Smartphones - die Macht in der Hand - iz3w

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Smartphones - die Macht in der Hand - iz3w
iz3w-Dossier | Januar 2020

Smartphones –
die Macht in der Hand
Smartphones - die Macht in der Hand - iz3w
Titelmotiv: GitzAU (Nairobi)

         Inhalt
  D·2    Editorial                                                      D· 14 Zweifelhafte Entwickler
                                                                        		 Was bringen Smartphones bei der Armutsbekämpfung?
 D · 3 Wasser. Smartphone. Essen.
                                                                              von Sven Hilbig
		An mobiler digitaler Kommunikation kommt
       niemand mehr vorbei von Christian Stock                          D · 18 Start-ups in Silicon Savannah
                                                                        		 Digitalisierung in der afrikanischen Landwirtschaft
 D· 6 So smart
                                                                               von Heike Baumüller
		Die Ambivalenz des Kapitalismus steckt in der
      Jackentasche von Andrea zur Nieden                                 D · 21 Die perfekte Plattform
      und Christoph Taubmann                                            		 In China hat die App WeChat ungeheure Macht erlangt
                                                                                von Felix Lee
 D· 8 Das Smartphone schlägt zurück
		Trotz Chinas Aufschwung sind                                         D · 24 Soziale Bilderwelten
      die Arbeitsbedingungen schlecht                                   		 Alltägliche Smartphone-Fotografie in der Côte d’Ivoire
      von Peter Pawlicki                                                       von Till Förster
D · 12 Hätte, hätte, Lieferkette                                        D · 26 Digitalisierte Autonomie
		 Wie fair ist das Fairphone?                                          		 Welche Rolle spielen Smartphones für Geflüchtete?
       von Elena Kolb                                                          von Sina Arnold

  Smartphones
  Weltweit nutzen 3,3 Milliarden Menschen ein Smartphone, Tendenz          große Gefahren bergen. Mit keiner anderen systemrelevanten
  weiter steigend. In nahezu allen Ländern des Südens ist die Ver-         Technologie lassen sich Manipulation und Überwachung von Indi-
  breitung besonders groß. Nicht immer handelt es sich dabei um            viduen besser bewerkstelligen als via Smartphone. Die mit erpres-
  teure Topmodelle, aber gerade wegen ihrer Erschwinglichkeit sind         serischen Methoden exekutierte Datensammelwut der großen
  allein in afrikanischen Ländern 700 Millionen internetfähige Smart-      Konzerne hat durchaus eine Entsprechung in der Überwachung
  phones und nicht-internetfähige Mobile Phones im Gebrauch.               durch autoritäre Regime. Dagegen klingen frühere Dystopien à la
  Selbst in Ländern wie Somalia, wo Infrastrukturen gleich welcher         »Big Brother is watching you« harmlos.
  Art kaum existent sind, funktioniert eines recht zuverlässig: das
  Mobilfunknetz. In einer High-Tech-Fabrik in Ruanda laufen seit
  neuestem täglich zehntausend »MaraPhones« genannte Smart-                Im Bereich des Politischen wird besonders deutlich, wie groß die
  phones vom Band.                                                         partizipatorischen Potenziale einer Demokratie von unten via ­Social
                                                                           Media sind, aber auch, wie schnell diese in Regression, Manipula-
                                                                           tion und Repression münden. Der Arabische Frühling galt zu Recht
  Die durch Smartphones und Mobile Phones entstehenden Mög-                als »Facebook-Revolution«, das hierarchische Sender-Empfänger-
  lichkeiten werden überall auf der Welt ausgiebig genutzt. Tiefgrei-      Prinzip war partiell aufgehoben. Was aber vor staatlicher Verfolgung
  fende gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen sind die       nicht nur nicht schützte, sondern sie oft überhaupt erst ermöglich-
  Folge. Familiäre Beziehungen werden neu gestaltet und klassische         te. Perfektioniert wird politische Kontrolle via Smartphone einmal
  Modelle sozialer Interaktion wie »Freundschaft« neu definiert.           mehr von der KP der Volksrepublik China. Sie hält ihre 90 Millionen
  Praktisch jeder Wirtschaftssektor ist gründlich von den Handys auf       Parteimitglieder via App auf Kurs – und wehe, jemand liest zu w­ enig
  den Kopf gestellt worden. Auch in der kleinbäuerlichen Landwirt-         Beiträge und sammelt nicht genügend »Lernpunkte«!
  schaft in Ostafrika gehören Smartphones längst zum Alltag.
      Ohne dem Kulturpessimismus zu frönen: Es liegt auf der Hand,         Beim Smartphone ist es eben wie beim Beton: Es kommt drauf an,
  dass all diese Entwicklungen nicht nur Chancen, sondern auch             was man draus macht.
                                                                                                                                  die redaktion

  Das Dossier wurde gefördert von ENGAGEMENT GLOBAL im Auftrag
  des BMZ und aus Mitteln des Kirchlichen Entwicklungsdienstes durch
  Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst.

                    iz3w-Dossier                                                                           D·2
Smartphones - die Macht in der Hand - iz3w
rkritik am
  Die Kultu              artphone
                                     ist
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       Kenntnis                      balen
           a s s  g e ra de die glo                         An mobiler digitaler Kommunikation kommt
        D                          ren
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         Alltag kau                   isieren
            m   a rt p h o ne organ
          S
           können.
                                                                               denn auch das größte Bedrohungspotential für die um ihren Auf-
                                                                               stieg kämpfenden Protagonist*innen.

                                                                               Was ist hier das Privileg?
von Christian Stock                                                            Wie substantiell Smartphones für die ‚einfachen Leute‘ zur Bewäl-
                                                                               tigung ihres prekären Alltags geworden sind, ist selbst einem wenig
Es ist der blanke Horror. Panik bricht aus. Die Nachbarin hat ihr              kapitalismuskritischen Linksliberalen wie dem IT-Unternehmer Sascha
WLAN plötzlich mit einem Passwort geschützt, es gibt keinen                    Lobo aufgefallen. Er stellt fest: »Wir leben in Deutschland schon
Zugang mehr zum Internet. Die in einem Seouler Armutsviertel                   auf einer bizarr analogen Insel der Seligen. (…) Man kann hier ganz
hausende Familie Kim gerät dadurch in eine existenzielle Notlage.              ohne Digitaltechnik prima leben – im Gegensatz zu vielen anderen
Abgeschnitten von ihren Tagelöhner-Jobs, die über WhatsApp                     Weltgegenden (…) Deshalb schauen wir in Deutschland aus einer
organisiert werden, droht ihr das soziale Aus. Verzweifelt versuchen           unfassbar analogen Perspektive auf die Restwelt, wo man nicht das
die Kinder, mit ihren Handys ein anderes WLAN-Netz zu finden.                  Privileg hat, digitale Instrumente als optional zu betrachten.« (In-
Ein modernes Smartphone mit funktionierender Netzanbindung                     terview in konkret, 10/2019)
ist unabdingbar, es ist keineswegs ein Luxusgegenstand.                           Ein Beispiel mag diese Einschätzung illustrieren: Als 2015 im
    Dieses Szenario hat Autor und Regisseur Bong Joon-ho nicht                 »Sommer der Migration« Bilder von Geflüchteten mit eigenem
von ungefähr für den Einstieg in seinen metaphernstarken Spielfilm             Smartphone die Runde machten, brach in den asozialen Medien
»Parasite« gewählt. In Südkorea – ein Land, das sich rühmt, das                ein Shitstorm aus. Dass Geflüchtete sich erdreisteten, mehr als ein
schnellste Internet der Welt zu haben – geht absolut gar nichts                verschlissenes T-Shirt mit sich zu tragen, brachte die Volksseele zum
mehr ohne Smartphone, gerade für die Unterschichten. Im weite-                 Kochen. Der rassistische Alltagsverstand wollte es nicht wahrhaben:
ren Verlauf der dramatischen Geschichte über soziale Spaltung                  Die zentralen Güter von Leuten, die fliehen mussten, sind »Wasser.
bekommen die kompromittierenden Bilder auf einem Smartphone                    Smartphone. Essen. In dieser Reihenfolge.« Mit diesen knappen

                                                                                                               D·3
Smartphones - die Macht in der Hand - iz3w
Smartphones

Worten beschreibt die Migrationssoziologin Marie Gillespie die           Angaben laut statista.com). Größter Hersteller ist der südkoreanische
existentielle Bedeutung von Smartphones für jene Menschen, die           Konzern Samsung mit einem Marktanteil von 23,1 Prozent, gefolgt
fast alles Materielle verloren haben – und nun wenigstens noch           vom chinesischen Huawei (19 Prozent). Der Marktanteil des US-
über ein Mindestmaß an sozialem und kulturellem Kapital verfügen         amerikanischen Leitkonzerns Apple ging auf 11,7 Prozent zurück.
möchten. Das Smartphone als Trägermedium hat dabei den schlich-          Die übrigen Marktanteile verteilen sich hauptsächlich auf weitere
ten Vorteil, in eine Jackentasche zu passen. Wer kann schon Foto-        chinesische Firmen.
alben, Bücher und Faxgeräte mit sich schleppen?                             Inzwischen bilden Smartphones den Hauptzugang zum Internet:
   Für eine radikale Kulturkritik des Smartphones und den indivi-        2018 erfolgte die Hälfte aller Seitenaufrufe über Smartphones,
duellen Verzicht darauf gibt es triftige Gründe. Nicht zu den guten      wobei Europa im Vergleich zu Asien deutlich zurückliegt. Zeitlich
Gründen zählt aber die aristokratische Verachtung für den Pöbel,         gesehen erfolgte sogar drei Viertel aller Internetnutzung über
die schon die Tourismuskritik vergällt hat, wenn sie die Massen für      mobile Endgeräte. Dies hat gravierende Folgen für die Gestaltung
ihren Massentourismus schmähte. Zu Recht verweist Lobo darauf,           von Webseiten und die redaktionelle Aufbereitung von Inhalten.
dass »die Abkehr von allgegenwärtigen Technologien selten ein            Was nicht Smartphone-tauglich ist, fällt raus. Obwohl die Texte im
Zeichen von unteren sozialen Schichten war, sondern oft eine Form        Netz immer kürzer ausfallen, werden im weltweiten Durchschnitt
von Privileg, eine Art der Freiheit von Alltagszwängen.« Als Beispiel    sieben Gigabyte Daten pro Monat abgerufen – eine riesige Menge
führt er den Multimillionär Uli Hoeneß an, der ebenso stolzdumm          an Informationen und (bewegten) Bildern, die auf die User*innen
wie unglaubwürdig verlautbarte: »Ich war noch nie im Internet«.          einprasseln.
   Solche Haltungen sind freilich ein globales Wohlstandsphänomen.
Derzeit erregt in der Kulturszene ein Fotoprojekt der neuseeländi-
                                                                         Social Media mit Message
schen Fotografin Niki Boon Aufsehen, mit dem sie dokumentiert,
wie ihre Kinder ohne Handys und Laptop aufwachsen. »Smartpho-        Weltweit gibt es nun 3,5 Milliarden Nutzer*innen von Social Media,
ne? Kennt Anton nicht, braucht Anton nicht«, titelte Spiegel online  die zum weit überwiegenden Teil Mobilgeräte nutzen. Nicht von
beeindruckt und lobt, dass die Bilder von glücklich im Matsch        ungefähr ist Facebook nach Google und YouTube eine der am
spielenden Kindern »wie aus der Zeit gefallen« wirken. Womit das     meisten aufgerufenen Internetseiten. Twitter und Instagram schaf-
zentrale Problem dieser Art von kulturkonservativer Smartphone-      fen es ebenfalls in die Top Ten.
Verweigerung ungewollt auf den Punkt gebracht wird.                      Auch hier ist die regionale Verteilung aufschlussreich. Im Mitt-
                                                                     leren Afrika nutzen nur sieben Prozent der Bevölkerung Social
                                                                     Media, im nördlichen Afrika sind es aber bereits 40 Prozent, bei
So wichtig wie das Fernsehen
                                                                     hohen Wachstumsraten (alle Zahlen laut datareportal.com). Spit-
An der Macht des Faktischen kommt jedenfalls keine Kritik des        zenreiter bei Social-Media-Nutzung sind auf der einen Seite die
Smartphones vorbei. Inzwischen gibt es weltweit 3,3 Milliarden       Vereinigten Arabischen Emirate mit 99 Prozent der Bevölkerung,
Smartphonebesitzer*innen. Berücksichtigt man auch nicht-inter-       auf der anderen Nordkorea mit nur 0,1 Prozent, da dort das Inter-
netfähige Mobile Phones, sind es sogar 5,15 Milliarden Menschen,     net geblockt ist. Beides markiert Extremwerte, wie sie totalitären
also zwei Drittel der Menschheit (aktuelle Daten auf Grundlage von   Vergemeinschaftungen innewohnen: Entweder die Individuen sind
UN-Statistiken). Damit haben Handys                                                          zum Mitmachen mehr oder minder gezwun-
nahezu aufgeschlossen zum bislang                                                               gen, oder es ist ihnen strikt verboten. In-
weitverbreitetsten Telekommunikati-                                                             sofern ist die Nutzungsquote von Social
onsmedium, dem Fernseher, der in 79            WhatsApp ist in vielen Weltregionen              Media ein guter Indikator für die Mei-
Prozent aller Haushalte weltweit steht.        die einzige Nachrichtenquelle                    nungs- und Pressefreiheit. Ist sie sehr hoch,
   Diese gewaltigen Zahlen kommen                                                               mangelt es an vernünftigen anderen Me-
nur zustande, weil die Verbreitung von                                                          dien, ist sie niedrig, regiert die Zensur.
Smartphones längst nicht mehr auf den                                                        Die Facebook-Tochter WhatsApp ist in vielen
Globalen Norden beschränkt ist, sondern insbesondere in Asien                Weltregionen die einzige Nachrichtenquelle, denn gedruck-
Rekordwerte erreicht. Allein in China nutzen 775 Millionen Men-      te Zeitungen sind vielerorts kaum erhältlich. Zugleich sind günsti-
schen ein Smartphone, in Indien sind es 387 Millionen. Das nächs-    ge Smartphones für viele Menschen die einzige Anbindung ans
te Land auf der Liste, die USA, ist schon weit abgeschlagen. Ein     Internet. Es überrascht daher nicht, wenn WhatsApp allein in Indi-
Mindestmaß an Wohlstand bleibt aber nach wie vor eine wichtige       en über 250 Millionen User*innen hat. Dort sorgten über den
Determinante bei der regionalen Verteilung: Die weltweit niedrigs-   Messengerdienst verbreitete Gerüchte für die Formierung von
te Nutzung weist Bangladesch auf, eines der ärmsten Länder der       Bürgerwehren gegen angebliche Kindesentführer oder Kuhschlach-
Welt. Hier hat nur jeder zwanzigste Mensch ein Smartphone. In        ter. Allein zwischen April und Juni 2018 wurden mehr als zwanzig
den superreichen Vereinigten Arabischen Emiraten hingegen wird       Menschen von aufgebrachten Mobs gelyncht. WhatsApp schränk-
der globale Rekord erreicht, dort besitzen 82 Prozent der Bevölke-   te daraufhin die maximale Zahl der Empfänger*innen von Nach-
rung ein eigenes Smartphone. Mit 57 Millionen Smartphone-            richten auf fünf ein, um Massenkampagnen zumindest zu erschwe-
Nutzer*innen ist Deutschland zwar kein »Entwicklungsland«, wie       ren. Die hindunationalistische BJP-Regierung unternahm hingegen
in Sachen Digitalia oft geunkt wird, aber nur Durchschnitt.          nichts. Kein Wunder, ist sie doch selbst die größte Verbreiterin von
   Angesichts dieser fast ubiquitären Verbreitung ist die Produktion Falschmeldungen und darauf aufbauender Propaganda. Sie reiht
von Smartphones ein Riesengeschäft. Allein 2018 wurden weltweit      sich damit ein in eine immer länger werdende Reihe von
1,4 Milliarden Geräte im Wert von 522 Milliarden US-Dollar verkauft. Politiker*innen, deren Wahlerfolg auf hetzerischen Twitter-Kampa-
Insgesamt sind die Zahlen nach dem Rekordjahr 2017 leicht rück-      gnen (Trump) und konzertiertem Verbreiten von Fake News via
läufig, es scheint eine Marktsättigung eingetreten zu sein (alle     WhatsApp (Bolsonaro) beruht.

                 iz3w-Dossier                                                                           D·4
Smartphones - die Macht in der Hand - iz3w
Diese kritikwürdige Entwicklung ist freilich nicht dem Smartphone    gesteuerung, wie der Niedergang der Musikindustrie alten Zuschnitts
als solchem anzulasten. Zwar fördert es – wie jede Hardware und      zeigt. Aber insgesamt ist die digitale Ökonomie ein antriebstarker
ihre dazugehörige Software – spezifische Kommunikationsformen        Wachstumsmotor fürs Kapital.
und behindert andere. Insofern ist das Diktum des Medientheore-          Ausgerechnet die Volksrepublik China macht vor, wie das geht:
tikers Marshall McLuhan (»Das Medium ist die Botschaft«) auch        Der Onlinehandelskonzern Alibaba hat an einem einzigen Tag mit
beim Smartphone immer einer Berücksichtigung wert,                                                     seinem glamourösen Verkaufs­
so wie man bei Radio und Fernsehen immer die                                                             event »Singles Day« am 11. No-
Restriktionen des Sender-Empfänger-Prinzips mit-             »In China sehen wir, was auch               vember mehr Umsatz mit exter-
denken sollte. Aber McLuhans Message sollte nicht                                                        nen Marken gemacht als das
                                                             in Deutschland kommen wird«
überstrapaziert werden, wie es in der hiesigen sozial­                                                   US-amerikanische Pendant Ama-
romantischen und rückwärtsgewandten Kulturkritik                                                         zon im ganzen Quartal. Wobei
des Smartphones gern praktiziert wird.                                                                 die allermeisten Käufe bei Alibaba
    Einmal mehr trifft Sascha Lobo den Nagel auf den Kopf, wenn           über Smartphones abgewickelt werden. Alibabas Deutschland-
er Smartphones und Social Media nicht für per se unemanzipato-        Chef Karl Wehner prognostiziert daher vermutlich zu Recht: »In
risch hält und dennoch um deren Problematik weiß: »Auf Facebook      China sehen wir, was auch in Deutschland kommen wird« (zitiert
kann zwar theoretisch gut ein linker Diskurs geführt werden, aber    nach Spiegel online, 24.11.2019).
leider haben Faschisten das Netzwerk bisher besser verstanden.«          Weil sich das durchaus als Drohung verstehen lässt, kommt der
(konkret 10/2019). Was folgt daraus? Den Faschist*innen die kul-     Kapitalismuskritik auch im digitalen Zeitalter große Bedeutung zu.
turelle Hegemonie im Web überlassen – oder sie ihnen streitig        Ihre Leitfrage lautet: Wie können digitale (Produktions-)Mittel
machen?                                                              wieder angeeignet werden, so dass die Digitalisierung einer künf-
                                                                     tigen herrschaftsfreien Gesellschaft große Dienste leistet? Diese
                                                                     Frage wird nicht allein von Open-Source-Nerds beantwortet werden
Chinesische Verhältnisse
                                                                     können, die an konzernunabhängigen Apps arbeiten, sondern von
Die Digitalisierung des Kapitalismus hat längst sämtliche Lebens-    allen User*innen. Im Alltag.
bereiche durchdrungen. Zwar hat insbesondere das Internet auch
zu einer Sozialisierung beigetragen, etwa durch die Renaissance
von Commons, von gemeinschaftlichen Gütern, was etwa durch           tt Christian Stock ist Mitarbeiter im iz3w. Seine Handymodelle
Open-Source-Software oder Wikipedia versinnbildlicht wird. Auch      spiegeln die Verschiebungen von West nach Ost wider: Erst Siemens
profitiert nicht jede Branche von digitaler Angebots- und Nachfra-   und Nokia, dann Samsung und Xiaomi.

Kampf um die Rohstoffe
Der Rohstoffbedarf für die Handyproduktion richtet Verwüstungen       in Minen, darunter viele, in denen Coltan abgebaut wird. Amnesty
im doppelten Wortsinne an. Beispiel Rubaya, ein Bergdorf im Osten     International bemängelte 2016 in einem Report, dass Smartphone-
der DR Kongo: In den 1990er Jahren entdeckten Geolog*innen            Hersteller wie Apple und Samsung keinerlei ernsthafte Maßnahmen
unter den fruchtbaren Vulkanböden große Coltan-Vorkommen.             ergriffen, um zu überprüfen, ob in den ihnen zuliefernden Minen
Coltan (eine Abkürzung für Colombit-Tantalit) ist ein Schlüsselmi-    Kinderarbeit verbreitet ist. Die anders lautenden Selbstverpflichtun-
neral für die Handy- und Computerproduktion. Der weltweite            gen sind den Strom nicht wert, den es zu ihrer Darstellung braucht.
Bedarf ist groß, aus der DR Kongo stammt über die Hälfte der             Welches Konfliktpotential die Rohstoffe für die Handyproduk­tion
Weltproduktion. In Rubaya zog Coltan wie in einem Goldrausch          besitzen, zeigt ein anderes Beispiel aus Bolivien. Das in den dortigen
Arbeitssuchende an, die nun Löcher in den Berg gruben.                Salzseen vorkommende Alkalimetall Lithium wird zur Herstellung
    Die Zeiten, in denen Warlords ungehindert den Großteil der        von Akkus benötigt. Es ist in nahezu jedem Handy verbaut, der
Verkaufserlöse von Coltan einstrichen und damit ihre kriegerischen    Bedarf auf dem Weltmarkt ist daher riesig, zumal auch E-Mobilität
Aktivitäten finanzieren konnten, sind auch in der DR Kongo vorbei.    nicht ohne Lithium-Ionen-Akkus auskommt. Anfang November
Doch das unzureichende Minengesetz und die mangelnde Kont-            stoppte der damals noch amtierende Präsident Evo Morales ein
rolle der Förderung seitens der Regierung lassen viel Spielraum für   Joint Venture zur Gewinnung von Lithium, das zwischen der deut-
kriminelle Aktivitäten. Die Konflikte um die Coltanförderung gip-     schen Firma ACI Systems und dem Staatsunternehmen YLB abge-
felten im Oktober 2018 in einem Massaker nahe Rubaya, bei dem         schlossen worden war. Hintergrund waren die Proteste der örtlichen
nach offiziellen Angaben 13 Menschen, laut anderer Quellen 35         Bevölkerung gegen das Projekt, das nach Ansicht von Kritiker*innen
Menschen ermordet wurden (taz, 13.11.2018).                           einem »Ausverkauf« bolivianischer Ressourcen gleichkam. Die
    Solche Vorfälle rechtfertigen die drastische Bezeichnung »Blut-   Bundesregierung zeigte sich irritiert und versprach ACI Systems, in
mineralien«. Dabei ist Rubaya noch eine Vorzeigemine, die bei der     Bolivien zu intervenieren.
Zertifizierung im Rahmen des ITSCI-Programme for Responsible             Dieser Vorgang ist wohl nicht ursächlich für die kurz darauf
Mineral Supply Chains in die Kategorie »grün« eingestuft wurde.       erfolgte Absetzung von Morales, verdeutlicht aber, warum euro-
In vielen anderen Minen ist Kinderarbeit gang und gäbe, was zur       päische Regierungen sie offen begrüßten. Bei Einschränkungen der
Einstufung »gelb« führt. Laut Angaben von UNICEF aus dem Jahr         Exporte von Schlüsselrohstoffen durch Regierungen des Globalen
2014 arbeiten allein im Süden der DR Kongo rund 40.000 Kinder         Südens versteht man im Norden keinen Spaß.                         cst.

                                                                                                       D·5
Smartphones - die Macht in der Hand - iz3w
Foto: Hugh Han
                s sind
  Smartphone                                    Kaum zu glauben, aber Japan erzielt keine Rekordwerte bei der Smartphonenutzung (U-Bahn in Tokyo)
                  ein bloßes
  viel mehr als
                tions­
   Kommunika
                  sind etwa                                                                     »Bei mir kommt erst der Akku
   medium. Sie
                   ändigen                                                                       und dann später die Moral«
   ein Teil der st
                 ierung.                                                                                            (Deichkind: Powerbank)
    Selbstoptim
                    en nichts
    Sie versprech
                  als die
     Geringeres
     fortlaufende
                    Erweite-                        So smart
                   lbst, auch
     rung des Se                                    Die Ambivalenz des Kapitalismus steckt
                    physischen
      jenseits des
       Raumes.                                      in der Jackentasche

                                                                        Zugleich bergen die digitalen Dienste ein ungeheures Potenzial
                                                                        Städte viel einfacher zugänglich zu machen als durch papierene
                                                                        Stadt- und Fahrpläne. Nachdem ich endlich die richtige Citybike-App
von Andrea zur Nieden und Christoph Taubmann                            gefunden habe und verstehe, wie sie auch offline zu nutzen ist,
                                                                        flitze ich, navigiert durch meine ebenfalls offline funktionierende
Eine Reiseerfahrung hat mir neulich wieder bewusst gemacht,             Karten-App, auf dem Fahrrad durch die Gegend. Ich fühle ich mich
wie sehr ich auf mein Smartphone angewiesen bin. Ich komme              frei wie selten in unbekannten Städten.
in eine mir fremde Stadt im Ausland. Ich habe mein Smartphone
dabei, aber kein entsprechendes Datenvolumen, kann es also nur
                                                                        Ich bin megavernetzt …
im WLAN verwenden. Schnell merke ich, dass ein Großteil der
städtischen Infrastruktur für mich nicht nutzbar ist: Bus- und          Das Smartphone ist viel mehr als ein Mittel zur Kommunikation mit
Bahnfahrpläne gibt es nur online, an den Haltestellen erfährt man       anderen geworden. Es handelt sich um eine Universalmaschine, die
nichts. Taxidienste wie Uber sind app-basiert. Es gibt ein Citybike,    potenziell jede Funktion übernehmen kann. Dafür muss es ständig
aber auch dieses ist nur über App nutzbar. Also muss ich meinen         in Reichweite sein. Smartphones sind uns so nah an den Leib gerückt,
Weg durch die Stadt entweder im Hotel-WLAN vorplanen oder               dass wir uns amputiert fühlen, wenn wir es zuhause vergessen haben,
ich laufe mir Blasen. Ohne Smartphone kann man alternativ nur           keinen Internetempfang haben oder wenn der Akku versagt.
mit viel Geduld an Haltestellen warten oder ein teures traditio-            Wir führen eine Double-Bind-Beziehung mit unserem Lieblings-
nelles Taxi anhalten.                                                   instrument: Es verspricht Autonomie – und erzeugt dabei Abhängig-
    Mir wird klar, wie stark heute der städtische Raum durch den        keit und Kontrolle. Das omnipräsente Gerät verheißt universelle
virtuellen Raum strukturiert ist und wie ausgrenzend die web- und       Verfügbarkeit von Weltwissen und Kommunikationspartner*innen,
app-basierten Verkehrsmodelle für diejenigen sind, die über das         aber um den Preis, dass wir (es) kaum noch »abschalten« können.
neue Medium nicht oder nur begrenzt verfügen. Wie bei anderen           Laut Studien erzeugen selbst ausgeschaltete Handys Stress, sobald
Technologien auch wird eine Infrastruktur zurückgebaut, wenn            sie in Sichtweite liegen. Habe ich wichtige Nachrichten verpasst?
sie nicht mehr ökonomisch rentabel ist: Etwa ausgehängte Bus-           Wir werden nervös, wenn wir länger als eine Stunde »offline«, also
fahrpläne gibt es plötzlich nicht mehr.                                 »von der Leine« gelassen sind.

                 iz3w-Dossier                                                                             D·6
Smartphones - die Macht in der Hand - iz3w
Smartphones

Für wen (Chef*innen, Kolleg*innen, Lebenspartner*innen) wir wann            Kommunikationsformen, bei denen ich noch weniger Information
auf welchem Kanal (Handy, Festnetz, Chat, E-Mail) erreichbar sein           zur Verfügung habe, um die Signale der Anderen zu deuten.
müssen, unterliegt immer neuen Aushandlungen. Das medienkom-
petente Wählen des richtigen Modus (»Nicht stören«, »Lautlos«,
                                                                            Glatte Aufmachung, brachiale Wucht
»Flugmodus«), um wenigstens teilweise seine Ruhe zu haben, ist
Teil unseres Selbstmanagements geworden. Wir haben uns die              Gerade die Reduktion von Intensität und Verschleierung von An-
Ambivalenz des Kapitalismus mit seinen Versprechungen und               wesenheit eröffnen aber auch die Möglichkeit, mich regelrecht zu
Anforderungen in die Jackentasche geholt.                               vervielfältigen. Die Interfaces der Apps schieben sich wohltuend
                                                                        zwischen mich und die Außenwelt. Die Schnittstellen filtern, ge-
                                                                        wichten und managen, wer oder was zu mir durchdringt, und sie
… aber wer hört zu?
                                                                        ermöglichen mir, viele Kanäle parallel zu bedienen.
Medientheoretisch liegt dem eine Verkomplizierung von Anwesen-              Dabei hat das Smartphone seinen perfekten Gegenpart in den
heit zugrunde: Selbst wenn ich körperlich abwesend bin, etwa in         sogenannten Social Media gefunden. Deren Wachstumslogik fol-
der Mittagspause außerhalb des Büros, bin ich telefonisch oder per      gend, soll ich möglichst meinen Freundeskreis und meine Interak-
Social Media erreichbar und im selben virtuellen »Raum« mit an-         tionen ausweiten. Neben der klassischen Medienkompetenz muss
deren. Schon jede Telefonierende befindet sich dabei zugleich in        ich mein Selbstmanagement erweitern, um mich adäquat abzubil-
drei Situationen: Körperlich an einem Ort, wo etwa Ablenkung            den. Das Smartphone kommt hier im Wortsinn wie gerufen. Ein
durch die Umgebung oder andere parallel am PC oder Smartpho-            bunter Haufen an Apps zur Selbstoptimierung zaubert auf Fotos
ne eingehende Nachrichten gegeben ist. Akustisch ist sie am Ge-         meine Pickel weg, sagt mir anhand von Auswertungen meiner
schehen am anderen Ende der Leitung beteiligt, wo sich die ande-        Kommunikation, wer mein bester Freund ist oder ob mein Body-
re Person beispielsweise an einem lauten Lokal aufhält. Interaktiv      Mass-Index aus dem Rahmen fällt. Immer häufiger kommuniziere
gehören beide dem »ortlosen Raum des Telefonats« an, der Schnitt-       ich auch nicht mehr mit Menschen, sondern mit Algorithmen.
menge, auf die sie sich fokussieren, indem sie                                                            Immer häufiger habe ich keine Ahnung,
sich selektiv aus den anderen Situationen                                                                   ob mein Gegenüber Mensch oder
absentieren.                                                                                                 Maschine ist, und immer häufiger
    Ähnliches gilt auch für schriftlich zu be-
                                                      Kein Wunder, dass das Smartphone                       interessiert das mich auch nicht mehr.
dienende Apps, Messenger und Chats, mit               das Auto als Fetisch abgelöst hat                          Das Smartphone mit seiner glat-
denen ich mich immer wieder partiell auch                                                                    ten, nahezu ätherischen Anmutung
in andere »Räume« begebe. Die neuere                                                                        ist wie gemacht, um die brachiale
Mediensoziologie, etwa von Stefan Hirschau-                                                               Wucht zu verschleiern und neu zu deu-
er, begreift Anwesenheit daher nicht mehr als scharfen Gegensatz        ten, mit der die           Digitalisierung die meisten Aspekte unseres
zur Abwesenheit, sondern als verbindenden »Mechanismus der              Lebens umkrempelt. Der für alle Anwendungen offene Touchscreen
steigerbaren Involvierung von Personen in soziale Prozesse«. Deren      hat die Funktionsknöpfe abgelöst, die noch stärker der Materialität
Aspekte seien: Erstens Erreichbarkeit (Ist da wer?) und zweitens        verbunden waren. Kein Wunder, dass das Smartphone das Auto
steigerbare interaktive Präsenz (Ist er/sie dabei?). Dabei steigern     als Fetisch abgelöst hat. Erweiterte letzteres den physischen Akti-
alle Formen von Teleinteraktion die Erreichbarkeit auf Kosten der       onsradius, so verspricht das Smartphone nichts Geringeres als die
interaktiven Präsenz; eine höhere Kontaktfrequenz geht mit einer        quasi unendliche Erweiterung des Selbst, auch jenseits des physi-
geringeren Kontaktdichte einher:                                        schen Raumes.
    Ich bin also erstens potenziell an allen Orten erreichbar, an           Tatsächlich findet dieses Potenzial aber Grenzen an den physi-
denen ich Internet oder Handyempfang habe. Gleichzeitig sind            schen Enden der Interaktionen. Dort stellen die Mediennutzer*innen
aber die jeweiligen Rezeptionserwartungen im Vergleich zu einer         eine »endliche psychophysische Größe« dar, wie Stefan Hirschauer
Face-to-Face-Kommunikation verunsichert: Ist meine Nachricht            schreibt. Deren Beanspruchung ist im Gegensatz zu den Informa-
angekommen und auch gelesen worden? Zweitens ist Präsenz                tionsströmen nicht unendlich steigerbar. Das Smartphone lockt uns
generell durch den Grad der Involvierung von Aufmerksamkeit             dennoch täglich, diese Grenzen zu überschreiten und quasi mit der
steigerbar. Face-to-Face besteht die Möglichkeit zum Blickkontakt,      Universalmaschine psychophysisch zu verschmelzen. Denn wenn
der sich als Idealsituation gegenseitiger Wahrnehmung beschreiben       wir das nicht tun, könnten wir aufhören, ein (selbst)bestimmter
lässt. Stefan Hirschauer formuliert es so: »Ich sehe am und im Blick    Teil dieser Gesellschaft zu sein, also von der Bildfläche verschwinden.
des Anderen, dass er jetzt sieht, dass ich ihn sehe, (…) dass wir uns   Es droht nichts Geringeres als der soziale Tod.
uns sehen sehen«. Eine geringere Aufmerksamkeit wird etwa durch
das sichtbare Abwenden aus der Kommunikation (Weggucken)                Literatur
angezeigt, worauf das Gegenüber reagieren kann.                         – Ruth Ayaß: Interaktion ohne Gegenüber. In Jäckel/Mai (Hg.):
    Bei der Kommunikation über Smartphones ist dies nicht so leicht         Online-­Vergesellschaftung? Wiesbaden 2005

möglich, denn die für eine Interpretation der Äußerungen des            – Stefan Hirschauer: Intersituativität. In Heintz/Tyrell (Hg.):
                                                                            Interaktion – Organisation – Gesellschaft revisited, Stuttgart 2015
Anderen nötigen Ressourcen sind medial produziert, wie die Sozio-
login Ruth Ayaß erklärt. Je nach Situation werden dabei nicht alle
Sinne bedient. Schon bei klassischer Telekommunikation ist daher
fraglich, inwieweit das Gegenüber nicht nur dran, sondern auch          tt Andrea zur Nieden ist Soziologin an der Universität Freiburg
mental dabei ist. Selbst wenn Gesprächssequenzen durch verbale          und beschäftigt sich u. a. mit Fragen der Medizin-, Körper- und
Signale (mhm, ja) des Anderen bestätigt werden, ist der Grad der        Techniksoziologie. Christoph Taubmann arbeitet als Projektmana­
Aufmerksamkeit ungewiss. Dies gilt erst recht für schriftbasierte       ger bei einer IT-Firma.

                                                                                                             D·7
Smartphones - die Macht in der Hand - iz3w
Foto: Gauthier Delecroix
                                                                                                  Der Weltmarkt
                                                                                                                   für Smart-
                                                                                                  phones ist ries
                                                                                                                  ig. Seit
                                                                                                 mittlerweile zw
                                                                                                                  ei Jahrzehn-
                                                                                                 ten profitieren
                                                                                                                  davon vor
                                                                                                 allem chinesis
                                                                                                                 che, taiwa-
                                                                                                nesische und
                                                                                                                südkoreani-
                                                                                                sche Unternehm
                                                                                                                   en. Wie
                                                                                                kam es zu den
                                                                                                                 gewaltigen
                                                                                               Verschiebungen
                                                                                                                  in der
                                                                                               internationale
                                                                                                              n Arbeitstei-
                                                                                              lung, und was
                                                                                                               bedeuten
                                                                                              sie für die Arb
                                                                                                              eitswelt?

Straßenszene in Qingsao/China, wie überall

Das Smartphone schlägt zurück
Trotz Chinas Aufschwung sind die Arbeitsbedingungen schlecht

von Peter Pawlicki

Was ist das, ein Smartphone? Es wäre nichts ohne Inhalte, durch     haben Zentralen außerhalb von China. Was ist passiert? Und was
die wir stundenlang wischen, die wir tausendfach teilen, die auf    heißt das für die internationale Arbeitsteilung und die Arbeitsbe-
Servern irgendwo liegen, um von der digitalen Ökonomie als          dingungen?
profitträchtige Information wiedergekäut zu werden. Ein Smart-
phone ist auch nichts ohne das Netzwerk, die Mobilfunksender,
                                                                    Es lebe die Kernkompetenz
die digitalen Schaltanlagen, durch welche die Inhalte hin und her
geschickt werden. Und trotz dem oft angekündigten »Ende der         Siemens, Nokia, Ericsson, Alcatel – Europa war einmal eine Region,
Arbeit« ist das Smartphone nichts ohne die vielen Arbeiter*innen,   die bei Entwicklung und Fertigung von Technologien und Geräten
die in Bergwerken die Rohstoffe schürfen, in Fabriken die Geräte    für die mobile Kommunikation führend war. Der in den 1980er
herstellen und sie in den Büros entwickeln – oft unter menschen-    Jahren vom Europäischen Institut für Telekommunikationsnormen
unwürdigen Bedingungen.                                             entwickelte und durch die Europäische Gemeinschaft abgesicher-
   ‚Früher‘ war es einfach: Es gab Apple und Samsung als wichtige   te GSM-Standard – 2G – verschaffte den teilnehmenden europäi-
Produzenten von Smartphones. Und heute? Samsung, Apple,             schen Unternehmen enorme Vorteile. Telefone und Telefonanlagen
Xiaomi, Huawei, LG, Vivo, Oppo, Oneplus, Lenovo, Tecno, Infinix,    wurden in Europa entwickelt und hergestellt. In den Fabriken
Nokia HMD, Meizu... Nur die Konzerne Samsung, Apple und LG          herrschte ein hohes Niveau an Automatisierung, es gab starke

                 iz3w-Dossier                                                                     D·8
Smartphones - die Macht in der Hand - iz3w
Smartphones

Betriebsräte und gute Tarifverträge. Betriebe wie der von Siemens      der Elektronikindustrie aufgestiegen. In Hong Kong begann diese
Mobile in Kamp-Lintfort galten bis in die frühen 2000er Jahre als      Entwicklung schon Anfang der 1960er Jahre mit dem Aufbau der
regionale Vorzeigebetriebe.                                            ersten ausländischen Elektronikfabrik von Fairchild Semiconductors.
    Ende der 1990er Jahre begann auch in Europa der unmittelba-            Anfangs wurde nur einfache Fertigung angesiedelt. Doch schon
re Druck der Finanzmärkte auf das strategische Management der          die einfachste Fertigung braucht auch Ingenieur*innen, die den
Konzerne zu wirken. Auslagerungen und Verlagerungen wurde nun          Prozess kontrollieren. Und die immer stärker werdende Auslagerung
das Wort geredet, der globale Wettbewerb als Antrieb definiert.        von Entwicklungsfunktionen führte zu einer stetig ansteigenden
Dies hatte zur Folge, dass die Produktion von Mobiltelefonen zuerst    Ansiedlung von Ingenieur*innenfunktionen außerhalb westlicher
nach Mittel- und Osteuropa, später nach Asien verlagert wurde.         Industriezentren. Ein Übriges tat die Zielsetzung der chinesischen
Gleichzeitig wurde sie an Kontraktfertiger wie Flextronics, Foxconn    Regierung, das Land von einer ‚Werkbank‘ zum Entwicklungsstand-
oder Jabil ausgelagert. Denn Fertigung, so wurde behauptet, das        ort zu entwickeln. Die damit verbundenen Investitionen in Univer-
waren nur Kosten und gebundenes Kapital – auf jeden Fall keine         sitäten und Grundlagenforschung drehten das Rad noch weiter.
Quelle der Innovationen, dem vermeintlichen Kern des Produkts.
    Kurze Zeit später wurde der Sinn einer eigenen Mobiltelefon-
                                                                       Innovative Hightech-Bergräuber
sparte in Frage gestellt – so trennten sich sowohl Ericsson als auch
Siemens vom Endgerätegeschäft, das ein Jahrzehnt später jedoch         Die rund um Shenzhen aufgebauten Betriebe wurden nicht nur
seine zentrale Bedeutung wiedererlangen sollte. Nur ein paar           für die Umsetzung von Produktideen westlicher Unternehmen
Jahre später stellten europäische Konzerne den Sinn der Entwicklung    genutzt. Die chinesischen und taiwanesischen Zulieferer nutzten
von Netzwerkausrüstung in Frage. Die Folge waren mehrere               die über die Fertigung und Entwicklung für Auftraggeber auf­gebaute
Schrumpfungen und Fusionen, die den Bedeutungsverlust spiegel-         Expertise auch für eigene Produkte. Die als ‚Shanzhai‘ (übertragen:
ten. Aus Siemens und Nokia wurde 2007 N   ­ okia                                                       Bergräuber) bezeichneten Produkt­
Siemens Networks und ein paar Jahre später                                                               in­novatoren konnten so eine gewis­
Nokia Networks, während Alcatel zu Alcatel-                                                               se Eigenständigkeit in den globalen
Lucent wurde, um 2016 von Nokia Networks                Europa wird im Bereich der mobilen                Lieferketten entwickeln. Während
aufgekauft zu werden.                                   Kommunikation weiter abgehängt                    Kritiker*innen im Westen vom Dieb-
    In der Elektronikindustrie wurde nicht                                                                stahl geistigen Eigentums schwa-
nur die Fertigung an Kontraktfertiger wie                                                                dronierten, wohlweislich histori-
Foxconn (mit Hauptsitz in Taipeh) oder Flex-                                                          sche Beispiele wie die des Porzellans
tronics (Hauptsitz in Singapur) ausgelagert, sondern auch zuneh-       vergessend,          entwickelten die Shanzhai beispielsweise Tele­
mend die Produktentwicklung. Firmen wie Quanta oder Inventec           fone mit Funktionen, die bei den großen Marken fehlten. Meist
machten das Modell des Original Design Manufacturing erfolgreich.      handelte es sich um einfache Dinge, wie lautere Klingeltöne und
Sie entwickeln Produkte wie Laptops oder Mobiltelefone fast voll-      größere Akkus.
ständig selbst. Ihre Kunden können ihre Markennamen darauf                 Die chinesische Smartphonefirma Xiaomi brachte es innerhalb
schreiben und zusätzlich noch spezielle selbstentwickelte Techno-      von vier Jahren zum zweitgrößten Anbieter auf dem chinesischen
logien integrieren lassen. Damit wurde die Aus- und Verlagerung        Markt, auch weil sie verstand, das Apple-Modell ins 21. Jahrhundert
der Tätigkeiten von Entwicklungsingenieur*innen einfacher.             zu übertragen. Während die Apple-Fans sich noch wie im 19.
    In zwei kurzen Jahrzehnten verlor Europa so einige tausend         Jahrhundert in langen Schlangen vor echten Warenhäusern dräng-
gewerkschaftlich gut organisierte Arbeitsplätze in der Fertigung       ten, schaffte es Xiaomi durch eine kluge Verknappungs- und Mar-
und Entwicklung. Die Forschung an Technologien für den Mobil-          ketingpolitik, Millionen Chines*innen vor ihren Bildschirmen hoffen
funkmarkt blieb aber weiterhin hier angesiedelt. Globale periphe-      zu lassen, dass der nächste Klick auf den Kaufknopf endlich erfolg-
re und semiperiphere Länder – namentlich China und Taiwan –            reich sein wird. Die Firma Xiaomi ebnete so den Weg für den Erfolg
gewannen in diesem Zeitraum jedoch sowohl Fertigungs- als auch         chinesischer Smartphonemarken wie Oneplus, Oppo, Vivo, Tecno,
Entwicklungskompetenzen.                                               Infinix oder Meizu.
                                                                           Das aktuell stark in der Diskussion stehende Unternehmen Hu-
                                                                       awei stammt aus Shenzhen und ist innerhalb von knapp 30 Jahren
Die Renaissance der Fertigung
                                                                       zum weltweit größten Anbieter von Netzwerkausrüstung und in-
In den frühen 2000er Jahren wurde viel von globaler Produktion         nerhalb von nur acht Jahren zum zweitgrößten Anbieter von Smart-
gesprochen. Diese konnte angeblich überall angesiedelt und schnell     phones aufgestiegen. Zuerst fiel das Unternehmen durch Netz-
verlagert werden. Doch das Kapital sucht nach immer denselben          werkausrüstung für den vernachlässigten Markt kleinerer Städte in
Kriterien: hohe staatliche Hilfsleistungen, niedrig gehaltene Löhne,   China auf – billig, an die lokalen Infrastrukturprobleme angepasst,
stetiger Nachschub von Arbeitskräften und geringe Regulation.          ohne unnötige Funktionen, mit chinesischen Benutzeroberflächen
Dies führt sehr oft zu regionalen Clustern, die den angesiedelten      und mit einem dichten Servicenetzwerk. Über die Jahre zahlte sich
Unternehmen zusätzlich durch sogenannte Verbundvorteile helfen,        bei Huawei die eigene Technologie- und Produktentwicklung aus.
also durch kurze Wege beim Austausch von Wissen, Maschinen             Das Unternehmen konnte immer größere Zuwächse zuerst in
und Komponenten.                                                       Ländern der kapitalistischen Peripherie und Semi-Peripherie und
    Die Elektronikindustrie ist nicht anders organisiert. Zwar bietet  später auch in den Industriezentren verzeichnen. Bis zu 30 Prozent
sie ihre Produkte global an, produziert diese aber in einigen weni-    geringere Investitionskosten bei fast gleicher Qualität kann niemand
gen stark vernetzen Zentren. Die chinesische Provinz Kanton gehört     ausschlagen, der profitorientiert ist.
zu den wichtigsten. Insbesondere Shenzhen, die an Hong Kong                Unterstützt vom Programm zur Entwicklung eines eigenen chine­
angrenzende Stadt im Süden Chinas, ist zum globalen Zentrum            sischen Technologiestandards für Mobiltelefonie – TD-SCDMA –

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Smartphones - die Macht in der Hand - iz3w
gelang es Huawei, auch zum Standardsetzer aufzusteigen. Beim          Die Elektronikindustrie hat einen grundsätzlich problematischen
neuen Mobiltelefonie-Standard 5G setzt Huawei die technischen         Bezug zu Überstunden. In China, dem größten Produktionsland
Leitlinien, zusammen mit Unternehmen wie Ericsson und Nokia.          der Elektronik, erlaubt das Arbeitsgesetz 40 Wochenstunden Re-
Weiter liefert das Unternehmen die entsprechenden Anlagen zum         gelarbeitszeit plus maximal 36 Stunden pro Monat an Überstunden.
Aufbau der Netzwerke, zudem auch die Telefone der Endkund*innen.      Der vom globalen Industrieverband Responsible Business Alliance
Was europäische Manager*innen einstmals als beschränkend defi-        festgelegte Standard von maximal 60 Wochenstunden ist in China
nierten, nutzt Huawei zur Innovation und zum Markterfolg.             demnach illegal. Und selbst ihren rechtlich problematischen Stan-
Analyst*innen sehen den Erfolgsfaktor von Huawei oft in der Ver-      dard kann die Industrie nur teilweise einhalten, wie sie in ihren
bindung von Netzwerkausrüstung und Smartphones innerhalb eines        Nachhaltigkeitsberichten regelmäßig einräumt.
Unternehmens. So können etwa Testläufe viel einfacher und
schneller abgeschlossen werden.

Nur diskursiv verbessert
Die skizzierten Entwicklungen führten zum Aufstieg Südchinas
von der verlängerten Werkbank der Welt zu einem Techno-
logiezentrum, das in der Elektronikindustrie bei der Techno-
logie- und Produktentwicklung mitentscheidet. Dieser Sprung
in der Hierarchie des globalen Kapitalismus ist beachtlich.
Doch wie hat sich dies auf die Situation der Arbeiter*innen
ausgewirkt? Ist es ihnen gelungen, eine mit den Lohnabhän-
gigen des Nordens vergleichbare Situation zu erreichen?
    Spätestens seit den Selbstmorden ausgebeuteter Arbei­
ter*innen bei Foxconn im Jahr 2010 kennen viele Smart­
phonenutzer*innen weltweit die mit ihren Geräten ver­
bundenen miserablen Arbeitsbedingungen. Nach Angaben
der Industrie hat sich seitdem viel getan. Die Markenfirmen
haben laut eigenen Aussagen verstanden, dass sie die Ver-
antwortung für Vorgänge in ihren Lieferketten annehmen
müssen. Sie veröffentlichen jährlich schön gestaltete Berich-
te über Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility,
sie in­vestieren in Vorzeigeprojekte und rühmen sich sozialer
und ökologischer Fortschritte. Sie beauftragen Auditfirmen,
um ihre Lieferkette in Bezug auf Menschenrechtsstandards
zu prüfen.
    Während sich auf der diskursiven Ebene tatsächlich einiges
verändert hat, sind die Zustände in den Fabriken der Elektro-
nikindustrie nicht wirklich besser geworden. Manche Stimmen
aus der kritischen Forschung vertreten sogar die Ansicht, dass
das System von Sozialaudits eher die negativen sozialen und
ökologischen Auswirkungen verstärkt.1 Der lange Zeit größ-
te und profitabelste Smartphoneanbieter Apple veröffentlicht
etwa seit über zehn Jahren Nachhaltigkeitsberichte. Bei kriti-
scher Durchsicht wird klar, dass darin zumindest implizit ein
sozialer Stillstand eingestanden wird. Themen wie extrem
viele Überstunden und zu niedrige oder gar nicht ausgezahl-
te Löhne dominieren das Bild unverändert.                          »Mobile Phone« von Liu Bolin (Ausschnitt)
    Zieht man die industrieunabhängige Berichterstattung von
zivilgesellschaftlichen Organisationen hinzu, wird der Befund
noch krasser. Im Sommer 2019 berichtete China Labor Watch zum         In den Betrieben auf der zweiten und dritten Stufe der Lieferkette
wiederholten Mal über Menschenrechtsverstöße und Verstöße             ist die Situation noch schlimmer. Da hier selbst die zumindest
gegen das chinesische Arbeitsgesetz in den Lieferketten von Ama-      begrenzte Wirkung der industriegeführten Sozialaudits ausbleibt,
zon und Apple. In einer Foxconn-Fabrik in der Provinz Hunan, die      mangelt es erheblich beim Arbeits- und Gesundheitsschutz.
für Amazon Echo Dot und Kindle-Geräte herstellt, wurden neben         Arbeiter*innen müssen etwa ohne Handschuhe mit gefährlichen
den bekannten problematischen Arbeitsbedingungen zusätzlich           Chemikalien hantieren und giftige Dämpfe einatmen. 2014 hat
16 bis 18jährige Jugendliche als Praktikant*innen zu Überstunden      das Recherchenetzwerk Verité einen Bericht über Zwangsarbeit von
und Nachtarbeit gezwungen. Und in einem Foxconn-Werk, das für         Wanderarbeiter*innen in der Elektronikindustrie in Malaysia veröf-
Apple Geräte herstellt, wurden ein illegal hoher Anteil von           fentlicht. Unternehmen wie HP haben darauf recht zügig mit der
Leiharbeiter*innen festgestellt sowie monatlich etwa hundert Über-    Veröffentlichung von Richtlinien zur Einstellung ausländischer
stunden pro Arbeiter*in.                                              Wanderarbeiter*innen in ihren Lieferketten reagiert.

                iz3w-Dossier                                                                        D · 10
Smartphones

Zu einer grundlegenden Verbesserung der Situation kam es aber            dells angesiedelt. Der Betrieb weist einen Sachverhalt auf, der in
nicht. Mitte 2019 veröffentlichte Danwatch in Zusammenarbeit             den letzten zehn Jahren als extrem unwahrscheinlich galt: Er
mit dem Projekt Make ICT Fair einen Bericht zur Situation von            verfügt über einen Betriebsrat und einen Tarifvertrag. Der Grund
Wanderarbeiter*innen in Malaysia. Ein komplexes Netzwerk von             dafür besteht in einem sehr hohen Automatisierungsgrad, der als
Leiharbeitsfirmen führt hier zu Zwangsarbeit. Um an Arbeit zu            Modell »Industrie 4.0« verkauft wird.
gelangen, müssen die Arbeiter*innen Anwerbegebühren an die                   Eine in Medien oft gestellte Frage ist, ob es angesichts der
Leiharbeitsfirmen entrichten, die oft ihre Pässe einziehen. So kom-      Menschenrechtsverstöße und der extrem negativen ökologischen
men sie in eine Art moderner Schuldknechtschaft. Auch deutsche           Auswirkungen bei der Smartphone- und Akkuproduktion (die hier
Unternehmen sind davon betroffen, wie Spiegel+ am 28. Juni               ausgelassen sind) überhaupt möglich sei, fair und nachhaltig
berichtete. Die Kieler Unternehmensgruppe Possehl, die Infineon          produzierte Kommunikationstechnik zu kaufen. Nachgeschoben
zuliefert, lässt in Melaka Einzelteile für die Chipproduktion fertigen.  werden dann meistens Empfehlungen, was als Konsument*in zu
Danwatch konnte in diesem Werk Zwangsarbeit und Schuldknecht-            machen sei. Die darin zum Ausdruck gebrachte Besorgnis ist
schaft dokumentieren. Infineon reagierte                                                                        richtig, die Frage dennoch falsch.
auf die Vorwürfe lediglich mit dem Ver-                                                                            Nicht die Kund*innen bestim-
weis auf die Verpflichtung aller Liefer­                                                                           men, wie privatwirtschaftlich
anten zur Einhaltung internationaler                  In einigen Betrieben sind Zwangsarbeit                       organisierte Unternehmen ihre
Standards.                                            und Schuldknechtschaft dokumentiert                          Produktion organisieren. Und es
    In den noch weiter vorgelagerten                                                                               sind nicht die Kund*innen, die
Teilen der Lieferkette der Elektronik­                                                                             Verantwortung für diese Ent-
industrie wie dem Rohstoffabbau ist die                                                                        scheidungen tragen. Hier hat die
Situation noch schlechter. Hier wird schon die bloße                     neoliberale Diskurshoheit es erfolgreich geschafft, die soziale und
Bereitschaft von Unternehmen, grundlegende Menschenrechte                ökologische Verantwortung von den Unternehmen auf die
einzuhalten, als ein Erfolg gewertet. Bei alledem ist es aber wichtig    Kund*innen abzuwälzen.
zu verstehen, dass dies nicht lokale Probleme in bestimmten Län-             Um auf die falsche Frage mit Zahlen zu antworten, denn die
dern sind. Es handelt sich vielmehr um systemische Probleme, die         können ja angeblich nicht lügen: Bei einem jährlichen Verkauf von
auch in Fabriken in Mittel- und Osteuropa existieren. Auch hier          über 1,4 Milliarden Smartphones dürften die Entscheidungen
kommt es regelmäßig zu Verstößen gegen Arbeitsgesetze.                   einiger weniger Kund*innen der Industrie ziemlich egal sein.
    Selbst bei den Ingenieur*innen in der Produktentwicklung sind        Ohnehin ist die Entscheidung weitgehend nichtig, denn alle Te-
in letzter Zeit gravierende Verstöße an die Öffentlichkeit gelangt.      lefone werden aus denselben oder sehr ähnlichen Komponenten
In der unter der Bezeichnung »996« in China geführten Debatte            von denselben Kontraktfertigern gebaut.
kritisieren Hochqualifizierte die Länge ihres Arbeitstages von neun          Mehr Erfolg könnte dem Konzept des bewussten Konsums
Uhr morgens bis neun Uhr abends bei sechs Wochentagen. Huawei            vielleicht im Fall der äußerst lukrativen öffentlichen Anschaffungen
stellte Ingenieur*innen Matratzen neben die Bürotische, um die           beschieden sein. Seit 2014 kann bei öffentlichen Beschaffungen
Übernachtung im Büro zu erleichtern. Laut Berichten gibt es so           in der EU die Einhaltung von sozialen und ökologischen Standards
genannte »Kämpfer -Verträge«, in denen Beschäftigte sich ‚freiwil-       eingefordert werden. Somit können Städte, Universitäten und
lig‘ verpflichten, Überstunden zu leisten sowie auf den bezahlten        andere Einrichtungen der öffentlichen Hand beim Einkauf von
Jahresurlaub und den Mutterschafts-/ Vaterschaftsurlaub zu ver-          Informations- und Kommunikationstechnik beispielsweise die
zichten.                                                                 Einhaltung von ILO-Kernarbeitsnormen als Mindeststandard ver-
                                                                         langen.
                                                                             Wichtig ist dabei jedoch, dass die öffentlichen Beschaffer*innen
Europa, war da noch was?
                                                                         die Einhaltung sozialer und ökologischer Kriterien durch indust-
Europa wird derweil im Bereich der mobilen Kommunikation wei-            rieunabhängige Organisationen überprüfen lassen. Dieser Hand-
ter abgehängt. Die Fertigung ist fast vollständig ausgelagert, die       lungsansatz beträfe allerdings zumeist andere Informations- und
Produktentwicklung hinkt hinterher. Nur Teile der Technologieent-        Kommunikationstechnik-Produkte als Smartphones, welche über-
wicklung sind noch dageblieben. Gleichzeitig sind chinesische            wiegend individuelle Konsumgüter sind.
Unternehmen stärker sichtbar. Allein Huawei betreibt mindestens              Letztlich wird für eine Humanisierung der Produktion die Fähig­
18 Entwicklungszentren in zehn europäischen Ländern und be-              keit der Arbeiter*innen, sich zu organisieren, entscheidend sein.
schäftigt über 1.500 Hochqualifizierte. Hier wird Grundlagenfor-         Da sie es aber mit Megakonzernen und globalen Lieferketten zu
schung betrieben, die dann in China zu marktfähigen Produkten            tun haben, sind sie auf Unterstützung aus den Zentren ange­wiesen,
weiter entwickelt wird. Hinzu kommen Innovationszentren, in              die sie nutzen können, um den notwendigen Raum zur Organi-
denen Huawei direkt mit Netzbetreibern an ‚Lösungen‘ arbeitet.           sation zu bekommen.
Darüber hinaus betreibt die Firma zwei regionale technische Hilfs-
zentren, zehn Trainingszentren und fünf lokale Netzwerkbetreiber-        Anmerkung
zentren. 2014 beschäftigte Huawei rund 10.000 Menschen in                  1 LeBaron und Lister (2016): Ethical Audits and the Supply Chains of Global
Europa. Und wie jedes große Technologieunternehmen (das zudem                Corporations. SPERI Global Political Economy Brief No. 1

in sicherheitsrelevanten Bereichen arbeitet) hat Huawei seit über
fünf Jahren ein eigenes sehr aktives Büro für die Lobbyarbeit in
Brüssel.                                                                 tt Peter Pawlicki ist Soziologe und forscht zur Entwicklung der
    Seit einiger Zeit werden aber auch wieder Smartphones in Eu-         internationalen Arbeitsteilung in der Elektronikindustrie. Derzeit
ropa gefertigt. In Bocholt hat Gigaset die Endfertigung eines Mo-        arbeitet er für die Nichtregierungsorganisation Electronics Watch.

                                                                                                               D · 11
Smartphones

Hätte, hätte,
        Lieferkette                                                  Als das erste
                                                                    2013 auf dem
                                                                                    Fairphone
                                                                                    Markt
Wie fair ist das Fairphone?                                         erschien, erre
                                                                                   gte es viel
                                                                   Aufmerksam
                                                                                 keit. Endlich
                                                                   ein Smartpho
                                                                                  ne, das ohne
                                                                   Konfliktminer
                                                                                  alien und                   plizierten Problemen ohne
                                                                  Kinderarbeit
von Elena Kolb                                                                  hergestellt                   einen klaren Mittelweg umge-
                                                                  wurde! Doch
                                                                                 konnte es                    ben.« Nach zwei Jahren der
September 2019: Stolz präsentiert das niederländische
                                                                  den Anspruch                               Diskussion wurde die Initiative
                                                                                  einlösen,
Sozialunternehmen Fairphone B.V. die dritte Genera-              in sozialer wie                             für gescheitert erklärt.
                                                                                  in ökolo­
tion seines gleichnamigen Smartphone-Modells. »Es                gischer Hinsi                              Für die Endmontage des Fair-
                                                                               cht fair
ist kein Geheimnis: Wir wollen die Welt verändern.               produziert zu                              phone 3 wurde eine neue Part­
                                                                                sein?
Fairphone stellt Mensch und Umwelt an erste Stelle«,                                                        ner­schaft mit Arima in Suzhou
heißt es zu diesem Anlass auf der Webseite. Für 450                                                        in China eingegangen. Die Ar­
Euro erhalten die Kund*innen mit dem Fairphone 3                                                           beit­­nehmer*innen werden dort
ein Mittelklasse-Smartphone. Im Gegensatz zu den                                                           nun von Fairphone selbst zu ihren
beiden vorherigen Generationen lässt es sich äußer-                                                        Wünschen und Verbesserungsvor-
lich kaum noch als klobiges Ökohandy identifizieren.                                                      schlägen befragt. Vor kurzem
    Die Käufer*innen des Fairphones unterstützen                                                          wurden Wahlen für eine Vertretung
eine Firma, die sich Recycling und Kreislaufwirtschaft, faire Mate-                                      der Arbeiter*innen eingeführt und
rialien, nachhaltige Endprodukte und gerechte Arbeitsbedingungen       eine neue Kantine eröffnet. Außerdem wurde untersucht, wie
auf ihre Fahnen schreibt. Fairphone B.V. entstand aus einer Kam-       hoch eine existenzsichernde Bezahlung sein müsste. Das Ergebnis:
pagne der Waag Society zu Konfliktmineralien und wird heute von        Ab November 2019 werden pro hergestelltem Fairphone 1,50 Euro
mehreren sozialen Investor*innen getragen. Regelmäßig werden           zusätzlich an die gesamte Arbeiter*innenschaft ausgezahlt.
außerdem Fremdmittel beantragt und Crowdfundings initiiert.                Für das Fairphone 3 wurden bisher Produktionsanlagen von 76
    Bisher verkaufte das Unternehmen 60.000 Fairphones der Ge-         Komponentenherstellern in China, Japan und Korea identifiziert.
neration Eins und 115.000 Fairphones der zweiten Generation. Bis       Doch damit sind noch nicht alle Zulieferbetriebe erfasst und es ist
Ende 2019 sollen 40.000 Fairphones der dritten Generation auf          nicht geklärt, wo sich alle zugehörige Minen sowie Schmelz- und
den Markt kommen. Das ist nicht viel im Vergleich zu anderen           Veredelungsanlagen befinden. Bisher wurden nur in sechs dieser
Herstellern. Die Geschäftsführerin von Fairphone, Eva Gouwens,         Firmen Programme zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen
vergleicht das Nischenunternehmen daher mit einem »Moskito«,           durchgeführt.
das die Global Player in der Elektronikindustrie nachts nicht schla-       Fairphone versucht auch, die Lieferketten der verbauten Mate-
fen lässt.                                                             rialen zu prüfen. Zusammen mit der Dragon Fly Initiative wurden
                                                                       über 40 verschiedene Materialien im Fairphone festgestellt. Die
                                                                       Dragon Fly Initiative aus Großbritannien setzt sich für nachhaltige
Probleme ohne Mittelweg
                                                                       Lieferketten von Mineralien ein und vermittelt Hersteller an sozial
Seit das erste Fairphone Aufsehen erregte, ist viel passiert und       verantwortliche Lieferanten und Produzenten. Fairphone legt den
Fairphone musste einige Niederlagen eingestehen. Der Anspruch,         Fokus auf die Lieferketten von acht Materialien, bei denen das
ein »gerechtes« Smartphone herzustellen, erwies sich angesichts        größte Verbesserungspotential erkannt wurde: Kobalt, Kupfer, Gold,
komplexer Produktionsketten als utopisch. Im Impact Report vom         Lithium, Neodymium, Plastik, Zinn und Wolfram. Die Lieferketten
Dezember 2018 heißt es: »Während wir sorgfältig recherchieren,         dieser Rohstoffe sollen bis zum Jahr 2020 möglichst fair gestaltet
sind wir oft durch die Informationen begrenzt, die Lieferanten mit     werden.
uns teilen können oder wollen. Darüber hinaus gibt es für einige           Am Vorzeigebeispiel Gold lässt sich der bisher größte Erfolg
unserer Schwerpunktmaterialien noch keine nachhaltigen Quellen         ablesen. Das im Fairphone verbaute Gold ist mit dem Fair-Trade-
– deshalb müssen wir Wege finden, mit einem Netzwerk von Part-         Siegel ausgezeichnet. Es wird in peruanischen Minen abgebaut
nern verantwortungsvollere Lieferketten aufzubauen.«                   und ist bis zur Goldraffination in der Schweiz zurück verfolgbar. Im
    Fairphone legt Wert auf faire Arbeitsbedingungen bei der End-      Shanghai Gold Exchange (SGE) kommt es jedoch zum zulässigen
montage. Dafür war geplant, beim chinesischen Endmontage-              »Mengenausgleich«, das heißt ab diesem Zeitpunkt wird das faire
Hersteller für das Fairphone 2 einen Worker Welfare Fund einzu-        Gold mit konventionellem Gold vermischt. Da alle chinesischen
führen, der unter anderem den Dialog zwischen Arbeiter*innen           Lieferbetriebe, die an der Produktion des Fairphones beteiligt sind,
und Management fördern sollte. Im Impact Report von 2018 heißt         ihr Gold über das SGE erwerben, ist ein späterer Mengenausgleich
es dazu: »Wir sahen uns mit rechtlichen und bürokratischen             zurzeit nicht möglich. Deshalb versucht Fairphone, eine neue
­Hindernissen durch Gesetze der Chinesischen Union sowie Bank-         Goldlieferkette mit Kleinbergbau in Uganda zu implementieren
 anforderungen konfrontiert. Hinzu kamen Bauteilengpässe und           und kooperiert dazu mit UNICEF und Stop Child Labour. Dieses
 unregelmäßige Fair­phone-­Pro­duktionen, und wir waren von kom-       Projekt wurde für den Responsible Business Award 2019 nominiert.

                iz3w-Dossier                                                                          D · 12
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