ZINE 13 UNI GÖTTINGEN - APRIL 2021 - FSR SOWI

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ZINE 13 UNI GÖTTINGEN - APRIL 2021 - FSR SOWI
Zine 13
Uni Göttingen
ISSN 2567-8159

    April 2
           021
ZINE 13 UNI GÖTTINGEN - APRIL 2021 - FSR SOWI
Wow! Es ist kaum zu glauben, dass wir nun
bei 10 Ausgaben angekommen sind, die wir
geschrieben, gestaltet und gedruckt haben,
seit „die Büchse der Radikarla* geöffnet“
wurde *zwinkerzwinker* (siehe Ausgabe
4!). Doch der feministische Zauber zieht uns
bis heute in den Bann und so dachten wir
uns: Lasst uns diese 10. „neue“ Ausgabe mit
einem Best-Of der RADIKARLA-Artikel
aus den 90er Jahren feiern! Gesagt, getan.                                                   tt
                                                                                 Missy Ellio
Die meisten von euch kennen bestimmt
schon die Geschichte der Radikarla*, die
in den 90er Jahren gegründet und von uns       Ein Beispiel dafür ist Sprache: Die RA-
2017 neu aufgelegt wurde. Zwar haben           DIKARLAs benutzten das Binnen-I als
wir schon oft über die großartigen drei        Form geschlechtergerechter Sprache. Für
Ausgaben geschwärmt, die 1993 und 1994         viele von uns ist es dagegen heutzutage zur
erschienen sind – doch nun sollt auch ihr      Normalität geworden, mit *, _ oder : zu
endlich in den Genuss kommen, einige           gendern, um auch nicht-binäre, inter* und
ausgewählte Texte von damals selbst in den     trans* Personen mit einzuschließen. Den-
Händen zu halten!                              noch wollen wir den damaligen Zeitgeist
                                               abbilden und haben entschieden, in den
So möchten wir wertschätzen, wie toll und      Originaltexten die Binnen-I-Schreibweise
humorvoll die RADIKARLAs die eigenen,          stehenzulassen.
manchmal schwierigen Erfahrungen des
Lesbisch- und Frauseins verarbeitet haben.     Den Start dieser Ausgabe macht allerdings
Unsere Ausgabe 13 wirft einen Blick auf        kein Text der 90er-RADIKARLAs, son-
Themen, die dort bereits vor über 25 Jah-      dern ein Gespräch mit den vier RADI-
ren besprochen wurden und heute kaum an        KARLAs Chris, Gabi, Sümie und Silke, die
Aktualität verloren haben. Trotzdem wol-       wir 2018, kurz nach Erscheinen der vierten
len wir diese Texte auch in einen heutigen     bzw. der ersten neu aufgelegten Radikarla*,
Kontext stellen und schauen, was sich seit-    getroffen hatten (S. 5) – für uns ein ins-
her verändert hat.                             pirierendes Erlebnis, weil es uns mit den

                                                                                                  3
Anfängen der eigentlichen RADIKARLA            Musikempfehlungen der al-
      verbunden hat. Denn feministisch kämp-         ten RADIKARLAs beschäftigt
      fen heißt für uns auch, zurückzuschauen        und zum anderen geschaut, wel-
      und aus Vergangenem zu lernen!                 che FLINTA*-Künstler*innen
                                                     die     cis-männlich-dominierte
      Das zentrale Thema für die damaligen RA-
                                                     Musikindustrie der 90er auch
      DIKARLAs waren die alltäglichen Erfah-
                                                     noch aufgemischt haben. Apropos
      rungen von FrauenLesben und deren Dis-
                                                     Musik: Keine Radikarla* ohne unser hand-
      kriminierung. So haben wir uns zum einen
                                                     verlesenes Regal (S. 26), in welchem ihr un-
      für einen humoristischen Text entschieden,
                                                     sere wärmsten Musik-, Film-, Serien- und
      der von den Anonymen Schüchternen Les-
                                                     Buchempfehlungen finden könnt. Passend
      ben (ASL) berichtet (S. 17). Zum anderen
                                                     zur Ausgabe lassen euch diese natürlich
      war uns wichtig, die damalige, wirklich
                                                     auch in einer 90er-Nostalgie schwelgen.
      unfassbare(!) Situation für FrauenLesben
      an der Universität Göttingen bezüglich         Schließlich haben wir es uns nicht nehmen
      sexualisierter Gewalt aufzuzeigen (S. 21).     lassen, auf den Seiten 41–43 den Comic aus
                                                        der RADIKARLA Nr. 3 über die Ge-
      Die RADIKARLAs haben auch immer
                                                          schichte der Menstruation (S. 11) fort-
      wieder imperialistische und patriar-
                                                            zusetzen. Besonders aufregend wird
      chale Bevölkerungspolitiken kriti-
                                                             es zu guter Letzt mit dem wieder-
      siert. Dem Thema wollten auch wir
                                                              belebten Jahreshor(r)o(r)skop aus
      auf den Seiten 28–34 Raum geben,
                                                              den 90er Jahren. Das Jahr 2021 hat
      ohne dabei die heutige Perspektive
                                                              zwar schon angefangen, aber es ist
      außen vor zu lassen (S. 35–40). Doch
                                                            doch nie zu spät, sich dem natürlich
      die Forderung im Titel, „Schafft die
                                                          streng seriösen Orakel zu stellen (S. 47)!
      Unterdrückung ab, nicht die Frauen!“,
      bleibt aktuell. Zudem haben wir uns für ei-    Zum Schluss haben wir noch eine Ankün-
      nen Text über feministische Naturwissen­       digung für euch: In Zukunft wird es einen
      schaftskritik entschieden, der für uns einen   Radikarla*-Newsletter geben — tragt euch
      guten Zugang zum Thema bietet (S. 12).         ein, um immer mitzubekommen, wenn
                                                     neue Ausgaben erscheinen oder sonsti-
      Nicht zu vergessen ist Musik, die eine
                                                     ge News anstehen! Wie? Online unter:
      große, empowernde Rolle für die damali-
                                                     lists.riseup.net/www/subscribe/radikarla-news
      gen RADIKARLAs gespielt hat. Auf den
      Seiten 44–46 hat sich eine Radikarla* auf      Wir hoffen, ihr habt
                           eine kleine Musik-        Spaß an den alten
                              reise in die 90er      Texten. Passt auf
                                Jahre begeben        euch auf!
                                 und sich zum
                                 einen mit den

              erici
     ia   Fed
Silv

  4
Von unserer Begegnung mit
           den Erfinderinnen der Radikarla
Wie einige Leser*innen vielleicht schon         An einem Samstagnachmittag ist es so weit
wissen, stammt die Radikarla* ursprünglich      – Chris, Gabi, Sümie und Silke kommen zu
aus den 90er Jahren und wurde von einer         uns. Vier von sechs Frauen, die damals die
Gruppe von Frauen an der Uni Göttingen          Radikarla ins Leben gerufen hatten. Heute
gegründet und herausgegeben.                    leben sie in ganz Deutschland verstreut,
Nach dem Fund der alten Radikarla-Ausga-        arbeiten in einem Kulturzentrum, als freie
ben im Januar 2017 und unserem Beschluss,       Journalistin, in einem Nationalpark oder als
die Radikarla neu aufzulegen, haben wir uns     Dozentin an einer Uni.
natürlich auf die Suche nach den damaligen      Aber wie hatten sie eigentlich von uns er-
Macherinnen gemacht – leider ohne Erfolg.       fahren?
Trotz Online-Aufruf und diversem Herum-
telefonieren konnten wir nicht herausfinden,    Tatsächlich lebt eine der alten Radikarlas
wer unsere Heldinnen von damals waren.          noch in Göttingen. Sie erzählt uns so-
                                                gleich von einem Besuch im Weltladen
Umso mehr hüpften unsere Herzen, als wir        Göttingen im vergangenen Jahr, bei dem
kurz nach dem Erscheinen der ersten neu-        sie plötzlich eine Zeitschrift in der Auslage
en Ausgabe der Radikarla* am 1. Novem-          liegen sah, auf der Radikarla* stand. Völ-
ber 2017 das E-Mail-Postfach öffneten und       lig perplex ob des Titels und dem Zusatz
eine neue Mail angekommen war. Betreff:         „Ausgabe Nr. 4“ schnappte sie sich die
„Gruß einer alten RADIKARLA“!                   Zeitschrift und wie es der Zufall wollte,
Voller Aufregung öffneten wir die Mail. Und     war an ebenjenem Wochenende eine der
tatsächlich: Sie stammte von einer der sechs    anderen Frauen bei ihr zu Besuch. Ge-
Frauen, die vor 20 Jahren die Radikarla ge-     meinsam kontaktierten sie daraufhin die
gründet hatten! Sie waren zufällig auf unsere   anderen und schließlich uns.
Zeitschrift gestoßen und freuten sich über      Und so ist unser Treffen mit ihnen gleich-
die Wiederaufnahme. Schnell war klar, dass      zeitig ein Treffen der alten Radikarlas un-
wir uns treffen und kennenlernen wollen.
                                                tereinander, denn teilweise haben sie sich
Und dieses Treffen fand dann tatsächlich        auch seit vielen Jahren nicht mehr gesehen
auch im Januar 2018 statt – fast 25 Jahre       – das Ganze ist auch für sie eine Gelegen-
nach Erscheinen der ersten Radikarla.           heit, an alte Zeiten zurückzudenken.
                                                                                                5
Ausschnitte aus den alten Radikarlas Nr. 1/1993 bis Nr. 3/1994
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Unsere erste Frage ist natürlich, wie die Idee   Generell kam die Radikarla gut an und be-
entstanden ist, die Radikarla zu gründen. So     kam viel positive Rückmeldung, gerade zu
ganz sicher sind sich die alten Radikarlas da    ihrem Namen und ihren Zeichnungen – ob-
auch nicht mehr. Aber der Ansporn, eine          wohl der Untertitel „FrauenLesbenzeitung“
eigene Zeitschrift herauszugeben, kam aus        damals manche vor den Kopf gestoßen hat.
mehreren Richtungen. Zum einen war die           So wurde die Radikarla als FrauenLesben-
Bio-Fachschaft eine Plattform, in der femi-      zeitung von heterosexuellen Frauen teilwei-
nistische Themen auf der Agenda standen.         se nicht so gerne und offen angenommen.
Eine Radikarla war Teil des Frauen-/Les-         Doch die explizite Bezeichnung als Frauen-
benreferats des AStA, zwei andere in einem       und Lesben-Zeitschrift war den Radikarlas
Lesekreis zu feministischer Naturwissen-         wichtig, um die Sichtbarkeit von Lesben zu
schaftskritik und dann hatte eine Radikarla      erhöhen und zu verdeutlichen, dass es nicht
selbst ein Praktikum bei einer Zeitschrift zu    nur um feministische Auseinandersetzung
Naturwissenschaftskritik gemacht und hat-        mit Frauen-Männer-Beziehungen, sondern
te anschließend Lust, selber eine Zeitschrift    explizit auch um Fragen der Sexualität
herauszugeben. Bisher hatte es in Göttin-        ging. Aber obwohl nur nicht-heterosexuel-
gen nur die Kassandra gegeben, die zwar          le Frauen Teil des Redaktionsteams waren,
auch einen feministischen Anspruch hatte,        wollten sie dennoch keine reine Lesbenzeit-
aber lediglich als Sammlung für Veranstal-       schrift aus der Radikarla machen, weil sie
tungstipps fungierte. Und natürlich war da
noch die Auseinandersetzung mit den eige-
nen Coming Outs.
Gesagt, getan: Doch wie die neue Zeit-
schrift nennen?
Anfangs standen die unterschiedlichsten
Namen im Raum, aber eine Freundin hat-
te immer schon die Redewendung „du alte
Radikarla“ genutzt und bald waren sich alle
einig: Erst „aus der Not geboren“, passte
der Titel später „wie die Faust auf‘s Auge“.
Als Nächstes fragen wir die Frauen, wie die
Radikarla damals eigentlich angekommen ist.
Zu unserer Überraschung erzählen sie, dass
sie die Ausgaben explizit nur an Frauen ver-
teilt haben. Sie erklären, dass es ihnen zu
ihrer Zeit darum ging, Geltungsräume zu
schaffen, zu denen Männer keinen Zugang
hatten, teilweise als Genugtuung, aber vor
allem ging es darum, „Frauen ins Zentrum
zu stellen“. Die Zeitschrift nicht an Männer
zu geben, war ein bewusstes Statement.
                                                                                               7
fanden, dass viele feministische Themen           500–1000 Stück pro Ausgabe, die meist an
    eben alle Frauen etwas angingen. Trotz-           Workshop-Wochenenden       zusammenge-
    dem finden sie unsere Umbenennung zum             stellt und dann im Druckzentrum der Uni
    „FemZine“ total begrüßenswert, „weil das          gedruckt wurden.
    jetzt auch eure Zeit ist“.
                                                      Doch nicht nur wir löchern die Radikarlas
    Generell ist es spannend zu hören, wie sie        von damals mit Fragen: Während des ge-
    die Szene zu ihrer Zeit beschreiben. So           samten Interviews sind die Radikarlas auch
    zeichnen sie die Frauen-Lesben-Szene als          sehr daran interessiert, wie wir die Radi-
    damals zum Teil recht dogmatisch, worauf          karla* machen: Fast zu jeder Frage, die wir
    sie mit ihrer Zeitschrift oft ironisch reagiert   stellen, kommt die Gegenfrage: „Und wie
    haben, doch ihre humoristische (Selbst-)          ist das jetzt eigentlich bei euch?“ Spannend
    Auseinandersetzung mit der Lesbenszene            finden sie auch die Frage nach unserem
    wurde nicht von allen mit dem nötigen Hu-         Selbstverständnis. Ob wir uns heute z. B.
    mor aufgenommen.                                  eher als „feministisch oder queertheore-
                                                      tisch“ begreifen, was für uns überhaupt
    Und wie organisierte und schrieb man so
                                                      nicht die Frage nach dem „oder“ ist. Wir
    ein feministisches Zine in den 90er Jahren?
                                                      sprechen auch generell darüber, wie in- und
    Artikel wurden nicht groß im Voraus ge-           exklusiv die Radikarla heute ist und früher
    plant, sondern einfach nach jeweiligem In-        war: Stichworte sind da vor allem Eurozen-
    teresse eingebracht, was zu einem bunten          trismus und „Unizeitschrift“ vs. möglichst
    Sammelsurium und einigen Gastbeiträgen            viele Leute mit den unterschiedlichsten
    führte. Das Zine hatte eine Auflage von           Hintergründen zu erreichen.

8
Schließlich kommen wir zurück auf aktuel-       menhänge verlässt, in denen es eine theo-
lere Dinge: Welche Themen sind den Radi-        retische und vielschichtige Auseinander-
karlas von damals heute wichtig? Wie leben      setzung mit dem Thema Feminismus gibt.
sie ihren Feminismus heute? Und was hat         Das neben Familie und Arbeit in der Form
sich seit damals im Feminismus verändert?       aufrecht zu erhalten, ist anstrengend. Doch
Auf der einen Seite beobachten die alten        in der privilegierten Zeit während des Stu-
Radikarlas, dass sich zwischen den Neun-        diums die Freiheit für solche Projekte wie
zigern und dem heutigen Zeitpunkt vieles        die Radikarla zu haben, geistig wie zeitlich,
verändert und auch einiges getan hat. So ist    hat die Radikarlas wirklich bestärkt, auch
Lesbisch-Sein für sie im Alltag nicht mehr      um später mit Nachdruck betonen zu kön-
so Thema wie damals und das Ausleben der        nen: „Das ist mir aber wichtig!“
Sexualität ist vor 20 Jahren viel schwieriger   Und genau dieses Bewusstsein und dieser
gewesen – unter anderem auch, weil der          Nachdruck bleibt ihnen von der Radikarla
Zugang zu lesbischen Medien aufwendiger         von vor 20 Jahren auch heute noch erhalten:
war. Anstatt einfach den PC anzuschalten,
musste sich heimlich in der                                      „Die Zeit hat mich total
Bibliothek getroffen wer-                                         geprägt – also die Uni-
den. Auf der anderen Seite                                        Zeit generell, aber auch
gibt es die Wahrnehmung,                                          die Auseinandersetzung
dass sich an der Rollenver-                                       mit den Themen zu der
teilung in heterosexuellen                                        Zeit, als die Radikarla
Partner*innenschaften we-                                         entstanden ist. Ich merke
nig verändert hat. Zudem                                          das auch an Reaktionen,
beschäftigen sie sich z. T.                                       die ich bekomme, wenn
vermehrt mit Themen der                                           ich etwas sage. Wenn du
(lesbischen) Elternschaft                                         selbstbewusst deine Mei-
und sehen z. B. die zu-                                           nung vertrittst, das würde
nehmende Kommerziali-                                             bei einem Mann so nicht
sierung und Geschlechtszuschreibung bei         kritisiert werden, ihm würde nicht vorge-
Kinderspielzeugen mit Sorge.                    worfen werden: „Sei doch mal nicht so do-
Andere Themen sind damals wie heute             minant!“ – bei einer Frau wird gefordert,
wichtig – so berichten die Radikarlas, im-      sie solle Rücksicht nehmen. Da wird eine
mernoch für einen Gebrauch von weibli-          rücksichtsvolle, leise, mitfühlende Rolle
chen Formen in der Sprache zu kämpfen.          von dir erwartet. Und das ist heute, glaube
Zum Beispiel bei der Arbeit, wo immer           ich, immer noch ganz klar so“, so eine der
wieder der Finger in die Wunde gelegt und       Frauen.
Kolleg*innen ans Gendern erinnert werden        Eine andere stellt fest: „Ich glaube auch,
müssen. Oder beim Gespräch mit jungen           dass ich im Alltag sensibilisiert bin für nicht
Praktikantinnen, die sich selbst als Prakti-    ganz triviale Gleichstellungsthemen“. Auch
kanten bezeichnen.                              sie beobachtet Geschlechterklischees und
Generell stellen sie fest, dass mensch in       Rollenkonformismus in der Gesellschaft
der Berufs-/Arbeitswelt oft die Zusam-          und an der Uni, wo sie arbeitet.
                                                                                                  9
Davon zu hören, wie die Radikarlas die Zeit-    Diese und viele weitere Fragen beschäfti-
     schrift gegründet haben, wie sie die Zeit da-   gen uns am Ende des Interviews. Aber wir
     mals erlebt haben, wie viel sich in den letz-   sind auch glücklich über die tolle Begeg-
     ten 20 Jahren dann doch verändert hat, was      nung und die vielen Denkanstöße, die wir
     die Radikarlas noch heute aus ihrem Projekt     bekommen haben. Und während die Sekt-
     damals ziehen und welche Themen sie heute       korken knallen und wir auf die Radikarla
     beschäftigen – das haut uns alles ganz schön    und die Radikarla* anstoßen, schwirren uns
     um und regt zum Nachdenken an.                  die vielen Zitate der Radikarlas noch im
                                                     Kopf herum. Hängen geblieben ist uns da
     Werden wir uns in 20 Jahren noch gegensei-
                                                     zum Schluss Folgendes:
     tig kennen? Wie wird der Feminismus in 20
     Jahren sein? Und: Haben wir eigentlich schon
     alles erreicht? Oder noch gar nichts? Ist die
     Uni eine Blase, in der wir uns bewegen, und
     wenn wir anfangen zu arbeiten, platzt alles?          „Es ist tatsächlich ganz wichtig,
     Sind die Themen, mit denen wir uns beschäf-           dass Frauen sichtbar sind, dass
     tigen, aktuell? Werden wir uns weiterentwi-        Frauen die gleichen Rechte haben…“
     ckeln? Oder im Gegenteil – werden wir uns               – „… es hat sich gar nicht
     in einer anderen sozialen und gesellschaftli-                 so viel verändert.
     chen Umgebung wieder auf die „Basics“ des             Es ist noch immer viel zu tun.“
     Feminismus beschränken müssen?

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Aus: Radikarla Nr. 3 (Sommer 1994)
FEMINISTISCHE
              NATURWISSENSCHAFTSKRITIK
                               RADIKARLA Nr. 1 – Mai/Juni 1993

     Wohl jeder ist das Bild vertraut, mit dem Wis-    war, entstand jetzt das Bild von Natur als Ma-
     senschaft sich darstellt: Sie ist rational und    schine. Die eindrucksvollste technische Neu-
     objektiv, zwar ein öffentliches Unternehmen,      erung des 17. Jahrhunderts, die mechanische
     aber gegenüber gesellschaftlichen Einflüssen      Uhr, lieferte die Metapher für den gesamten
     unabhängig und wertfrei. Rationalität, Au-        Kosmos: Natur wurde zum leblosen Uhr-
     tonomie und Öffentlichkeit – Eigenschaf-          werk, das in seine Einzelteile zerlegbar und
     ten, die seit je dem Männlichen zugeordnet        analysierbar ist.
     wurden, das zu seiner Selbstdefinition immer
                                                       Dieser Wandel des Naturbegriffs ist zum
     auch die Ausgrenzung des „Anderen“, des
                                                       einen eingebettet in einen historischen
     Weiblichen brauchte. Auch die Wissenschaft
                                                       Kontext, in dem sich frühe kapitalistische
     mit ihren männlichen Attributen definiert
                                                       Strukturen entwickelten, der durch die Aus-
     sich selbst unter Abgrenzung und Minderbe-
                                                       einandersetzung des aufkommenden Bürger-
     wertung der Erfahrungen, die mit Weiblich-
                                                       tums und der alten Ordnung des Feudalismus
     keit assoziiert werden. Wissenschaftsideolo-
                                                       gekennzeichnet ist. In diesem Kontext ist
     gie und Geschlechterideologie durchdringen
                                                       verständlich, warum sich die analytisch-me-
     einander.
                                                       chanistische Naturauffassung gegenüber der
     Eine feministische Sicht auf die Wissenschaft     naturmystischen durchsetzen konnte. Denn
     versucht, diesem „Wissenschafts-Geschlech-        mit ihrem Erkenntnisinteresse, das nicht
     ter-Syndrom“ (Evelyn Fox Keller) auf die          mehr auf ein einfühlendes Verstehen-Wol-
     Spur zu kommen, seine Wurzeln und Mecha-          len der Natur abzielt, sondern auf ihre Be-
     nismen festzulegen, vor allem in Hinblick auf     herrschbarkeit, darauf, Verfügungsgewalt
     die Konsequenzen, die dieses Geflecht für die     über sie zu bekommen, war sie als Hilfsmittel
     Frauen hatte und hat. Sie versucht, die kom-      zu deren möglichst nutzbringenden Anwen-
     plexen Wechselwirkungen zwischen patriar-         dung wesentlich besser geeignet.
     chalen Gesellschaftsstrukturen und wissen-
     schaftlichen Denkweisen aufzuzeigen. Und
     eine Spur führt dabei in die Entstehungsge-
     schichte der modernen Naturwissenschaft:
     Die Fundamente der modernen Wissenschaft
     – die experimentelle Methode und die For-
     malisierbarkeit der Natur durch mathemati-
     sche Naturgesetze – wurden im 16. und 17.
     Jahrhundert gelegt. In dieser Zeit vollzog sich
     der Wandel einer organischen zur mechanisti-
     schen Naturauffassung. Wurde Natur vorher
     als einheitliches Ganzes gesehen, als beseelter
     Organismus, der mit Ehrfurcht zu behandeln
12
Zum anderen vollzog sich die Herausbildung         In ihrem Buch „Der Tod der Natur“ zeigt
der modernen Wissenschaft im Zusammen-             Carolyn Merchant, wie sich im Zusammen-
hang mit der massivsten Gewalt gegen Frau-         hang mit der beginnenden kapitalintensiveren
en, wie sie sich in den Hexenprozessen dar-        Naturnutzung diese Metaphorik verschiebt:
stellt. Während dieser historischen Prozesse       Während in der organischen Naturauffassung
– der Hexenverfolgung und der Entstehung           das Bild der „Mutter Natur“ überwog, rück-
der modernen Wissenschaft – erfährt das alte       te in der frühen Neuzeit die Vorstellung von
patriarchale Bild von Frau und Natur eine          Natur als gesetzlosem, wilden Reich in den
Neudefinition, an dessen Ende die Desexua-         Mittelpunkt und ließ den Gedanken der Na-
lisierung der Frau und eine als leblos begriffe-   turkontrolle zum zentralen Konzept werden.
ne Natur-Materie steht.
Das Männliche als Träger
der Vernunft und Kultur,
das Weibliche hingegen als          Radikarla*s! Wieso habt ihr euch
reine Natur – diese Dualis-         für diesen Artikel entschieden?
men durchziehen seit der            Als ich die RADIKARLAs aus den 90er Jahren durchstö-
Antike die gesamte abend-           bert habe, bin ich direkt auf diesen Artikel gestoßen! Fe-
ländische Tradition. Dabei          ministische Naturwissenschaftskritik! Wie spannend. Ich
hatten die Bilder von Frau          hab‘ zwar keinen Plan von Naturwissenschaft, was aber
und Natur immer zwei                nicht heißt, dass ich mich nicht dafür interessiere. Noch
Gesichter: War die Frau             interessanter wurde es für mich, Naturwissenschaft durch
sowohl keusche Jungfrau,            eine feministische Brille zu sehen. Viele der angespro-
der Verehrung galt, als             chenen Themen sind heute noch verdammt aktuell – als
auch zu verdammendes                wäre die Zeit stehen geblieben und nicht ganze 28 Jahre
dämonisches Triebwe-                vergangen! Doch neben der Aktualität finde ich, dass der
sen, so wurde auch die              Artikel es schafft, eine grundlegend feministische Kritik
als weiblich gedachte               aufzuzeigen. In vielen Artikeln, die ich geschrieben habe,
Natur mit der entspre-              hatte ich das (berechtigte) Gefühl, oft die Grundlagen zu
chenden Metaphorik be-              übergehen, die meine Kritik ausmachen (z. B. die Unter-
legt. Einmal wurde sie als          scheidung in rationale Wesen = cis Männer (Kultur) vs.
nährende, fürsorgende               Irrationale Wesen = cis Frauen (Natur)). Diese
Mutter gesehen, die sich            Neuauflage des Beitrags aus den 90er Jahren ist
in einem wohlgeordne-               ein Versuch, einen hoffentlich besseren Einblick
ten Kosmos um die Be-               in einen Bereich feministischer Kritik zu geben.
dürfnisse der Menschen              Mit Sicherheit haben sich seit der Entstehung
kümmert – zum anderen               des Artikels einige Perspektiven verändert,
existierte das Bild der             wurden erweitert oder sind – wie gesagt –
wilden, gesetzlosen Na-             noch immer aktuell. Dennoch halte ich es für
tur, die mit ihrer Gewalt,          wichtig, den Blick auch in die Vergangenheit zu
den Stürmen, Dürren und             richten, um zu sehen, was unsere feministischen
Unwettern den Menschen              „Vorfahr*innen“ geschrieben haben. Nur so können
bedroht [ausgedrückt in             wir von den Kämpfen lernen, die den unseren vor-
dem Bild der Hexe (Anm.             ausgegangen sind, und diese geraten nicht so leicht in
d. Redaktion)].                     Vergessenheit – was leider viel zu oft passiert.
                                                                                                  13
Es galt nun, das wilde, chaotische Naturreich   sucht, der Hexe unter Folter das Geständnis
     – genauso wie die als bedrohlich empfundene     zu erpressen, so sieht Bacon – selbst an da-
     weibliche Sexualität – durch männlichen Ver-    maligen Hexenprozessen beteiligt – die Rolle
     stand zu zähmen und zu beherrschen.             des Wissenschaftles darin, durch Zerlegung
                                                     der Natur – durch das Experiment – ihr die
     Die enge Verbindung zwischen diesem Na-
                                                     Geheimnisse zu entreißen.
     turbild und Geschlechtersymbolismus findet
     sich auch explizit in den Texten der „Begrün-   Insofern ist Bacons „Wissen ist Macht“
     der“ der modernen Naturwissenschaft. Am         wörtlich zu nehmen. Macht und Erkenntnis
     Beispiel von Francis Bacon (1561–1616), in      sind ihm synonym. Herrschaft und Kontrolle
     dessen Texten sich Geschlechterideologie        erklärte Werte der neuen Wissenschaft und
     in Form aggressiver Sexualmetaphorik wi-        Manipulation der Natur Bestandteil seines
     derspiegelt, verdeutlicht Evelyn Fox Keller1,   Programms für den Fortschritt der Mensch-
     wie stark Phantasien von Männlichkeit die       heit. Dies zeigt sich insbesondere in Bacons
     Vorstellungen über die Ziele und Vorgehens-     Utopie-Entwurf „Nova Atlantis“, 1624, kurz
     weisen der neuen Wissenschaft beeinflussen:     vor seinem Tod verfasst. Das Gemeinwesen
     Männliche Kraft muss nach Bacon die neue        in Neu-Atlantis lebt in einem quasi-paradie-
     Wissenschaft verkörpern, damit der Men-         sischen Zustand: politische Entscheidungen
     sch=Mann die verlorene Herrschaft über          im eigentlichen Sinne gibt es nicht, sie wer-
     die Natur wiedergewinnt. Sein Ausgangs-         den von den Wissenschaftlern, den „Vätern
     bild ist die „keusche und gesetzmäßige Ehe      des Hauses Salomon“ getroffen. Im „Haus
     zwischen Geist und Natur“2, die, wenn die-      Salomon“, der Forschungskathedrale auf
     se Verbindung erst einmal eingelöst ist, eine   Neu-Atlantis, werden künstlich Pflanzen und
     Wissenschaftspotenz hervorbringt, die der       Tiere verändert, die anorganische Umwelt
     wilden Natur Herr werden kann. „Mein lie-       neu geschaffen, das Wetter manipuliert usw.
     ber, lieber Junge,“ formuliert Bacon in „The    [Tja, zum Teil heutige Realität; Stichwort
     Masculine Birth of Time“, „was ich
     für dich habe, ist, dich mit den Din-
     gen selbst in einer keuschen, heiligen
     und legalen Ehe zu vereinigen. Und
     aus dieser Verbindung wirst du dir ei-
     ner Vermehrung sicher sein können,
     die alle Hoffnungen und Gebete ge-
     wöhnlicher Ehen übersteigt, nämlich
     eine gesegnete Rasse [sic!] von Helden
     und Supermännern“3. In dieser Ehe
     wird die Natur als eine Braut aufge-
     fasst, der sich der forschende Jüngling
     zunächst werbend nähert, sie erobert
     und zähmt, um sie dann zur Sklavin zu
     machen. Und wie der Inquisitor ver-

     1   Keller, Evelyn Fox „Liebe, Macht und Er-
         kenntnis“ München 1986
     2   Bacon, zit. nach Keller, S. 43
     3   Bacon, zit. nach Keller, S. 43
14
Geoengineering4 (Anm. der Redaktion)].                     de, wie sie durch René Descartes begründet
Hier wird die ungeheure Fortschrittsgläubig-               wurde. „… Eine gemeinsame Grundlage der
keit deutlich, mit der von Bacon und seiner                beiden sich ergänzenden Elemente der neuen
Zeit die neue Wissenschaft verbunden wurde                 Wissenschaft – experimentelle Methode und
(Phantasien, die in Anbetracht der Gentech-                mathematische Theorie – ist die Abwehr von
nik scheinbar auch heute noch in so manchem                Sexualität und Emotionalität.“5
WissenschaftlerIn-Kopf herumgeistern).
                                                   Dabei bleibt zu fragen, ob nicht der Vorwurf,
Bacons Metapher der „keuschen und ge- den die neuzeitliche Wissenschaft an frühere
setzmäßigen Ehe“ muss im Kontext zwi- Formen der Erkenntnis richtete, dass diese
schen neuer Wissenschaft und Alchemisten nämlich nur Projektionen des menschlichen
entschlüsselt werden. Waren die Methoden Innenlebens in die Natur darstellten, auch
der mystischen Naturerkenntnis Einfühlung auf sie selber zutrifft. Ob nicht der Wunsch
und Erleuchtung, die Versuche in den La-           nach radikaler Distanz des forschenden Ichs
boratorien (Labor=Arbeit, Oratori-                   der Angst vor dem Verlust der eigenen
um=Betsaal) gleichzeitig mit Läu-                    Identität, seiner Autonomie entspringt.
terungsprozessen der forschenden
Seele verbunden, stellte die neue
Wissenschaft Erkenntnisideale auf,         An dieser Stelle ein Lesetipp an euch: Silvia Fe-
die mit diesen Vorstellungen ra-           derici beschreibt in ihren Buch Caliban und die
dikal brachen. Während in der al-          Hexe: Frauen, Körper und die ursprüngliche Akkumu-
chemistischen Tradition eine starke         lation unter anderem diesen Wandel von einer
Verbindung zwischen Erkenntnis              organischen zu einer mechanistischen Natur-
und emotionalem Eindringen be-               bzw. Weltauffassung im westlichen Europa und
stand, forderte die neue Wissen-             wie das mit der Entstehung des Kapitalismus
schaft Reinheit und Keuschheit               zusammenhängt, ausführlich. Das ist nur ein
wissenschaftlicher Erkenntnis. Ihre          Aspekt ihres Buches. Auch der historische Zu-
Grundlage ist die Abwehr von Emo-             sammenhang zwischen der Hexenverfolgung,
tionen des forschenden Subjekts ge-           der Kapitalisierung und der Kolonialisierung
genüber der zu erforschenden Natur.            wird von ihr erklärt.
Natur wird dadurch zur leblosen Ma-
schinerie, die in Einzelteile zerlegbar
ist. Der Akt des Erkennens, von Emo-
tionen gereinigt, beruht auf völliger Distanz Weitere Quellen:
des Forschenden vom Gegenstand der For-            • Merchant, Carolyn, Der Tod der Natur,
schung. Nur eine Form der Objektivität wird          München 1987
zugelassen, die die radikale Distanz zwischen      • Hickel, Erika, Tod der Natur, in: WECH-
Subjekt und Objekt wahrt.                            SELWIRKUNG 2 (1984)
Das Abgrenzen der Sinnlichkeit, die Tren-
nung von Körper und Geist, ist ebenso Cha-
rakteristikum der formalisierenden Metho-

4   Holly Jean Buck, Andrea R. Gammon und Chris-           5   Scheich, Elvira, Die zwei Geschlechter in den Na-
    topher J. Preston (2020): Gender and Geoengi-              turwissenschaften: Ideologie, Objektivität, Verhält-
    neering. In Hypatia 29 (3), S. 651-669. https://doi.       nis, in: Verein Feministische Wissenschaft (Hrsg),
    org/10.1111/hypa.12083                                     Im Widerstreit mit der Objektivität, Zürich 1991
                                                                                                                      15
Was hat dieser wissenschaftliche Andro-
     zentrismus1 bis heute für Auswirkungen?
     Da in den meisten Wissenschaften leider immer noch
     überwiegend Männer vertreten sind, herrscht allge-
     mein weltweit eine wissenschaftliche Ordnung, die
     von Männern (mit dem cis Mann als Denker, Hypo-
     thesenentwerfer und Experimentinitiator) und dadurch
     unweigerlich auch für Männer (mit dem cis Mann als
     Maß aller Dinge) gemacht ist. Und dieses Maß aller
     Dinge spiegelt sich auch in den Daten wider, in de-
     nen FLINTA*s „die Ausnahme“ oder „das Andere“
     darstellen. Dies ist der sogenannte gender data gap. Das
     hat auf diejenigen, die in den Daten unterrepräsentiert
     sind oder die sogar ganz fehlen, einen bewussten oder
     unterschwelligen Einfluss im Alltag, z. B. im medizi-
     nischen Bereich. Studien wurden und werden hier oft
     an cis Männern durchgeführt und die Ergebnisse dann
     verallgemeinernd auf alle Menschen in unserer Gesell-
     schaft übertragen. Allgemein anerkannt sind dann oft
     nur die Symptome/Dosierungen/Nebenwirkungen/
     (…) bei cis Männern (z. B. beim Herzinfarkt) – hierbei
     wird ignoriert, dass sich bestimmte Krankheitssympto-
     me je nach Geschlecht anders äußern können.
     Außerdem ist es bei Frauen wahrscheinlicher, dass ihre
     Symptome als „emotional“ oder „psychogen“ ein-
     gestuft werden. Nur ein Beispiel aus einem anderen
     Bereich: Bei Autounfällen ist es für Frauen um 47%
     wahrscheinlicher, ernsthaft verletzt zu werden – die
     Dummies in crash tests haben einem durchschnittli-
     chen Mann entsprechende Maße. Wichtig zu erwähnen
     ist, dass auch ein double data gap zwischen weißen und
     Schwarzen Frauen sowie Frauen of Color existiert.
     Wer noch mehr Beispiele nachlesen will, kann ihr*sein
     Wissen im Buch „Invisible Women“ von Caroline Cri-
             ado-Perez vertiefen, soll aber gewarnt sein: Das
             Buch übergeht trans und non-binary people
                fast vollständig!

                    1   Es wird von Androzentrismus gesprochen,
                        wenn eine Anschauung den cis Mann ins
                        Zentrum des Denkens stellt.

16
konnte mich so gut darin wiederfinden. Das
                                                 hat mich sehr verwirrt. Dann habe ich eine
                                                 Chiffre-Anzeige aufgegeben. Da haben sich
                                                 dann auch tatsächlich welche drauf gemel-
                                                 det. Nach vier Monaten haben wir uns dann
                                                 zum ersten Mal getroffen. Auf dem Treffen
                                                 lernte ich Sabine kennen.
                                                 Sabine: Ja, das war unheimlich aufregend,
Unter größten Mühen und wochenlangem             all diese schüchternen Lesben. Wir saßen in
Warten ist es mir gelungen, einige Mitfrauen     dieser fürchterlichen Kneipe an der Weender
aus der Göttinger Gruppe ASL vors Mikro          Landstraße im Hinterraum, den wir unter
zu bekommen. Viel Geduld und ein toter           einem Pseudonym angemietet hatten. Wir
Briefkasten waren dazu nötig. Drei von den       hatten halt alle Angst, erkannt zu werden.
ASLinnen haben sich dann zu einem Ou-            Katrin: Göttingen ist ja soo klein. Wir saßen
ting bereit erklärt. Dies ist ein sehr mutiger   dann ganz lange da rum. Ne Ewigkeit, jede
Schritt, das Tabuthema Schüchternheit in         vor ihrem Getränk, manche rauchten zu viel.
die lesbische Öffentlichkeit zu bringen. Eine    Sabine: Zeig doch mal das Foto.
Auseinandersetzung mit unserer Identität
                                                 Katrin: Hier. Sehen wir nicht glücklich ver-
darf dies nicht übergehen, sondern muss
                                                 klemmt aus?
sich diesem Problem stellen. Natürlich sind
die Namen geändert. Darauf muss extra            Steffi: Was war das für ein Gefühl, da zu sein?
hingewiesen werden, weil das unter all den       Sabine: Ich war kolossal überrascht, dass es
Susannes, Steffis, Katrins und Sabines wie-      so viele von uns gibt.
der nicht aufgefallen wäre und es bloß wie-
                                                 Katrin: Wir waren sieben. Es war wie ein
der Verdächtigungen gibt.
                                                 Aufbruch. Raus aus der Isolation.
Steffi (die Interviewerin): Wann hast du
                                                 Sabine: Die ersten Treffen waren sehr zö-
„es“ gemerkt?
                                                 gerlich, aber wir treffen uns regelmäßig, (…)
Sabine: Also, diese Lesbe, die ich so toll       wurden immer mehr.
fand und die mit mir reden wollte, tja, je-
                                                 Susanne: Nachdem ich davon erfahren
denfalls bekam ich Sprachstörungen, kalte        habe, natürlich konspirativ, dass sich solche
feuchte Hände, rote Ohren, ich konnte sie        Lesben in diesem Lokal treffen, habe ich
die ganze Zeit nicht ansehen, irgendwann         mehrmals davorgestanden. Katrin hat mich
fand sie mich dann nicht mehr so toll und        dann vor der Tür angesprochen. Ich habe
verschwand dann mit so einer gewöhnlichen        ihr gesagt, ich würde mir das gerne mal an-
Draufgängerin. Ich fühlte mich sehr elend        schauen, aber nur interessehalber, weil ich ja
und hatte diesen Verdacht, traute mich aber      eigentlich gar nicht so eine wär.
nicht, „es“ auszusprechen – vor allem nicht
vor mir selbst.                                  Alle kichern.

Katrin: Mir gings ähnlich. Ich hatte in den      Steffi: Wann habt ihr es dann zum ersten
                                                 Mal einer gesagt?
Komplizinnen diesen Artikel von einer
Lesbe mit auch so einem Problem gelesen.         Susanne: Als ich dann mutig genug war,
Sie schrieb von ihren Gefühlen und so. Ich       hab ichs uns inner WG erst mal schön ge-
                                                                                                   17
macht, so mit feudalem Essen und Kerzen-         Sabine: Ich ärgere mich auch gar nicht
     licht und so. Nach der dritten Flasche Wein      mehr über so saublöde Sprüche wie: Du,
     hab ichs dann gesagt. Und es war toll. Keine     schüchtern? Das hast du doch gar nicht nö-
     blöden Reaktionen. Sie waren sehr verständ-      tig. Es ist ein Problem unter Lesben, dass
     nisvoll. Eine Mitbewohnerin gestand sogar,       wegen dieser ganzen selbstauferlegten Nor-
     dass sie das schon auch mal von sich gedacht     men- und Dogmenscheiße jede Lesbe sich
     hat, mit einer guten Freundin sei ihr das so     im Laufe ihres Daseins in irgendeiner Wei-
     gegangen. War dann aber doch nicht.              se wegen irgendwas coming-outen muss.
                                                      Das geht denen so, die sagen, ich bin SM,
     Katrin: Also, ich habe da auch ganz positive
                                                      in meinem Kühlschrank steht immer Kavi-
     Erfahrungen gemacht. Meine Freundinnen
                                                      ar, ich praktiziere safer sex, ich habe einen
     haben sich das sowieso schon immer von
                                                      Haifisch-Dildo, ich war gestern Abend nicht
     mir gedacht, wie sich dann rausstellte. Au-
                                                      beim Plenum sondern im Freibad, mein
     ßer einer, die meinte, dass das doch nicht so
                                                      Haustier ist ein Rüde/Kater, ich mag meine
     wichtig sei und ich solle das lockerer sehn,
                                                      langen Haare usw. Das ist doch absurd. Wir
     ich hätte doch schließlich ne Beziehung.
                                                      grenzen uns in immer kleinere Untergrup-
     Sabine: Meine Geliebte wollte es erst gar        pen ab, bis wir ganz verschwinden.
     nicht glauben, dass ich schüchtern bin, es sei
                                                      Katrin: Obwohl da schon ein Widerspruch
     nur eine Phase. Das hat mich tierisch geär-
                                                      zu unserem letzten Flugi ist. Das haben wir
     gert, ich wollte gerade von ihr ernstgenom-      z. B. mit Autonome FrauenLesbenMädchen­
     men werden. Wir haben doch sonst so ne           Schüchterne unterschrieben.
     offene und „alles ist möglich“-Beziehung.
                                                      Susanne: Tja, nicht überall, wo Lesbe
     Steffi: Da sieht frau mal wieder, dass dies      draufsteht, ist auch Lesbe drin, so oder so
     zwar die 90er Jahre sind, aber schüchterne       ähnlich. Politisch korrekt (pc, sprich pici)
     Lesben gezwungenerweise in der Unsicht-          sein ist noch kein Programm.
     barkeit leben bzw. wegen ihrer „Veranla-
     gung“ von der lesbian community dazu             Sabine: Und nur inne Disco gehen ist auch
     verdammt sind, die Rolle der selbstsicheren      nicht gerade für die Revo. Trotzdem, vive la
     Draufgängerin zu spielen. Auch das wird          difference!
     mal wieder nicht hinterfragt.                    Katrin: Lesbischen Blödkühen kann eine
     Katrin: Ja, stimmt, aber seit ich das von mir    ja aus dem Weg gehen. Ich find es gut, so
     weiß und meine Freundinnen zu mir halten,        schüchtern.
     habe ich auch keine Probleme mehr damit,         Steffi: Puh, mir wirds hier aber jetzt zu mo-
     ins tratschige FLZ zu gehen oder der pure        ralisch. Ich geh nach Hause und setzte mich
     Gedanke daran, dienstags im Kabale an ei-        ein Weilchen hintern Laptop (der ist natür-
     nem sektseeligen Marmortisch durchgehe-          lich bloß ausgeliehen!).
     chelt zu werden, treibt mir keinen Nacht-
     schweiß mehr aus den Poren.                      Danke fürs Gespräch und Daumen hoch,
                                                      Mädels!
     Susanne: Ja, die, die letztes Mal so laut mit
     ihrem Delphin-Dildo geprahlt hat, die ist in
     Wirklichkeit auch so ne Schüchterne, hat se      (Dieses Interview verfasste in Wirklichkeit
     mir gebeichtet.                                  Carolyna Prescott)
18
einer heutigen
                        Radikarla*
Knapp 28 Jahre liegen zwischen unserer Aus-
gabe heute und dem grandiosen Interview aus
der allerersten RADIKARLA. Schüchterne
Queers gibt’s noch immer, der Spruch, dass
„alles sicher nur eine Phase“ sei, zieht auch
nach wie vor nicht und was sich dazu nicht
verändert hat, ist, dass Humor manchmal doch
helfen kann, sich emotional ein wenig von ner-
vigen und beschissen stressigen Situationen zu
distanzieren. Wir lieben, wie selbstironisch der
Artikel ist und wie sich Witz und Satire durch
die alten Artikel der RADIKARLAs ziehen.
Einiges hat sich aber auch seither verändert.
Was damals Chiffre-Anzeigen waren, sind heu-
te vielleicht cringy online dating Bios. Auch die
„fürchterliche Kneipe“ an der Weender Land-
straße, in der die ASLinnen Angst hatten, er-
kannt zu werden, gibt’s vermutlich nicht mehr.
Andere Räume und Treffpunkte für FLINT*
Personen existieren dagegen bis heute: Im seit
1990 aktiven, queerfeministischen Café Kollek-
tiv Kabale finden in Nicht-Corona-Times Flirt-
nights und jeden Dienstag die FLINT*-Knei-
pe statt. Auch im Juzi wird’s hoffentlich auch
nach the ‘rona wieder die Möglichkeit geben,
sich auf einen Schnack und/oder ein Getränk
bei der Frauentheke, der queerBar oder dem
FILTA-Café zu treffen. Bis dahin arbeiten wir
dann auch weiter an der Sache mit dem Hu-
mor. In diesem Sinne: Lang leben die alten RA-
DIKARLAs!

                                                    19
The very first night & heiße Augenblicke
                                Noch Fragen?

The very first night
Vor meinem eisgeblümten Fenster
Kreischen die Vögel um halbacht
„Wir taten es“,
ist mein erster Gedanke
„Göttin! Wir haben’s wirklich gemacht!“
                                                                             Noch
                                                                             Noch
                                                            Muß ich mich vielleicht
                                                             Zum Lächeln zwingen
                                                           Es aus meiner Phantasie
                                                   Aus meiner Vorstellung von dem
                                                               Wie ich sein möchte
 Heißer Augenblick                                                      In Zukunft
 Sie trug einen häßlichen Pulli                                    Und sein könnte
 Und hat zu mir ‘rübergeguckt.                                       Und sein sollte
 Ich fühlte ein Loch im Socken            Herausholen und auf mein Gesicht bannen
 Und hab‘ mich am Sekt verschluckt!                        Doch früher oder später
                                                            Wird es von ganz allein
                                                         Mir in die Augen springen
                                                            Und um meinen Mund
                                                                Und unter die Haut
                                                                  Und ganz ehrlich
                                                                Der Ausdruck sein
                                                        Meiner inneren Belustigung
                                                              Über die Leichtigkeit
                                                      Des Lachens über das Leben.

     Fragen?
     Hat etwas neues begonnen?
     Hat sie den Brief gelesen?
     Wird morgen irgendetwas sein?
     Ist jemals etwas gewesen?

20
Zur Sicherheit
                       von FrauenLesben
                   an der Göttinger Universität
                           RADIKARLA Nr. 1 – Mai/Juni 1993

CN: Sexualisierte Gewalt                      prüft. Dadurch fühlen sich die Frauen
                                              sicherer und können nun in Ruhe auch
Studieren und Arbeiten an der Göttinger
                                              einmal länger auf der Toilette bzw. vor
Uni ist für FrauenLesben eine rundum
                                              dem Spiegel verharren, wo sie früher
sichere Sache. Unileitung und Studen-
                                              hektisch versucht hätten, den oft be-
tInnenwerk scheuen kaum Kosten und
                                              drohlich einsamen Ort wieder zu ver-
Mühen, um ihre weiblichen Studieren-
                                              lassen. An den Anblick männlicher Per-
den optimal vor sexistischen und gewalt-
                                              sonen auf dem Frauenklo hat frau sich
tätigen Belästigungen und Angriffen zu
                                              im Übrigen schnell gewöhnt – nur in
schützen. Daß sie dabei auch neue und
                                              der Anfangsphase kam es vereinzelt zu
unorthodoxe Wege beschreiten, dürfte
                                              Mißverständnissen, da einige unbedarfte
Göttingen (zusammen mit einigen ande-
                                              FrauenLesben im ersten Monat glaubten,
ren Städten) schon bald eine Vorreiterin-
                                              einen „Klospanner“ vor sich zu haben.
nenrolle unter den deutschen Uni-Städ-
ten sichern.                                  Auch in den universitären StudentIn-
                                              nen-Wohnheimen hat das Konzept „Si-
Es sind verschieden Ansätze zur Verbes-
                                              cherheit durch Beobachtung und Prä-
serung der Sicherheit von FrauenLesben
                                              senz“ Anwendung gefunden, was sich
verwirklicht worden, von denen hier
                                              etwa am Beispiel des Wohnheims am
zwei näher vorgestellt werden sollen.
                                              Albrecht-Thaer-Weg sehen läßt. Hier
Zunächst wäre das Modell „Sicherheit          wurde ein nächtlicher Streifendienst ein-
durch Beobachtung und Präsenz“ zu             gerichtet, der die im Souterrain lebenden
nennen, welches nur durch die Ver-            FrauenLesben-Wgs bzw. alleinlebende
pflichtung ehrenamtlicher Mitarbeiter         FrauenLesben in das Sicherheitskonzept
realisiert werden konnte. So werden           der Uni einbezieht: Da in diesen Woh-
die Frauen­toiletten, z. B. im ZHG, in-       nungen die Einsicht von außen oft zu
zwischen regelmäßig von männlichen            ungestört möglich ist und früher Voyeu-
Aufsichtspersonen aufgesucht und über-        re und Exhibitionisten geradezu einlud,
                                                                                          21
ihr Unwesen zu treiben, patrouillieren        achten sie etwas Verdächtiges innerhalb
     hier jetzt in der kritischen Zeit (zwischen   des Zimmers einer Bewohnerin, so
     1 und 3h) ebenfalls Freiwillige.              leuchten sie auch schon einmal mit der
     Diese überprüfen z. B., ob sich bei ge-       Taschenlampe (Teil der Dienstausrüs-
     kipptem Fenster zugezogene Vorhänge           tung) hinein, doch solche kleinen Unan-
     nicht allzu leicht von außen zur Seite        nehmlichkeiten werden von der Betrof-
     schieben lassen. Oder aber sie postieren      fenen meist gern in Kauf genommen,
     sich im fensternahen Gebüsch und war-         geht es doch um ihre ganz persönliche
     ten dort auf potentielle Unholde. Beob-       Sicherheit. Viele FrauenLesben berich-

22
ten auch, daß die Praxis einiger Streifen-    Weg arglos benutzen, ohne Beleuchtung
gänger, während ihrer Arbeit freundlich       jedoch würden vernünftige Fußgänge-
an die Fensterscheibe der Bewohnerin-         rInnen und RadfahrerInnen lieber Um-
nen zu klopfen, ihnen ein besonderes          wege wählen. Was die Beleuchtungsfrage
Gefühl der Sicherheit gebe.                   angeht, kann das vorliegende Konzept
                                              wie folgt zusammengefasst werden:
An dieser Stelle sei angemerkt, daß das
                                              Punktuelle, aber massive Beleuchtung
StudentInnenwerk bei seinen Wohnanla-
                                              (siehe UB-Vorplatz) statt flächendecken-
gen auch die „Gefahr von Innen“, d. h.
                                              der Anbringung von Laternen. Letztere
durch Mitbewohner, nicht unberück-
                                              nämlich würde auch solche Orte ein-
sichtigt lässt. Sollte sich eine Bewohnerin
                                              schließen, die per se so gefährlich sind,
durch einen ihrer Nachbarn sexuell be-
                                              daß FrauenLesben an ihnen nichts ver-
lästigt oder gar bedroht fühlen, so wäre
                                              loren haben. Und in dieser Reihe ließen
dies – wie Erich Jetschny vom Student­
                                              sich noch viele weitere Objekte univer-
Innenwerk schon vor längerer Zeit bei
                                              sitärer und städtischer Planung nennen,
Radio FFN ausführte – ein unbedingter
                                              die bewußt so gestaltet wurden, daß
Kündigungsgrund für den beschuldigten
                                              FrauenLesben die Gefährlichkeit ihrer
Studenten. Voraussetzung für eine Kün-
                                              Frequentierung erkennen und diese da-
digung ist selbstverständlich, daß die an-
                                              raufhin meiden können.
schuldigende Bewohnerin ihren Vorwurf
auch beweisen kann, damit ein even-           Wer ist nun also zuständig für das Sicher-
tueller Mißbrauch ausgeschlossen ist.         heitskonzept der Göttinger Universität?
                                              – Zu diesem Zweck hat die Uni eine spe-
Als zweites Sicherheitsmodell soll das
                                              zielle Sicherheitskommission eingesetzt.
der abschreckenden Maßnahmen erläu-
                                              Diese Kommission war ursprünglich
tert werden. Hierbei geht es nicht etwa
                                              von FrauenLesben als Reaktion auf die
um die Abschreckung potentieller Täter,
                                              Vergewaltigung einer wissenschaftlichen
denn Versuche in diese Richtung haben
                                              Hilfskraft im Blauen Turm (April ‘90)
sich in der Vergangenheit stets als eher
                                              gefordert worden. Doch wurden nach
wirkungslos herausgestellt. Gemeint ist
                                              langer Prüfung die unausgereiften und
vielmehr die Abschreckung potentieller
                                              z. T. auf akuten Emotionen basieren-
Opfer. Denn würden sich FrauenLes-
                                              den Ideen der FrauenLesben von der
ben gar nicht erst (mehr oder weniger
                                              Uni-Verwaltung in einer durchdachteren
bewußt) in gefahrvolle Situationen be-
                                              und rationaleren Form realisiert. Denn
geben, käme es nicht zu Übergriffen.
                                              Forderungen nach einer Langzeitstudie
Hierin begründet sich etwa die Entschei-
                                              zur exakteren Ermittlung von Gefahren-
dung, kritische Orte wie den Hermann-
                                              punkten und nach der Einsetzung von
Nohl-Weg (unterhalb des IFL), an dem
                                              (feministischen) städteplanerischen Ex-
es immer wieder zu Überfällen bis hin
                                              pertinnen wurden als unnötig und außer-
zur brutalen Vergewaltigung gekommen
                                              dem als zu aufwendig und teuer erkannt.
war, völlig unbeleuchtet zu lassen; an-
dernfalls – so der geschäftsführende Lei-     So setzt sich die jetzige Kommission
ter des StudentInnenwerks Günter Koch         zusammen aus VertreterInnen der vier
u. a. – würden sich die Frauen in falscher    Statusgruppen (StudentInnen, wissen-
Sicherheit wiegen und den gefährlichen        schaftliche MitarbeiterInnen, nicht­
                                                                                           23
wissenschaftliche MitarbeiterInnen,
     ProfessorInnen), des StudentIn-
     nenwerks, des Uni-Personalrats,
     der Polizei, des Staatshochbauamtes
     und der Stadtverwaltung, mit dem Uni-Vi-
     zepräsidenten Reh als Leiter der Kommis-
     sion. Sie tagt mindestens einmal im Jahr
     bzw. noch häufiger, wenn ein neuer Zwi-
     schenfall zu beklagen ist. Glücklicherweise
     schätzen auch die Kommissionsmitglieder
     selbst die Situation zur Zeit so ein, daß die
     Lage (auch nach der Vergewaltigung auf
     dem Campus im November) nicht wirk-
     lich prekär ist.
     Einer der Hauptvorwürfe gegen die Si-
     cherheitskommission in ihrer jetzigen
     Form ist die Tatsache, daß sie sich fast aus-
     schließlich aus Männern zusammensetzt.
     Doch dürfte hierin vielmehr ein wesent-
     licher Vorteil und vielleicht das Geheim-
     nis des großen Erfolgs ihrer Arbeitsweise
     liegen: Männer können sich schließlich am
     besten in männliche Unholde hineinver-
     setzen und müßten am besten wissen, wie
     sie ihrer HERR werden könnten.
     Nachwort der Verfasserin: Ursprüng-
     lich hatte ich mir einen ernsthaften Artikel
     zu dieser echt traurigen und bitterernsten
     Problematik vorgestellt. Doch mein un-
     beschreibliches Unverständnis und meine
     Wut über die oft hirnlose Planung der Ver-
     antwortlichen, ihr Feilschen um Kompe-
     tenzen und Finanzen sowie ihre Arroganz
     und ihr bodenloser Zynismus, was die
     betroffenen FrauenLesben angeht, haben
     mich schließlich diese Farce als Farce dar-
     stellen lassen.
     Übrigens: Die Typen auf dem Klo oder
     nachts vor eurem Fenster sind leider echte
     Wichser, also haut ihnen ruhig eins in die
     Fresse!
24
Als ich den Artikel zu lesen begann,          54,7% der Studentinnen gaben bei ei-
wusste ich nicht, ob ich lachen oder          ner EU-weiten Studie an, während ihrer
weinen soll.                                  Unizeit Opfer von sexueller Belästigung
                                              geworden zu sein.1 Hinzu kommen die
Nahezu emotionslos werden die Miss-
                                              Übergriffe gegenüber queeren Personen
bräuche aufgelistet, denen FrauenLesben       und Bi_PoC. An der Göttinger Uni-
tagtäglich und auch nächtlich durch Mit-      versität setzt sich vor allem die zentrale
studierende oder Lehrende ausgesetzt          Gleichstellungsbeauftragte in der Stabs-
waren. Stalking an Fenstern bis hin zu        stelle Chancengleichheit und Diversität
Vergewaltigungen auf dem Campus… Je           zusammen mit Gleichstellungsbeauf-
weiter ich las, desto übler wurde es. Der     tragten der Fakultäten gegen struktu-
Artikel strotzt nur so vor Zynismus und       relle sexistische Machtverhältnisse ein,
Bissigkeit. Anders hält frau es aber wahr-    die u. a. zu Alltagssexismus führen. Bei
scheinlich auch nicht aus! Dazu kommt,        Diskriminierungserfahrungen kann sich
dass anstatt gegen die Täter vorzugehen,      jede*r an die Gleichstellungsbeauftrag-
oft klassisches Victim Blaming betrieben      ten (vor allem bei Erfahrungen sexueller
wurde und wird, also das Opfer beschul-       Belästigung oder allgemein sexistischer
digt wird, dass es sich besser hätte schüt-   Diskriminierung) oder an die Antidis-
zen müssen. Besonders traurig ist aller-      kriminierungsberatung für Studierende
dings, dass sich die Uni scheinbar nur        wenden (vor allem bei Erfahrungen ras-
halbherzig für die Sicherheit der eigenen     sistischer Zuschreibungen).
Studentinnen eingesetzt hat. Dieser Ar-       Bis es allerdings soweit ist, dass sich
tikel öffnet einem meiner Meinung nach        alle Student*innen zu jeder Tages- und
wirklich die Augen, was alles in und um       Nachtzeit frei bewegen können, ohne
die Uni vor sich ging.                        Angst vor schmutzigen Sprüchen, Span-
Man könnte denken oder hoffen, die            nern und sexuellem Missbrauch zu haben,
Lage hätte sich heutzutage verbessert.        muss leider noch so einiges passieren.
Aber kaum eine Frau oder queere Per-
son bleibt von sexueller Belästigung
oder Schlimmerem verschont. Über              1   uni-goettingen.de/de/603377.html
                                                                                           25
Die kompletten alten Ausgaben 1–3 fi
               www.fsr-sowi.de/rad
findet ihr online unter:
dikarla
RADIKARLA Nr. 1 – Mai/Juni 1993

     Bevölkerungspolitik ist das staatliche, me-     innen, d. h. auf die eigene Bevölkerung ei-
     thodische Eingreifen in das reproduktive        nes Staates, als auch nach außen, auf die arm
     Verhalten von Bevölkerungen oder Teilen         gehaltenen Länder des Trikont, angewendet.
     der Bevölkerung. Schon in der praktischen       Die innerstaatliche Bevölkerungspolitik wird
     Umsetzung des abstrakten Begriffes Be-          wohlklingend „Familienpolitik“ genannt.
     völkerungspolitik durch die sogenannte          Die Regierungen der armen Nationen rich-
     „Familienplanung“ wird deutlich, wo die         ten ihre binnenstaatliche Bevölkerungspoli-
     Bevölkerungspolitik nahezu ausschließlich       tik heute nach dem jeweiligen Diktat der In-
     ansetzt: An der Sexualität der Frauen bzw.      dustriestaaten aus. Die immer zunehmende
     an der Kontrolle ihrer Fruchtbarkeit. In        Ausbeutung der Ressourcen und Menschen
     patriarchalen Gesellschaften wird der Frau      nahezu aller Nationen der drei Kontinente
     häufig eine eigene Sexualität abgesprochen,     Afrika, Asien und Lateinamerika durch die
     sie wird jedoch für ihre Fruchtbarkeit allein   heutigen imperialistischen Metropolen hat
     verantwortlich gemacht. In der Regel sind       diese Länder in eine unabänderbare Abhän-
     Frauen allein für die Verhütung zuständig. In   gigkeit von den Industriestaaten getrieben.
     patriarchalen Gesellschaften sind neben den     Durch die Arbeitskraft dieser Menschen und
     Männern auch Wissenschaft und Forschung         das Anbauen von Exportgütern statt der ei-
     patriarchal. Solange Männer forschen und        genen Nahrungsmittel können diese aufge-
     Frauen schwanger werden, werden Verhü-          nommenen Schulden niemals zurückgezahlt
                                                     werden. Neue Kredite sind nötig, um zu-
     tungsmittel für den Mann die verschwinden-
                                                     mindest die Zinsen der Schulden an die rei-
     de Ausnahme bleiben. Bevölkerungspolitik
                                                     chen Industriestaaten zurückzuzahlen. Neue
     setzt in der sogenannten dritten Welt und
                                                     Kredite werden aber z. B. von der Weltbank
     auch bei uns ausschließlich an den Frauen
                                                     und dem Internationalen Währungsfonds
     an, sie manipuliert und determiniert deren
                                                     (IWF) nur unter bestimmten Bedingungen
     Fruchtbarkeit.
                                                     vergeben. Eine der Bedingungen lautet dabei
                                                     immer: Die Regierung des jeweiligen Landes
     Situation der Länder im Trikont
                                                     muss bevölkerungspolitische Maßnahmen
     Bevölkerungspolitik liegt im Interesse jeder    ergreifen, d. h. die Geburtenrate muss dras-
     Form von Herrschaft und wird sowohl nach        tisch verringert werden.
28
Angebliche Gründe für                            über drei Viertel der weltweit produzierten
Bevölkerungspolitik                              Rohstoffe, Energie und Nahrungsmittel.
                                                 Durch das Bevölkerungswachstum in den
Die Akzeptanz für bevölkerungspolitische
                                                 Industriestaaten werden achtmal so viel Res-
Maßnahmen in der sog. Dritten Welt ist weit
                                                 sourcen beansprucht, wie durch das zehnmal
verbreitet. Das am weitesten verbreitete Ar-
                                                 höhere Bevölkerungswachstum im Trikont.
gument ist das Drohen mit der sog. „Bevöl-
kerungsexplosion“. Damit wird einerseits die     Durch die Schuldenlast haben die Länder
Angst geschürt, dass wir Reichen ein Stück       des Trikonts keine Möglichkeit, ihre Felder
unseres Kuchens abgeben müssten, anderer-        für den Anbau von Nahrungsmitteln zur Er-
seits wird Mitleid mit den armen Menschen        nährung der eigenen Bevölkerung zu nutzen.
in den armen Ländern erweckt, die nichts zu      Stattdessen werden Exportwaren wie Soja
essen haben, weil sie einfach zu viele sind.     oder Maniok angebaut, um durch den Ver-
Kern und Hauptlüge dieser Argumentati-           kauf dieser Exportwaren zumindest ansatz-
on ist, dass die Armut im Trikont durch die      weise die Zinsen abzuarbeiten. Armut oder
Bevölkerungsvergrößerung verschuldet ist,        Wohlstand sind keine Frage der Bevölke-
dass quasi die Armen selbst dafür verant-        rungsdichte, sondern eine Verteilungsfrage.
wortlich sind. Wer/welche nur die heutige        Bevölkerungspolitik ist auch eine Methode
Situation der Weltbevölkerung betrachtet,        der präventiven Aufstandsbekämpfung. Die
ohne nach den Ursachen zu fragen, die/der
                                                 Ausbeutung des Trikonts und seiner Men-
wird sich mit dieser Argumentation wunder-
                                                 schen verläuft nicht immer ruhig und pro-
bar arrangieren können. Das Pseudoargu-
                                                 blemlos. Kinder, die gar nicht erst geboren
ment der Überbevölkerung suggeriert das
                                                 werden, können auch nicht zu Revolutionä-
Bild von eng zusammengedrängt lebenden
                                                 rinnen und Revolutionären heranwachsen.
Menschenmassen. Dass die Bevölkerungs-
dichte z. B. 1984 in der B.R.D. größer war als
                                                 Zeitgemässe Propaganda
in Indien, fällt dabei gerne unter den Tisch.
                                                 der Bevölkerung
Doch andere Zahlen sprechen eine noch viel
deutlichere Sprache: Die Bevölkerung der         Die Ideologien der Bevölkerungspolitik ge-
Industrieländer stellt knapp ein Viertel der     hen mit der Zeit, d. h. sie bedienen sich der
Weltbevölkerung, sie verbraucht allerdings       jeweiligen Trends und aktuellen Themen der

                                                                                                 29
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