (Lernen                 bleibt Ziel der Erlebnispädagogik.
  durch eigenes Handeln, Begreifen durch Anfassen und               Diese Strukturprinzipien machen aber auch deutlich,
  sich – auch im metaphorischen Sinn – berühren lassen,        warum die Erlebnispädagogik im Schulalltag keine oder
  Selbstwahrnehmung, körperliches Erleben)                     nur geringe Verbreitung findet. Sie sind deutliche Hinwei-
• Erlebnischarakter (nicht alltägliche Erlebnisse, die real    se für informelle und non-formale Bildungsarrangements,
  und ernsthaft sind)                                          die in formalisierten Systemen wie Schule, aber auch in
• Gruppenbezogen (stark auf Gruppe, gemeinsames                der Lehramtsausbildung wenig Raum haben. Die Zukunft
  und individuelles Lernen und auf kooperatives Handeln        wird zeigen, ob solche Arrangements in dem nun länger
  ausgerichtet)                                                werdenden Schulalltag ihren Platz finden können oder ob
• Freiwilligkeit (Jeder hat die Wahl, die Art und Stärke der   ein wichtiger Teil unserer Bildungslandschaft verschwin-
  Herausforderung für sich zu bestimmen, Freiwilligkeit        den wird.

12
Wie funktioniert eigentlich Erlebnispädagogik?

D     ass Erlebnispädagogik etwas mit Erleben zu tun hat,
      ist wohl selbstverständlich. Aber was macht den Be-
griff Erleben eigentlich aus? Wenn wir an Erlebnisse den-
                                                                   Einige erlebnispädagogische Erklärungsmodelle ge-
                                                              hen davon aus, dass sich der Mensch in seinem Alltag ger-
                                                              ne in einer sogenannten Komfortzone bewegt. Hier sind
ken, wird schnell deutlich, dass sie in der Regel eine hohe   uns die Regeln bekannt, wir wissen, mit welchem Verhal-
emotionale Qualität haben. Erlebnisse sind häufig mit         ten wir welche Reaktion erzeugen können. Soziale Gesetz-
Emotionen behaftet, die es uns erleichtern diese Momente      mäßigkeiten ermöglichen uns einen überschaubaren und
auch nachträglich ins Bewusstsein rufen zu können.            halbwegs berechenbaren Tagesablauf. Innerhalb einer er-
     Wichtige und starke Emotionen sind Angst, Hoff-          lebnispädagogischen Veranstaltung wird jedoch die soge-
nung, Freude, Stolz, Trauer, Glück, Dankbarkeit. So blei-     nannte Komfortzone angekratzt. Plötzlich sehen sich die
ben angstbesetzte Situationen, die wir gemeistert haben,      Teilnehmenden Aufgaben gegenüber, für die sie keine oder
als Momente von erlebter Handlungskompetenz lange im          nicht ausreichende Handlungsmuster haben. Neue Anfor-
Gedächtnis. Es können aber auch tiefe sinnliche Wahrneh-      derung an Gruppen außerhalb ihres bewährten Hand-
mungen sein, die Freude in uns auslösen, wie ein Blick in     lungsmusters können entstehen und nur im Aushandeln
die Ferne, ein besonders geschmackvolles Essen, ein be-       neuer Regeln, Strategien und Muster miteinander gemeis-
sonderes Konzert, der intensiv gespürte Körper. Aus die-      tert werden. Hier kommen nun die Emotionen ins Spiel,
sem Grund stellen Situationen, die mit hoher Wahrschein-
lichkeit Emotionen auslösen, einen wichtigen Schlüssel zur
Erlebnispädagogik dar.

                                                      Reflexion
    •   Persönlich                                                                    •   Fähigkeiten
    •   Motivierend                          •   Rückblick                            •   Wissen
    •   Emotional                            •   Bezug                                •   Meinung
    •   Ungewohnt                            •   Neudefinition                        •   Verhalten
                                             •   Probehandeln

              Erlebnis                                                                       Erfahrung

                                                                                                                    13
die diesen Prozess                                                                                             4. Direktives
häufig begleiten.                                                                                              Handlungs-
Die innere Bewe-                                                                                               lernen
gung, die durch                                                                                                (Frontloading)
das Ankratzen der                                                                                              Mit zielgerich-
Komfortzone ent-                                                                                               teten Fragen
steht, sucht nach                                                                                              in Bezug auf
einem Ausgleich,                                                                                               gemachte Er-
der als kognitiver                                                                                             fahrungen wird
Akt einen bewuss-                                                                                              auf die spezi-
ten     Lernprozess                                                                                            ellen Heraus-
nach sich ziehen                                                                                               forderungen
kann. So ist der                                                                                               der kommen-
Schritt vom Erleb-                                                                                             den Aktivität
nis zur Erfahrung                                                                                              hingewiesen
eingeleitet. Dabei                                                                                             und mögliche
spielt die Reflexion eine besondere Rolle.                         Handlungsmuster entworfen.

     In der Erlebnispädagogik werden dabei unterschiedli-          5. Metaphorisches Handlungslernen
che Reflexionsmodelle und Programmtypen genutzt, die                  Hierbei weist die Aktivität eine Analogie zum Alltag auf,
in ihrer Form von Simon Priest10, aufbauend auf die Arbei-            sodass Erfahrungen aus der Aktivität in den Kontext der
ten von S. Bacon beschrieben wurden.                                  Alltagserfahrungen gebracht werden können.

1. Das reine Handlungslernen                                       6. Indirekt-metaphorisches Handlungslernen
   Es findet keine Reflexion statt. Die Erfahrung, die aus            Es wird in diesem Verfahren u.a. mit Paradoxien gear-
   der Aktivität gewonnen wird, ist eher zufällig.                    beitet. Jedoch ist dies eher eine therapeutisch orientier-
                                                                      te Arbeitsweise, die in der Pädagogik selten angewandt
2. Kommentiertes Handlungslernen                                      wird.
   Lernziele und Strategien der Umsetzung werden von
   der Anleitung beobachtet und kommentiert.                           Diese Modelle können natürlich auch parallel oder
                                                                   ergänzend genutzt werden, um unterschiedliche Lern-
3. Handlungslernen durch Reflexion                                 muster anzusprechen. Zur besseren Unterscheidung wird
   Im Anschluss an die Aktion wird durch Fragen der anlei-         anhand von Programmtypen die Zielrichtung erlebnispä-
   tenden Person eine Reflexion angeregt.                          dagogischer Maßnahmen unterschieden.

10   Vergl. Heckmair/Wagner, Lernmodelle und Programmtypen – Neues zur erlebnispädagogischen Methodik.
     In: Erleben und Lernen, 3, S.4–7, 1995

14
Ziele                          Beispiele                     Merkmale

Freizeit   Erholung, Ausruhen, per-       Jugendfreizeiten, Reisen,     Aktivitäten auch für
           sönliches Wohlbefinden,        Offene Tür im Jugendzen-      Großgruppen, geringer
           Auftanken, neue Fertigkeiten   trum, Ferienpassaktionen,     Betreuungsschlüssel,
           erlernen, Spaß, Möglichkei-    Vereins- und Sportaktivi-     wenig (keine) Reflexion,
           ten für Freizeitgestaltung,    täten, Theaterspiel, Musik,   hohe Aktivitätszeit,
           Kennenlernen                   Bau- und Beteiligungspro-     niederschwellig, freiwillig
                                          jekte

Bildung    Historische, politische und    Umweltrallye, historische     Übersichtliche Gruppen-
           gesellschaftliche Zusam-       Stadtspiele, Gewässerun-      größe, klare Bildungsziele,
           menhänge verstehen und         tersuchungen, Gedenkstät-     Organisations-/Institutions-
           neue Kenntnisse darüber zu     tenarbeit, Jugendaustausch,   bindung
           erlangen, andere Menschen      interkulturelle Arbeit,
           kennenlernen, sich Wissen      Bildungsurlaub
           aneignen

Training   Funktionales Verhalten zu      Verhaltensbezogene Jun-       Kleine Gruppe (max. 20),
           erproben und zu entwickeln,    gen- und Mädchenprojekte,     hoher Betreuungsschlüssel
           soziale Beziehungen zu an-     Selbstbehauptungstraining,    (1:5/10), Zeit für Planung
           deren entwickeln, Förderung    soziale Gruppenarbeit,        und Nachbereitung,
           der Selbst- und Fremdwahr-     Bewegungsförderung,           zeitintensiv (Tage/Wochen),
           nehmung und persönliche        Teamtraining, Personalent-    intensive Reflexion, häufig
           Kompetenzen und Fähigkei-      wicklung                      projektbezogen
           ten

Therapie   Änderung von negativem,        Suchttherapie, Verhaltens-    Kleine Gruppe (max. 10),
           dysfunktionalem Verhalten      therapie, Sozialtherapie      hoher Betreuungsschlüssel
           und persönlichen Mustern,      (Soziale Trainingskurse,      (2:10), Zeit für Planung und
           Widerstände und Blockaden      Anti-Gewalt-Training, Anti-   Nachbereitung, zeitintensiv
           bearbeiten                     Aggressions-Training)         (Monate/Jahre), intensive
                                                                        Reflexion

                                                                                                       15
16
Der Seilgarten als Handlungsfeld

H    äufig wird die Frage gestellt, wann denn der erste
     Seilgarten gebaut wurde. Diese Frage lässt sich eben-
so wie die Entstehung der Erlebnispädagogik nur beant-
                                                             war integraler Bestandteil der Seefahrerausbildung. Der
                                                             französische Marineoffizier George Hébert entwickelte
                                                             so Trainingsmethoden mit Seilgartenelementen, die der
worten, wenn wir uns auch hier unterschiedliche Entwick-     „Charakterbildung“ dienten. Aber erst Mitte der 1960er
lungslinien anschauen.                                       Jahre wurden Seilgärten als Handlungsfeld entwickelt und
    Klettern und Balancieren sind schon immer Grund-         in pädagogischen Trainings eingesetzt. Anfang der 1960er
formen der menschlichen Bewegung gewesen. Diese For-         Jahre wurde der erste moderne Seilgarten in der von Kurt
men der Bewegung fanden in der Pädagogik durch den           Hahn mit gegründeten Outward Bound Schule in Aberdo-
deutschen Pädagogen Johann Christoph Friedrich Guts-         vey erbaut. In der Folge entwickelte sich weltweit, durch
Muths erstmals Berücksichtigung, als er 1793 das Lehr-       viele Neugründungen von erlebnispädagogisch ausge-
buch „Gymnastik für die Jugend“ herausbrachte. Der von       richteten Bildungsstätten, das Prinzip der Seilgärten (Ro-
ihm entworfene Turnplatz um 1804 sollte zum Wagnis           pes Courses, Challenge Courses).
und der „Leibesertüchtigung“ ermuntern und wurde in               Heute sind unter dem Begriff Seilgarten eine Vielzahl
den Folgejahren von Friedrich Ludwig Jahn (der Turnvater)    unterschiedlicher Anlagentypen zusammengefasst, die
weiterentwickelt. Der Turnplatz hatte schon viele Ähnlich-            ein breites Anwendungsfeld auch außerhalb der
keiten mit den heutigen Seilgärten und erforderte Kletter-            Pädagogik haben. Viele Seilgartenanlagen (Ad-
techniken, Kraft, Balance und auch Mut.                               venture Parks, Waldseilgärten, Indooranlagen)
    Einen weiteren Zugang zu den                                      sind heute eher touristisch angelegte Anlagen, die
Seilgärten stellte die Seefahrt
dar. Der Umgang mit dem Seil,                                                Turnplatz von 1804 nach
das Klettern in Netzen, Mas-                                                 Johann Christoph Friedrich GutsMuths
ten und Seilen

                                                                                                                     17
gewinnorientiert arbeiten und Bewegungs- und Sportar-
rangements bieten, jedoch keinen pädagogischen Zielen
folgen. Die pädagogischen Anlagen, die in der Regel von
Jugendeinrichtungen, Bildungsstätten oder Schulen be-
trieben werden, charakterisieren sich dagegen durch fol-
gende Punkte:

• Pädagogische Zielsetzungen
  stehen im Vordergrund
  Welche Zielsetzungen mit einem Seilgartenbesuch be-
  absichtigt sind, werden in Vorgesprächen abgeklärt.
  Allgemeine Intentionen wie Gewaltprävention, Kom-
  munikation oder Selbsterfahrung können zwar auch
  Ziele sein, jedoch erleichtert eine differenzierte Abspra-
  che die Arbeit für die begleitenden Fachkräfte. Reale
  Anlässe geben für die praktische Arbeit bessere Ansatz-
  punkte. Klare und zuvor formulierte Ziele sind besser
  für Motivation und die Transparenz eines Trainings.

• Sie arbeiten mit pädagogisch
  qualifiziertem Personal
  Das Personal in einem Seilgarten sollte in mehreren
  Kompetenzbereichen gut qualifiziert sein. Im Bereich
  der technischen Kompetenzen geht es um die siche-
  re Durchführung der Seilgartenaktivitäten. Neben den
  Sicherungs- und Rettungstechniken muss eine Sensibi-
  lität für mögliche Gefahren vorhanden sein, um mögli-
  che Risiken zu verhindern oder zu minimieren.
  Im Bereich der Sozialkompetenz sind Einfühlungsver-
  mögen, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit,
  aber auch Konfliktfähigkeit ein wichtiger Baustein, um
  in Anleitungssituationen pädagogisch angemessen
  handeln zu können.
  Nicht zuletzt ist Methodenkompetenz erforderlich, um
  Arbeitstechniken zielführend einzusetzen, damit ein
  möglichst großer Lerntransfer ermöglicht wird und
  Teilnehmende mit ihren individuellen Anforderungen
  entsprechend gefördert werden können.

18
• Die Angebote sind auf Gruppen und                                     • Die Angebote beinhalten pädagogisch
  weniger auf Einzelpersonen ausgerichtet                                 begleitete Reflexionsphasen
  In pädagogischen Seilgärten liegt der Schwerpunkt auf                   Erleben bedeutet nicht zugleich Lernen. Das, was wir
  der Gruppenarbeit. Gemeinsam etwas zu erreichen, ei-                    erleben (körperlich, emotional) wird erst im Kontext der
  nen gemeinsamen respektvollen Umgang miteinander                        eigenen Interpretation, der Rückschau auf das Erlebte
  zu pflegen, sich zu unterstützen und sich weiterzuent-                  (Reflexion) und im Austausch mit anderen zu einem
  wickeln ist in der Regel die Hauptausrichtung. Jedoch                   bewussten Bestandteil unserer Erfahrung. Aus diesem
  können auch individuelle Kompetenzen, wie der Um-                       Grund ist es nötig, solche Reflexionsphasen professio-
  gang mit Angst, Ausdauer, Motivation und Selbstbe-                      nell anzuleiten und zum Bestandteil des Erfahrungsler-
  wusstsein Entwicklungsziele sein.                                       nens zu machen.

• Der Teilnehmer-Betreuer/innen-Schlüssel ist höher                     • Das Hochseilgartenangebot wird durch
  Menschen sind unterschiedlich. Neben körperlichen                       Niedrigseilgartenaktivitäten und kooperative
  Merkmalen gibt es eine Vielzahl von Verhaltenswei-                      Abenteuerspiele ergänzt und erweitert
  sen, Einstellungen, Wertesystemen und Prägungen, die                    Die Höhe spricht nicht alle an. So erlebt man häu-
                           Einfluss auf die Arbeit mit Grup-              fig in Seilgärten, dass ein Teil der Gruppe am Boden
                           pen haben. Eine Pädagogik,                     bleibt und die anderen nur passiv beobachtet. Damit
                            die sich gegen eine Normie-                   bleiben diese Teilnehmenden von möglichen Lernpro-
                            rung oder Anpassung wendet,                   zessen ausgeschlossen. An dieser Stelle können jedoch
                             muss differenzieren können.                  die Teilnehmenden am Boden eingebunden werden,
                             Auf individuelle Schwächen,                  indem sie unter Anleitung Sicherungsaufgaben oder
                             aber auch Stärken soll be-                   Hilfestellungen für andere leisten. Sobald jedoch Aktivi-
                              wusst eingegangen werden,                   täten am Boden dazu kommen, haben alle Teilnehmer
                              um individuellen Lebens-                    die Gelegenheit sich zu beteiligen. Die Chance steigt
                               lagen gerecht zu werden.                   erheblich, statt Ausgrenzung ein gemeinsames Erleben
                                Dazu muss im Training                     und Lernen zu fördern.
                                Raum geschaffen werden
                                 und eine Differenzierung                    Erst durch Berücksichtigung dieser Grundsätze wird
                                 der Anforderungen statt-               ein Seilgarten zu einem pädagogischen Handlungsfeld.
                                  finden. Auf diese Weise               Die Wirkungen von Seilgärten, die wissenschaftlich unter-
                                  entsteht in der Gruppe                sucht wurden, zeichnen deshalb auch ein differenziertes
                                   trotz unterschiedlicher              Bild. Hohe Wirkungen lassen sich in der Regel in Trainings
                                    Fähigkeiten ein größt-              für die Persönlichkeitsentwicklung bei Jugendlichen und
                                    möglicher Raum für Mo-              jungen Erwachsenen sowie in therapeutischen Program-
              tivation. Mehr Trainer/innen bedeuten mehr                men11 erkennen, als Personalentwicklungsmaßnahme
  Möglichkeit für Differenzierung.                                      sind Hochseilgartentrainings eher umstritten.

11   Vgl. Dr. K. Mehl/M. Wolf, Erfahrungsorientiertes Lernen in der Psychotherapie, Bodnegg 2007

                                                                                                                                19
20
Risiko und Sicherheit

J eder Mensch, der beim Klettern hoch hinaus will,
  wünscht sich, auch sicher hinunterzukommen. Um dies
zu gewährleisten, hat der Seilgarten Hannover ein diffe-
renziertes Konzept für das Sicherheitsmanagement entwi-
ckelt. Es ist in zwei Bereiche gegliedert.

Anlagenbau und -sicherheit

    Der Seilgarten in Hannover ist von qualifizierten Seil-
gartenkonstrukteuren und -konstrukteurinnen, die aus
der Jugendarbeit kommen, selbst konzipiert und errichtet
worden. Durch das hohe Maß an Professionalität hat die-
se Anlage ein bundesweit vorbildliches Sicherheitsniveau
entwickelt. Ein multiprofessionelles Bauteam, unterstützt
durch Fachpraxislehrer und -lehrerinnen der gewerblichen
Berufsschulen richtet die Anlage jedes Jahr so ein, dass alle
Komponenten geprüft werden und erst nach ausgiebiger
Erprobung und Kontrolle in Betrieb gehen können.
    Die Anlage ist so konzipiert, dass in den Wintermona-
ten der Betrieb ruht, und den Bäumen so eine Erholungs-
pause gewährt wird. So kann auch dem Umweltschutz
Rechnung getragen und die Belastung für Baum und Um-
welt reduziert werden.
    Die Anlage entspricht der europaweit gültigen Seil-
gartennorm EN 15567 und wird jedes Jahr durch eine
ERCA12 zertifizierte Prüfstelle abgenommen. Die externe
Prüfung und Zertifizierung stellt sicher, dass der Seilgarten
die Normenanforderungen erfüllt. Dazu gehören, neben
einer jährlichen Baumkontrolle, die Anlagenprüfung und
die Prüfung der persönlichen Schutzausrüstung (Kletter-
gurte, Helme, usw.).

12   Die „European Ropes Course Association“ (ERCA) ist der europa-
     weite Zusammenschluss von Seilgartenbauern und Betreibern.

                                                                21
Bei dem jährlichen Auf- und Abbau der Anlage im            sind, hilflose Teilnehmende aus der Höhe wieder sicher zu
Frühjahr und Herbst sind alle Trainer/innen ehrenamtlich       Boden zu bringen.
mit dabei und unterstützen das Bauteam. So wird auch                Neben der jährlichen Einweisung gibt es Rettungstrai-
praktisch dokumentiert, dass der Seilgarten Hannover ein       nings, in denen die Retter und Retterinnen ihre Fähigkei-
Gemeinschaftsprojekt ist und ohne ehrenamtliche Arbeit         ten weiter entwickeln können und den Umgang mit der
nicht auskommt. Bei einer gemeinsamen Suppe bleibt             Rettungsausrüstung erproben. Alle Mitarbeiter und Mitar-
dann auch immer noch Zeit für persönlichen und fachli-         beiterinnen des Seilgartens müssen an sogenannten Auf-
chen Austausch.                                                frischungskursen teilnehmen, um ihre ERCA zertifizierten
                                                               Ausbildungen zu verlängern.
Qualifizierung und Weiterbildung                                    Neuen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen wird durch
                                                               begleitende und angeleitete Hospitationen und einem
     Die Betreuer und Betreuerinnen des Seilgartens, die für   Coaching durch speziell qualifizierte Trainer/rinnen der Ein-
den sicheren Ablauf der Veranstaltungen zuständig sind,        stieg in die verantwortungsvollen Tätigkeiten im Seilgarten
qualifizieren sich regelmäßig nach einer durch die ERCA
zertifizierten Ausbildung weiter. Zusätzlich findet jährlich
seilgartenintern eine zweitägige Einweisung statt, an der
alle Mitarbeitenden ehrenamtlich teilnehmen und in der
Veränderungen in den Trainingsabläufen und Sicherheits-
routinen dargestellt werden.
     Besonderes Augenmerk bekommen bei der Einwei-
sung auch Gefahrenstellen, auf die die Teilnehmenden
bei den Trainings hingewiesen werden müssen. Durch das
eigene Erleben während der Einweisungstage ist es mög-
lich, eine bessere Empathie mit den Teilnehmenden zu
entwickeln. So können viele Situationen, die auf Teilneh-
mende bedrohlich wirken könnten, besser angeleitet und
begleitet werden. Tipps und Hilfestellungen werden da-
durch authentischer und selbstverständlicher vermittelt.
     In Übungen werden Rettungssituationen und Not-
fälle simuliert, zu denen es im Seilgarten kommen könn-        erleichtert. So kann die Sicherungstechnik und das Wissen
te. Da alle Betreuer und Betreuerinnen über regelmäßig         über die Anlage unter Aufsicht perfektioniert werden.
aufgefrischte Erste-Hilfe-Kenntnisse verfügen, ist es kein          Ergänzend finden regelmäßig Fortbildungen statt, um
Problem, bei den sehr seltenen Zwischenfällen wie z.B.         die pädagogische Qualität und Fachlichkeit der Veranstal-
Hyperventilation, einer Prellung, einem Insektenstich oder     tungen zu optimieren. Ziele dieser Qualifizierungsmaß-
einer Abschürfung die richtigen Maßnahmen zu ergreifen.        nahmen sind die Vermittlung von Reflexionsmethoden,
Selbst für den äußerst unwahrscheinlichen Fall, das Teil-      Umgang mit herausfordernden Situationen und aktuell
nehmende sich in den hohen Elementen verfangen oder            die praktische Umsetzung des Inklusionsgedankens, um
nicht mehr herunter können, stehen jeden Tag ausgebil-         auch Menschen mit Behinderung die Teilhabe an Seilgar-
dete Retter und Retterinnen auf dem Platz, die in der Lage     tentrainings zu ermöglichen.

22
Pädagogische Zielsetzungen im Wandel

D     er Seilgarten Hannover
      versteht sich als Kinder-
und Jugendprojekt. Losgelöst
                                       Verschulung jugendlicher Bio-
                                       graphien stetig ab.
                                            Davon sind die Jugend-
von den gesetzlichen Vorga-            verbandsarbeit, die offene Ju-
ben sehen wir die Zielgruppe           gendarbeit und viele Vereine
der 10–26-Jährigen als unsere          betroffen, denen das langfris-
Kernzielgruppe an. So nutzen           tige Engagement der Jugendli-
Kinder ab Ende des Grund-              chen verloren geht. Durch die
schulalters sowie Jugendliche          Verschulung des Alltags verlie-
und junge Erwachsene im                ren aber auch die Jugendlichen
Übergangsystem Schule/Beruf            häufig die Schul- und Lernfreu-
den Seilgarten.                        de, da die Zeit im formellen
     Eine der größten Her-             Bildungssystem zunimmt.
ausforderungen für den Seil-                Das Dreieck Schule-Fa-
garten, aber auch für andere           milie-Freizeit muss neu austa-
Kinder- und Jugendeinrichtun-          riert werden, um eine Balance
gen stellt der Auf- und Ausbau         zwischen den Autonomie-
der Ganztagsschulen dar, der           bestrebungen und Interessen
durch einen gesellschaftlichen         junger Menschen, der Freiwil-
Wandel erforderlich wurde.             ligkeit in der Jugendhilfe und
     Die Anwesenheit eines El-         dem staatlichen Bildungsan-
ternteils, das ausschließlich für      spruch herzustellen. Sofern
die Kindererziehung verant-            dieser Weg weitergegangen
wortlich ist, nimmt stetig ab.         wird, muss die Trennung von
In einer Gesellschaft, in der im-      formaler und informeller Bil-
mer noch Herkunft und ökono-           dung überdacht werden und
mische Leistungsfähigkeit über         Schule zu einem echten Le-
Bildungschancen entscheiden,           bensort neben der Familie
muss am System Schule erheb-           werden. Die Schule muss dafür
lich nachgebessert werden,             jedoch mehr leisten als bloße
um diese Ungleichbehandlung            Wissensvermittlung. Sie muss
zu verringern. Die Zeit, die           daher konzeptionell neu aus-
Kindern und Jugendlichen zur           gerichtet und personell besser
freien Verfügung steht, nimmt          und interdisziplinärer ausge-
jedoch mit dem Prozess der             stattet sein.

                                                                   23
Sie können auch lesen