Viertel jahrs schrift - 1 | 2019 Jahrgang 164
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Viertel jahrs 1 | 2019 schrift Jahrgang 164 der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich NGZH 4 Der älteste Tier- Seit 150 Jahren zeigt der Wildnispark Zürich Langenberg, wie einheimische park der Schweiz Wildtiere in ihren Lebensräumen leben.
E DI T O R I A L Brief des Präsidenten Aufgrund einer Bitte, auf die Plastikfolien beim Versand der NGZH-Publikationen aus Umwelt- schutzgründen zu verzichten, haben wir Alter- nativen mit unserer Buchdruckerei Koprint AG besprochen sowie eine Studie der Empa St. Gallen über die Ökobilanz von Zeitschriftenver- Entwicklung der Mitgliederzahlen der packungen herangezogen. Die Lebenszyklus- NGZH seit 1970. Blau: alle Mitglieder, rot: analyse zeigt, dass die Verpackung mit Papier zahlende Einzelmitglieder und Studenten. bei allen verwendeten Kriterien schlechter ab- Der Höchststand wurde in der ersten Hälfte schneidet als die Plastikfolie. Zudem wäre die der 1980er-Jahre mit rund 1550 Mitgliedern Papiervariante teurer. Deshalb hat der Vorstand erreicht. Heute hat die NGZH rund 530 entschieden, den Versand mit Folien beizube- Mitglieder. halten. Die Studie kann als PDF bezogen wer- den via E-Mail an sekretariat@ngzh.ch. Eine Analyse der Mitgliederzahlen über die ver- beschlossen. Die Parzelle wurde dem heutigen gangenen knapp 50 Jahre zeigt eine lang erhoff- Besitzer abgekauft und der ProNatura geschenkt, te Trendwende. Die Grafik rechts zeigt, dass die die die geplante Biodiversitätsaufwertung be- Mitgliederzahlen seit drei Jahren wesentlich lang- gleiten und das Gelände langfristig im Auge be- samer fallen, als dies über die letzten 20 Jahre halten wird. der Fall war. Der Vorstand erachtet diese erfreu- liche Entwicklung als das Resultat seiner Bemü- Ein Sorgenkind bleibt nach wie vor die Haupt- hungen, die Produkte der Gesellschaft (Publi- versammlung. Der Vorstand hat versucht, mit kationen, Vorträge, Exkursionen) modern und attraktiven Begleitprogrammen Mitglieder für attraktiv zu gestalten. Ein deutlich sichtbarer die Teilnahme zu motivieren. Auch wurden ver- Anstieg der Mitgliederzahl erfolgte 2016, als das schiedene Wochentage ausprobiert, wobei sich sehr beliebte Neujahrsblatt über den Pfäffiker- jedoch keine Präferenz zeigte. Einzig der Versuch see 53 Personen motivierte, der NGZH beizu- im vergangenen Jahr, ins Technorama in Winter- treten. Wir werden mit einem breiten Spektrum thur zu gehen, hat mit nur acht Teilnehmenden von Themen versuchen, die Mitgliederzahl wei- deutlich gezeigt, dass das Zentrum von Zürich ter zu stabilisieren und dann zu erhöhen. Um dienicht verlassen werden darf. Die nächste Haupt- heutige Qualität unserer Publikationen auf langeversammlung wird deshalb am Montagabend Sicht finanziell aufrecht erhalten zu können, ist 17. Juni von 18 bis 19 Uhr 30 im Eschersaal der ein Wachstum um rund 100 Mitglieder auf etwa Zentralbibliothek stattfinden. Die Details dazu den Stand von 2010 zwingend notwendig. finden sich auf dem Faltblatt, das diesem Heft beigelegt ist. Vor einiger Zeit ist die SCNAT an den NGZH-Vor- Fritz Gassmann stand herangetreten mit der Bitte um Mithilfe bei der Realisierung eines Naturschutzprojektes im Raum Eglisau, das durch ein Legat von He- lene Kaiser mit Fr. 500 000 finanziert werden kann. Nach vielen Diskussionen und Gesprächen mit Landeigentümern wurde unter mehreren Naturforschende möglichen Varianten die Renaturierung des ehe- Gesellschaft in Zürich maligen Migrol-Tanklagers Eglisau-Tössriedern www.ngzh.ch
FO R S C H U N G BU L L E T I N — A KT U E L L — GESELLSCHAF T 14 Heinrich Zollinger – ein Biografieprojekt 4 Der älteste Tierpark der — N G Z H-E X K U R S I O N E N 16 Einblicke in die Geologie Schweiz der Glarner Alpen 17 Michelangelo, Galilei und Gravitations- — P H YS I K I M A L LTAG wellen 8 Technischer Schnee und der Mpemba-Effekt — O S WA L D H E E R-P R E I S 18 Ausschreibung zur dritten Preisvergabe — P O R T R ÄT 11 Experte für Parasit- Wirt-Beziehungen — J U G E N DP R E I S 19 Ein Kopfhörer mit aktiver Geräuschaus- löschung 22 IMPRESSUM 23 AG E N DA Titelbild: Der Luchs gehört zu den markantesten Tieren, die im Wildnispark Zürich Langenberg besichtigt werden können.
4 FO R S C H U N G — A KT U E L L 150 Jahre Langenberg – der älteste Tierpark der Schweiz Braunbär, Wolf, Wisent, Steinbock Mann von Welt und Einsiedler und weitere einheimische oder ehe- Carl Anton Ludwig von Orelli wurde 1808 geboren. mals einheimische Wildtiere leben im Nach einer militärischen Laufbahn ernannte der Wildnispark Zürich Langenberg in Stadtrat von Zürich den damals gerade einmal grosszügigen und naturnahen Anlagen. 27-Jährigen 1835 zum Stadtforstmeister. Von Orelli Was vor 150 Jahren als Wildgarten war ein Mann mit Umgangsformen eines vollende- und erster Tierpark der Schweiz ten Weltmannes und einem grossem Wissensdurst. begann, ist heute ein wissenschaftlich Er las Bücher über Forstwesen, Militär, Geographie, geführter Zoo, der die Besucherinnen Astronomie, Kunstgeschichte, aber auch Ernährung und Besucher in die spannenden und Gesundheit. Lebensräume der Wildtiere eintau- Nach 1852 zog sich der einstige Lebemann chen lässt. immer mehr zurück und wurde zu einem eigenwil- ligen Einsiedler, der fortan in spartanischer Ein- Alles begann 1869 mit einer längst gehegten Lieb- fachheit lebte. Schon um 18 Uhr ging er ins Bett und lingsidee von Stadtforstmeister Carl Anton Ludwig stand nach Mitternacht wieder auf. Er nahm Eis- von Orelli. Angesichts der überjagten Wälder des und Schneebäder, schlief auf einem zottigen Bären- 19. Jahrhunderts wollte er auf dem Langenberg in fell und bettete sein Haupt auf einem harten Buchen- Langnau am Albis einen Wildgarten mit einem scheit als Kopfkissen. Seine Lieblingsidee eines «schönen und belebten Wald» errichten. Damit Wildgartens auf dem Langenberg verwirklichte er schuf er für die damalige Stadtbevölkerung von Zü- trotz Wiederstand von Seiten des Stadtrats mit dem rich eine «bleibende Stätte des Genusses» und ei- Einsatz von 20 000 Franken aus seiner eigenen Ta- nen «Wallfahrtsort für Erholungsbedürftige und sche. Lernbegierige von Nah und Fern». Mit der Besie- gelung der Stiftungsurkunde für den Wildpark Lan- Einheimisch versus exotisch genberg am 11. Dezember 1869 entstand ein erstes Nach dem Tod seines Gründers im Januar 1890 ver- begehbares und den gesamten Langenberg einfas- änderte sich der Wildgarten. Es kamen neue Tier- sendes Gehege mit Rothirschen, Damhirschen, Re- arten hinzu, dem damaligen Zeitgeist entsprechend hen und Gämsen. auch exotische Tiere wie Axishirsche, Zebras und Lamas. Mit der Eröffnung des Zoo Zürich 1929 ver- schwanden die Exoten wieder. Der Langenberg konzentrierte sich fortan auf einheimische und ehe- mals einheimische Wildtiere. Der Reihe nach zogen Braunbär, Wildschwein, Alpenmurmeltier, Alpen- steinbock, Elch, Wisent, Luchs und Wildkatze in den Langenberg ein. Als jüngste Bewohner kamen vor gut vier Jah- ren Hausmaus, Wanderratte und Siebenschläfer im sogenannten Müsli-Hüsli dazu. Dort begegnen die Besucherinnen und Besucher den Wildtieren auf Augenhöhe, und die Grenzen zwischen Tieranlagen und Besucherräumen lösen sich scheinbar auf. So Carl Anton Ludwig von Orelli, der Gründer des Wildgartens auf dem Langenberg, entwickelte sich mit der Zeit zu einem eigenwilligen Einsiedler.
5 Vierteljahrsschrift — 1 | 2019 — Jahrgang 164 — NGZH Steinböcke gehören genauso zum Wildnispark Zürich Langenberg wie viele andere einheimische oder ehemals einheimische Wildtiere. tanzen etwa die Mäuse auf dem Küchentisch, ma- Die moderne Tierhaltung im Langenberg chen sich die Ratten über den Vorratskeller her und orientiert sich an den aktuellen Erkenntnissen der nisten sich die Siebenschläfer rotzfrech in der Ga- Tiergartenbiologie, Feldforschung, Tiermedizin, rage ein. Tierphysiologie und anderer Wissenschaften. Im In den vergangenen 150 Jahren hat sich der Vordergrund stehen nicht mehr das Ausstellen und Langenberg von der Lieblingsidee des Stadtforst- das Exotische, sondern das Wohl der Tiere und das meisters von Orelli zu einem modernen wissen- persönliche Besuchererlebnis. Der Grundgedanke schaftlich geführten Zoo weiterentwickelt. Lebten eines Erholungs- und Lernortes ist über all die Jah- 1914 die ersten Braunbären noch in einem Bären- re hinweg wichtig geblieben. graben und wurden darin in Ketten vorgeführt, so streifen sie heute durch eine über 11 000 m2 grosse Raubtier- und Urzeitrundweg Waldanlage, in der sie sich Tag und Nacht frei be- Die drei grossen Räuber Bär, Wolf und Luchs sowie wegen dürfen. Die Tiere können im Erdreich wüh- die etwas kleinere Wildkatze lassen sich auf dem len und ihre Winterruhe in selbst gegrabenen Höh- 30-minütigen Raubtierrundweg miteinander ver- len verbringen. Zudem haben sie zahlreiche gleichen. Leben Wildkatze und Luchs als Einzel- Möglichkeiten zu klettern, zu baden und sich fort- gänger, so bevorzugen Wölfe ganz klar das Leben zupflanzen.Weil sie fast ihr gesamtes natürliches in der Grossfamilie. Fressen die beiden Kleinkatzen Verhaltensrepertoire ausleben können, werden sie fast ausschliesslich Fleisch, kann der Braunbär schon zu Botschaftern für ihre Artgenossen in freier Natur fast als Vegetarier unter den Raubtieren bezeichnet und können für diese Verständnis und Wohlwollen werden. Drei Viertel des Nahrungsbedarfs decken erwirken. Dies gilt nicht zuletzt für die drei grossen Braunbären mit pflanzlicher Kost. einheimischen Raubtiere Braunbär, Wolf und Luchs, Der etwas anspruchsvollere Urzeitrundweg die nicht überall und von jedermann gerne in den durch den Westteil des Langenbergs führt zu den Schweizer Wäldern gesehen werden. Spuren unserer Vorfahren im Knochenwald. In der
6 FO R S C H U N G — A KT U E L L Links: Eine Zeitlang konnten auf dem Langenberg auch exotische Tiere bestaunt werden, so etwa die in Süd- amerika heimischen Lamas. Rechts: Bären wurden früher in einem engen Graben gehalten. Heute leben die grossen Raubtiere in einem weitläufigen, naturnahen Gehege. Feuerhöhle zeigen Malereien den tiefen Bezug der ren und auch Fragen stellen. Zudem haben die Ex- Steinzeitmenschen zur damaligen Tierwelt, und die pertinnen und Experten immer etwas zum Anfassen Besucherinnen und Besucher können auf ihrem dabei, sei es ein Fell oder ein Geweih. Rundgang auch die Überreste der Jagd identifizie- ren. Fast auf dem gesamten Rundweg lassen sich «Unsere Natur im Blick» Wisente und Wildpferde beobachten. Wer möchte Der Fokus im Jubiläumsjahr 2019 liegt wie vor 150 kann sich in Gedanken zurückversetzen lassen in Jahren auf der Natur direkt vor unserer Haustüre. eine steinzeitliche Jagdszene. «Unsere Natur im Blick» heisst denn auch das Mot- to des Jubiläumsprogramms. Verschiedene Veran- Erholungs- und Lernort staltungen, Ausstellungen und Angebote schaffen Neben den Themenwegen bieten auch die zahlrei- im Laufe des Jahrs Einblicke ins Gestern, Heute und chen Ausstellungen viel Spannendes und Wissens- Morgen des Tierparks. Mit dabei ist etwa eine Frei- wertes zu den Langenberger Tieren. Wie die noma- lichtausstellung zur Geschichte des Langenbergs dischen Bewohner im Schutzgebiet B der Wüste oder ein Freilichttheater über den Gründer des Wild- Gobi in der Mongolei mit den wilden Przewalskip- gartens, das in der alten Bärenanlage aufgeführt ferden zusammenleben, erklären Informationsta- wird. feln in der Mongolischen Jurte. Was den Rotfuchs Das grosse Jubiläumsfest findet am Sonntag, vermehrt in die grossen Städte wie Zürich zieht und 19. Mai 2019 statt. Vier über das ganze Jahr verteil- wie die Stadtbevölkerung mit Meister Reinecke im te Wildnis-Tage lassen über die Schulter von Tier- eigenen Garten umgehen sollte, greift die Ausstel- pfleger und Tierarzt blicken. Zudem schaut der Tier- lung in der Fuchsscheune auf. park mit dem Jubiläum auch in die Zukunft. Als Wer statt zu lesen lieber verständlichen Er- erste von vier in der Vision «Tierpark 2030» ge- klärungen lauscht, kann während der Sommersai- planten Erlebniswelten soll im Langenberg eine Al- son zwischen 21. März und Ende Oktober bei den penwelt mit Rothirsch, Murmeltier und Steinbock Wildnisbotinnen und Wildnisboten mittwochs, entstehen. Damit wird im Jubiläumsjahr eine neue samstags und sonntags viele Informationen erfah- Lieblingsidee lanciert.
7 Vierteljahrsschrift — 1 | 2019 — Jahrgang 164 — NGZH Links: Von der kleinen Hausmaus bis zum grossen Braunbären leben heute auf dem Langenberg ganz unter- schiedliche Tiere. Rechts: Die Wildnisbotinnen und Wildnisboten vermitteln auf anschauliche Weise interessante Hintergründe zu den einheimischen Tierarten. Im Sihlwald entsteht etwas Einzigartiges naler Bedeutung» und ist damit der erste Naturer- Neben dem Tierpark auf dem Langenberg gehört lebnispark der Schweiz. Geeignetes Tor in die ein- der Naturerlebnispark Sihlwald zur Stiftung Wild- zigartige Wald-Wildnis ist das Besucherzentrum in nispark Zürich. Die Stiftung wurde 2009 gegründet Sihlwald, fünf Minuten von der Station Sihlwald und wird getragen von der Stadt Zürich, den Ge- gelegen. Dort erhalten Sie Informationen und Kar- meinden des Bezirks Horgen, vom Kanton Zürich ten für einen erlebnisreichen Aufenthalt im Sihl- und von Pro Natura Zürich. Der Sihlwald ist ein rund wald. Im Naturmuseum finden Sie eine interaktive 1‘100 ha grosser ursprünglicher Buchenwald mitten Ausstellung zur Geschichte des Sihlwalds vom Nutz- im urbanen Raum Zürich-Zug. wald zum Naturwald sowie wechselnde Sonderaus- Dank dem Schutz der natürlichen Prozesse stellungen zu verschiedenen Naturthemen. Direkt verwildert der Sihlwald zum Naturwald und bietet daneben lädt der Wildnis-Spielplatz mit Wasserspiel zahlreichen Pflanzen, Pilzen und Tieren Lebens- Kinder zum Klettern und Planschen ein – und die raum und Nahrung – und den Menschen ein einzig- Eltern und Grosseltern geniessen auf der grossen artiges Wildnis-Erlebnis. 72 km Wanderwege, 58 Terrasse des Restaurants das beruhigende Rauschen km Radwege und 54 km Reitwege warten darauf, der Sihl. entdeckt zu werden. Martin Kilchenmann Der Autor ist Leiter Kommunikation und Zoologi- Park von nationaler Bedeutung scher Kurator im Wildnispark Zürich Langenberg. Lassen Sie sich bei einer Wanderung durch den Weitere Informationen unter www.wildnispark.ch Wildnispark Zürich Sihlwald von mächtigen, über 200-jährigen Baumriesen und imposanten Ausbli- cken vom Aussichtsturm Albis-Hochwacht verzau- bern. Oder geniessen Sie mit Ihren Kindern den zweistündigen Walderlebnispfad. Seit 1. Januar 2010 besitzt der Sihlwald das of- fizielle Label «Naturerlebnispark – Park von natio-
8 FO R S C H U N G — P H YS I K I M A L LTAG Technischer Schnee und der Mpemba-Effekt Schneekanonen und Schneilanzen exakt berechnet werden. Die kälteste durch Verduns- beruhen auf interessanten Phänome- tung von Wasser entstehende Temperatur wird Feucht- nen der Wassertröpfchenphysik und kugeltemperatur (oder kurz Feuchttemperatur, engl. der Meteorologie. Technischer Schnee wet bulb temperature) genannt und in Tabellen auf- kann paradoxerweise in kleinen Men- gelistet. Sie hängt von der normalen Temperatur gen auch mit heissem Wasser erzeugt (auch Trockentemperatur genannt) und der Luft- werden. Die in kalten Gegenden feuchte ab (Tab. 1 und Abb. 2). beliebten Experimente werden meist Feucht- und Trockentemperaturen sind in ge- als Beispiele des Mpemba-Effektes sättigter Luft gleich, weil bei 100 Prozent Luftfeuchte beschrieben – zu Unrecht, denn der kein Wasser verdunstet werden kann. Der Effekt ist seit Aristoteles vermutete Effekt ist bei trockener Luft am grössten: Bei 20 °C und einer eine Illusion. relativen Feuchte von 20 Prozent beträgt die Feucht- temperatur nur unangenehme 9,4 °C. Dies ist jedoch Technischer Schnee wird verwendet, um als Folge nicht die Temperatur, die wir nach einem Bad bei des Klimawandels sterbende Wintersportgebiete Windstille spüren, sondern die niedrigste Tempera- noch einige Zeit am Leben zu erhalten. Schneekano- tur, die bei starkem Wind entstehen kann. Deshalb nen (Abb. 1) versprühen Wasser, das mit mehreren hüllen wir uns sofort in trockene Tücher, wenn ein Atmosphären Überdruck durch ringförmig ange- Wind weht. brachte Düsen gepresst wird. Um den Gefrierprozess Im Zusammenhang mit technischem Schnee zu beschleunigen und die entstehenden Eiskügel- sind Temperaturen um den Nullpunkt interessant: chen auf eine grössere Fläche zu verteilen, wird mit Bei 0 °C und 20 Prozent beträgt die Feuchttempera- leistungsfähigen Ventilatoren ein Luftstrahl erzeugt, tur -4,7 °C. Trockene Luft ist also vorteilhaft für die der die Wassertropfen und Eiskügelchen mitreisst. Beschneiung. Der für das Erreichen der Feuchttem- Schneilanzen verzichten auf diesen energie- peratur notwendige Wind entsteht bei der Schnee- intensiven Ventilator und schleudern Wassertröpf- kanone durch den Ventilator und bei der Schneilanze chen mit Hilfe hochkomprimierter Luft über die zu durch den Luftstrahl aus der Hochdruckdüse. beschneiende Fläche. Beim Austritt aus der Düse Wichtig ist auch die ideale Tropfengrösse, die dehnt sich die Luft aus und kühlt sich dabei ab, was durch die Wahl der Düsen gesteuert werden kann. den Gefriervorgang beschleunigt. Bei beiden Syste- men kann das zu versprühende Wasser zur Erhöhung der Effizienz vorgekühlt und mit chemischen Mitteln versetzt werden, welche die Gefriertemperatur er- höhen. Verdunstungskühlung – eine alltägliche Erfahrung Nasse Haut fühlt sich kälter an als trockene, und dies umso mehr, je stärker der Wind weht. Um ein Gramm Wasser zu verdunsten, werden 539 Kalorien benötigt (die sog. Verdampfungswärme). Da der Wärmekon- takt zwischen der Haut und dem Wasserfilm besser ist als zwischen dem Wasserfilm und der Luft, wird die Verdampfungswärme zum grössten Teil aus der Tab. 1: Feuchttemperaturen (°C) für verschiedene Temperaturen (°C) und Luftfeuchten (%). Entspre- Haut bezogen, die sich dabei abkühlt. Mit Hilfe des chende Rechner finden sich im Internet unter dem Energieerhaltungsgesetzes kann die Abkühlung Stichwort Feuchtkugeltemperatur.
9 Vierteljahrsschrift — 1 | 2019 — Jahrgang 164 — NGZH Abb. 1: Schneekanone (links) und Schneilanze (rechts) in Betrieb. Die Tropfen sollen genügend Zeit haben, um bis in sikalisch geschieht dabei Folgendes: Ein kleiner Teil ihre Zentren zu gefrieren, damit sie nicht in flüssiger (viel weniger als 20 Prozent) des heissen Wassers Form auf den Boden fallen und Glatteis bilden. Da- verdampft und es entsteht eine mit Wasserdampf für sind kleine Tropfen günstig. Andererseits sollen übersättigte Zone, in der innerhalb von Millisekun- sie genügend schnell fallen, um nicht durch Winde den feine Nebeltröpfchen entstehen. Diese gefrieren weggeweht zu werden, was für grosse Tropfen spricht. sofort zu kleinen Eiskriställchen, die langsam zu Bo- Diese Überlegungen zeigen, dass ein Optimum ge- den fallen. Mit kaltem Wasser geschieht hingegen funden werden muss. Nach dem Stoke'schen Fallge- nichts Aussergewöhnliches. setz für sphärische Tropfen ergibt sich eine Fallge- schwindigkeit von 4 Zentimetern pro Sekunde für Tropfen mit Durchmessern von 1 Millimeter (die Fallgeschwindigkeit ist proportional zum Quadrat des Durchmessers). Für den Fall über etwa 5 Meter brauchen solche Tropfen also rund 2 Minuten. Durch einen schwachen Wind von 1 Meter pro Sekunde wer- den sie um gut 100 Meter verfrachtet, was toleriert werden kann. Nach der Diffusionsgleichung findet der Temperaturausgleich in einem solchen Tropfen innerhalb von etwa 2 Sekunden statt. Da beim Ge- friervorgang 80 mal mehr Wärme abgeführt werden muss als bei einer Abkühlung um ein Grad, muss Abb. 2 (links): Zur Messung der Feuchttemperatur etwa 20 mal mehr Zeit eingerechnet werden, wenn kann ein normales Thermometer verwendet werden, dessen Kugel mit einem befeuchteten die Feuchttemperatur bei -4 °C liegt, also rund 40 Stofflappen umwickelt wird. Durch Schwenken des Sekunden. Die angenommenen 1-Millimeter-Tropfen Thermometers oder mit Hilfe eines Ventilators wird sind also ein guter Kompromiss (Abb. 3). Wind erzeugt, um die Verdunstung zu erhöhen. Kennt man die Trocken- und Feuchttemperatur, kann mit einem Rechner die relative Feuchte Schnee aus heissem Wasser – Volks- bestimmt werden. sport bei grosser Kälte Abb. 3 (rechts): Technischer Schnee aus Schneilan- ze auf einem 2-Millimeter-Raster. Die Tropfen Statt mit Überdruckdüsen kleine Tropfen zu erzeu- haben eine sphärische Form mit Durchmessern von gen, versuchen Leute bei Temperaturen unter etwa meist 0,4 bis 0,8 Millimetern. Sie sind etwas -30 °C sehr heisses Wasser in die Luft zu werfen, um kleiner als die oben angenommenen 1-Millimeter- Tropfen und deshalb empfindlicher auf Wind-Ver- Schnee zu produzieren. Abb. 4 zeigt ein besonders frachtung. Schneilanzen erzeugen tendenziell eindrückliches Ergebnis dieser Bemühungen. Phy- kleinere Tropfen als Schneekanonen.
10 FO R S C H U N G — P H YS I K I M A L LTAG So weit ist alles verständlich. Überra- schend ist jedoch die generelle Bezeichnung dieses Phänomens als Mpemba-Effekt, wie man dies in Tausenden von Internetseiten nachlesen kann. Der Mpemba-Effekt hat aber nichts mit Verdampfung und darauffolgender Kristallbildung zu tun! Der vermeintliche Mpemba- Effekt 1963 machte der Gymnasiast Erasto Mpemba in Tanzania eine verblüffende Beobachtung: Seine heisse Glacé-Mischung gefror im Ge- frierfach schneller als die bereits abgekühlten Produkte seiner Kameraden. Denis G. Osbor- ne vom University College Dar es Salaam in- Abb. 4: Durch eine schwungvolle Kreisbewegung teressierte sich für die Beobachtung und pu- wird das heisse Wasser aus einer Thermosflasche blizierte, gestützt auf weitere Experimente, in die Luft geschleudert. Am linken und oberen Rand der Wolke sind die Kondensstreifen einzelner zusammen mit Mpemba den «Mpemba-Ef- Wassertropfen deutlich zu erkennen. fekt» (Mpemba & Osborne 1969, 1979). Ab 1995 entdeckten Chemiker und Physiker die merkwürdige Publikation und Wasser in die in Gefrierfächern immer vorhandene führten weitere Experimente durch. Ein Jahr- Eisschicht einschmilzt und für einen guten thermi- zehnt später folgten mehrere Publikationen schen Kontakt mit den Kühlelementen sorgt. Da- in seriösen Zeitschriften und es setzte ein durch werden die Abkühlung und der Gefrierpro- Medienrummel ein (Radio, TV, Social Me- zess beschleunigt. dia, YouTube, das Stichwort Mpemba erzeugt Fritz Gassmann heute 540 000 Hits im Internet), der den nie Der Autor ist Physiker und arbeitete früher am Paul Scherrer Institut PSI in Villigen. klar bewiesenen Effekt weltweit bekannt machte. Literatur Recherchen ergaben, dass der gegen Bacher M. & Draxler D. 2011. Entwicklung eines die Intuition verstossende Effekt – heisses Prototyps zur Schneeerzeugung im Labor. IAN Report 137, Universität Wien: 66 S. Wasser gefriert schneller als kaltes – bereits Burridge H. C. & Linden P. F. 2016. Questioning früher von bekannten Wissenschaftlern ver- the Mpemba effect: hot water does not cool more mutet wurde, z.B. durch Aristoteles (384-322 quickly than cold. Nature Publishing Group, Sci. v.Chr.), Francis Bacon (1561-1626), René De- Rep. 37665: 31 p. Lang T. 2009. Energetische Bedeutung der scartes (1596-1650) und Joseph Black (1728- technischen Pistenbeschneiung und Potentiale für 1799). Es lohnte sich deshalb, das Phänomen Energieoptimierungen. BfE-Projekt 102 594: 33 S. genauer zu untersuchen. Mpemba E. B. & Osborne D. G. 1969. Cool? Die detaillierte Untersuchung von Bur- Physics Education 4 (3): 172-175. ridge & Linden (2016) kam jedoch zum Schluss, Mpemba E. B. & Osborne D. G. 1979. The Mpemba effect. Physics Education 14 (7): 410-412. dass kein Effekt nachgewiesen werden kann, wenn man alle Fehlerquellen berücksichtigt. Insbesondere muss die Verdampfung sorg- fältig unterbunden werden. Da Osborne ver- storben und der pensionierte Mpemba nicht auffindbar ist, wird die Frage nach der Ursa- che der seltsamen Beobachtung wohl nie ganz geklärt werden können. Eine plausible Er- klärung ist, dass sich ein Gefäss mit heissem
11 FO R S C H U N G — P O R T R ÄT Experte für Parasit- Wirt-Beziehungen Im Laufe der Evolution haben sich ner «Verpackung» und es entstehen begeisselte einzellige Parasiten wie Giardia Wachstumsformen mit zwei Zellkernen, die sich lamblia und Toxoplasma gondii bes- mit Haftscheiben ans Darmepithel festsetzen und tens an die Lebensbedingungen in Durchfall und Bauchkrämpfe auslösen können. ihren Wirten angepasst. Der Mole- kular- und Zellbiologe Adrian Hehl 300 Millionen Erkrankungen pro Jahr erforscht die Eigenheiten dieser Gemäss Schätzungen der WHO erkranken pro Jahr krankmachenden Einzeller und weltweit rund 300 Millionen Menschen an Giardi- untersucht, wie die Parasiten mit ose. Infizierte scheiden den Parasiten, der sich im ihren Wirten interagieren. letzten Teil des Dünndarms erneut eine Hülle zu- legt, wiederum in Zystenform mit dem Kot aus, wo Als leidenschaftlicher Segler wollte Adrian Hehl ei- er wochen- bis monatelang in der Umwelt überle- gentlich Meeresbiologe werden. Doch es kam an- ben kann. «Besonders problematisch ist der Erreger ders. Kurz nachdem er Mitte der 1980er-Jahre an für Kinder in Entwicklungsländern, wo sauberes der Universität Bern mit dem Biologiestudium an- Trinkwasser nicht verfügbar ist», sagt Adrian Hehl. gefangen hatte, zog ihn die Molekularbiologie in ih- In den letzten zwei Jahrzehnten erforschten ren Bann. «Dieses damals noch junge Forschungs- Hehl und sein Team zelluläre Mechanismen und gebiet, das sich rasant zu entwickeln begann, Maschinerien, die für die Ausbildung der verschie- faszinierte mich ungemein», erzählt der heute denen Stadien im Lebenszyklus des Parasiten nötig 57-Jährige. sind. Dazu arbeiten Biologen, Veterinärmediziner Statt Korallenriffe zu studieren, untersuchte und Informatiker zusammen. Sie studierten bei- Adrian Hehl in seiner Diplom- und Doktorarbeit am spielsweise die Synthese von schützenden Biopoly- Institut für Mikrobiologie der Universität Bern, wie meren während der Differenzierung, die Entstehung einzellige Parasiten ihre Oberflächen verändern, und Reifung von Zellorganellen und die Bildung der um das Immunsystem ihrer Wirte zu unterlaufen. Zystenwand. «Parasiten überleben nur, weil sie ge- Die Faszination für das Zusammenspiel von Parasit nau ‹wissen›, wie die Wirte, von denen sie leben, und Wirt hat ihn seither nie mehr losgelassen. Wäh- funktionieren», erklärt Adrian Hehl. «Indem wir rend seiner dreieinhalbjährigen Postdoc-Zeit an der diese Beziehung erforschen, können wir die Grund- Stanford University in Kalifornien studierte er nicht lagen für Impfungen oder Behandlungsmöglichkei- mehr nur einzelne Gene und ihre Produkte, sondern ten entwickeln.» begann zu erforschen, wie sich das Parasit-Wirt- System im Laufe des Lebenszyklus verändert. Minimaler Bauplan 1998 wechselte Adrian Hehl ans Institut für Zudem hat Hehls Arbeitsgruppe auch wichtige Er- Parasitologie der Universität Zürich. «Ich hatte von kenntnisse gewonnen, welches die minimalsten Anfang viel Forschungsfreiheit – die einzige Vorga- Funktionen sind, die einer Zelle das Leben ermög- be war, den Parasiten Giardia lamblia zu studieren“, lichen. Denn Giardia lamblia ist ein Meister der Re- erzählt der Professor für Molekulare Parasitologie duktion und hat im Laufe der Evolution alles Über- in seinem Büro auf dem Campus der Vetsuisse Fa- flüssige über Bord geworfen. So besitzt der Parasit kultät in Zürich. zum Beispiel gewisse Zellorganellen wie den Golgi- Apparat und die Mitochondrien nicht mehr. Überlebenskünstler Hehl und andere Wissenschaftler haben da- Giardia lamblia wird vor allem über verseuchtes für in Giardia lamblia eine neue Art von Zellorga- Trinkwasser in seiner Dauerform als Zyste von Men- nellen beschrieben – die Mitosomen. «Mitosomen schen, Säugetieren und Vögeln aufgenommen. Im können als maximal vereinfachte Mitochondrien Dünndarm des Wirtes entledigt sich der Parasit sei- gelten», erklärt Adrian Hehl und fügt hinzu «für ei-
12 FO R S C H U N G — P O R T R ÄT Der Molekularbiologe Adrian Hehl (oben links) untersucht mit seinem Team, wie Parasiten mit ihren Wirten interagieren. nen Darmparasiten, der anaerob lebt eine durchaus schalten und so deren Funktion zu studieren. Dass genügende Ausstattung». Mitosomen verfügen ein- dies aber möglich ist, hat die Gruppe vor kurzem in zig noch über Biosyntheseproteine für Eisen-Schwe- einer aufsehenerregenden Publikation erstmals be- fel-Cluster. Solche Komplexe spielen bei Reduk- schrieben. tions- und Oxidationsvorgängen in den Zellen eine zentrale Rolle, denn sie «schaufeln» Elektronen hin Reduktive Evolution und her. Zudem haben die Zürcher Wissenschaftler Lange Zeit wurde Giardia lamblia als primitiver Eu- zeigen können, dass das Protein Clathrin, welches karyot oder sogar als Bindeglied zu Bakterien ange- für die Nahrungsaufnahme des Parasiten via Endo- sehen. Genom-Analysen, an denen auch Hehl und cytose verantwortlich ist, in Giardia lamblia anders sein Team beteiligt waren, haben aber gezeigt, dass funktioniert als bei anderen Zellen. In Giardia fällt viele der scheinbar primitiven Charakteristika, die Clathrin nicht vom Vesikel ab und wird rezykliert, der Parasit aufweist – etwa fehlende Organellen – auf sondern bleibt mit der Vesikeloberfläche verbunden eine sekundäre Reduktion zurückzuführen sind. Das und sorgt für ein stabiles Gerüst. heisst, sie sind in der Evolution nachträglich wieder Da Giardia zwei Zellkerne hat und damit je- verschwunden, weil der Einzeller dank seines para- weils vier Allele für jedes Gen hat, ist es für die For- sitischen Lebensstils auf viele Maschinerien und schenden sehr schwierig, Proteine gezielt auszu- Stoffwechselwege verzichten kann.
13 Vierteljahrsschrift — 1 | 2019 — Jahrgang 164 — NGZH Der Bauplan des Parasiten umfasst nur noch nem Team untersucht er, wie sich der Parasit in den gerade das, was er nicht vom Wirt direkt beziehen Zellen des Dünndarm-Epithels von Hauskatzen zu- kann und selbst herstellen muss. Die Fachleute nen- erst ungeschlechtlich massiv vermehrt, bevor die nen diesen Vorgang «reduktive Evolution». Nicht Parasiten eine geschlechtliche Entwicklung einlei- zuletzt wegen dieser konsequenten Beschränkung ten und sich zu Oozysten entwickeln. Die Oozysten auf das Wesentliche ist dieser Einzeller inzwischen werden dann mit dem Katzenkot in die Umwelt aus- in der Forschung zu einem begehrten Modellorga- geschieden. nismus geworden, um mehr über die Grundlagen Ausserhalb des Katzenkörpers entwickeln des Lebens zu erfahren. sich die Oozysten innerhalb von zwei bis vier Tagen so weiter, dass sie in der Umwelt bis zu zwei Jahren Wiederaufnahme der früheren For- überleben und infektiös bleiben können. Menschen schungsarbeit und viele warmblütige Vertebraten, zu denen auch In den letzten fünf Jahren hat Adrian Hehl seinen Nutztiere wie zum Beispiel Schweine, Schafe, Rin- Forschungsschwerpunkt zunehmend wieder auf der und Hühner zählen, infizieren sich durch per- Toxoplasma gondii verlagert. Dieser einzellige Pa- orale Aufnahme von Oozysten, die von Katzen aus- rasit, der die Toxoplasmose auslöst, ist ebenfalls geschieden werden oder durch Verzehr von weltweit verbreitet und ein Verwandter des Malaria- ungenügend erhitztem Fleisch, das Toxoplasma- Erregers. Für Hehl bedeutet dies auch eine Wieder- Zysten enthält. aufnahme seiner Forschungsrichtung als Postdoc. Bereits an der Stanford University hatte er mit To- Fünf verschiedene Stadien der Ent- xoplasma gondii gearbeitet. Gemäss Schätzungen wicklung dürfte bis zu einem Drittel der Weltbevölkerung mit Hehl und sein Team haben zu fünf verschiedenen Toxoplasma gondii infiziert sein, allerdings mit star- Stadien der Entwicklung der Parasiten im Katzen- ken altersabhängigen und regionalen Schwankun- darm RNA-Expressionsprofile erhoben. «Wir müs- gen. Gesunde Menschen bemerken eine Toxoplas- sen mit RNA-Profilen arbeiten, denn für Protein- mose-Infektion meist gar nicht. Nur in wenigen profile kann der Parasit nicht genügend aufgereinigt Fällen treten Symptome wie zum Beispiel Fieber werden», erklärt Adrian Hehl. Die Zürcher Forscher und Gliederschmerzen auf. Selten kommt es zu Ent- haben zwölf «heraufregulierte» Gene identifizieren zündungen der Netzhaut des Auges. können, die für die Entwicklung eines Impfstoffs Eine durchgemachte Toxoplasmose hinter- vielversprechend sind. lässt eine lebenslange Immunität. Allerdings ver- Mit Hilfe von Genscheren (CRISPR/Cas9 bleibt der Parasit dauerhaft im Organismus – in Strategie) haben sie bereits einen Lebendimpfstoff ‹schlafender› Form in Zysten in Muskeln und im hergestellt, der in Katzen eine Immunität erzeugt Gehirn. Solche latent persistierenden Parasiten wer- und die sexuelle Entwicklung zu infektiösen Oozys- den dann bei immungeschwächten Patientinnen ten verhindern kann. Um künftig Tierversuche ver- und Patienten (etwa durch HIV oder nach einer Or- meiden zu können, arbeitet Hehls Gruppe nun in- gantransplantation) zu einer grossen Gefahr. Prob- tensiv daran, die Parasiten-Differenzierung lematisch ist ausserdem auch eine erstmalige In- ausserhalb der Katze studieren zu können. «Wir fektion mit Toxoplasma gondii in der Schwangerschaft, sind daran, Zellen des Dünndarmepithels in Kultur denn der Parasit kann in diesem Fall auf das Unge- zu bringen und so einen ‹künstlichen Darm› zu borene übergehen und den Fötus schädigen oder schaffen, in dem wir die verschiedenen Stadien der sogar Aborte verursachen. Entwicklung studieren können», sagt der Moleku- lar- und Zellbiologe. Sexuelle Vermehrung des Parasiten Susanne Haller-Brem nur im Katzendarm Die Autorin ist Biologin und arbeitet als Wissen- Toxoplasma gondii hat einen komplexen Entwick- schaftsjournalistin. lungszyklus. «Als Endwirte sind aber nur die Haus- katze und andere Mitglieder der Familie der Felidae bekannt», erklärt Adrian Hehl. Zusammen mit sei-
14 BU L L E T I N — GESELLSCHAF T Heinrich Zollinger – ein Biografieprojekt Der Naturforscher Heinrich Zollinger Beilage im «Zürcher Oberländer». Im Dezem- wurde 1818 geboren und starb 1859 – im ber erschien dann der grosse Aufsatz zum Le- Alter von 41 Jahren. Die beiden Jubiläums- ben des Lehrers und Seminardirektors. Die Bio- daten sind für den Autor Anlass, im Jahr grafie von Prof. Hans Wanner im Neujahrsblatt der 2018 und 2019 die Biografie dieses Mannes NGZH auf 1984 und dieser Aufsatz im Zürcher Taschen- mit verschiedenen Veranstaltungen und buch auf 2019 bilden nun die Grundlage für eine um- Publikationen ans Licht zu holen. fassende Biografie. Heinrich Zollinger wirkte am Seminar nicht Rückblick auf das Jahr 2018 als Naturforscher, sondern als Lehrer von Leh- Startschuss für das umfassende Biografiepro- rern. Eine verbesserte Allgemeinbildung oder jekt war der Vortrag über Heinrich Zollinger für eine wissenschaftliche Ausbildung, so war Zollin- die NGZH vom 6. November 2017, zusammen ger überzeugt, sollten Volksschullehrer auf dem mit PD Dr. Reto Nyffeler, Kurator Herbarium am universitären Weg erwerben. Aber das Zürcher Institut für Systematische und Evolutionäre Bo- Volk verwehrte 1872 die höhere Ausbildung. Die tanik der UZH. Kurz darauf, im Januar 2018, Lehrer suchten fortan andere Wege. Sie wurden ging die Webseite www.heinrich-zollinger.ch online, die zu «Meistern des Lokalen» und erforschten Flo- sämtliche Informationen zum Jubiläumsprojekt ra und Fauna, Geologie und Volkskunde ihres zusammenfasst. Im März 2018 – Zollinger wur- Ortes oder ihrer Region. Tobias Scheidegger hat de am 22. März 1818 geboren – wurde im Alten dies im Artikel über Citizen Science im 19. Jahr- Botanischen Garten der UZH eine Biografietafel hundert in der Vierteljahrsschrift 3/2018 dargestellt. aufgestellt, die an den grossen Forscher erinnert. Zollingers Wirken war im Juni auch The- Ausblick auf das Jahr 2019 ma an der 27. Jahrestagung der Deutschen Ge- 1841 wurde Zollinger Mitglied der NGZH und sellschaft für Geschichte und Theorie der Bio- wahrscheinlich im Jahr 1855 deren Ehrenmit- logie an der Friedrich-Schiller Universität in Jena. glied. Er war der erste Schweizer Vulkanologe, Dort hatte nicht nur Lorenz Oken, der erste Rek- noch vor Albert Heim, der 1911 am Semeru tor der UZH, gewirkt, der Heinrich Zollinger das stand, in der Gegend also, wo Zollinger begra- Studium in Genf empfohlen hatte. In Jena hat- ben worden war (Neujahrsblatt, 1916) . Zusammen mit ten auch die damaligen Präsidenten der NGZH, Emil Stöhr (Mitglied der NGZH) hatte Zollin- Horner und Schinz studiert. Und Jena war auch ger 1858 im Jahr vor seinem Tod noch Vulkane der Ort, wo sich Zollingers Vorbilder, Goethe und und Schwefel untersucht. Zollinger war auch Alexander von Humboldt, trafen. Einen biogra- der erste Schweizer Ethnologe in Ostasien. fischen Bezug gab es im Juni auch beim Vortrag An all dies erinnert der biografische Spa- vor der Lesegesellschaft Horgen, wo Zollinger ziergang, der ab April 2019 im Alten Botanischen 1838 erster Sekundarlehrer gewesen war. Garten begangen werden kann. Ab Mitte Mai wird zudem im Palmenhaus eine Ausstellung Tropenglück und Schulfreunde aus zwei grossen Lesebüchern und mit botani- Ein Höhepunkt des Jahres war die szenische schen Motiven bedruckten Fahnen eröffnet. Lesung «Tropenglück und Schulfreunde», die Die Büste, bei der der biografische Spa- als Hauptprobe zunächst im Naturmuseum Win- ziergang beginnt, wurde von der Schulsynode terthur über die Bühne ging. Dort befinden sich aufgestellt und erinnert zuerst an Heinrich ethnologische Objekte aus Zollingers Samm- Zollinger als Autodidakten und Vorbild der lungen. Die zweite Lesung fand in der Buch- Volksschullehrer und dann an den Tropenfor- handlung «Doppelpunkt» in Uster statt, wo der scher. Kaum jemand in Zürich hatte sich vor «fiktive Nachlass» Zollingers während 6 Wochen Zollinger mit der Tropenflora befasst oder konn- inszeniert wurde. Begleitend zu den Lesungen te sich eine Vorstellung von der Vegetation im erschien im Oktober ein «Heimatspiegel» als indischen Archipel machen. Zwar erkannte man
15 Vierteljahrsschrift — 1 | 2019 — Jahrgang 164 — NGZH Links: Die Büste im Alten Botanischen Garten erinnert an den grossen Naturforscher Heinrich Zollinger. Dort beginnt der szenische Spaziergang, der ab April 2019 begangen werden kann. Rechts: Impressionen von den szenischen Lesungen «Tropenglück und Schulfreunde» in Winterthur (oben) und Uster. in der Tertiärflora die tropischen Pflanzen; in September wird es an mehreren Abenden sze- den Gesteinsschichten waren sie aber tot. nische Lesungen im Palmenhaus geben. Es Zollinger erforschte sie in der Malesiana in ei- steht dann noch die Aufarbeitung der Kokos- nem lebendigen Zusammenhang. plantage von Zollinger an. Es war eine der Sein Engagement für die Volksschule grössten und frühesten Investitionen von nach dem Züri-Putsch, das Gefälle zwischen Schweizer Aktionären in Ostindien – unter ih- Universität und Volksschule sowie die unter- nen notabene auch wichtige Exponenten der schiedliche Herangehensweise an die Tropen Wirtschaft und Bankengründer. verhinderten eine Zusammenarbeit zwischen Im Mai 1859 starb Zollingers Vorbild: Oswald Heer und Heinrich Zollinger. Begegnet Alexander von Humboldt (1769-1859). Zollin- sind sie sich allerdings im Botanischen Garten: ger wurde zwar nicht wie Franz Wilhelm Jung- Heer als Direktor und Zollinger in der Aufsichts- huhn (1809-1864) «Humboldt von Java» ge- kommission. Sie waren sicher beide an der nannt; doch mit der «Flora Malesiana», (VJS, Band Einweihung des Palmenhauses. Sie hätten 2/1857) , hatte er ein ebenso bedeutendes Werk voneinander lernen können und das hätte mög- geschaffen. Die «Flora Malesiana» ist nicht licherweise die Gedanken zur Evolution be- Botanik-Geschichte, sondern auch heute noch fruchtet. Doch dazu kam es aber nicht. ein lebendiges Forschungsprojekt. Peter Schulthess Hürlimann Ein lebendiges Forschungsprojekt Weiterführende Informationen: Vom 30. Juni bis 5. Juli 2019 findet auf Bor- neo im Sultanat Brunei die 11. «Flora Malesia- Webseite über H. Zollinger (wird laufend na» Konferenz statt. Dort präsentiere ich die nachgeführt): www.heinrich-zollinger.ch Biografie von Zollinger und seine Gedanken Stefan Ungricht: Unser Mann in Java – Beitrag zur «Flora Malesiana» von 1857. Im Sommer auf der NGZH-Webseite, zu finden unter: 2019 biete ich zudem im Alten Botanischen www.ngzh.ch/news/ Garten der UZH Führungen an und gegen Ende
16 BU L L E T I N — N G Z H-E X K U R S I O N E N Einblicke in die Geologie der Glarner Alpen Diese eintägige NGZH-Exkursion führt uns an 3) Beglingen Kerenzerbergstrasse: Überblick einem Samstag im Mai in die einzigartige Tek- über die frontalen Teile der helvetischen De- tonik-arena der Glarner Alpen, ins Weltkultur-cken im Glarner Unterland erbe-Gebiet Sardona (vgl. VJS 2/2018) . Unser fach- 4) Lochsite Sernftalstrasse: Der klassische kundiges Vorstandsmitglied, der emeritierte Aufschluss der Glarner Hauptüberschiebung Geologieprofessor Wilfried Winkler, wird uns 5) Engi Schieferbrüche: Beziehung zwischen mit einem Reisebus zu ausgesuchten Punkten Sedimentation und Tektonik sowie der Abbau führen und dort die erdgeschichtlichen Prozes-von Dachschiefern se erläutern, die sich über Jahrmillionen hinweg 6) Matt: Ein kleiner Aufschluss zeigt Sediment- abgespielt und die heutigen Glarner Alpen ge- strukturen in der Matt-Formation formt haben. 7) Elm: Glarner-Überschiebung an den Tschin- gelhörnern, Elmer Bergsturz und Taveyannaz- Auf dem Programm stehen folgende sieben Sandstein Stationen: 1) Ziegelbrücke Bahnhof: Durch Flüsse trans- Als Verpflegung dient ein individuell mitge- portierte Gerölle aus dem frühen Spätoligozän brachter Lunch. Je nach der Teilnehmerzahl (ca. 30 Mio. Jahre alt) wird der Ausflug 50 bis 70 Franken pro Per- 2) Filzbach Römerturm: Deckenbau der Chur- son für den Bus betragen. Interessierte melden firsten, Entstehung des Walensees und Berg- sich bitte bei sekretariat@ngzh.ch. sturz von Amden Das Gebiet der Tektonikarena Sardona gehört zu den geologisch spektakulärsten Regionen der Schweiz. Wer sich für die Hintergründe interessiert, erhält an der NGZH-Exkursion Einblicke aus kompetener Hand.
17 Vierteljahrsschrift — 1 | 2019 — Jahrgang 164 — NGZH Michelangelo, Galilei und Gravitationswellen Die fünftägige NGZH-Reise führt nach Florenz, Pisa und zum Gravitationswellen-Observatorium VIRGO. Dr. Babis Bistolas wird dabei die rei- chen kulturellen Sehenswürdigkeiten beleuch- ten. Er ist Chemiker und hat sich ein riesiges historisches und botanisches Wissen angeeig- net. Der Physiker Fritz Gassmann wird die Be- deutung Galileo Galileis aufzeigen und das Phä- nomen Gravitationswellen (vgl. VJS 4/2015, S. 11-16) verständlich machen. Wir werden mit dem Zug reisen und in einem renovierten historischen Gebäude in Florenz logieren. Der Pauschalpreis inkl. Trans- porte, Halbpension und Eintritte in Museen beträgt pro Person im Doppelzimmer Fr. 1500, im Einzelzimmer Fr. 1600. Die Reise dauert vom 23. bis zum 27. Oktober 2019. Interessierte melden sich bitte bis spä- testens 28. April bei sekretariat@ngzh.ch. Programm Mi 23. Oktober: 9:09 Abfahrt Zürich HB; Transfer zur Foresteria Valdese bei der Piazza Santo Spirito; Spaziergang im Quartier, zum Palazzo Pitti und zur Ponte Vecchio; Nachtes- sen im Ristorante il Latini Do 24. Oktober: Besuch Kloster Santa Maria Novella und Galleria degli Uffizi; Nachtessen in der Foresteria Valdese. Anschliessend er- läutert Fritz Gassmann im Saal der Foresteria mit Hilfe einfach zu begreifender Vergleiche, was Gravitationswellen sind und wie man sie in der Astronomie verwenden kann. Fr 25. Oktober: Besuch Palazzo Vecchio und Museo Galileo sowie weitere Sehenswürdig- keiten; Nachtessen in der Trattoria Casalinga Sa 26. Oktober: Transfer per Bahn nach Pisa und Besuch des Gravitationswellen-Observa- toriums VIRGO (www.virgo-gw.eu); am Nach- Die NGZH-Exkursion in die Toskana bietet mittag Besuch des Centro Storico von Pisa; für alle etwas: Kulinarische Köstlichkeiten, Rückreise nach Florenz und Nachtessen in der vielfältige Kultur in Florenz und Pisa und Foresteria Valdese nicht zuletzt auch Einsichten in die So 27.Oktober: 11:00 Abfahrt Firenze S.M.N.; moderne Physik beim Gravitationswellen- 16:51 Ankunft Zürich HB Observatorium VIRGO.
18 BU L L E T I N — O S WA L D H E E R-P R E I S Ausschreibung zur dritten Preisvergabe Der Oswald Heer-Preis wird seit 2016 alle zwei Jahre verliehen, 2020 also zum dritten Mal. Er soll an den grossen Glarner Paläontologen, Botaniker und Entomologen und an die Grün- derpersönlichkeit Oswald Heer (1809–1883) erinnern. Mit dem Preis werden hervorragende Arbeiten von Wissenschaftlerinnen und Wis- senschaftlern ausgezeichnet, die in der Schweiz tätig sind und in den Forschungsgebieten Os- wald Heers arbeiten. Federführend für die Preisvergabe ist gegenwärtig die Schweizerische Paläontologi- sche Gesellschaft. Daneben wird der Oswald Heer-Preis von den folgenden Vereinigungen mitgetragen: Naturforschende Gesellschaft des Kantons Glarus, Historischer Verein des Kantons Glarus, Naturforschende Gesellschaft in Zürich, Schweizerische Akademie der Na- turwissenschaften SCNAT, Schweizerische Botanische Gesellschaft, Schweizerische Geo- logische Gesellschaft sowie Schweizerische Gesellschaft für die Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften. Delegierte die- ser Gesellschaften bilden das Preiskomitee Der grosse Naturforscher Oswald Heer in unter der Leitung eines Vorstandmitglieds der einer bisher unveröffentlichen Abbildung Schweizerischen Paläontologischen Gesell- schaft. Fachgebiete mit Bezug zur Schweiz. Die Preis- Der Oswald Heer-Preis wird für hervor- summe beträgt ca. CHF 2000 und wird jeweils ragende Arbeiten, publiziert maximal zwei Jah- vom Preiskomitee festgelegt. Das Preisgeld re vor dem Jahr der Preisausschreibung, an wird in einem Fonds aus verschiedenen Quel- eine junge Wissenschaftlerin oder einen jungen len gesammelt. Wissenschaftler vergeben. Zum Zeitpunkt der Bewerbungen mit einem kurzen Lebens- Bewerbung dürfen die Kandidatinnen bzw. Kan- lauf und Publikationsverzeichnis der letzten fünf didaten maximal 35 Jahre alt sein. Jahre und der zu bewertenden Arbeit sind in In Anbetracht der Herkunft Oswald Heers digitaler Form an Prof. Dr. Christian Klug sind wissenschaftliche Arbeiten von Glarnern (chklug@pim.uzh.ch) der Schweizerischen Pa- und Glarnerinnen sowie Arbeiten über einen läontologischen Gesellschaft zu senden. Die Forschungsgegenstand aus dem Glarnerland Unterlagen müssen bis Ende August 2019 ein- unter Berücksichtigung der für alle Bewerbun- gereicht werden. gen gleich geltenden wissenschaftlichen Qua- Bitte informieren Sie Ihre Kolleginnen und litätskriterien bei der Preisvergabe vorzuzie- Kollegen, Studierende, Promovierende und an- hen. dere potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten Die auszuzeichnenden Fachgebiete um- über den Oswald Heer-Preis. Weitere Informa- fassen Paläontologie (insbes. Paläobotanik), tionen erhalten Sie von Prof. Dr. Christian Klug Flora der Alpen (insbes. der Schweiz), Evolu- (chklug@pim.uzh.ch) oder Prof. Dr. Conradin tionsbiologie der Pflanzen und Tiere sowie die A. Burga (conradin.burga@bluewin.ch). Wissenschaftsgeschichte der oben erwähnten Conradin A. Burga
19 BU L L E T I N — J U G E N DP R E I S Ein Kopfhörer mit aktiver Geräuschauslöschung Kristina Lehtinen von der Kantonsschule Dieses Prinzip wird im aktiven Kopfhörer genutzt, Hottingen hat in ihrer Maturarbeit einen um ein Störsignal (rot) auszulöschen. Dazu wird Kopfhörer mit aktiver Geräuschauslöschung das Störsignal mit einem Mikrofon aufgenom- entwickelt. Dafür wurde sie im letzten men, in das passende Gegensignal durch Inver- November mit dem Jugendpreis der NGZH tieren (graphisch gesehen durch Spiegeln des ausgezeichnet. Wie sie die Funktionsweise Störsignals) umgewandelt und schliesslich vom dieses Kopfhörers nach und nach entschlüs- Lautsprecher wiedergegeben (violett). selte, zeigt sie in diesem Beitrag auf. Allerdings breitet sich das störende Schall- signal während der Umwandlung weiter aus; das Gerade erlebe ich ein kleines Déjà-vu aus der Aufnehmen, Berechnen und Wiedergeben muss Zeit, als meine Maturarbeit noch ungeschrieben also in einem bestimmten Zeitrahmen funktio- war, Lärm unbekämpfbar schien und ich, wie ich nieren. Dies ist nur möglich, weil die Schallge- es im Vorwort meiner Maturitätsarbeit ausdrü- schwindigkeit v = 340 m/s beträgt, elektrische cke, am Sonntagmorgen nach Ruhe lechzend in Signale aber sozusagen unendlich schnell über- meinem Zimmer nichts als schlafen wollte. Und tragen werden. So bleiben bei einem Abstand jetzt? In einem ziemlich vollen Zug in die Berge, von 3 Zentimetern zwischen Mikrofon und Laut- umgeben von Musik und Gesprächen, habe ich sprecher 88 Mikrosekunden Zeit. zum Glück meine Kopfhörer mit aktiver Ge- räuschauslöschung mitgebracht, die vielleicht Doch leider ist alles nicht so einfach. Wenn man nicht jedes nette Gespräch um mich herum ver- ein Störgeräusch aufnimmt, wird es im Laut- schwinden lassen, das monotone Rauschen der sprecher nämlich stark gedämpft und verzögert Schienen aber durchaus auslöschen können. wiedergegeben. Die Aufnahme kann also nicht Das physikalische Prinzip dahinter ist die einfach «nur» invertiert werden, um das pas- Interferenz, die bei allen möglichen Schallwellen sende Auslöschungssignal zu erhalten. Man funktioniert. Wenn sich zwei oder mehr Wellen muss zusätzlich auch die Verzögerung und überlagern, addieren sich zu jedem Zeitpunkt die Dämpfung kompensieren. Amplituden der einzelnen Wellen. Verstärken Um diese beiden Faktoren besser zu ver- sich die Wellen, spricht man von konstruktiver stehen, habe ich in meiner Arbeit Modelle erstellt. Interferenz; schwächen sie sich gegenseitig Diese sollen die notwendigen Schritte zeigen, ab,spricht man von destruktiver Interferenz. wie aus der verzerrten Aufnahme ein auslöschen- Wenn man also zwei gegenphasige Sinussig- des Signal wird, dargestellt als Funktionsblöcke. nale mit gleicher Amplitude überlagert, resul- tiert ein Null-Signal. Wird die Verzögerung (als Phasenverschiebung zwischen rotem und violettem Signal darge- stellt) nicht kompensiert, resultiert keine Aus- löschung, auch wenn das Signal zuvor im Funk- tionsblock I invertiert wurde. Um eine Auslöschung zu erreichen, muss die Verzöge- rung kompensiert werden, im Modell durch
20 BU L L E T I N — J U G E N DP R E I S Bestätigt wird diese Vermutung der Frequenz- abhängigkeit mittels eines Experimentes, bei dem ein so genannter Chirp generiert wird, ein Signal, bei dem die Frequenz im Bereich 440Hz bis 8800Hz kontinuierlich zunimmt. Dieser Chirp wird abgespielt und zeitgleich aufgenom- Funktionsblock V dargestellt. Das Mikrofon men. Im Ausgangssignal erkennt man, dass das nimmt nimmt nun das Störsignal (rot) auf. Die Signal bei einigen Frequenzen stärker gedämpft Aufnahme ist nun ein elektrisches Signal (vio- wird als bei anderen. Aus der Spektraldarstel- lett), das gegenüber dem Störsignal entspre- lung lässt sich nun für jede Frequenz die Dämp- chend verzögert und im Funktionsblock I in- fung ablesen und damit die entsprechende not- vertiert wird, so dass das Störsignal ausgelöscht wendige Verstärkung ermitteln. wird, wenn das umgewandelte Signal am Laut- Beispielsweise ermittelt man in der Auf- sprecher ausgegeben wird. nahme für die Frequenz 5000 Hz die Amplitude 0,5. Setzt man nun diesen Wert in Relation zur Dieses Modell hat noch die Dämpfung ausser Amplitude bei 5000 Hz beim ursprünglichen Acht gelassen. Diese entsteht durch verschiede- Signal kann man daraus den benötigten Verstär- ne Eigenschaften des Mikrofons und des Laut- kungsfaktor zur Korrektur des Aufnahmesignals sprechers, weshalb sich das ursprüngliche Sig- ermitteln. Mit viel Aufwand liesse sich das für nal (rot) von dessen Aufnahme (violett) in der alle Frequenzen durchführen und würde dem Höhe der Amplitude unterscheidet. Frequenzgang entsprechen. Die Differenz der beiden Frequenzgänge ergibt die notwendigen Korrekturfaktoren. Analog zur Dämpfung gibt es auch eine ähnliche Frequenzabhängigkeit bei der Verzögerung. Um die bisher gewonnenen Erkenntnisse zu über- Wird die Dämpfung nicht behoben, würde prüfen, habe ich in einem weiteren Teil meiner das Störsignal nicht durch die Wiedergabe (blau) Arbeit Simulationen durchgeführt, um ein prak- des invertierten, aufgenommenen Signals (vio- tisches Verfahren zur Auslöschung von beliebi- lett) ausgelöscht. Wird die Dämpfung jedoch gen Signale zu entwickeln. kompensiert, d.h. in diesem Fall das aufgenom- In diesen Simulationen habe ich ein Signal mene Signal (violett) im Funktionsblock D ver- bestehend aus den drei Frequenzen 1000 Hz, stärkt, kann die Wiedergabe (blau) des im Funk- 2000 Hz und 3000Hz betrachtet, die einzeln generiert (Spuren 1 bis 3) und dann überlagert werden (Spur 4). Dieses Signal wird abgespielt und gleichzeitig aufgenommen (Spur 5). tionsblock I invertierten Signals das Störsignal (rot) aufheben. Eine genauere Untersuchung der Dämp- fung ergibt eine Frequenzabhängigkeit, das heisst: Unterschiedliche Wellenlängen werden unterschiedlich stark gedämpft. Von Mikrofon- herstellern wird dies in Form eines Frequenz- ganges dargestellt.
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