Religion und Stadt Schwerpunkt - vhw
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1/2021 Heft 1 Januar–Februar 2021 G 3937 D FORUM WOHNEN UND STADTENTWICKLUNG Schwerpunkt Religion und Stadt Stadtentwicklung Stadt und Religionen • Ansätze zu einer Theologie des Wohnens • Religiöse Pluralisierung in Klein- und Mittelstädten • Die Stadt als Zukunftslabor des Glaubens • Kirche und die Koproduktion von Gemeinwohl • Städte als Räume für Begegnung und interreligiösen Dialog • Religion und kollektive Identität • Migration und Kirchen vor Ort • Kooperieren im Netzwerk • Wer fromm ist, hat ein ausge- fülltes Leben … • Kommunale Wohnraumversorgungskonzepte • Politische Beteiligung marginalisier- ter Gruppen Nachrichten Fachliteratur WohnungsMarktEntwicklung Zahlen zur katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland Verbandszeitschrift des vhw
Inhalt Schwerpunkt Kooperieren im Netzwerk – eine zentrale Religion und Stadt Kompetenz seelsorgerlicher Praxis 39 Miriam Zimmer, Zentrum für angewandte Editorial Pastoralforschung, Bochum „Nur in der Stadt kannst du rein religiös sein“ 1 Tobias Meier, Deutsches Institut für Community Wer fromm ist, hat ein ausgefülltes Leben … – Organizing (DICO), Berlin ein Selbstversuch zum Schwerpunktthema dieser Ausgabe 43 Stadtentwicklung Hein Glück, Berlin Stadt und Religionen – Religionspolitik, Religionsgemeinschaften, religiöse Räume 3 Kommunale Wohnraumversorgungskonzepte Dr. Anna Körs, Akademie der Weltreligionen großer Mittelstädte und Großstädte – an der Universität Hamburg bundesweiter Überblick und zwei Beispiele aus Mittelhessen 47 Stadt und Religion: Ansätze zu einer Theologie Nadine Velte, Prof. Dr. Christian Diller, des Wohnens 7 Justus-Liebig-Universität Gießen Dr. Robert Plum, Prof. Dr. Albert Gerhards, Rheinische Friedrich-Wilhelms Universität Bonn Alte Ungleichheiten in neuen Formen der Partizipation? – eine empirische Studie Religiöse Pluralisierung in Klein- zur politischen Beteiligung marginalisierter und Mittelstädten 11 Gruppen 52 Prof. Dr. Alexander-Kenneth Nagel, Prof. Dr. Norbert Kersting, Mehmet Kalender, Georg-August-Universität Westfälische Wilhelms-Universität Münster Göttingen Jan Kaßner, Landeshauptstadt Düsseldorf Die Stadt als Zukunftslabor des Glaubens 15 Nachrichten Dr. Markus-Liborius Hermann, Fachliteratur 55 Deutsche Bischofskonferenz, Erfurt WohnungsMarktEntwicklung Koproduktion von Gemeinwohl – Was können Statistische Zahlen zur römisch-katholischen Kirche und Wohlfahrtsverband beitragen? 19 und evangelischen Kirche in Deutschland 56 Dr. Petra Potz, location³, Berlin Anna Florl, vhw e.V., Berlin Städte als Räume für Begegnung – ein Interview zum interreligiösen Dialog mit Dunya Elemenler und Prof. Dr. Leo Penta 24 Religion und kollektive Identität oder Religion als Gehäuse der Zugehörigkeit 27 Prof. Dr. Gunnar Folke Schuppert, Berlin Wozu sind Kirchengemeinden da? – Migration und Kirchen vor Ort 33 Prof. Dr. Christine Funk, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
Editorial „Nur in der Stadt kannst du rein religiös sein“ „Suchet der Stadt Bestes“ ner anonymisierten Stadtgesellschaft, sondern immer auch (Jer 29, 4–7) ist das bibli- wieder zu neuen Formen des gemeinschaftlichen Handelns. sche Wort, das immer wie- In der Stadt begegnen sich Gleichgesinnte und beginnen, der zu hören ist, wenn sich auch im Religiösen miteinander zu handeln. katholische oder evange- Religion als Möglichkeitsraum von lische Kirchengemeinden Identitätskonstruktionen in der Stadt engagieren. In Caritas und Diakonie, in der An diesen Prozessen anzusetzen und diese kritisch zu be- Flüchtlingshilfe, in Nach- gleiten, ist Aufgabe von uns allen. Religion sollte dabei nicht barschafts- und Gemein- von vornherein als rückwärtsgewandt und konservativ, son- wesenarbeit finden sich un- dern als Möglichkeitsraum vielfältiger Identitätskonstruk- zählige Beispiele, wie sich tionen verstanden werden. In Deutschland sind wir in der dieser Anspruch konkret jüngsten Vergangenheit vor allem volkskirchliche Traditio- Tobias Meier erfüllt. Doch auch jenseits nen gewohnt, vielleicht kann der Diskurs um Religion in der Stadt auch dieses Verhältnis noch einmal ganz neu ausrich- konkreter Hilfe finden sich immer mehr Verbindungen zwi- ten und den Raum für eine andere Religiosität eröffnen. Und schen Stadt und Religion, die über das klassische kirchliche ich sehe hierin viel Potenzial: Sich über eine gerechte und Engagement hinausgehen. So entstehen vermehrt religiöse gute Zukunft zu streiten, war schon immer Teil einer visio- Gebäude nichtchristlicher oder zumindest freikirchlicher nären Stadtpolitik; allein schon deshalb werden wir in der Gemeinden. Allein schon deshalb ist Religion, das zeigen Stadt der Zukunft gar nicht umhinkommen, uns auch mit aktuelle Untersuchungen, auch in Europa nicht auf dem diesen Fragen zu beschäftigten. Rückzug, sondern findet nur einen anderen, bisher unge- wohnten Weg, sich neu in der Stadt zu verorten. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und viel Freude beim Lesen! Vom ökumenischen zum interreligiösen Miteinander Es sind aber nicht nur die Gebäude, die sich verändern, auch die gelebte Praxis wird von einem ökumenischen zu einem interreligiösen Miteinander erweitert. Dies zeigt sich auch in den klassischen Gebieten kirchlichen Engagements. So engagieren sich muslimische Gruppen aktiv in der Flücht- lingshilfe, es werden interreligiöse Friedensgebete veran- Tobias Meier staltet oder religiöse Gruppen engagieren sich gemeinsam Deutsches Institut für Community Organizing (DICO), Berlin; für Verbesserungen in ihren Stadtteilen. Doktorand an der Universität Göttingen zur Governance re- Ob in diesem Zuge bereits von einer postsäkularen Stadt ligiöser Vielfalt gesprochen werden kann, ist noch fraglich. Zu offen ist der Prozess des Neujustierens etablierter Strukturen und zu stark wirken noch die Traditionen des deutschen Staatskir- chenrechts. Bereits jetzt ist aber absehbar, dass sich diese Veränderungen als Erstes in den Städten niederschlagen. Hier sind die Orte des Ankommens und des Neuverortens einer Vielzahl von Menschen, von denen zumindest ein Teil weiter religiös ist. Das durch Leo Penta und Werner Schiffauer bekannt ge- wordene Zitat „Nur in der Stadt kannst du rein religiös sein“ verdeutlicht dies. Es entstammt einem gleichnamigen In- terview aus dem Buch Urban Prayers und dem dazugehöri- gen Forschungsprojekt von metroZones. Gemeint ist damit, dass die Vielfalt der Stadt auch immer einen Rahmen für das Religiöse aufspannt. Das Begegnen des anderen, ein klassisches Motiv der Stadtsoziologie, führt nicht nur zu ei- vhw FWS 1 / Januar–Februar 2021 1
vhw Aufhebung und Rückforderung von Leistungen nach dem Wohngeldgesetz (WoGG) Uwe Grund, Werner Zills Aufhebung und Rückforderung von Leistungen nach dem Wohngeldgesetz (WoGG) Ein Handbuch für die tägliche Praxis 3. überarbeitete und ergänzte Auflage inkl. CD-ROM mit Mustertexten, Umfang: ca. 760 Seiten, DIN A5, broschiert, vhw-Verlag, Bonn 2020 Einzelpreis: 49,50 Euro zzgl. Versandkosten ISBN: 978-3-87941-805-3 Bereits das Antragsverfahren zur Wohngeldbewilligung ist Vorschriften der (neuen) Übergangsregelung des § 42c ein komplexer Vorgang, bei dem eine Vielzahl unterschied- WoGG aufgreift und in den Zusammenhang mit den eben- lichster rechtlicher Vorschriften zu beachten ist. Dies gilt falls zu diesem Datum in Kraft tretenden Regelungen zur besonders und in gesteigerter Weise für die umfangreichen Berücksichtigung der durch die CO2-Bepreisung steigenden Aufhebungs- und Rückforderungsverfahren von Wohngeld- Energiekosten stellt. leistungen. Mit dem im Sommer 2017 in erster Auflage er- An den in der Praxis auftauchenden Frage- und Problem- schienenen Werk haben die Autoren ihre in langjähriger stellungen orientiert, werden nicht nur die materiell-recht- Praxis gewonnenen Kenntnisse und die in vielen von ihnen lichen Anforderungen an eine rechtskonforme Umsetzung durchgeführten Fortbildungsveranstaltungen an sie her- der Aufhebungs- und Rückforderungsvorschriften aus angetragenen Problemstellungen und deren Lösungen in dem WoGG und dem SGB X behandelt. Insbesondere wird diesem Handbuch zusammengefasst. Die Schrift stellt den auch auf die verfahrensrechtlichen Erfordernisse ausführ- speziellen Themenkreis mit der Aufhebung von Wohngeld- lich eingegangen. Anhand vieler kleiner Vertiefungen mit bescheiden und der Rückforderung zu Unrecht erbrachter praktischen Beispielen kann die Leserin bzw. der Leser die Leistungen anwendernah und für die tägliche Arbeit nach- bereits vorhandenen oder dazugewonnenen Kenntnisse an- vollziehbar dar. Darüber hinaus werden auch die Maß- schaulich nachvollziehen und für die Praxis übertragen. nahmen zum Forderungsmanagement einschließlich der Behandlung von Wohngeldrückforderungen in einem Insol- Aufhebung und Rückforderung von Leistungen nach dem venzverfahren sowie die Möglichkeiten von Sanktionsver- Wohngeldgesetz (WoGG) fahren im Zusammenhang mit den Aufhebungen erläutert. Ein in Handbuch für die tägliche Arbeit Mit der zweiten Auflage wurde die Schrift in einigen Punkten Einzelpreis: 49,50 Euro zzgl. Versandkosten redaktionell überarbeitet, aber vor allem um den Schwer- Bestellung Fax 0228/725 99-19 punkt des schwierigen Umgangs mit der Ermittlung des vhw-Verlag Wohngeldanspruchs für den Personenkreis der „Selbst- Dienstleistung GmbH ständigen“ ergänzt. Die mit der Wohngeldverwaltungs- Hinter Hoben 149 vorschrift 2017 (WoGVwV) definierten Anforderungen zum 53129 Bonn Umgang hiermit werden umfassend dargestellt, erläutert und anhand von Beispielen und Übungen veranschaulicht. Eine kritische Auseinandersetzung mit den von den Autoren gesehenen rechtlichen Widersprüchen in der WoGVwV er- gänzt diesen Abschnitt. Die jetzt erscheinende überarbeitete und wiederum um wichtige Themen ergänzte dritte Auflage rundet das Werk ab. Neue und geänderte Vorschriften wurden eingearbei- tet, Wichtige Themen, wie etwa „Erstattungsansprüche zwischen Sozialleistungsträgern“, „Vorschusszahlungen nach § 42 SGB I im Wohngeldrecht“ und „Verpflichtungser- klärungen“, wurden zusätzlich aufgenommen. Eine beson- dere Aktualität gewinnt die Schrift allerdings auch dadurch, dass sie ausführlich die ab dem 01.01.2021 zu beachtenden 2 vhw FWS 1 / Januar – Februar 2021
Stadtentwicklung Stadt und Religionen Anna Körs Stadt und Religionen Religionspolitik, Religionsgemeinschaften, religiöse Räume Dieser Beitrag argumentiert, dass Städte als Orte der Mesoebene zwischen den übergeordneten Entwicklungen und Regulierungen der Makroebene und dem individuellen Handeln auf der Mikroebene eine zentrale Bedeutung in ihrer Rolle des Aushandelns, Vermittelns und der Umsetzung von lokalen Lösungen für das Zusammenleben in multireligiö- sen säkularen Stadtgesellschaften haben (vgl. auch Körs 2018a). Dazu werden in einer Urban-Governance-Perspektive exemplarisch drei institutionelle Kontexte – Religionspolitik, Religionsgemeinschaften und religiöse Räume – als Impulse für eine religionssensibilisierte Stadtentwicklung betrachtet. Die Verbindungen zwischen Stadt und Religionen lassen Diskursen und Institutionen (Berger 2015). Angesichts dieser sich in vielfältiger Weise betrachten und beschäftigen ver- „zwei Pluralismen“ wächst die öffentliche Aufmerksamkeit schiedene Disziplinen, wie die Theologie (aktuell z.B. Zar- und der Aushandlungsbedarf sowohl zwischen den Religio- now/Klostermeier/Sachau 2018) oder die historische Re- nen als auch zwischen Religionen und Gesellschaft. Erst seit ligionswissenschaft (Rüpke 2020), blieben jedoch in der einigen Jahren bildet sich daher ein Forschungsfeld heraus, Stadtforschung sowie in der Religionssoziologie lange Zeit das auch empirische gegenwartsbezogene Analysen von weitgehend vernachlässigt. Dies ist darin begründet, dass Stadt und Religionen bietet, wozu der Beitrag einige exempla- die Theorietraditionen beider Disziplinen sich im Kontext ei- rische Einblicke gibt. ner sich modernisierenden Gesellschaft entwickelten, in der die moderne Metropole als „secular space per se“ (Berking/ Religionspolitik – zwischen Religionsverfas- Schwenk/Steets 2018, S. 2) und städtische Religion als histo- risches Phänomen (Lanz 2013, S. 299) galten. Inzwischen hat sungsrecht, Kooperation und Dialog sich empirisch gezeigt, dass moderne Gesellschaften – und Mit der Pluralisierung verändert sich das Verhältnis der Po- dabei insbesondere Stadtgesellschaften – von der Gleich- litik zu Religionsgemeinschaften, und es stellen sich zwei zeitigkeit zweier Pluralisierungsprozesse geprägt sind: und Herausforderungen: „[N]ämlich, wie der Staat seine eigene zwar von der Koexistenz von sowohl verschiedenen religiösen Beziehung zu Religion definiert, und was der Staat unter- Weltanschauungen als auch von säkularen und religiösen nimmt, um die Beziehung der verschiedenen Religionen Abb. 1: Religion und Raum: Prayers Camp der Redeemed Christian Church of God in Lagos/Nigeria (Foto: Stephan Lanz) vhw FWS 1 / Januar–Februar 2021 3
Stadtentwicklung Stadt und Religionen Beteiligung städtischer Behörden 90% reicht dabei von einer räumlichen, 81% 80% 77% technischen oder finanziellen Un- terstützung über die Begleitung und 70% Moderation bis hin zur aktiven Teil- 60% nahme und Initiierung. 55% 54% 50% Damit leisten solche neuen Formen 40% der „state-interfaith governance“ 40% (Körs/Nagel 2018) einen wichtigen 30% Beitrag zum städtischen Mitein- 26% ander. Andererseits wird in diesen 20% Kooperationen die Gefahr der Ver- einnahmung der Religionsgemein- 10% schaften für integrationspolitische 0% Zwecke gesehen. Kritisiert wird andere nicht-christliche islamisch evangelisch-lutherisch katholisch buddhistisch andere christliche Religionen Konfessionen auch ihr Labeling als „Dialog“ als Ausdruck der Anerkennung der Abb. 2: Interreligiöse Kontakte von Gemeinden nach Religionen Vielfalt von Religionen, da sie die- untereinander zu regulieren“ (Berger 2015, S. 117). Maß- ser insofern zuwiderlaufen, als sie häufig christlich domi- geblich hierfür ist das deutsche Staatskirchenrecht (auch niert, auf „akzeptierte“ oder „legitime“ Religionen reduziert Religionsverfassungsrecht), das die Trennung von Staat und und damit hinter der faktischen (inner-)religiösen Pluralität Kirche etabliert und gleichzeitig vielfältige Formen der Ko- zurückbleiben bzw. auf Exklusion beruhen (Körs 2020). operation vorsieht – und das angesichts gesellschaftlicher Deutlich wird: Religionspolitik als eigenes Politikfeld be- Veränderungen vor der Herausforderung steht, auch nicht- ginnt gerade erst, sich zu entwickeln. Dabei hat die städti- christliche Religionsgemeinschaften zu integrieren, um sche Religionspolitik eine zentrale „mittlere Position“: Sie gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. hat mit größeren Handlungsspielräumen und häufig auch Entsprechende religionspolitische Aushandlungsprozesse größeren Handlungsbedarfen pragmatisch Wege zu finden, finden – neben den übergeordneten politischen Ebenen des wie sowohl Menschen aus unterschiedlichen Religions- Bundes und der für wesentliche Religionsangelegenhei- gemeinschaften als auch religiös Ungebundene an einem ten zuständigen Länder – in vielfältiger Weise „vor Ort“ in konkreten Ort gut miteinander leben können. Dabei kann den Kommunen und Städten statt. Deren zentrale Bedeu- sie einerseits von anderen Städten lernen oder Vorreiter tung ergibt sich auch vor dem Hintergrund, dass die Bun- für sie sein und andererseits bottom-up-innovative Impulse desregierung, trotz Zuwanderung seit den 1950er Jahren, für die übergeordneten Politikebenen geben. Darin liegen Deutschland bis in die 1990er Jahre hinein nicht als Einwan- Chancen, und gleichzeitig wächst der Bedarf nach politi- derungsland verstand, weshalb Integrationspolitik lange Zeit scher Religionskompetenz („religious literacy“) sowie nach nicht als Aufgabe von nationaler Bedeutung galt. Städte sind Kenntnissen über die Mechanismen und Dynamiken dieser damit vorrangige Orte, an denen religiöse Ansprüche auf Multi-Level-Prozesse, was Herausforderung sowohl für Teilhabe und Anerkennung vorgebracht und verhandelt wer- Praxis als auch Forschung ist. den und die auch in der Forschung neben den dominierenden nationalen Perspektiven stärker ins Blickfeld gerückt sind. Religionsgemeinschaften – zwischen Für die konkrete Umsetzung haben sich neben bilateralen Parallelgesellschaften, Kontaktflächen und Formen in den letzten Jahren als besonders vielverspre- chende Lösung zunehmend staatlich-interreligiöse Koope- Integrationsorten rationen zwischen politischen Akteuren und mehreren Reli- Religionsgemeinschaften sind neben ihren Verhältnisbestim- gionsgemeinschaften entwickelt. So gaben bereits 2011 fast mungen zur Politik auch herausgefordert, sich zueinander die Hälfte der Kommunen in Deutschland, und häufiger noch zu verhalten und Wege im Umgang mit dem jeweils religiös Städte, an, „interreligiöse Initiativen“ zu nutzen, um Vielfalt „anderen“ zu finden, wofür im städtischen Raum ihre lokalen und Toleranz zu fördern und Fremdenfeindlichkeit zu verhin- Gemeinden von zentraler Bedeutung sind. Bundesweit gibt dern (Gesemann et al. 2012, S. 103). Inzwischen haben sich es rund 13.600 evangelisch-lutherische, 9.900 katholische, die lokalen Verflechtungen von politischen Akteuren und in- eine zahlenmäßig kaum überschaubare Anzahl von Gemein- terreligiösen Initiativen zunehmend institutionalisiert in z.B. den anderer christlicher Konfessionen, 2.200 islamische, 110 „Runden Tischen“, „Foren“ oder „Räten der Religionen“. Die alevitische, 130 jüdische, Hunderte buddhistische und hindu- 4 vhw FWS 1 / Januar–Februar 2021
Stadtentwicklung Stadt und Religionen istische sowie viele weitere Gemeinden anderer Religionen Städtische gerade dadurch aus, dass Nähe und Distanz und Strömungen. Während religiöse Gemeinden damit eine selbstbestimmt gewählt werden und neben Brücken auch flächendeckende Struktur in ganz Deutschland bilden, kom- Grenzen produktiv für das städtische Zusammenleben sein men in Städten die Gemeinden verschiedener Religionen in können (Dangschat 2020). Es deutet aber darauf hin, dass relativ großer Anzahl und räumlicher Nähe zusammen. Die Religionsgemeinschaften und ihre lokalen Gemeinden – Frage ist: Wie (re-)agieren Gemeinden in einem zunehmend entgegen ihrer Vernachlässigung oder mitunter primären religiös pluralen städtischen Umfeld? Wahrnehmung als Konfliktorte – ein wichtiger Teil urbaner Infrastrukturen (Breckner 2020) und ein besonderes Poten- Die Diskurse und möglichen Antworten hierauf zugespitzt, zial zur lokalen interreligiösen Sozialkapitalbildung sind können Gemeinden „Parallelgesellschaften“ bilden und sich (Körs 2018b). voneinander abgrenzen sowie als „Kontaktflächen“ Brücken bilden oder als „Integrationsorte“ Zusammenhalt fördern. Dagegen sind empirisch basierte Antworten schwierig. Denn Religiöse Räume – zwischen Präsenz, in der Forschung wurden Gemeinden aufgrund der dominie- Repräsentation und Vision renden Theorien der Säkularisierung und Deinstitutionali- Für die Transformationsprozesse im Verhältnis von Stadt und sierung jahrzehntelang vernachlässigt und rücken erst seit Religionen kommt neben politischen und religiösen Akteuren einigen Jahren wieder in das wissenschaftliche Blickfeld. auch dem städtischen Raum eine besondere Bedeutung zu. Dabei gilt das Interesse besonders dem urbanen Raum, und Im städtischen Raum materialisieren sich gesellschaftliche es sind in den letzten Jahren zahlreiche „Mapping Studies“ Prozesse der religiösen Pluralisierung und Säkularisierung, entstanden, die die religiöse Gemeindelandschaft in mittler- und umgekehrt entfalten religiöse Räume gesellschaftliche weile rund 30 deutschen Städten umfassend dokumentieren. Wirkkraft und beeinflussen soziale Prozesse. In mindestens Dennoch: Eine interreligiöse Gemeindeforschung, die Auf- drei Entwicklungslinien lässt sich dies beobachten. schluss über die Beziehungen zwischen den Religionen gibt, bleibt ein Desiderat (Körs 2018b). Erstens prägen Kirchengebäude seit Jahrhunderten vie- lerorts das Stadtbild. Gleichzeitig stehen die beiden großen Einen Baustein hierzu liefert eine in der Stadt Hamburg christlichen Kirchen zunehmend vor der Herausforderung, durchgeführte Gemeindestudie, bei der 350 Gemeinden von dass sie über deutlich mehr Gebäude verfügen, als sie mit insgesamt 547 recherchierten Gemeinden aus dem Spekt- Leben füllen können. Durch erweiterte kirchliche oder kir- rum Christentum, Judentum, Islam, Alevitentum, Buddhis- chennahe Nutzungen versuchen sie, ihren Besitzstand auch mus, Hinduismus, Sikhismus und Bahaitum zu u.a. ihren als „symbolisches Kapital“ zu bewahren. Dennoch steht Kontakten und Netzwerken befragt wurden. Ergebnis ist, eine Welle der Kirchenschließungen bevor: Allein im Kir- dass ein erheblicher Anteil von 46% der befragten Gemein- chenkreis Hamburg-Ost, bundesweit größter Kirchenkreis den über interreligiöse Kontakte verfügt. Dies gilt vor allem der evangelischen Kirche, droht einem Drittel der 138 Kir- für islamische Gemeinden (77%) und Gemeinden anderer chengebäude bis 2026 die Schließung. Daneben zeigt die nichtchristlicher Religionen (81%), was nicht allein durch ihre Kirche städtische Präsenz vor allem durch die Reinszenie- numerische, sondern auch ihre soziale Minderheitenposition rung ihrer Innenstadtkirchen als „Citykirchen“, mit denen begründet ist und eher auf einen fortgeschrittenen Integra- sie programmatisch ihre Türen öffnet für Besucher jenseits tionsprozess hindeutet als auf verbreitete „Parallelgesell- des Gemeindelebens. Damit übernehmen „Citykirchen“ schaften“. Leuchtturmfunktion und tragen zur kirchlichen Profilierung Interessant ist, dass für die Frage, ob eine Gemeinde in- bei, erreichen jedoch kaum Menschen jenseits religiöser terreligiös aktiv ist oder nicht, weniger religiöse Einstel- Prägung und sind insofern ebenso Ausdruck fortschreiten- lungen, sondern vor allem ihre gesellschaftliche Position der Säkularisierung (Körs 2018c). entscheidend ist: Je besser eine Gemeinde gesellschaftlich Zweitens entstehen durch migrationsbedingte Plurali- integriert ist, desto eher ist sie auch interreligiös aktiv. Ent- sierungsprozesse zunehmend Räume nichtchristlicher sprechend werden als häufigstes Hemmnis für interreligiö- Minderheitsreligionen, wie insbesondere Moscheen, aber se Kontakte auch weniger religiöse Unterschiede oder eine auch Synagogen, Tempel, Gurdwaras, Cemhäuser u.a. Im befürchtete Schwächung des eigenen Glaubens angegeben Zentrum des öffentlichen Diskurses und Bewusstseins ste- als vielmehr fehlende Gelegenheitsstrukturen. Dies ist in- hen dabei repräsentative Neubauten, wie etwa die DITIB- sofern ein wichtiger Befund, als dass interreligiöse Kon- Zentralmoschee in Köln oder aktuell der Wiederaufbau takte damit nicht etwa durch religiöse Einstellungen vorbe- der Bornplatzsynagoge in Hamburg. Faktisch handelt es stimmt, sondern sozial gestaltbar sind. sich bei den Gebetsräumen nichtchristlicher Minderheiten Das bedeutet nicht, dass Interreligiosität per se anzustre- jedoch zumeist um umfunktionierte Zweckräume, wie Ge- ben ist. Denn nicht nur sind Gemeinden primär Orte der werberäume, Fabrikgebäude, Lagerhallen, Garagen, Spor- Ausübung jeweils einer Religion. Auch zeichnet sich das teinrichtungen, Wohnhäuser etc. So sind von den bundes- vhw FWS 1 / Januar–Februar 2021 5
Stadtentwicklung Stadt und Religionen weit 2.200 Moscheen in Deutschland nur etwa 12% durch (Spannungs-) Verhältnisse. Wie auch umgekehrt gilt: „places ein Minarett überhaupt sichtbar. Die Diskrepanz zwischen matter“ und gerade Städte sind zentrale Orte ihrer Aus- sozialer Präsenz und räumlicher Repräsentation besteht handlung und Gestaltung und beeinflussen wesentlich die für nichtchristliche Religionsgemeinschaften somit in um- Formen, Praktiken und Identitäten religiöser Glaubensrich- gekehrter Weise: Sie sind wesentlich präsenter als sie im tungen. Dieses Zusammenwirken von Städte und Religionen öffentlichen Raum sichtbar und wahrnehmbar sind. – „as partners in a recursive relationship in which they are shaping as well as being shaped through their interaction“ Drittens entstehen neben diesen monoreligiösen zuneh- (Flory 2021, S. xviii) – stärker wahrzunehmen und zu adres- mend interreligiöse Räume. Dabei scheinen interreligiöse sieren erscheint lohnenswert im Sinne einer religionssensi- diachrone Nutzungen von leerstehenden Kirchengebäuden bilisierten Stadtentwicklung und -forschung als auch einer durch andere Religionsgemeinschaften naheliegend, sind raum- und stadtorientierten Religionsforschung. aber tatsächlich eher selten und auf den christlichen Be- reich begrenzt. So ist auch eine interreligiöse Umnutzung einer entwidmeten Kirche in eine Moschee bisher ein Ein- Dr. Anna Körs zelfall und wird sowohl von der evangelischen Kirche als Soziologin, wissenschaftliche Geschäftsführerin und Vizedirektorin der auch der Bischofskonferenz grundsätzlich für ausgeschlos- Akademie der Weltreligionen der Universität sen erklärt (Körs 2015). Daneben entstehen zunehmend in- Hamburg terreligiöse Räume mit synchroner Nutzung verschiedener Religionsgemeinschaften. Bekannt sind „Räume der Stille“ innerhalb von öffentlichen Gebäuden, wie Universitäten, Quellen: Krankenhäusern oder Flughäfen. Ein neues Phänomen Berger, P.L. (2015): Altäre der Moderne. Religion in pluralistischen Gesellschaf- sind öffentlich sichtbare interreligiöse Räume, wie „Gärten ten. Frankfurt/New York. der Religionen“, die als Orte der Begegnung in Städten wie Berking, H./Schwenk, J./Steets, S. (2018): Introduction: Filling the Void? – Re- Köln, Hamburg, Karlsruhe oder Recklinghausen entstan- ligious Pluralism and the City. In: Berking, H./Schwenk, J./Steets, S.: Religious Pluralism and the City: Inquiries into Postsecular Urbanism, London, S. 1–24. den sind. Gesteigert wird die öffentliche Sichtbarkeit in ei- Breckner, I. (2020): B.5.5 Soziale Infrastruktur. In: Breckner, I./Göschel, A./ nem neuen Typus interreligiöser Sakralbauten, wie er etwa Matthiesen, U. (Hrsg.): Stadtsoziologie und Stadtentwicklung. Handbuch für in Berlin mit dem geplanten „House of One“ mit einer Kir- Wissenschaft und Praxis, Baden-Baden, S. 355–366. che, einer Synagoge und einer Moschee unter einem Dach Dangschat, J.S. (2020): Ort der Integration und Identifikation? Das Quartier in einer Gesellschaft mit schwindendem Gemeinsinn. In: Der Architekt 1/2020, entsteht. Solche „Häuser der Religionen“ sind mit der Ab- S. 27–32. sicht, durch gebaute Toleranz gelebte Toleranz zu fördern, Flory, R. (2021): Foreword. In: Day, K./Edwards, E.M.: The Routledge Handbook gleichsam Zukunftsversprechen und Repräsentation einer of Religion and Cities. Abingdon, Oxon; New York, S. xiv-xx. „realen Utopie“ einer pluralen Gesellschaft. Gesemann, F./Roth, R./Aumüller, J. (2012): Stand der kommunalen Integrati- onspolitik in Deutschland, Berlin. Gerade an religiösen Räumen lässt sich somit die Verfasst- Körs, A. (2015): Kirchenumnutzungen aus soziologischer Sicht. Wenn eine heit von multireligiösen säkularen Stadtgesellschaften er- Kirche zur Moschee wird und weshalb dies ein gesellschaftlicher Gewinn sein kann. In: Kunst und Kirche 04/2015, S. 55–62. kennen. Dabei sind bauliche Repräsentation und soziale Körs, A. (2018a): Lokale Governance religiöser Diversität. Akteure, Felder, Präsenz nicht gleichzusetzen. Vielmehr ist gerade auch re- Formen und Wirkungen am Fallbeispiel Hamburg. In: Aus Politik und Zeitge- levant, was (noch) nicht zu sehen ist, oder was zu sehen ist, schichte: Religionspolitik, S. 34–40. aber den sozialen Prozessen zeitlich hinterher oder voraus Körs, A. (2018b): Empirische Gemeindeforschung: Stand und Perspektiven. In: Pollack, D./Krech, V./Müller, O./Hero, M. (Hrsg.): Handbuch Religionssoziologie, ist. Die Sichtbarkeit religiöser Räume ist insofern beson- Wiesbaden, S. 631–655. ders gesellschaftsproduktiv, als dass dadurch wahrnehm- Körs, A. (2018c): Citykirchen als öffentliche Räume – Profilierung oder Selbst- bare Orte entstehen, die die plurale Gesellschaft darstell- säkularisierung? In: Rebenstorf, H./Zarnow, C./Körs, A./Sigrist, C. (Hrsg.): Citykirchen und Tourismus. Soziologisch-theologische Studien zwischen Berlin bar, kritisierbar und anerkennbar machen und wiederum und Zürich, Leipzig, S. 68–92. Räume ihrer sozialen Aushandlung schaffen. Körs, A. (2020): Interreligiöser Dialog: Erfolgsentwicklung oder Über- gangsphänomen? In: Heinrich Böll Stiftung: Dossier „Religiöse Vielfalt. Wege zu einer gleichberechtigten Teilhabe“. Online: https://heimatkunde.boell.de/ Schlussbemerkung de/2020/12/17/interreligioeser-dialog-erfolgsentwicklung-oder-uebergangs- phaenomen. Religionspolitik, Religionsgemeinschaften, religiöse Räume Körs, A./Nagel, A.-K. (2018): Local "formulas of peace": Religious diversity and – diese drei hier betrachteten institutionellen Kontexte ver- state-interfaith governance in Germany. In: Social Compass 65 (3), S. 346–362. anschaulichen exemplarisch die quer durch die gesellschaft- Lanz, S. (2013): Stadt und Religion. In: Mieg, H.A./Heyl, C. (Hrsg.): Stadt. Ein lichen Bereiche stattfindenden Aushandlungsprozesse zum interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, S. 299–317. Zusammenleben in multireligiösen säkularen Stadtgesell- Rüpke, J. (2020): Urban Religion. A Historical Approach to Urban Growth and Religious Change, Berlin/Boston. schaften. Daran wird deutlich: „religions matter“ – und zwar Zarnow, C./Klostermeier, B./Sachau, R. (Hrsg.) (2018): Religion in der Stadt. im Plural – und Religionen prägen die Städte durch ihre Viel- Räumliche Konfigurationen und theologische Deutungen, Berlin. falt wie auch ihre Abwesenheit und die daraus entstehenden 6 vhw FWS 1 / Januar–Februar 2021
Stadtentwicklung Ansätze zu einer Theologie des Wohnens Robert Plum, Albert Gerhards Stadt und Religion: Ansätze zu einer Theologie des Wohnens Die Stadt und urbanisierende Lebensstile sind das Modell für die Lebenswelt des Hauptteils der Weltbevölkerung. Entgegen den Erwartungen der Säkularisierungstheorie ist Religion in Städten auf vielfache Weise präsent. Die kreative Einwirkung von Stadtleben und Religion aufeinander sollte die Theologie herausfordern, Religion nicht mehr ausschließlich als Zentrum von Gemeinschaften, sondern im Einklang mit den Erfordernissen einer „offenen Stadt“ zu denken. Die ständig neu hinzukommenden Nutzungsvarianten von Sakralräumen, zum Beispiel als Hybridräume, sowie neue Formen der Koalition und Kooperation von christlichen Gemeinden mit anderen Interessengruppen sind als konkrete Orte unterdrückungsfreier Begegnung von Gemeinschaften mit Fremden zu verstehen. Mittlerweile ist es fast ein Gemeinplatz geworden, zu sa- parnasse in Paris betritt, wird er nicht mehr in die Kirche gen, dass „mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in gehen (Casanova 2013, S. 114). Diese Aussage spiegelt das Städten lebt“ (Rüpke 2019, S. 175), dass weltweit der Urba- große, über längere Zeit dominante und selbstverständlich nisierungsprozess nur noch zunimmt und die Unterschiede hingenommene Narrativ von Modernisierung, Säkularisie- zwischen Stadt und Land immer kleiner werden. Genau so rung und Urbanisierung wider als sich gegenseitig implizie- hartnäckig wird aber auch konstatiert, dass das, „was man render und unaufhaltbarer Prozesse. Aber was ist aus der in einer Stadt erlebt, nur selten stimmig und harmonisch Sicht dieses Paradigmas von der gegenwärtigen These der ist, sondern weitaus häufiger voller Widersprüche und Rückkehr von Religion, und zwar ausgerechnet in der Stadt schartiger Kanten“ (Sennett 2018, S. 11). Städte sind zu- und in einer immer urbanisierteren Welt, zu halten? Zwar nehmend mit Problemen, wie Arbeitslosigkeit, schlechten richtete sich die Aufmerksamkeit der Forschung für Religi- Wohnungen, Wohnungsnot und Prekariat, konfrontiert. Die on in der Stadt wohl zunächst auf die Immigranten und de- zunehmende Einwohnerzahl und die sich weltweit ausbrei- ren Religionen (Rüpke 2019, S. 176), doch beschränkt sich tende städtische Lebensweise haben anscheinend nicht diese Thematik heute keineswegs mehr auf die Neueinge- verhindern können, dass es den Bewohnern nicht gelingt, sessenen, so als ob Religion nur etwas Exotisches wäre, et- das „Recht auf Stadt“ (Lefebvre 2009) einzufordern. was für diejenigen, die „anders“ sind und die zunächst nur von außen an unsere Moderne herantreten. Während die Philosophie sich erst ab dem 20. Jahrhundert mit „Wohnen“ beschäftigt (Hahn 2005, S. 1015), hat die Thematik in der Theologie noch immer einen ziemlich marginalen Status, wobei sich die Theo- logie dabei nicht selten eines Jargons der Eigentlichkeit bedient. Wie hätte eine Theologie des Wohnens auszusehen, die sich einerseits zum Ziel setzt, die Realität der meisten Menschen – das heißt also der in Städten Lebenden – in Betracht zu ziehen, und die dabei ihre Aufgabe „im- manenztheologisch“ versteht, was be- deutet, dass sie das, was sie zu sagen hat, weder trivial – „Gott ist in allen Dingen“ –, noch ideologisch verstanden haben will? Stadt und Religion Von dem seinerzeit berühmten französi- schen Soziologen Gabriel Le Bras stammt folgendes bekannte Diktum: Sobald ein französischer Landwirt den Gare de Mont- Abb. 1: Sakralbauten als unveränderliche Orte? (Foto: Jost) vhw FWS 1 / Januar–Februar 2021 7
Stadtentwicklung Ansätze zu einer Theologie des Wohnens Unsere Zeit wird öfter als eine Zeit des Ortsverlusts be- Stadt und Dorf schrieben (Michel de Certeau). Was bedeutet das für Religi- In Bezug auf die Dichotomie von Stadt und Dorf: Während ein onen in Bezug auf ihre Verortung in der Stadt? So wies ein Teil der heutigen Wissenschaftler hervorhebt, dass unsere Projekt „Die Stadt der Zukunft“ auf der Architekturbiennale Kultur mit Städten angefangen habe und auch fast alle Re- in Venedig 2006 keinerlei Kultbauten, sondern lediglich eine ligionen in Städten oder städtischen Kontexten entstanden Kulthöhle außerhalb der Stadt auf (Gerhards 2017). Tradi- seien (Casanova 2013, S. 114), gibt es andere Wissenschaft- tionell wird den Sakralbauten, gleich ob christlich, jüdisch ler, die meinen, Religionen seien ursprünglich in ländlichen oder muslimisch, ein hoher identitärer Stellenwert zuge- Kontexten, vor allem in Dörfern, beheimatet. Henri Lefeb- wiesen. Dadurch kann jede Frage einer Umwidmung eines vre, der mittlerweile durch seine Veröffentlichungen über Sakralbaus leicht in den Bann von Fragen nach Identität ge- Raum, Stadt und Alltagsleben zu einem Klassiker avan- raten, wobei Identitätsfragen schnell hinübergleiten können cierte französische Philosoph, hat selbst beschrieben, wie in Fragen nach Beständigkeit inmitten einer sich stets und viel Mühe es ihn gekostet habe, der Stadtproblematik eine immer rascher verändernden Welt. Religion kann dann in Eigenständigkeit zu verleihen und sie aus den Fesseln der den Orbit des Festen, Beständigen, Haltgebenden geraten, agrarischen Sichtweise zu befreien, in der auch er ausge- wodurch die Thematik der Transformation von bestehenden bildet war.1 Er spricht über die verstädterte Gesellschaft in Sakralbauten eo ipso immer auch mit mehr oder weniger einem positiven Sinn, als „eine Utopie für das nachindustri- starken Verlustängsten behaftet ist. Obwohl Verlustängste elle Zeitalter“ (Stamer 2019, S. 23). für Religionen vor allem aus pastoraltheologischer Pers- pektive ernst zu nehmen sind, stellt sich andererseits die Die Herausgeber eines Themenhefts über „städtische theologische Frage, wie sich das Christentum zu einer sol- Theologie“, des International Journal of Public Theology, chen auf das Feste, Beständige orientierten Auffassung von schreiben bezüglich des Verhältnisses von Religion und Religion verhält. Unsere Zeit ist nämlich nicht nur eine Zeit Ort, dass „JHWH die Frage von Israels Verständnis seiner des unfreiwilligen Ortsverlusts. Identität nicht durch den Verweis auf einen fixen Ort beant- wortete, sondern durch den Hinweis auf die Unsicherheit einer Zukunft in Pilgerschaft“ (Graham/Scott 2008, S. 1). Diese neueren Forschungen geben zu bedenken, ob man die christliche Religion nicht vielleicht allzu selbstverständ- lich im Kontext des regelmäßig ablaufenden Lebens im Dorf gedacht hat und ob Religion dadurch nicht mit einer sehr bestimmten, engen Auffassung von Gemeinwesen identisch geworden ist, einer Auffassung, die an die berühmte Unter- scheidung des Soziologen Ferdinand Tönnies zwischen Ge- meinschaft und Gesellschaft erinnert, die aber vielleicht auf eine immer urbanisiertere Welt nicht mehr zutrifft. Menschsein und Wohnen Martin Heidegger hat das Wohnen zum Rang einer philoso- phischen Kategorie erhoben. In der Schrift „Bauen Wohnen Denken“ (1951) beschreibt er „Menschsein“ mit „Wohnen“ (Heidegger 2000, S. 149) und verbindet „Wohnen“ mit Bau- Abb. 2: Sakralbauten als Projektionsflächen (Foto: Patrick Chrzaszczak) en, Architektur: „Wir wohnen nicht, weil wir gebaut haben, Genauso lässt sich wahrnehmen, dass die Sesshaften stän- sondern wir bauen und haben gebaut, insofern wir wohnen, dig auf der Flucht sind und dass sich neue Lebensformen d.h. als die Wohnenden sind.“ (Heidegger 2000, S. 143) Sei- abzeichnen mit weniger starker Bindung an einen festen ne Perspektive wurde aber selten auf Städte angewendet Wohnsitz, gar eigenen Grund und Boden. Man sollte sich (Lounela et al. 2019, S. 20). Städte wurden ja durchwegs mit also bei der Frage nach der Rolle von Sakralbauten in städ- „entfremdeten Lebensstilen“ assoziiert. Der Heidegger- spezialist Otto Pöggeler ging in dieser Hinsicht sogar noch tischen Kontexten am besten von dem Paradigma befreien, weiter, als er meinte, dass die Wohnenperspektive überholt das besagt, dass Sakralbauten als unveränderliche Orte im sei, um die Frage des heutigen Städtebaus anzugehen, da Wandel der Zeit zu betrachten seien. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Vergan- genheit. Viele Kirchengebäude haben nur deswegen die 1 „[U]rban thinking is at its beginning. It is still a thinking attached to the land, to the logic of agricultural production which leaves traces, outlines. One con- Zeiten überdauert, weil sie in Trägerschaft, Funktion und tinues to think in forms shaped by this social base: the land and not the city.” Gestalt immer wieder dem Wechsel unterworfen wurden. (Lefebvre 2006) 8 vhw FWS 1 / Januar–Februar 2021
Stadtentwicklung Ansätze zu einer Theologie des Wohnens das Wohnen in einem technischen Zeitalter sich nun einmal Städte sind, wie bereits kurz angedeutet, mit vielen sozialen unwiderruflich im Verschwinden befinde (Bolle 1987). Und Problemen konfrontiert. Trotzdem betrachtet Sennett die wenn zum Beispiel der amerikanisch-deutsche Architek- Stadt nicht grundsätzlich negativ. Er entwickelt in seinem turphilosoph Karsten Harries die Neigung der modernen Buch über die Ethik des Wohnens in der Stadt das Konzept Religion, sich vor allem auf die Innerlichkeit zu fokussie- einer „offenen Stadt“, die von ihren Einwohnern verlangt, ren und dabei die Kunst und vor allem die Architektur hinter dass sie die Fähigkeiten entwickeln, mit Komplexität umzu- sich zu lassen, kritisiert und stattdessen auf die Bedeutung gehen (Sennett 2018, S. 28). Eine bestimmende Erfahrung von Architektur insistiert, zeigen sich auch bei ihm die Hei- vom urbanen Leben ist ja „die Nähe“: „Wir leben nahe an deggerschen Wurzeln seines Denkens, wenn er die moder- denen, die anders sind – was Einkommen, soziale Kontakte, ne Welt überwiegend als eine von der Technik bestimmte oder Ethnizität betrifft. […] In Städten leben wir in gebro- Welt betrachten kann, die, gerade weil sie Freiheit als von chenen Gemeinschaften. Reichtum und Armut berühren aller Ortsgebundenheit befreit auffasst, umso mehr Archi- einander auf derselben Straße oder in angrenzenden Stadt- tektur brauche, um einen „sense of place“ wiederzugewin- teilen.“ (Davey 2008, S. 29) Eine dieser sichtbaren Komple- nen (Harries 2010). xitäten liegt darin, dass in vielen Großstädten ausgerechnet neue religiöse Bewegungen, wie die Pfingstkirchen, profane Vielversprechender sind in dieser Hinsicht die Einsichten Architekturen zu ihren Sakralbauten umwidmen. von Religionswissenschaftlern, wie die Autoren eines 2016 erschienenen Aufsatzes über Religion im urbanen Raum, die zeigen, dass man „die Geschichte, Kultur und Politik der europäischen Städte nicht ohne Bezug auf Religion verstehen kann“ (Knott et al. 2016, S. 125). Wenn wir also inzwischen mithilfe von Heidegger uns dem Menschsein mit dem Begriff des „Wohnens“ annähern und Wohnen nicht ohne Bauen und Architektur betrachten können, er- gibt sich die Möglichkeit, das Wohnen in urbanen Kontex- ten mithilfe der Problematik von sakraler Architektur zu betrachten. Das ist übrigens, nachdem man über längere Zeit meinte, städtische Religion wäre ein Widerspruch in sich (Lanz 2013, S. 303), eine ziemlich junge Forschungs- perspektive, die überdies in Einklang steht mit der soge- nannten materiellen Wende auch in den Religionswissen- schaften, wonach „wichtige materielle Artefakte nicht nur Verankerungen von Werten und Bedeutungen sind, son- dern auch Empfindungen, Gefühle und Erfahrungen er- zeugen, die zwar schwierig in Worten auszudrücken sind, aber nicht weniger wichtig für die Gestaltung der Gesell- schaft“ (Knott et al. 2016, S. 128). Offene Stadt Nachdem hiermit im Ansatz klar geworden ist, dass man Städte auch in religiöser Hinsicht anders betrachten sollte, nicht mehr als die „ultimativen religionslosen und gottlosen Räume“ (Rüpke 2019, S. 175), gilt es ebenfalls einzusehen, dass Städte nicht immer das Wohl ihrer Bürger fördern. Zwar gehören sie zu den ambitioniertesten Versuchen der Abb. 3: Wir haben eine Kirche, haben Sie eine Idee? Mit dieser Frage wandte Menschen, eine neue Welt und damit sich selbst neu zu sich die Kirche St. Maria 2017 an die Menschen der Stadt Stuttgart und be- kam als Antwort eine Vielzahl an Ideen zurück. (www.st-maria-als.de) schaffen nach dem Vorbild ihrer Tagträume. Genauso unbe- streitbar aber ist, dass es Städten nicht gelungen ist, sich so Diese Einrichtung von Sakralbauten in nicht selten brachlie- einzurichten, dass man angenehm darin wohnen kann. Der genden Gebäuden oder in industriellen Lagerhäusern folgen amerikanische Soziologe Richard Sennett schrieb 2018, wie zum Teil der Not, womit Einwanderer oft konfrontiert sind, bereits zitiert: „Wie die Menschen leben wollen, sollte auch symbolisieren aber manchmal auch die religiöse Program- seinen Ausdruck in der baulichen Gestaltung der Stadt fin- matik dieser neuen Religionsgemeinschaften. Forschungen den. Aber genau hier liegt ein großes Problem.“ von Kristine Krause über Pfingstkirchen in London haben vhw FWS 1 / Januar–Februar 2021 9
Stadtentwicklung Ansätze zu einer Theologie des Wohnens zum Beispiel gezeigt, dass selbst „finanzkräftige Gemein- den neue Kirchen oft in Industriegebieten errichten und Dr. Robert Plum sich an der Ästhetik und Funktionalität von Industriebauten Koordinator des DFG-Projekts „Sakral- raumtransformation. Funktion und Nutzung orientieren“. „Darin spiegelt sich das Verhältnis der glo- religiöser Orte in Deutschland“, Seminar balen Pfingstbewegung zum Raum, der nicht durch seine für Pastoraltheologie, Rheinische Friedrich- Repräsentationsfunktion Bedeutung erlangt, sondern als Wilhelms Universität Bonn physischer Ort einer kollektiven, durch gemeinsame Rituale erlebten Erfahrung. Gerade ein leerer, symbolisch nicht auf- Prof. Dr. Albert Gerhards geladener Raum eignet sich so für die Schaffung einer Kir- Sprecher des DFG-Forschungsprojekts che. Industriegebiete werden als neutrale Orte gesehen, an „Sakralraumtransformation. Funktion und Nutzung religiöser Orte in Deutschland“, denen, im Gegensatz zu historisch gewachsenen Orten, keine Seminar für Liturgiewissenschaft, Rheinische Dämonen hausen. Abgelegene Orte eröffnen die Möglichkeit, Friedrich-Wilhelms Universität Bonn pfingstkirchliche Rituale mit ihrem elektronisch verstärkten 'holy noise' ungestört zu praktizieren.“ (Lanz 2013, S. 308) Quellen: Bei bereits bestehenden, in der Regel christlichen Sakral- Bolle, E. (1987): Wat hebben architectuur en filosofie met elkaar te maken? In: bauten spielt die Thematik der Transformation oder Umwid- Oase, B. 15, S. 24–31. mung eine immer wichtigere Rolle. Während aber für Dörfer Casanova, J. (2013): Religious Associations, Religious Innovations and Deno- minational Identites in Contemporary Global Cities. In: Becci, Irene/Burchardt, vielleicht stärker gilt, dass die Sakralbauten eine Nutzungs- Marian/Casanova, Jose (Hg.): Topographies of Faith. Religion in Urban Spaces. änderung erfahren können, „ohne ihre Grundfunktion als Leiden, S. 113–127. Versammlungsraum der Ortsgemeinde zu verlieren“ (Ger- Cox, H. G. (2013): The Secular City. Secularization and Urbanization in Theologi- cal Perspective. Princeton: Princeton University Press. Online verfügbar unter: hards 2020, S. 25), gilt für Städte in stärkerem Maße, dass http://www.jstor.org/stable/10.2307/j.ctt32bc8n. die Kirchenbauten nicht mehr nur und ausschließlich als Davey, A. P. (2008): Better Place: Performing the Urbanisms of Hope. In: Inter- Haus der Gemeinde, „sondern auch als Haus für einzelne national Journal of Public Theology, B 2, S. 27–46. Menschen dienen, die in ihnen unterschiedliche Erfahrun- Gerhards, A. (2017): Glaubensvollzug und Kirchenbau in der späten Moderne. gen machen“ (Gerhards 2020, S. 26). Heutzutage steht die Reflexionen aufgrund einiger altkatholischer Projekte, in: IKZ 106/ 2, S. 90–106 mittlerweile als traditionell geltende Bindung von Religion Gerhards, A. (2020): Kirchenräume avantgardistisch bewahren, in: Heilige Kunst 2018/2019, Stuttgart, S. 19–31. an Gemeinschaft, zu deren Wesensmerkmalen die regel- Graham, E./Scott, P.M. (2008): Editorial: Special Issue – Public Theology and mäßige Versammlung in einem bestimmten Kirchenraum the City. Urban Theology as Public Theology. In: International Journal of Public gehört, stark unter Druck. Theology, B 2, S. 1–6. Hahn, A. (2005): Wohnen. In: Ritter, J./Gründer, K./Gabriel, G. (Hrsg.): Histori- Die politische Philosophin Iris Marion Young hat diese Idee sches Wörterbuch der Philosophie, Basel, S. 1015–1018. von Gemeinschaft kritisiert: „[D]as Ideal ist immer eines der Harries, K. (2010): On the Need for Sacred Architecture. In: Design Philosophy Transparenz von Subjekten in Bezug aufeinander. Gemäß Papers 8 (1), S. 7–10. diesem Ideal versteht jede Person die anderen und erkennt Heidegger, M. (2000): Bauen Wohnen Denken. In: Heidegger, M.: Vorträge und Aufsätze (1936–1953), Stuttgart, S. 145–165. sie in derselben Weise an, in der sie sich selbst verstehen, Knott, K./Krech, V./Meyer, B. (2016): Iconic Religion in Urban Space. In: Material und alle erkennen an, dass die anderen sie so verstehen, wie Religion, B. 12/2, S. 123–136. sie sich selbst verstehen. […] Solch ein Ideal der wechsel- Lanz, S. (2013): Stadt und Religion. In: Mieg, H.A./Heyl, C. (Hrsg.): Stadt. Ein seitigen Transparenz von Subjekten verneint die Differenz, interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, S. 299–317. die grundlegende Asymmetrie der Subjekte.“ (Young 1993, Lefebvre, H. (2006): Writings on Cities, Oxford [u.a.] S. 96) Eine Gesellschaft, die man als aus unterschiedlichen Lefebvre, H. (2009): Le droit à la ville, Paris. Gemeinschaften konstituiert betrachtet, ist aber letztend- Lounela, A./Berglund, E./Kallinen, T. (Hrsg.) (2019): Dwelling in Political Land- scapes. Contemporary Anthropological Perspectives, Helsinki lich, meint Young, eine „Gesellschaft ohne Stadt“. Ihr geht es Rüpke, J. (2019): Religion als Urbanität: Ein anderer Blick auf Stadtreligion. In: demgegenüber darum, über eine nichtunterdrückende, „of- Zeitschrift für Religionswissenschaft, B. 27/1, S. 174–195. fene“ Stadt nachzudenken, in der Menschen mit Fremden le- Sennett, R. (2018): Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens, ben, ohne mit ihnen in Gemeinschaft zu leben (Young 1986, S. München. 1–2). Die sich ständig vermehrenden Nutzungsvarianten von Stamer, G. (2019): Die Struktur des Raumes und die urbane Gemeinschaft. Sakralräumen als Hybridräume oder auch in einer säkularen Philosophische Betrachtungen zum Thema Stadt und Städtebau. In: Illies, C. (Hrsg.): Bauen mit Sinn: Wiesbaden, S. 23–37. Nutzung kultureller oder sozialer Bestimmung sowie neue Young, I.M. (1986): The Ideal of Community and the Politics of Difference. In: Formen der Koalition und Kooperation von christlichen Ge- Social Theory and Practice, B. 12/1, S. 1–26. meinden mit anderen Interessengruppen sind als eine kon- Young, I.M. (1993): Stadtleben und Differenz. Die Stadt als Modell für eine offene krete, aber auch kritische Antwort auf Youngs Auffassung zu Gesellschaft. In: Transit. Europäische Revue, B. 4/5, S. 91–108 lesen, da sich hier zeigt, dass Sakralgebäude heute zu Orten unterdrückungsfreier Begegnung von Gemeinschaften mit Fremden werden können. 10 vhw FWS 1 / Januar–Februar 2021
Stadtentwicklung Religiöse Pluralisierung in Klein- und Mittelstädten Alexander-Kenneth Nagel, Mehmet Kalender Religiöse Pluralisierung in Klein- und Mittelstädten Der Zuzug von religiösen Migranten in Orte jenseits der Großstadt ist in der Forschung unterbelichtet und bildet doch einen spannenden Vergleichspunkt zu Religion und Migration in urbanen Räumen. In diesem Beitrag zeigen wir auf, warum eine Beschäftigung mit religiöser Pluralisierung in Klein- und Mittelstädten überfällig und spannend ist. Schlaglichtartig werfen wir einen Blick auf die wenige bisherige Forschung religiöser Pluralisierung jenseits der Großstadt, einschließlich einer kurzen Reflexion der Stadt-Land-Dichotomie. Abschließend formulieren wir erste Hypothesen zur Gestaltung religiöser Pluralisierung in Klein- und Mittelstädten. Migration und religiöse Pluralisierung sie die Frage von sich weg. […] Das liege daran, dass sie immer freundlich auf die Menschen zugehe. „Jeder kennt „auf dem Land“ in dieser Straße Frau Bektas und weiß, dass sie ein gutes Am Ende der Straße, am Busbahnhof, gibt es einen türki- Herz hat.“ Da sei die Religion egal (Freund 2012). schen Gemüseladen – den einzigen im Ort. „Kardes Mar- ket“ klebt in roten Lettern auf der Schaufensterscheibe. Der kurze Textausschnitt entstammt einer kleinen Repor- Drinnen steht Hilcmet Bektas und hält mit ihrer Nach- tage, die die freie Journalistin Maike Freund auf dem In- barin ein Schwätzchen – auf Türkisch. „Ja und Nein“, ternetportal der EKD (evangelisch.de) im Jahr 2012 veröf- antwortet sie auf die Frage, ob sie gern in Altena lebe. fentlichte. Der ethnografisch anmutende Beitrag beginnt „Ja“, denn alle ihre Freunde würden hier wohnen, der Ort mit der Frage: „Wie lebt es sich eigentlich in Deutschland sei überschaubar, sie brauche sich keine Sorgen um ihre als Muslim in einer ländlichen Region?“. Die Reportage be- Kinder zu machen. Und „Nein“, denn ihre Familie – außer ginnt mit verbreiteten Problemen ländlicher Räume: Teile ihrem Bruder – lebe in der Türkei und los sei hier auch des Ortes sind nahezu ausgestorben, wenige Menschen un- nicht viel. […] Ob sie schon mal jemand komisch wegen terwegs, einige Geschäfte für immer geschlossen. Der Bür- ihres Kopftuchs angeschaut hätte. „Nein, nein“, sagt sie germeister des Ortes erklärt im Gespräch mit der Autorin, und macht mit den Händen eine Bewegung, als schiebe dass die zunehmende Überalterung ein großes Problem sei. Abb. 1: Kirche als Fix- und Orientierungspunkt in klein- und mittelstädtischen Räumen (Fotos: Jost) vhw FWS 1 / Januar–Februar 2021 11
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