ZINE 13 UNI GÖTTINGEN - APRIL 2021 - FSR SOWI
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Wow! Es ist kaum zu glauben, dass wir nun bei 10 Ausgaben angekommen sind, die wir geschrieben, gestaltet und gedruckt haben, seit „die Büchse der Radikarla* geöffnet“ wurde *zwinkerzwinker* (siehe Ausgabe 4!). Doch der feministische Zauber zieht uns bis heute in den Bann und so dachten wir uns: Lasst uns diese 10. „neue“ Ausgabe mit einem Best-Of der RADIKARLA-Artikel aus den 90er Jahren feiern! Gesagt, getan. tt Missy Ellio Die meisten von euch kennen bestimmt schon die Geschichte der Radikarla*, die in den 90er Jahren gegründet und von uns Ein Beispiel dafür ist Sprache: Die RA- 2017 neu aufgelegt wurde. Zwar haben DIKARLAs benutzten das Binnen-I als wir schon oft über die großartigen drei Form geschlechtergerechter Sprache. Für Ausgaben geschwärmt, die 1993 und 1994 viele von uns ist es dagegen heutzutage zur erschienen sind – doch nun sollt auch ihr Normalität geworden, mit *, _ oder : zu endlich in den Genuss kommen, einige gendern, um auch nicht-binäre, inter* und ausgewählte Texte von damals selbst in den trans* Personen mit einzuschließen. Den- Händen zu halten! noch wollen wir den damaligen Zeitgeist abbilden und haben entschieden, in den So möchten wir wertschätzen, wie toll und Originaltexten die Binnen-I-Schreibweise humorvoll die RADIKARLAs die eigenen, stehenzulassen. manchmal schwierigen Erfahrungen des Lesbisch- und Frauseins verarbeitet haben. Den Start dieser Ausgabe macht allerdings Unsere Ausgabe 13 wirft einen Blick auf kein Text der 90er-RADIKARLAs, son- Themen, die dort bereits vor über 25 Jah- dern ein Gespräch mit den vier RADI- ren besprochen wurden und heute kaum an KARLAs Chris, Gabi, Sümie und Silke, die Aktualität verloren haben. Trotzdem wol- wir 2018, kurz nach Erscheinen der vierten len wir diese Texte auch in einen heutigen bzw. der ersten neu aufgelegten Radikarla*, Kontext stellen und schauen, was sich seit- getroffen hatten (S. 5) – für uns ein ins- her verändert hat. pirierendes Erlebnis, weil es uns mit den 3
Anfängen der eigentlichen RADIKARLA Musikempfehlungen der al- verbunden hat. Denn feministisch kämp- ten RADIKARLAs beschäftigt fen heißt für uns auch, zurückzuschauen und zum anderen geschaut, wel- und aus Vergangenem zu lernen! che FLINTA*-Künstler*innen die cis-männlich-dominierte Das zentrale Thema für die damaligen RA- Musikindustrie der 90er auch DIKARLAs waren die alltäglichen Erfah- noch aufgemischt haben. Apropos rungen von FrauenLesben und deren Dis- Musik: Keine Radikarla* ohne unser hand- kriminierung. So haben wir uns zum einen verlesenes Regal (S. 26), in welchem ihr un- für einen humoristischen Text entschieden, sere wärmsten Musik-, Film-, Serien- und der von den Anonymen Schüchternen Les- Buchempfehlungen finden könnt. Passend ben (ASL) berichtet (S. 17). Zum anderen zur Ausgabe lassen euch diese natürlich war uns wichtig, die damalige, wirklich auch in einer 90er-Nostalgie schwelgen. unfassbare(!) Situation für FrauenLesben an der Universität Göttingen bezüglich Schließlich haben wir es uns nicht nehmen sexualisierter Gewalt aufzuzeigen (S. 21). lassen, auf den Seiten 41–43 den Comic aus der RADIKARLA Nr. 3 über die Ge- Die RADIKARLAs haben auch immer schichte der Menstruation (S. 11) fort- wieder imperialistische und patriar- zusetzen. Besonders aufregend wird chale Bevölkerungspolitiken kriti- es zu guter Letzt mit dem wieder- siert. Dem Thema wollten auch wir belebten Jahreshor(r)o(r)skop aus auf den Seiten 28–34 Raum geben, den 90er Jahren. Das Jahr 2021 hat ohne dabei die heutige Perspektive zwar schon angefangen, aber es ist außen vor zu lassen (S. 35–40). Doch doch nie zu spät, sich dem natürlich die Forderung im Titel, „Schafft die streng seriösen Orakel zu stellen (S. 47)! Unterdrückung ab, nicht die Frauen!“, bleibt aktuell. Zudem haben wir uns für ei- Zum Schluss haben wir noch eine Ankün- nen Text über feministische Naturwissen digung für euch: In Zukunft wird es einen schaftskritik entschieden, der für uns einen Radikarla*-Newsletter geben — tragt euch guten Zugang zum Thema bietet (S. 12). ein, um immer mitzubekommen, wenn neue Ausgaben erscheinen oder sonsti- Nicht zu vergessen ist Musik, die eine ge News anstehen! Wie? Online unter: große, empowernde Rolle für die damali- lists.riseup.net/www/subscribe/radikarla-news gen RADIKARLAs gespielt hat. Auf den Seiten 44–46 hat sich eine Radikarla* auf Wir hoffen, ihr habt eine kleine Musik- Spaß an den alten reise in die 90er Texten. Passt auf Jahre begeben euch auf! und sich zum einen mit den erici ia Fed Silv 4
Von unserer Begegnung mit den Erfinderinnen der Radikarla Wie einige Leser*innen vielleicht schon An einem Samstagnachmittag ist es so weit wissen, stammt die Radikarla* ursprünglich – Chris, Gabi, Sümie und Silke kommen zu aus den 90er Jahren und wurde von einer uns. Vier von sechs Frauen, die damals die Gruppe von Frauen an der Uni Göttingen Radikarla ins Leben gerufen hatten. Heute gegründet und herausgegeben. leben sie in ganz Deutschland verstreut, Nach dem Fund der alten Radikarla-Ausga- arbeiten in einem Kulturzentrum, als freie ben im Januar 2017 und unserem Beschluss, Journalistin, in einem Nationalpark oder als die Radikarla neu aufzulegen, haben wir uns Dozentin an einer Uni. natürlich auf die Suche nach den damaligen Aber wie hatten sie eigentlich von uns er- Macherinnen gemacht – leider ohne Erfolg. fahren? Trotz Online-Aufruf und diversem Herum- telefonieren konnten wir nicht herausfinden, Tatsächlich lebt eine der alten Radikarlas wer unsere Heldinnen von damals waren. noch in Göttingen. Sie erzählt uns so- gleich von einem Besuch im Weltladen Umso mehr hüpften unsere Herzen, als wir Göttingen im vergangenen Jahr, bei dem kurz nach dem Erscheinen der ersten neu- sie plötzlich eine Zeitschrift in der Auslage en Ausgabe der Radikarla* am 1. Novem- liegen sah, auf der Radikarla* stand. Völ- ber 2017 das E-Mail-Postfach öffneten und lig perplex ob des Titels und dem Zusatz eine neue Mail angekommen war. Betreff: „Ausgabe Nr. 4“ schnappte sie sich die „Gruß einer alten RADIKARLA“! Zeitschrift und wie es der Zufall wollte, Voller Aufregung öffneten wir die Mail. Und war an ebenjenem Wochenende eine der tatsächlich: Sie stammte von einer der sechs anderen Frauen bei ihr zu Besuch. Ge- Frauen, die vor 20 Jahren die Radikarla ge- meinsam kontaktierten sie daraufhin die gründet hatten! Sie waren zufällig auf unsere anderen und schließlich uns. Zeitschrift gestoßen und freuten sich über Und so ist unser Treffen mit ihnen gleich- die Wiederaufnahme. Schnell war klar, dass zeitig ein Treffen der alten Radikarlas un- wir uns treffen und kennenlernen wollen. tereinander, denn teilweise haben sie sich Und dieses Treffen fand dann tatsächlich auch seit vielen Jahren nicht mehr gesehen auch im Januar 2018 statt – fast 25 Jahre – das Ganze ist auch für sie eine Gelegen- nach Erscheinen der ersten Radikarla. heit, an alte Zeiten zurückzudenken. 5
Ausschnitte aus den alten Radikarlas Nr. 1/1993 bis Nr. 3/1994 66
Unsere erste Frage ist natürlich, wie die Idee Generell kam die Radikarla gut an und be- entstanden ist, die Radikarla zu gründen. So kam viel positive Rückmeldung, gerade zu ganz sicher sind sich die alten Radikarlas da ihrem Namen und ihren Zeichnungen – ob- auch nicht mehr. Aber der Ansporn, eine wohl der Untertitel „FrauenLesbenzeitung“ eigene Zeitschrift herauszugeben, kam aus damals manche vor den Kopf gestoßen hat. mehreren Richtungen. Zum einen war die So wurde die Radikarla als FrauenLesben- Bio-Fachschaft eine Plattform, in der femi- zeitung von heterosexuellen Frauen teilwei- nistische Themen auf der Agenda standen. se nicht so gerne und offen angenommen. Eine Radikarla war Teil des Frauen-/Les- Doch die explizite Bezeichnung als Frauen- benreferats des AStA, zwei andere in einem und Lesben-Zeitschrift war den Radikarlas Lesekreis zu feministischer Naturwissen- wichtig, um die Sichtbarkeit von Lesben zu schaftskritik und dann hatte eine Radikarla erhöhen und zu verdeutlichen, dass es nicht selbst ein Praktikum bei einer Zeitschrift zu nur um feministische Auseinandersetzung Naturwissenschaftskritik gemacht und hat- mit Frauen-Männer-Beziehungen, sondern te anschließend Lust, selber eine Zeitschrift explizit auch um Fragen der Sexualität herauszugeben. Bisher hatte es in Göttin- ging. Aber obwohl nur nicht-heterosexuel- gen nur die Kassandra gegeben, die zwar le Frauen Teil des Redaktionsteams waren, auch einen feministischen Anspruch hatte, wollten sie dennoch keine reine Lesbenzeit- aber lediglich als Sammlung für Veranstal- schrift aus der Radikarla machen, weil sie tungstipps fungierte. Und natürlich war da noch die Auseinandersetzung mit den eige- nen Coming Outs. Gesagt, getan: Doch wie die neue Zeit- schrift nennen? Anfangs standen die unterschiedlichsten Namen im Raum, aber eine Freundin hat- te immer schon die Redewendung „du alte Radikarla“ genutzt und bald waren sich alle einig: Erst „aus der Not geboren“, passte der Titel später „wie die Faust auf‘s Auge“. Als Nächstes fragen wir die Frauen, wie die Radikarla damals eigentlich angekommen ist. Zu unserer Überraschung erzählen sie, dass sie die Ausgaben explizit nur an Frauen ver- teilt haben. Sie erklären, dass es ihnen zu ihrer Zeit darum ging, Geltungsräume zu schaffen, zu denen Männer keinen Zugang hatten, teilweise als Genugtuung, aber vor allem ging es darum, „Frauen ins Zentrum zu stellen“. Die Zeitschrift nicht an Männer zu geben, war ein bewusstes Statement. 7
fanden, dass viele feministische Themen 500–1000 Stück pro Ausgabe, die meist an eben alle Frauen etwas angingen. Trotz- Workshop-Wochenenden zusammenge- dem finden sie unsere Umbenennung zum stellt und dann im Druckzentrum der Uni „FemZine“ total begrüßenswert, „weil das gedruckt wurden. jetzt auch eure Zeit ist“. Doch nicht nur wir löchern die Radikarlas Generell ist es spannend zu hören, wie sie von damals mit Fragen: Während des ge- die Szene zu ihrer Zeit beschreiben. So samten Interviews sind die Radikarlas auch zeichnen sie die Frauen-Lesben-Szene als sehr daran interessiert, wie wir die Radi- damals zum Teil recht dogmatisch, worauf karla* machen: Fast zu jeder Frage, die wir sie mit ihrer Zeitschrift oft ironisch reagiert stellen, kommt die Gegenfrage: „Und wie haben, doch ihre humoristische (Selbst-) ist das jetzt eigentlich bei euch?“ Spannend Auseinandersetzung mit der Lesbenszene finden sie auch die Frage nach unserem wurde nicht von allen mit dem nötigen Hu- Selbstverständnis. Ob wir uns heute z. B. mor aufgenommen. eher als „feministisch oder queertheore- tisch“ begreifen, was für uns überhaupt Und wie organisierte und schrieb man so nicht die Frage nach dem „oder“ ist. Wir ein feministisches Zine in den 90er Jahren? sprechen auch generell darüber, wie in- und Artikel wurden nicht groß im Voraus ge- exklusiv die Radikarla heute ist und früher plant, sondern einfach nach jeweiligem In- war: Stichworte sind da vor allem Eurozen- teresse eingebracht, was zu einem bunten trismus und „Unizeitschrift“ vs. möglichst Sammelsurium und einigen Gastbeiträgen viele Leute mit den unterschiedlichsten führte. Das Zine hatte eine Auflage von Hintergründen zu erreichen. 8
Schließlich kommen wir zurück auf aktuel- menhänge verlässt, in denen es eine theo- lere Dinge: Welche Themen sind den Radi- retische und vielschichtige Auseinander- karlas von damals heute wichtig? Wie leben setzung mit dem Thema Feminismus gibt. sie ihren Feminismus heute? Und was hat Das neben Familie und Arbeit in der Form sich seit damals im Feminismus verändert? aufrecht zu erhalten, ist anstrengend. Doch Auf der einen Seite beobachten die alten in der privilegierten Zeit während des Stu- Radikarlas, dass sich zwischen den Neun- diums die Freiheit für solche Projekte wie zigern und dem heutigen Zeitpunkt vieles die Radikarla zu haben, geistig wie zeitlich, verändert und auch einiges getan hat. So ist hat die Radikarlas wirklich bestärkt, auch Lesbisch-Sein für sie im Alltag nicht mehr um später mit Nachdruck betonen zu kön- so Thema wie damals und das Ausleben der nen: „Das ist mir aber wichtig!“ Sexualität ist vor 20 Jahren viel schwieriger Und genau dieses Bewusstsein und dieser gewesen – unter anderem auch, weil der Nachdruck bleibt ihnen von der Radikarla Zugang zu lesbischen Medien aufwendiger von vor 20 Jahren auch heute noch erhalten: war. Anstatt einfach den PC anzuschalten, musste sich heimlich in der „Die Zeit hat mich total Bibliothek getroffen wer- geprägt – also die Uni- den. Auf der anderen Seite Zeit generell, aber auch gibt es die Wahrnehmung, die Auseinandersetzung dass sich an der Rollenver- mit den Themen zu der teilung in heterosexuellen Zeit, als die Radikarla Partner*innenschaften we- entstanden ist. Ich merke nig verändert hat. Zudem das auch an Reaktionen, beschäftigen sie sich z. T. die ich bekomme, wenn vermehrt mit Themen der ich etwas sage. Wenn du (lesbischen) Elternschaft selbstbewusst deine Mei- und sehen z. B. die zu- nung vertrittst, das würde nehmende Kommerziali- bei einem Mann so nicht sierung und Geschlechtszuschreibung bei kritisiert werden, ihm würde nicht vorge- Kinderspielzeugen mit Sorge. worfen werden: „Sei doch mal nicht so do- Andere Themen sind damals wie heute minant!“ – bei einer Frau wird gefordert, wichtig – so berichten die Radikarlas, im- sie solle Rücksicht nehmen. Da wird eine mernoch für einen Gebrauch von weibli- rücksichtsvolle, leise, mitfühlende Rolle chen Formen in der Sprache zu kämpfen. von dir erwartet. Und das ist heute, glaube Zum Beispiel bei der Arbeit, wo immer ich, immer noch ganz klar so“, so eine der wieder der Finger in die Wunde gelegt und Frauen. Kolleg*innen ans Gendern erinnert werden Eine andere stellt fest: „Ich glaube auch, müssen. Oder beim Gespräch mit jungen dass ich im Alltag sensibilisiert bin für nicht Praktikantinnen, die sich selbst als Prakti- ganz triviale Gleichstellungsthemen“. Auch kanten bezeichnen. sie beobachtet Geschlechterklischees und Generell stellen sie fest, dass mensch in Rollenkonformismus in der Gesellschaft der Berufs-/Arbeitswelt oft die Zusam- und an der Uni, wo sie arbeitet. 9
Davon zu hören, wie die Radikarlas die Zeit- Diese und viele weitere Fragen beschäfti- schrift gegründet haben, wie sie die Zeit da- gen uns am Ende des Interviews. Aber wir mals erlebt haben, wie viel sich in den letz- sind auch glücklich über die tolle Begeg- ten 20 Jahren dann doch verändert hat, was nung und die vielen Denkanstöße, die wir die Radikarlas noch heute aus ihrem Projekt bekommen haben. Und während die Sekt- damals ziehen und welche Themen sie heute korken knallen und wir auf die Radikarla beschäftigen – das haut uns alles ganz schön und die Radikarla* anstoßen, schwirren uns um und regt zum Nachdenken an. die vielen Zitate der Radikarlas noch im Kopf herum. Hängen geblieben ist uns da Werden wir uns in 20 Jahren noch gegensei- zum Schluss Folgendes: tig kennen? Wie wird der Feminismus in 20 Jahren sein? Und: Haben wir eigentlich schon alles erreicht? Oder noch gar nichts? Ist die Uni eine Blase, in der wir uns bewegen, und wenn wir anfangen zu arbeiten, platzt alles? „Es ist tatsächlich ganz wichtig, Sind die Themen, mit denen wir uns beschäf- dass Frauen sichtbar sind, dass tigen, aktuell? Werden wir uns weiterentwi- Frauen die gleichen Rechte haben…“ ckeln? Oder im Gegenteil – werden wir uns – „… es hat sich gar nicht in einer anderen sozialen und gesellschaftli- so viel verändert. chen Umgebung wieder auf die „Basics“ des Es ist noch immer viel zu tun.“ Feminismus beschränken müssen? 10 10
Aus: Radikarla Nr. 3 (Sommer 1994)
FEMINISTISCHE NATURWISSENSCHAFTSKRITIK RADIKARLA Nr. 1 – Mai/Juni 1993 Wohl jeder ist das Bild vertraut, mit dem Wis- war, entstand jetzt das Bild von Natur als Ma- senschaft sich darstellt: Sie ist rational und schine. Die eindrucksvollste technische Neu- objektiv, zwar ein öffentliches Unternehmen, erung des 17. Jahrhunderts, die mechanische aber gegenüber gesellschaftlichen Einflüssen Uhr, lieferte die Metapher für den gesamten unabhängig und wertfrei. Rationalität, Au- Kosmos: Natur wurde zum leblosen Uhr- tonomie und Öffentlichkeit – Eigenschaf- werk, das in seine Einzelteile zerlegbar und ten, die seit je dem Männlichen zugeordnet analysierbar ist. wurden, das zu seiner Selbstdefinition immer Dieser Wandel des Naturbegriffs ist zum auch die Ausgrenzung des „Anderen“, des einen eingebettet in einen historischen Weiblichen brauchte. Auch die Wissenschaft Kontext, in dem sich frühe kapitalistische mit ihren männlichen Attributen definiert Strukturen entwickelten, der durch die Aus- sich selbst unter Abgrenzung und Minderbe- einandersetzung des aufkommenden Bürger- wertung der Erfahrungen, die mit Weiblich- tums und der alten Ordnung des Feudalismus keit assoziiert werden. Wissenschaftsideolo- gekennzeichnet ist. In diesem Kontext ist gie und Geschlechterideologie durchdringen verständlich, warum sich die analytisch-me- einander. chanistische Naturauffassung gegenüber der Eine feministische Sicht auf die Wissenschaft naturmystischen durchsetzen konnte. Denn versucht, diesem „Wissenschafts-Geschlech- mit ihrem Erkenntnisinteresse, das nicht ter-Syndrom“ (Evelyn Fox Keller) auf die mehr auf ein einfühlendes Verstehen-Wol- Spur zu kommen, seine Wurzeln und Mecha- len der Natur abzielt, sondern auf ihre Be- nismen festzulegen, vor allem in Hinblick auf herrschbarkeit, darauf, Verfügungsgewalt die Konsequenzen, die dieses Geflecht für die über sie zu bekommen, war sie als Hilfsmittel Frauen hatte und hat. Sie versucht, die kom- zu deren möglichst nutzbringenden Anwen- plexen Wechselwirkungen zwischen patriar- dung wesentlich besser geeignet. chalen Gesellschaftsstrukturen und wissen- schaftlichen Denkweisen aufzuzeigen. Und eine Spur führt dabei in die Entstehungsge- schichte der modernen Naturwissenschaft: Die Fundamente der modernen Wissenschaft – die experimentelle Methode und die For- malisierbarkeit der Natur durch mathemati- sche Naturgesetze – wurden im 16. und 17. Jahrhundert gelegt. In dieser Zeit vollzog sich der Wandel einer organischen zur mechanisti- schen Naturauffassung. Wurde Natur vorher als einheitliches Ganzes gesehen, als beseelter Organismus, der mit Ehrfurcht zu behandeln 12
Zum anderen vollzog sich die Herausbildung In ihrem Buch „Der Tod der Natur“ zeigt der modernen Wissenschaft im Zusammen- Carolyn Merchant, wie sich im Zusammen- hang mit der massivsten Gewalt gegen Frau- hang mit der beginnenden kapitalintensiveren en, wie sie sich in den Hexenprozessen dar- Naturnutzung diese Metaphorik verschiebt: stellt. Während dieser historischen Prozesse Während in der organischen Naturauffassung – der Hexenverfolgung und der Entstehung das Bild der „Mutter Natur“ überwog, rück- der modernen Wissenschaft – erfährt das alte te in der frühen Neuzeit die Vorstellung von patriarchale Bild von Frau und Natur eine Natur als gesetzlosem, wilden Reich in den Neudefinition, an dessen Ende die Desexua- Mittelpunkt und ließ den Gedanken der Na- lisierung der Frau und eine als leblos begriffe- turkontrolle zum zentralen Konzept werden. ne Natur-Materie steht. Das Männliche als Träger der Vernunft und Kultur, das Weibliche hingegen als Radikarla*s! Wieso habt ihr euch reine Natur – diese Dualis- für diesen Artikel entschieden? men durchziehen seit der Als ich die RADIKARLAs aus den 90er Jahren durchstö- Antike die gesamte abend- bert habe, bin ich direkt auf diesen Artikel gestoßen! Fe- ländische Tradition. Dabei ministische Naturwissenschaftskritik! Wie spannend. Ich hatten die Bilder von Frau hab‘ zwar keinen Plan von Naturwissenschaft, was aber und Natur immer zwei nicht heißt, dass ich mich nicht dafür interessiere. Noch Gesichter: War die Frau interessanter wurde es für mich, Naturwissenschaft durch sowohl keusche Jungfrau, eine feministische Brille zu sehen. Viele der angespro- der Verehrung galt, als chenen Themen sind heute noch verdammt aktuell – als auch zu verdammendes wäre die Zeit stehen geblieben und nicht ganze 28 Jahre dämonisches Triebwe- vergangen! Doch neben der Aktualität finde ich, dass der sen, so wurde auch die Artikel es schafft, eine grundlegend feministische Kritik als weiblich gedachte aufzuzeigen. In vielen Artikeln, die ich geschrieben habe, Natur mit der entspre- hatte ich das (berechtigte) Gefühl, oft die Grundlagen zu chenden Metaphorik be- übergehen, die meine Kritik ausmachen (z. B. die Unter- legt. Einmal wurde sie als scheidung in rationale Wesen = cis Männer (Kultur) vs. nährende, fürsorgende Irrationale Wesen = cis Frauen (Natur)). Diese Mutter gesehen, die sich Neuauflage des Beitrags aus den 90er Jahren ist in einem wohlgeordne- ein Versuch, einen hoffentlich besseren Einblick ten Kosmos um die Be- in einen Bereich feministischer Kritik zu geben. dürfnisse der Menschen Mit Sicherheit haben sich seit der Entstehung kümmert – zum anderen des Artikels einige Perspektiven verändert, existierte das Bild der wurden erweitert oder sind – wie gesagt – wilden, gesetzlosen Na- noch immer aktuell. Dennoch halte ich es für tur, die mit ihrer Gewalt, wichtig, den Blick auch in die Vergangenheit zu den Stürmen, Dürren und richten, um zu sehen, was unsere feministischen Unwettern den Menschen „Vorfahr*innen“ geschrieben haben. Nur so können bedroht [ausgedrückt in wir von den Kämpfen lernen, die den unseren vor- dem Bild der Hexe (Anm. ausgegangen sind, und diese geraten nicht so leicht in d. Redaktion)]. Vergessenheit – was leider viel zu oft passiert. 13
Es galt nun, das wilde, chaotische Naturreich sucht, der Hexe unter Folter das Geständnis – genauso wie die als bedrohlich empfundene zu erpressen, so sieht Bacon – selbst an da- weibliche Sexualität – durch männlichen Ver- maligen Hexenprozessen beteiligt – die Rolle stand zu zähmen und zu beherrschen. des Wissenschaftles darin, durch Zerlegung der Natur – durch das Experiment – ihr die Die enge Verbindung zwischen diesem Na- Geheimnisse zu entreißen. turbild und Geschlechtersymbolismus findet sich auch explizit in den Texten der „Begrün- Insofern ist Bacons „Wissen ist Macht“ der“ der modernen Naturwissenschaft. Am wörtlich zu nehmen. Macht und Erkenntnis Beispiel von Francis Bacon (1561–1616), in sind ihm synonym. Herrschaft und Kontrolle dessen Texten sich Geschlechterideologie erklärte Werte der neuen Wissenschaft und in Form aggressiver Sexualmetaphorik wi- Manipulation der Natur Bestandteil seines derspiegelt, verdeutlicht Evelyn Fox Keller1, Programms für den Fortschritt der Mensch- wie stark Phantasien von Männlichkeit die heit. Dies zeigt sich insbesondere in Bacons Vorstellungen über die Ziele und Vorgehens- Utopie-Entwurf „Nova Atlantis“, 1624, kurz weisen der neuen Wissenschaft beeinflussen: vor seinem Tod verfasst. Das Gemeinwesen Männliche Kraft muss nach Bacon die neue in Neu-Atlantis lebt in einem quasi-paradie- Wissenschaft verkörpern, damit der Men- sischen Zustand: politische Entscheidungen sch=Mann die verlorene Herrschaft über im eigentlichen Sinne gibt es nicht, sie wer- die Natur wiedergewinnt. Sein Ausgangs- den von den Wissenschaftlern, den „Vätern bild ist die „keusche und gesetzmäßige Ehe des Hauses Salomon“ getroffen. Im „Haus zwischen Geist und Natur“2, die, wenn die- Salomon“, der Forschungskathedrale auf se Verbindung erst einmal eingelöst ist, eine Neu-Atlantis, werden künstlich Pflanzen und Wissenschaftspotenz hervorbringt, die der Tiere verändert, die anorganische Umwelt wilden Natur Herr werden kann. „Mein lie- neu geschaffen, das Wetter manipuliert usw. ber, lieber Junge,“ formuliert Bacon in „The [Tja, zum Teil heutige Realität; Stichwort Masculine Birth of Time“, „was ich für dich habe, ist, dich mit den Din- gen selbst in einer keuschen, heiligen und legalen Ehe zu vereinigen. Und aus dieser Verbindung wirst du dir ei- ner Vermehrung sicher sein können, die alle Hoffnungen und Gebete ge- wöhnlicher Ehen übersteigt, nämlich eine gesegnete Rasse [sic!] von Helden und Supermännern“3. In dieser Ehe wird die Natur als eine Braut aufge- fasst, der sich der forschende Jüngling zunächst werbend nähert, sie erobert und zähmt, um sie dann zur Sklavin zu machen. Und wie der Inquisitor ver- 1 Keller, Evelyn Fox „Liebe, Macht und Er- kenntnis“ München 1986 2 Bacon, zit. nach Keller, S. 43 3 Bacon, zit. nach Keller, S. 43 14
Geoengineering4 (Anm. der Redaktion)]. de, wie sie durch René Descartes begründet Hier wird die ungeheure Fortschrittsgläubig- wurde. „… Eine gemeinsame Grundlage der keit deutlich, mit der von Bacon und seiner beiden sich ergänzenden Elemente der neuen Zeit die neue Wissenschaft verbunden wurde Wissenschaft – experimentelle Methode und (Phantasien, die in Anbetracht der Gentech- mathematische Theorie – ist die Abwehr von nik scheinbar auch heute noch in so manchem Sexualität und Emotionalität.“5 WissenschaftlerIn-Kopf herumgeistern). Dabei bleibt zu fragen, ob nicht der Vorwurf, Bacons Metapher der „keuschen und ge- den die neuzeitliche Wissenschaft an frühere setzmäßigen Ehe“ muss im Kontext zwi- Formen der Erkenntnis richtete, dass diese schen neuer Wissenschaft und Alchemisten nämlich nur Projektionen des menschlichen entschlüsselt werden. Waren die Methoden Innenlebens in die Natur darstellten, auch der mystischen Naturerkenntnis Einfühlung auf sie selber zutrifft. Ob nicht der Wunsch und Erleuchtung, die Versuche in den La- nach radikaler Distanz des forschenden Ichs boratorien (Labor=Arbeit, Oratori- der Angst vor dem Verlust der eigenen um=Betsaal) gleichzeitig mit Läu- Identität, seiner Autonomie entspringt. terungsprozessen der forschenden Seele verbunden, stellte die neue Wissenschaft Erkenntnisideale auf, An dieser Stelle ein Lesetipp an euch: Silvia Fe- die mit diesen Vorstellungen ra- derici beschreibt in ihren Buch Caliban und die dikal brachen. Während in der al- Hexe: Frauen, Körper und die ursprüngliche Akkumu- chemistischen Tradition eine starke lation unter anderem diesen Wandel von einer Verbindung zwischen Erkenntnis organischen zu einer mechanistischen Natur- und emotionalem Eindringen be- bzw. Weltauffassung im westlichen Europa und stand, forderte die neue Wissen- wie das mit der Entstehung des Kapitalismus schaft Reinheit und Keuschheit zusammenhängt, ausführlich. Das ist nur ein wissenschaftlicher Erkenntnis. Ihre Aspekt ihres Buches. Auch der historische Zu- Grundlage ist die Abwehr von Emo- sammenhang zwischen der Hexenverfolgung, tionen des forschenden Subjekts ge- der Kapitalisierung und der Kolonialisierung genüber der zu erforschenden Natur. wird von ihr erklärt. Natur wird dadurch zur leblosen Ma- schinerie, die in Einzelteile zerlegbar ist. Der Akt des Erkennens, von Emo- tionen gereinigt, beruht auf völliger Distanz Weitere Quellen: des Forschenden vom Gegenstand der For- • Merchant, Carolyn, Der Tod der Natur, schung. Nur eine Form der Objektivität wird München 1987 zugelassen, die die radikale Distanz zwischen • Hickel, Erika, Tod der Natur, in: WECH- Subjekt und Objekt wahrt. SELWIRKUNG 2 (1984) Das Abgrenzen der Sinnlichkeit, die Tren- nung von Körper und Geist, ist ebenso Cha- rakteristikum der formalisierenden Metho- 4 Holly Jean Buck, Andrea R. Gammon und Chris- 5 Scheich, Elvira, Die zwei Geschlechter in den Na- topher J. Preston (2020): Gender and Geoengi- turwissenschaften: Ideologie, Objektivität, Verhält- neering. In Hypatia 29 (3), S. 651-669. https://doi. nis, in: Verein Feministische Wissenschaft (Hrsg), org/10.1111/hypa.12083 Im Widerstreit mit der Objektivität, Zürich 1991 15
Was hat dieser wissenschaftliche Andro- zentrismus1 bis heute für Auswirkungen? Da in den meisten Wissenschaften leider immer noch überwiegend Männer vertreten sind, herrscht allge- mein weltweit eine wissenschaftliche Ordnung, die von Männern (mit dem cis Mann als Denker, Hypo- thesenentwerfer und Experimentinitiator) und dadurch unweigerlich auch für Männer (mit dem cis Mann als Maß aller Dinge) gemacht ist. Und dieses Maß aller Dinge spiegelt sich auch in den Daten wider, in de- nen FLINTA*s „die Ausnahme“ oder „das Andere“ darstellen. Dies ist der sogenannte gender data gap. Das hat auf diejenigen, die in den Daten unterrepräsentiert sind oder die sogar ganz fehlen, einen bewussten oder unterschwelligen Einfluss im Alltag, z. B. im medizi- nischen Bereich. Studien wurden und werden hier oft an cis Männern durchgeführt und die Ergebnisse dann verallgemeinernd auf alle Menschen in unserer Gesell- schaft übertragen. Allgemein anerkannt sind dann oft nur die Symptome/Dosierungen/Nebenwirkungen/ (…) bei cis Männern (z. B. beim Herzinfarkt) – hierbei wird ignoriert, dass sich bestimmte Krankheitssympto- me je nach Geschlecht anders äußern können. Außerdem ist es bei Frauen wahrscheinlicher, dass ihre Symptome als „emotional“ oder „psychogen“ ein- gestuft werden. Nur ein Beispiel aus einem anderen Bereich: Bei Autounfällen ist es für Frauen um 47% wahrscheinlicher, ernsthaft verletzt zu werden – die Dummies in crash tests haben einem durchschnittli- chen Mann entsprechende Maße. Wichtig zu erwähnen ist, dass auch ein double data gap zwischen weißen und Schwarzen Frauen sowie Frauen of Color existiert. Wer noch mehr Beispiele nachlesen will, kann ihr*sein Wissen im Buch „Invisible Women“ von Caroline Cri- ado-Perez vertiefen, soll aber gewarnt sein: Das Buch übergeht trans und non-binary people fast vollständig! 1 Es wird von Androzentrismus gesprochen, wenn eine Anschauung den cis Mann ins Zentrum des Denkens stellt. 16
konnte mich so gut darin wiederfinden. Das hat mich sehr verwirrt. Dann habe ich eine Chiffre-Anzeige aufgegeben. Da haben sich dann auch tatsächlich welche drauf gemel- det. Nach vier Monaten haben wir uns dann zum ersten Mal getroffen. Auf dem Treffen lernte ich Sabine kennen. Sabine: Ja, das war unheimlich aufregend, Unter größten Mühen und wochenlangem all diese schüchternen Lesben. Wir saßen in Warten ist es mir gelungen, einige Mitfrauen dieser fürchterlichen Kneipe an der Weender aus der Göttinger Gruppe ASL vors Mikro Landstraße im Hinterraum, den wir unter zu bekommen. Viel Geduld und ein toter einem Pseudonym angemietet hatten. Wir Briefkasten waren dazu nötig. Drei von den hatten halt alle Angst, erkannt zu werden. ASLinnen haben sich dann zu einem Ou- Katrin: Göttingen ist ja soo klein. Wir saßen ting bereit erklärt. Dies ist ein sehr mutiger dann ganz lange da rum. Ne Ewigkeit, jede Schritt, das Tabuthema Schüchternheit in vor ihrem Getränk, manche rauchten zu viel. die lesbische Öffentlichkeit zu bringen. Eine Sabine: Zeig doch mal das Foto. Auseinandersetzung mit unserer Identität Katrin: Hier. Sehen wir nicht glücklich ver- darf dies nicht übergehen, sondern muss klemmt aus? sich diesem Problem stellen. Natürlich sind die Namen geändert. Darauf muss extra Steffi: Was war das für ein Gefühl, da zu sein? hingewiesen werden, weil das unter all den Sabine: Ich war kolossal überrascht, dass es Susannes, Steffis, Katrins und Sabines wie- so viele von uns gibt. der nicht aufgefallen wäre und es bloß wie- Katrin: Wir waren sieben. Es war wie ein der Verdächtigungen gibt. Aufbruch. Raus aus der Isolation. Steffi (die Interviewerin): Wann hast du Sabine: Die ersten Treffen waren sehr zö- „es“ gemerkt? gerlich, aber wir treffen uns regelmäßig, (…) Sabine: Also, diese Lesbe, die ich so toll wurden immer mehr. fand und die mit mir reden wollte, tja, je- Susanne: Nachdem ich davon erfahren denfalls bekam ich Sprachstörungen, kalte habe, natürlich konspirativ, dass sich solche feuchte Hände, rote Ohren, ich konnte sie Lesben in diesem Lokal treffen, habe ich die ganze Zeit nicht ansehen, irgendwann mehrmals davorgestanden. Katrin hat mich fand sie mich dann nicht mehr so toll und dann vor der Tür angesprochen. Ich habe verschwand dann mit so einer gewöhnlichen ihr gesagt, ich würde mir das gerne mal an- Draufgängerin. Ich fühlte mich sehr elend schauen, aber nur interessehalber, weil ich ja und hatte diesen Verdacht, traute mich aber eigentlich gar nicht so eine wär. nicht, „es“ auszusprechen – vor allem nicht vor mir selbst. Alle kichern. Katrin: Mir gings ähnlich. Ich hatte in den Steffi: Wann habt ihr es dann zum ersten Mal einer gesagt? Komplizinnen diesen Artikel von einer Lesbe mit auch so einem Problem gelesen. Susanne: Als ich dann mutig genug war, Sie schrieb von ihren Gefühlen und so. Ich hab ichs uns inner WG erst mal schön ge- 17
macht, so mit feudalem Essen und Kerzen- Sabine: Ich ärgere mich auch gar nicht licht und so. Nach der dritten Flasche Wein mehr über so saublöde Sprüche wie: Du, hab ichs dann gesagt. Und es war toll. Keine schüchtern? Das hast du doch gar nicht nö- blöden Reaktionen. Sie waren sehr verständ- tig. Es ist ein Problem unter Lesben, dass nisvoll. Eine Mitbewohnerin gestand sogar, wegen dieser ganzen selbstauferlegten Nor- dass sie das schon auch mal von sich gedacht men- und Dogmenscheiße jede Lesbe sich hat, mit einer guten Freundin sei ihr das so im Laufe ihres Daseins in irgendeiner Wei- gegangen. War dann aber doch nicht. se wegen irgendwas coming-outen muss. Das geht denen so, die sagen, ich bin SM, Katrin: Also, ich habe da auch ganz positive in meinem Kühlschrank steht immer Kavi- Erfahrungen gemacht. Meine Freundinnen ar, ich praktiziere safer sex, ich habe einen haben sich das sowieso schon immer von Haifisch-Dildo, ich war gestern Abend nicht mir gedacht, wie sich dann rausstellte. Au- beim Plenum sondern im Freibad, mein ßer einer, die meinte, dass das doch nicht so Haustier ist ein Rüde/Kater, ich mag meine wichtig sei und ich solle das lockerer sehn, langen Haare usw. Das ist doch absurd. Wir ich hätte doch schließlich ne Beziehung. grenzen uns in immer kleinere Untergrup- Sabine: Meine Geliebte wollte es erst gar pen ab, bis wir ganz verschwinden. nicht glauben, dass ich schüchtern bin, es sei Katrin: Obwohl da schon ein Widerspruch nur eine Phase. Das hat mich tierisch geär- zu unserem letzten Flugi ist. Das haben wir gert, ich wollte gerade von ihr ernstgenom- z. B. mit Autonome FrauenLesbenMädchen men werden. Wir haben doch sonst so ne Schüchterne unterschrieben. offene und „alles ist möglich“-Beziehung. Susanne: Tja, nicht überall, wo Lesbe Steffi: Da sieht frau mal wieder, dass dies draufsteht, ist auch Lesbe drin, so oder so zwar die 90er Jahre sind, aber schüchterne ähnlich. Politisch korrekt (pc, sprich pici) Lesben gezwungenerweise in der Unsicht- sein ist noch kein Programm. barkeit leben bzw. wegen ihrer „Veranla- gung“ von der lesbian community dazu Sabine: Und nur inne Disco gehen ist auch verdammt sind, die Rolle der selbstsicheren nicht gerade für die Revo. Trotzdem, vive la Draufgängerin zu spielen. Auch das wird difference! mal wieder nicht hinterfragt. Katrin: Lesbischen Blödkühen kann eine Katrin: Ja, stimmt, aber seit ich das von mir ja aus dem Weg gehen. Ich find es gut, so weiß und meine Freundinnen zu mir halten, schüchtern. habe ich auch keine Probleme mehr damit, Steffi: Puh, mir wirds hier aber jetzt zu mo- ins tratschige FLZ zu gehen oder der pure ralisch. Ich geh nach Hause und setzte mich Gedanke daran, dienstags im Kabale an ei- ein Weilchen hintern Laptop (der ist natür- nem sektseeligen Marmortisch durchgehe- lich bloß ausgeliehen!). chelt zu werden, treibt mir keinen Nacht- schweiß mehr aus den Poren. Danke fürs Gespräch und Daumen hoch, Mädels! Susanne: Ja, die, die letztes Mal so laut mit ihrem Delphin-Dildo geprahlt hat, die ist in Wirklichkeit auch so ne Schüchterne, hat se (Dieses Interview verfasste in Wirklichkeit mir gebeichtet. Carolyna Prescott) 18
einer heutigen Radikarla* Knapp 28 Jahre liegen zwischen unserer Aus- gabe heute und dem grandiosen Interview aus der allerersten RADIKARLA. Schüchterne Queers gibt’s noch immer, der Spruch, dass „alles sicher nur eine Phase“ sei, zieht auch nach wie vor nicht und was sich dazu nicht verändert hat, ist, dass Humor manchmal doch helfen kann, sich emotional ein wenig von ner- vigen und beschissen stressigen Situationen zu distanzieren. Wir lieben, wie selbstironisch der Artikel ist und wie sich Witz und Satire durch die alten Artikel der RADIKARLAs ziehen. Einiges hat sich aber auch seither verändert. Was damals Chiffre-Anzeigen waren, sind heu- te vielleicht cringy online dating Bios. Auch die „fürchterliche Kneipe“ an der Weender Land- straße, in der die ASLinnen Angst hatten, er- kannt zu werden, gibt’s vermutlich nicht mehr. Andere Räume und Treffpunkte für FLINT* Personen existieren dagegen bis heute: Im seit 1990 aktiven, queerfeministischen Café Kollek- tiv Kabale finden in Nicht-Corona-Times Flirt- nights und jeden Dienstag die FLINT*-Knei- pe statt. Auch im Juzi wird’s hoffentlich auch nach the ‘rona wieder die Möglichkeit geben, sich auf einen Schnack und/oder ein Getränk bei der Frauentheke, der queerBar oder dem FILTA-Café zu treffen. Bis dahin arbeiten wir dann auch weiter an der Sache mit dem Hu- mor. In diesem Sinne: Lang leben die alten RA- DIKARLAs! 19
The very first night & heiße Augenblicke Noch Fragen? The very first night Vor meinem eisgeblümten Fenster Kreischen die Vögel um halbacht „Wir taten es“, ist mein erster Gedanke „Göttin! Wir haben’s wirklich gemacht!“ Noch Noch Muß ich mich vielleicht Zum Lächeln zwingen Es aus meiner Phantasie Aus meiner Vorstellung von dem Wie ich sein möchte Heißer Augenblick In Zukunft Sie trug einen häßlichen Pulli Und sein könnte Und hat zu mir ‘rübergeguckt. Und sein sollte Ich fühlte ein Loch im Socken Herausholen und auf mein Gesicht bannen Und hab‘ mich am Sekt verschluckt! Doch früher oder später Wird es von ganz allein Mir in die Augen springen Und um meinen Mund Und unter die Haut Und ganz ehrlich Der Ausdruck sein Meiner inneren Belustigung Über die Leichtigkeit Des Lachens über das Leben. Fragen? Hat etwas neues begonnen? Hat sie den Brief gelesen? Wird morgen irgendetwas sein? Ist jemals etwas gewesen? 20
Zur Sicherheit von FrauenLesben an der Göttinger Universität RADIKARLA Nr. 1 – Mai/Juni 1993 CN: Sexualisierte Gewalt prüft. Dadurch fühlen sich die Frauen sicherer und können nun in Ruhe auch Studieren und Arbeiten an der Göttinger einmal länger auf der Toilette bzw. vor Uni ist für FrauenLesben eine rundum dem Spiegel verharren, wo sie früher sichere Sache. Unileitung und Studen- hektisch versucht hätten, den oft be- tInnenwerk scheuen kaum Kosten und drohlich einsamen Ort wieder zu ver- Mühen, um ihre weiblichen Studieren- lassen. An den Anblick männlicher Per- den optimal vor sexistischen und gewalt- sonen auf dem Frauenklo hat frau sich tätigen Belästigungen und Angriffen zu im Übrigen schnell gewöhnt – nur in schützen. Daß sie dabei auch neue und der Anfangsphase kam es vereinzelt zu unorthodoxe Wege beschreiten, dürfte Mißverständnissen, da einige unbedarfte Göttingen (zusammen mit einigen ande- FrauenLesben im ersten Monat glaubten, ren Städten) schon bald eine Vorreiterin- einen „Klospanner“ vor sich zu haben. nenrolle unter den deutschen Uni-Städ- ten sichern. Auch in den universitären StudentIn- nen-Wohnheimen hat das Konzept „Si- Es sind verschieden Ansätze zur Verbes- cherheit durch Beobachtung und Prä- serung der Sicherheit von FrauenLesben senz“ Anwendung gefunden, was sich verwirklicht worden, von denen hier etwa am Beispiel des Wohnheims am zwei näher vorgestellt werden sollen. Albrecht-Thaer-Weg sehen läßt. Hier Zunächst wäre das Modell „Sicherheit wurde ein nächtlicher Streifendienst ein- durch Beobachtung und Präsenz“ zu gerichtet, der die im Souterrain lebenden nennen, welches nur durch die Ver- FrauenLesben-Wgs bzw. alleinlebende pflichtung ehrenamtlicher Mitarbeiter FrauenLesben in das Sicherheitskonzept realisiert werden konnte. So werden der Uni einbezieht: Da in diesen Woh- die Frauentoiletten, z. B. im ZHG, in- nungen die Einsicht von außen oft zu zwischen regelmäßig von männlichen ungestört möglich ist und früher Voyeu- Aufsichtspersonen aufgesucht und über- re und Exhibitionisten geradezu einlud, 21
ihr Unwesen zu treiben, patrouillieren achten sie etwas Verdächtiges innerhalb hier jetzt in der kritischen Zeit (zwischen des Zimmers einer Bewohnerin, so 1 und 3h) ebenfalls Freiwillige. leuchten sie auch schon einmal mit der Diese überprüfen z. B., ob sich bei ge- Taschenlampe (Teil der Dienstausrüs- kipptem Fenster zugezogene Vorhänge tung) hinein, doch solche kleinen Unan- nicht allzu leicht von außen zur Seite nehmlichkeiten werden von der Betrof- schieben lassen. Oder aber sie postieren fenen meist gern in Kauf genommen, sich im fensternahen Gebüsch und war- geht es doch um ihre ganz persönliche ten dort auf potentielle Unholde. Beob- Sicherheit. Viele FrauenLesben berich- 22
ten auch, daß die Praxis einiger Streifen- Weg arglos benutzen, ohne Beleuchtung gänger, während ihrer Arbeit freundlich jedoch würden vernünftige Fußgänge- an die Fensterscheibe der Bewohnerin- rInnen und RadfahrerInnen lieber Um- nen zu klopfen, ihnen ein besonderes wege wählen. Was die Beleuchtungsfrage Gefühl der Sicherheit gebe. angeht, kann das vorliegende Konzept wie folgt zusammengefasst werden: An dieser Stelle sei angemerkt, daß das Punktuelle, aber massive Beleuchtung StudentInnenwerk bei seinen Wohnanla- (siehe UB-Vorplatz) statt flächendecken- gen auch die „Gefahr von Innen“, d. h. der Anbringung von Laternen. Letztere durch Mitbewohner, nicht unberück- nämlich würde auch solche Orte ein- sichtigt lässt. Sollte sich eine Bewohnerin schließen, die per se so gefährlich sind, durch einen ihrer Nachbarn sexuell be- daß FrauenLesben an ihnen nichts ver- lästigt oder gar bedroht fühlen, so wäre loren haben. Und in dieser Reihe ließen dies – wie Erich Jetschny vom Student sich noch viele weitere Objekte univer- Innenwerk schon vor längerer Zeit bei sitärer und städtischer Planung nennen, Radio FFN ausführte – ein unbedingter die bewußt so gestaltet wurden, daß Kündigungsgrund für den beschuldigten FrauenLesben die Gefährlichkeit ihrer Studenten. Voraussetzung für eine Kün- Frequentierung erkennen und diese da- digung ist selbstverständlich, daß die an- raufhin meiden können. schuldigende Bewohnerin ihren Vorwurf auch beweisen kann, damit ein even- Wer ist nun also zuständig für das Sicher- tueller Mißbrauch ausgeschlossen ist. heitskonzept der Göttinger Universität? – Zu diesem Zweck hat die Uni eine spe- Als zweites Sicherheitsmodell soll das zielle Sicherheitskommission eingesetzt. der abschreckenden Maßnahmen erläu- Diese Kommission war ursprünglich tert werden. Hierbei geht es nicht etwa von FrauenLesben als Reaktion auf die um die Abschreckung potentieller Täter, Vergewaltigung einer wissenschaftlichen denn Versuche in diese Richtung haben Hilfskraft im Blauen Turm (April ‘90) sich in der Vergangenheit stets als eher gefordert worden. Doch wurden nach wirkungslos herausgestellt. Gemeint ist langer Prüfung die unausgereiften und vielmehr die Abschreckung potentieller z. T. auf akuten Emotionen basieren- Opfer. Denn würden sich FrauenLes- den Ideen der FrauenLesben von der ben gar nicht erst (mehr oder weniger Uni-Verwaltung in einer durchdachteren bewußt) in gefahrvolle Situationen be- und rationaleren Form realisiert. Denn geben, käme es nicht zu Übergriffen. Forderungen nach einer Langzeitstudie Hierin begründet sich etwa die Entschei- zur exakteren Ermittlung von Gefahren- dung, kritische Orte wie den Hermann- punkten und nach der Einsetzung von Nohl-Weg (unterhalb des IFL), an dem (feministischen) städteplanerischen Ex- es immer wieder zu Überfällen bis hin pertinnen wurden als unnötig und außer- zur brutalen Vergewaltigung gekommen dem als zu aufwendig und teuer erkannt. war, völlig unbeleuchtet zu lassen; an- dernfalls – so der geschäftsführende Lei- So setzt sich die jetzige Kommission ter des StudentInnenwerks Günter Koch zusammen aus VertreterInnen der vier u. a. – würden sich die Frauen in falscher Statusgruppen (StudentInnen, wissen- Sicherheit wiegen und den gefährlichen schaftliche MitarbeiterInnen, nicht 23
wissenschaftliche MitarbeiterInnen, ProfessorInnen), des StudentIn- nenwerks, des Uni-Personalrats, der Polizei, des Staatshochbauamtes und der Stadtverwaltung, mit dem Uni-Vi- zepräsidenten Reh als Leiter der Kommis- sion. Sie tagt mindestens einmal im Jahr bzw. noch häufiger, wenn ein neuer Zwi- schenfall zu beklagen ist. Glücklicherweise schätzen auch die Kommissionsmitglieder selbst die Situation zur Zeit so ein, daß die Lage (auch nach der Vergewaltigung auf dem Campus im November) nicht wirk- lich prekär ist. Einer der Hauptvorwürfe gegen die Si- cherheitskommission in ihrer jetzigen Form ist die Tatsache, daß sie sich fast aus- schließlich aus Männern zusammensetzt. Doch dürfte hierin vielmehr ein wesent- licher Vorteil und vielleicht das Geheim- nis des großen Erfolgs ihrer Arbeitsweise liegen: Männer können sich schließlich am besten in männliche Unholde hineinver- setzen und müßten am besten wissen, wie sie ihrer HERR werden könnten. Nachwort der Verfasserin: Ursprüng- lich hatte ich mir einen ernsthaften Artikel zu dieser echt traurigen und bitterernsten Problematik vorgestellt. Doch mein un- beschreibliches Unverständnis und meine Wut über die oft hirnlose Planung der Ver- antwortlichen, ihr Feilschen um Kompe- tenzen und Finanzen sowie ihre Arroganz und ihr bodenloser Zynismus, was die betroffenen FrauenLesben angeht, haben mich schließlich diese Farce als Farce dar- stellen lassen. Übrigens: Die Typen auf dem Klo oder nachts vor eurem Fenster sind leider echte Wichser, also haut ihnen ruhig eins in die Fresse! 24
Als ich den Artikel zu lesen begann, 54,7% der Studentinnen gaben bei ei- wusste ich nicht, ob ich lachen oder ner EU-weiten Studie an, während ihrer weinen soll. Unizeit Opfer von sexueller Belästigung geworden zu sein.1 Hinzu kommen die Nahezu emotionslos werden die Miss- Übergriffe gegenüber queeren Personen bräuche aufgelistet, denen FrauenLesben und Bi_PoC. An der Göttinger Uni- tagtäglich und auch nächtlich durch Mit- versität setzt sich vor allem die zentrale studierende oder Lehrende ausgesetzt Gleichstellungsbeauftragte in der Stabs- waren. Stalking an Fenstern bis hin zu stelle Chancengleichheit und Diversität Vergewaltigungen auf dem Campus… Je zusammen mit Gleichstellungsbeauf- weiter ich las, desto übler wurde es. Der tragten der Fakultäten gegen struktu- Artikel strotzt nur so vor Zynismus und relle sexistische Machtverhältnisse ein, Bissigkeit. Anders hält frau es aber wahr- die u. a. zu Alltagssexismus führen. Bei scheinlich auch nicht aus! Dazu kommt, Diskriminierungserfahrungen kann sich dass anstatt gegen die Täter vorzugehen, jede*r an die Gleichstellungsbeauftrag- oft klassisches Victim Blaming betrieben ten (vor allem bei Erfahrungen sexueller wurde und wird, also das Opfer beschul- Belästigung oder allgemein sexistischer digt wird, dass es sich besser hätte schüt- Diskriminierung) oder an die Antidis- zen müssen. Besonders traurig ist aller- kriminierungsberatung für Studierende dings, dass sich die Uni scheinbar nur wenden (vor allem bei Erfahrungen ras- halbherzig für die Sicherheit der eigenen sistischer Zuschreibungen). Studentinnen eingesetzt hat. Dieser Ar- Bis es allerdings soweit ist, dass sich tikel öffnet einem meiner Meinung nach alle Student*innen zu jeder Tages- und wirklich die Augen, was alles in und um Nachtzeit frei bewegen können, ohne die Uni vor sich ging. Angst vor schmutzigen Sprüchen, Span- Man könnte denken oder hoffen, die nern und sexuellem Missbrauch zu haben, Lage hätte sich heutzutage verbessert. muss leider noch so einiges passieren. Aber kaum eine Frau oder queere Per- son bleibt von sexueller Belästigung oder Schlimmerem verschont. Über 1 uni-goettingen.de/de/603377.html 25
Die kompletten alten Ausgaben 1–3 fi www.fsr-sowi.de/rad
findet ihr online unter: dikarla
RADIKARLA Nr. 1 – Mai/Juni 1993 Bevölkerungspolitik ist das staatliche, me- innen, d. h. auf die eigene Bevölkerung ei- thodische Eingreifen in das reproduktive nes Staates, als auch nach außen, auf die arm Verhalten von Bevölkerungen oder Teilen gehaltenen Länder des Trikont, angewendet. der Bevölkerung. Schon in der praktischen Die innerstaatliche Bevölkerungspolitik wird Umsetzung des abstrakten Begriffes Be- wohlklingend „Familienpolitik“ genannt. völkerungspolitik durch die sogenannte Die Regierungen der armen Nationen rich- „Familienplanung“ wird deutlich, wo die ten ihre binnenstaatliche Bevölkerungspoli- Bevölkerungspolitik nahezu ausschließlich tik heute nach dem jeweiligen Diktat der In- ansetzt: An der Sexualität der Frauen bzw. dustriestaaten aus. Die immer zunehmende an der Kontrolle ihrer Fruchtbarkeit. In Ausbeutung der Ressourcen und Menschen patriarchalen Gesellschaften wird der Frau nahezu aller Nationen der drei Kontinente häufig eine eigene Sexualität abgesprochen, Afrika, Asien und Lateinamerika durch die sie wird jedoch für ihre Fruchtbarkeit allein heutigen imperialistischen Metropolen hat verantwortlich gemacht. In der Regel sind diese Länder in eine unabänderbare Abhän- Frauen allein für die Verhütung zuständig. In gigkeit von den Industriestaaten getrieben. patriarchalen Gesellschaften sind neben den Durch die Arbeitskraft dieser Menschen und Männern auch Wissenschaft und Forschung das Anbauen von Exportgütern statt der ei- patriarchal. Solange Männer forschen und genen Nahrungsmittel können diese aufge- Frauen schwanger werden, werden Verhü- nommenen Schulden niemals zurückgezahlt werden. Neue Kredite sind nötig, um zu- tungsmittel für den Mann die verschwinden- mindest die Zinsen der Schulden an die rei- de Ausnahme bleiben. Bevölkerungspolitik chen Industriestaaten zurückzuzahlen. Neue setzt in der sogenannten dritten Welt und Kredite werden aber z. B. von der Weltbank auch bei uns ausschließlich an den Frauen und dem Internationalen Währungsfonds an, sie manipuliert und determiniert deren (IWF) nur unter bestimmten Bedingungen Fruchtbarkeit. vergeben. Eine der Bedingungen lautet dabei immer: Die Regierung des jeweiligen Landes Situation der Länder im Trikont muss bevölkerungspolitische Maßnahmen Bevölkerungspolitik liegt im Interesse jeder ergreifen, d. h. die Geburtenrate muss dras- Form von Herrschaft und wird sowohl nach tisch verringert werden. 28
Angebliche Gründe für über drei Viertel der weltweit produzierten Bevölkerungspolitik Rohstoffe, Energie und Nahrungsmittel. Durch das Bevölkerungswachstum in den Die Akzeptanz für bevölkerungspolitische Industriestaaten werden achtmal so viel Res- Maßnahmen in der sog. Dritten Welt ist weit sourcen beansprucht, wie durch das zehnmal verbreitet. Das am weitesten verbreitete Ar- höhere Bevölkerungswachstum im Trikont. gument ist das Drohen mit der sog. „Bevöl- kerungsexplosion“. Damit wird einerseits die Durch die Schuldenlast haben die Länder Angst geschürt, dass wir Reichen ein Stück des Trikonts keine Möglichkeit, ihre Felder unseres Kuchens abgeben müssten, anderer- für den Anbau von Nahrungsmitteln zur Er- seits wird Mitleid mit den armen Menschen nährung der eigenen Bevölkerung zu nutzen. in den armen Ländern erweckt, die nichts zu Stattdessen werden Exportwaren wie Soja essen haben, weil sie einfach zu viele sind. oder Maniok angebaut, um durch den Ver- Kern und Hauptlüge dieser Argumentati- kauf dieser Exportwaren zumindest ansatz- on ist, dass die Armut im Trikont durch die weise die Zinsen abzuarbeiten. Armut oder Bevölkerungsvergrößerung verschuldet ist, Wohlstand sind keine Frage der Bevölke- dass quasi die Armen selbst dafür verant- rungsdichte, sondern eine Verteilungsfrage. wortlich sind. Wer/welche nur die heutige Bevölkerungspolitik ist auch eine Methode Situation der Weltbevölkerung betrachtet, der präventiven Aufstandsbekämpfung. Die ohne nach den Ursachen zu fragen, die/der Ausbeutung des Trikonts und seiner Men- wird sich mit dieser Argumentation wunder- schen verläuft nicht immer ruhig und pro- bar arrangieren können. Das Pseudoargu- blemlos. Kinder, die gar nicht erst geboren ment der Überbevölkerung suggeriert das werden, können auch nicht zu Revolutionä- Bild von eng zusammengedrängt lebenden rinnen und Revolutionären heranwachsen. Menschenmassen. Dass die Bevölkerungs- dichte z. B. 1984 in der B.R.D. größer war als Zeitgemässe Propaganda in Indien, fällt dabei gerne unter den Tisch. der Bevölkerung Doch andere Zahlen sprechen eine noch viel deutlichere Sprache: Die Bevölkerung der Die Ideologien der Bevölkerungspolitik ge- Industrieländer stellt knapp ein Viertel der hen mit der Zeit, d. h. sie bedienen sich der Weltbevölkerung, sie verbraucht allerdings jeweiligen Trends und aktuellen Themen der 29
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