Böll THEMA - Mit wem geht die neue Zeit? - Das Magazin der Heinrich-Böll-Stiftung Ausgabe 2, 2008
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
böll Das Magazin der Heinrich-Böll-Stiftung Ausgabe 2, 2008 THEMA Mit wem geht die neue Zeit?
2 Inhalt Stimmen Impressum 4 Was heißt heute links? Kleine Umfrage in der grünen Heimat. Von Michaela Wunderle Herausgeber Heinrich-Böll-Stiftung Schumannstraße 8 Geschichte eines Begriffs 10117 Berlin 6 Links Mitte Rechts Fon 030 – 2 85 34 – 0 Kleine Geschichte der politischen Geographie Europas. Von Joscha Schmierer Fax 030 – 2 85 34 – 109 E-Mail: thema@boell.de 9 Was den linken Diskurs mit der Ozonschicht verbindet. www.boell.de/thema 45 Jahre lang die Frage: «What’s left?» Eine Relektüre. Von Ulrike Baureithel Redaktionsleitung Elisabeth Kiderlen Lebenswelten Redaktionsassistenz 12 Der Container mit der Aufschrift «links»: Susanne Dittrich Gebetsraum für unsortierte Glaubensbekenntnisse. Von Christian Schneider Mitarbeit Ralf Fücks 14 Freiheit, Gleichheit, Schönheit Annette Maennel (V.i.S.d.P.) Frauenemanzipation gehört in keine Schublade. Von Waltraud Schwab Peter Siller 16 «Inszenieren heißt kritisieren» Der Dramaturg und Wegbereiter des neuen Regietheaters Bernd Stegemann Artconcept Büro Hamburg im Gespräch mit Henrike Thomsen Jürgen Kaffer, Sandra Klostermeyer Gestaltung Zahlen verstehen blotto design, Lydia Sperber 19 Links ist da, wo die Regierung rechts ist. Druck Zwischen einem gesellschaftlichen Linkstrend und einer Politik der Mitte agit-Druck, Berlin besteht kein Widerspruch. Von Dieter Rulff Papier Inhalt: Envirotop, matt Positionen: Was können wir wissen? Was können wir tun? Was können wir hoffen? hochweiß, Recyclingpapier 22 Mut zum Wandel aus 100 % Altpapier Umschlag: Enzocoat Plädoyer für eine Agenda 2020 Von Ralf Fücks Bezugsbedingungen 26 Yes, they could! zu bestellen bei oben genannter Adresse Warum eine intakte Sozialdemokratie in Deutschland heute nicht bloß Titelbild und S. 2: Reiner Dieckhoff. Das Kölner SDS-Zentrum nach der «Macht- gebraucht wird, sondern sogar erfolgreich wäre. Von Tobias Dürr Hinweis In Partnerschaft mit der Firma 28 «Wir sollten nicht zimperlich sein.» übernahme» durch die antiautoritäre Fraktion. Aus: «1968 am Rhein». Grammer Solar wurde Soziale Umverteilung in den privaten Konsum oder Investitionen in auf dem Dach des Neubaus der Hrsg. von Kurt Holl und Claudia Glunz, Emons Verlag, Köln 2008 Heinrich-Böll-Stiftung eine öffentliche Güter? Von Sibyll Klotz Photovoltaikanlage installiert. 30 Links Mitte Rechts ist gestern. Bitte beachten Sie die Anzeige auf Seite 34. Die grünen Themen sind im Zentrum angekommen. Von Kai Klose 31 Dem Wandel eine Richtung geben. Grün als Orientierungsfarbe einer Politik, die Gerechtigkeitsanspruch mit Veränderungswillen verbindet. Von Peter Siller Heinrich-Böll-Stiftung 35 Hinweise, Projekte, Publikationen
Editorial 3 What’s left? 1990 ergab eine Meinungsumfrage, dass dreißig Prozent der Deutschen glaubten, der Sozialismus sei «eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde». Das war schon damals, noch mitten in den Freiheitsrevolutionen in Mittel-Osteuropa, eine erstaunlich hohe Zahl. Heute sind es 45 Prozent. Zu ihnen gehört offenbar auch Franziska Augstein, die diese Umfrage in einem Text für das Magazin der Süddeutschen Zeitung zitiert, in dem sie die Realgeschichte des Sozialismus von 1917 bis 1989 als bloße Abirrung abtut, die man ad acta legen kann, um seinen guten, wahren Kern wieder freizule- gen: das Streben nach sozialer Gerechtigkeit. Die Autorin gehört mitnichten zur intellektuellen Bo- heme des «radical chic» vom Schlage eines Slavoj Zizek, der sich schon mal an der Rehabilitation Lenins versucht, bevor er den Apostel Paulus als Prototyp eines aufrührerischen Messianismus entdeckt. Die bürgerlichen Freunde des Sozialismus sind vielmehr beredte Zeugen dafür, dass der Zeitgeist in Deutschland die Windrichtung gewechselt hat. Neoliberalismus ist out, und mit ihm alles, was in diese Schublade gepackt wird: von der Privatisierung öffentlicher Unternehmen bis zu den Steuer- und Sozialreformen der rot-grünen Koalition, die für die wachsende Schere zwischen Arm und Reich verantwortlich gemacht werden. Dass es darum ging, die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, die galoppierenden Lohnzusatzkosten einzudämmen, die Rentenversicherung demographiefest zu ma- chen und die Last einer aus dem Ruder gelaufenen Staatsverschuldung für die nächsten Generatio- nen zu erleichtern: aus den Augen, aus dem Sinn. Dass zugleich der Eintritt von zwei Milliarden Menschen in den Weltmarkt, die bereit sind, hart für die Verbesserung ihrer Lage zu arbeiten und großen Bildungshunger an den Tag legen, den Kosten- und Innovationsdruck am «Standort Deutsch- land» verschärft hat, erscheint nur noch als Ausrede für Billiglöhne auf der einen, schamlose Berei- cherung auf der anderen Seite. Selbstverständlich reden weder die Edel-Sozialisten des Feuilletons noch der Trommler Oskar La- fontaine einer sozialistischen Revolution das Wort. Ihr Utopia liegt nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit, im Wohlfahrtsstaat der achtziger Jahre – in der Ära von Helmut Schmidt und Hel- mut Kohl. Es geht um staatsverbürgte soziale Sicherheit und um größtmögliche Stabilität der Le- bensverhältnisse. Das ist nachvollziehbar. Der Fehler ist nur, zu glauben, es könne Sicherheit ohne Veränderung geben, Wohlstand ohne Risiko, Umverteilung ohne Wettbewerbsfähigkeit, Solidarität ohne Selbstverantwortung. Eine Linke, die sich auf die Umverteilung durch den Staat zurückzieht, hat keine Zukunft. Die Debatte um den «Dritten Weg» und «New Labour», die in den 90ern mit dem Anspruch einer Selbst- erneuerung geführt wurde, bevor sie im Regierungspragmatismus Blairs und Schröders versandete, hat immerhin drei grundlegende Ideen aufgenommen: Die moderne Linke braucht ein emphati- sches Verhältnis zur Freiheit; sie braucht eine ökonomische Politik, die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft sichert; und sie muss eine kosmopolitische, weltoffene Haltung einnehmen, statt sich hinter Protektionismus und nationaler Engstirnigkeit zu verschanzen. Nimmt man noch als zentrales Element die ökologische Frage hinzu, dann könnte das die Blaupause für die Grünen sein. Wir wollen mit diesem Heft erkunden, was «links» heute noch oder wieder bedeutet, was anachro- Foto: Ludwig Rauch nistisch scheint und was aktuell. So wenig es die eine Linke gibt, so vielfältig fallen die Antworten darauf aus. Eine anregende Lektüre wünscht Ralf Fücks Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung — Der besondere Tipp Studie: ERENE. Eine Europäische Gemeinschaft für Erneuerbare Energien. Michaele Schreyer und Lutz Mez analysieren die Möglichkeiten, die Nutzung erneuerbarer Energiequellen im europäischen Verbund zu erhöhen, und skizzieren den Weg in ein — Europa ohne fossile und nukleare Stromversorgung. Zu bestellen unter info@boell.de, Download unter www.boell.de Ist da wer? Kongress zur Zukunft der Demokratie am 2. und 3. Oktober 2008, Hochschule für Künste, Bremen. Mit Work- — shops zu Demokratie in Wirtschaft, Ökologie, Medien und Kommunen Info: www.boell.de, zeitgeschichte@boell.de Tourwebsite www.sonnewindundwir.de – die Seite zur Klimatour 2008 der Heinrich-Böll-Stiftung. Mit Tourdaten, Musik, Infos und Tipps für individuelles Handeln in Sachen Klimaschutz
4 Stimmen Was heißt heute links? Kleine Umfrage in der grünen Heimat Gesammelt und aufgeschrieben von Michaela Wunderle Links? Das ist eine sich ständig erneuernde «Linkspartei» verdient, so eine Frankfurter te und Grundfreiheiten im Sinne einer Demokratie, eine zur Selbstkritik fähige Sonntagszeitung, «zéro points» westlichen Verfassung effektiv zustehen Gesellschaft, die den Einzelnen ermuntert, Peter Zollinger, Redakteur sowie (und das unterscheidet die «Linken» seine sozialen und geistigen Fähigkeiten von den Liberalen) die materielle Verfasst- zu entfalten. Es ist eine Weltanschauung, Links bedeutet für mich: Einsatz für eine heit der Gesellschaft so gestaltet ist, dass die stets nach neuen Erkenntnissen sucht, humane, solidarische, gerechte und re- diese Grundrechte und -freiheiten für alle die nichts so verabscheut wie das Erstarren pressionsfreie Zivilgesellschaft und das auch den gleichen Wert haben. in einmal gültigen Formen. Beharren auf Utopien. Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler Renate Wiggershaus, Schriftstellerin Ernst Szebedits, Filmproduzent Auch wenn «Die Linke» samt wachsendem Lichtung Mit Blick auf Italien kann ich nur sagen: Anhang in die Gegenrichtung marschiert: manche meinen Links, das bedeutet Lähmung, Orientie- Links sein heißt, für die Freiheit zu sein – lechts und rinks rungslosigkeit, Depression, Zerfall, auch nie zu akzeptieren, dass ein Mehr an kann man nicht velwechsern viel Opportunismus. Als Hoffnung bedeu- Gleichheit und Gerechtigkeit gegen einen werch ein illtum. tet es für mich Gerechtigkeit, Solidarität, Verlust an Freiheit aufgerechnet wird. ernst jandl Partizipation und Pluralismus. Harald Lüders, Journalist Frank Wolff, Cellist Sandra D’Oliv, Konsulatsangestellte Was ist heute links? Gegen Grenzen und na- «Vorwärts, und nicht vergessen, worin eure Links bedeutet für mich: eine Lebenshal- tionale Abschottung – «kosmopolitische Stärke besteht. Beim Hungern und beim tung, Utopie, Orientierung. Die Vorstellung Produktion und Konsumtion durch den Essen, vorwärts, und nicht vergessen: die einer Gesellschaft, geprägt von Gleichbe- Weltmarkt» (Komm. Manifest); gegen Anti- Solidarität!» rechtigung, Verteilungsgerechtigkeit, Res- semitismus, Rassismus, Antifeminismus – Ede Fischer, Unternehmerin pekt, Solidarität und Kritik- und «die Internationale erkämpft das Men- Veränderungsbereitschaft. schenrecht»! Für universale transnationale Links muss überholt werden. Denn Lafontai- Ute Szebedits, Therapeutin Institutionen. «Durch rasche Verbesserung ne, Chavez oder Alice Schwarzer sind nicht aller Produktionsinstrumente, durch die links. Genau sowenig wie es die Jakobiner Links denkt und handelt, wer davon aus- unendlich erleichterte Kommunikation waren, auf deren Sitzordnung in der fran- geht, dass der Mensch dem Menschen im- das Hereinziehen aller, auch der barba- zösischen Nationalversammlung der Be- mer auch Zweck und niemals nur Mittel rischsten Nationen in die Zivilisation» griff zurückgehen soll. Wenn die Illusion sein darf, d.h. wer die Würde jedes einzel- (Marx/Engels), daher Ablehnung aller Fa- der Gleichheit auf Kosten der Freiheit tri- nen Menschen auch im politischen Kon- schisten, nationalistischer «Sozialisten», umphiert, droht die Guillotine oder der flikt achtet und diese nie um angeblich hö- terroristischer Heilsbewegungen, theo- Mindestlohn. Links ist heute mehr eine herer, gemeinsamer Ziele wegen preisgibt. kratischer Ideologien und Regime, korrup- Haltung als ein politisches Projekt. Links Links denkt und handelt darüber hinaus, ter Militärherrscher. Unterstützung der ist mehr Frechheit, Kultur und Kommuni- wer für eine gerechte Gesellschaft eintritt, Zivilgesellschaft gegen etatistische Ent- Foto: privat kation. Links ist weniger Angst, Staat und d.h eine Gesellschaft, in der allen Bürgern mündigung. Superstars. Und ein «Sozialismus» à la und Bürgerinnen die gleichen Grundrech- Albert Christian Sellner, Autor, Herausgeber Vita & Publikationen Michaela Wunderle ist Autorin und Übersetzerin. Jüngste Veröffentlichung: Übersetzung von und Nachwort zu «Der blaue Cinquecento. Italiens bleierne Jahre» von Mario Calabresi. Ver- lag SchirmerGraf, München 2008.
5 War der Prager Frühling 1968, diese große, die gesamte tschecho- slowakische Gesellschaft aufrührende Bewegung gegen den Stalinis- mus, den eigenen wie den der Sowjetunion, links? War er rechts? Je nach Standpunkt fallen die Antworten verschieden aus. Die außer- parlamentarische Opposition Westdeutschlands (APO) war gespal- ten. Für die einen konnte ein Aufstand im Namen der Freiheit, konn- te der Widerstand dieses kleinen Staates gegen die geballte Militärmaschinerie der Warschauer Paktstaaten, nur links sein. Und war nicht «Sozialismus mit menschlichem Gesicht» die Parole dieser sanften Revolte? Für die anderen deuteten die reformerischen Ansätze dieser Liberalisierungs- und Demokratisierungsbewegung in Richtung Sozialdemokratie und bewiesen damit den konterrevo- lutionären Charakter dieses Aufstands. An der Parteinahme für oder gegen den Prager Frühling zeigte sich, wie wenig aussagekräftig der Begriff «links» ist: das Linke – ein zum Hauptwort erklärtes Eigenschaftswort, das spätestens seit der Niederschlagung des Prager Frühlings selbst des verdeutlichen- den Adjektivs bedarf. Also setzte sich die freiheitliche Linke ab von der dogmatischen und orthodoxen Linken. Ohne jedes Attribut, sen- za niente, ganz nackt, ist «links» eine Luftnummer, es ist unklar, verbindet sich das Wort mit einer Macht und dann mit welcher, mit einer Idee und dann von wem? Die tschechische Reformbewegung platzierte in ihren Parolen das Linke, also den Sozialismus, zwischen Freiheit und Souveräni- tät und stellte «links» somit in einen Kontext: «In ganz Prag hängen Aufrufe einzelner Organisationen oder Betriebe. Alle sind inspiriert vom Motto der vergangenen Wochen: ‹Freiheit, Sozialismus, Sou- veränität.›» So der Bericht der Nachrichtensendung der Tschecho- slowakischen Station vom 22. August 1968, 08.15. Die russische Invasion in Prag jährt sich am 21. August 2008 zum vierzigsten Mal. Der Münchner Verlag Schirmer/Mosel hat aus die- sem Anlass einen eindrücklichen Band des Magnum-Fotografen Jo- sef Koudelka herausgebracht: «Invasion Prag 1968». Auf unserem Bild gehen Hoffnung und Widerstand noch Hand in Hand, die Stra- ße ist zum Schlachtfeld geworden und die Menschen sind an den Rand gedrängt. Elisabeth Kiderlen Die wachsende soziale Ungerechtigkeit zu be- mindest einmal den Gedanken gab, der Frage besteht, ob die drängenden globalen kämpfen, die die Gesellschaft zu spalten Mensch könne Subjekt seiner Geschichte Probleme überhaupt unter den traditio- droht, das muss das Hauptthema der heu- sein. Links sein bedeutet nicht, eine uni- nellen Kategorien von Rechts / Mitte / tigen Linken sein – womit auf gar keinen verselle Wahrheit zu postulieren. Vielmehr Links betrachtet und angegangen werden Fall die Partei gemeint ist, sondern alle, die ist in allen möglichen Teilbereichen zu können. Die Gegenfrage lautet, ob über- Foto: Josef Koudelka gegen soziale Ungerechtigkeit angehen. prüfen, welche Subjektivität sich dort ma- haupt eine andere als eine «linke» Perspek- Inga Buhmann, Autorin nifestiert. Links sein bedeutet auf jeden tive denkbar ist. Fall, weder in zynischen Hedonismus zu Paul Ruhnau, Lehrer Links sein bedeutet für mich, nicht in Ver- verfallen noch gesellschaftliche Unter- gessenheit geraten zu lassen, dass es zu- schiede als naturgegeben zu feiern. Die
6 Begriffsgeschichte Links Mitte Kleine Geschichte der politischen Geographie Europas. Von Joscha Schmierer Wenn eine Partei sich «Die Linke» nennen kann, ohne homerisches «Labour» und «New Labour» auf der Linken den Platz der «Whigs» Gelächter hervorzurufen, sind wir definitiv in der Postmoderne ange- einnahmen, um Revolution. Es waren gerade die grundlegenden kommen. Weder kommunistisch noch revolutionär definiert sich Gemeinsamkeiten auf beiden Seiten des Parlaments, die die strik- «Die Linke» allein durch den Abstand zu anderen. Links als politi- te räumliche Polarisierung ermöglichten, ohne das Parlament zu sche Ortsbezeichnung drückt ein Verhältnis aus, aber keinen In- sprengen. So waren stets Regierungswechsel möglich, ohne je das halt und kein Programm. Die Linke ist das Gegenteil der Rechten. Regime zu wechseln. Die Auseinandersetzungen zwischen den Aber was ist die Rechte? Beide bilden nicht die Mitte. Man müsste beiden Seiten folgen noch heute einem gemeinsamen Ritual. also nach der Mitte fragen, von der sie sich unterscheiden. Links und rechts entstand als politische Ortsbestimmung in einer Doch eine Mitte gab’s ja nicht bei der Entstehung der parla- Konstellation, in der die Mitte leer bleiben konnte, weil beide Sei- mentarischen Geopolitik im britischen Parlament. Auf der einen ten gemeinsam das Ganze ausmachten. Der politische Grund- Seite saßen die eher Liberalen, auf der anderen Seite die eher Kon- konsens war die gemeinsame Basis der parteilichen Auseinander- servativen. Auf beiden Seiten saßen Aristokraten. Die Vertreter setzung, nicht deren Ziel. Das Ziel der Auseinandersetzung war beider Parteien standen oben und über der Gesellschaft, als ihre Regierungserhalt oder Regierungsbildung. Das parlamentarische Repräsentanten aber auch mitten drin. Der Unterschied zwischen Wechselspiel von Regierung und Opposition zwischen sich entge- ihnen: die politischen Vorlieben. Da können politische Leiden- gengesetzt verortenden Parteien funktioniert nur, wenn sie ziem- schaften aufkommen, aber keine existentiellen Gegensätze. lich enge Nachbarn sind und einige Grundstücke gemeinsam ver- Im englischen Parlament geht es um die Art und Geschwindig- walten. In den USA, in denen es große Probleme der Segregation keit der Evolution, keinesfalls aber, und das auch dann nicht, als gab, eine landesweite Klassenkonfrontation sich jedoch nicht «Im englischen Parlament geht es um die Art und Geschwindigkeit der Evolution, keinesfalls aber um Revolution.»
7 Rechts Konterrevolution, zwischen Rechts und Links verstanden. Die Mitte, das waren die, die sich nicht entscheiden konnten. Nach der Logik des «Wer nicht für mich ist, ist wider mich» waren die in der Mitte die Schlimmsten, weil sie sich nicht als Feinde offen zu erkennen gaben. In dieser Logik wurden die Sozialdemokraten für die Kommunisten der Weimarer Republik zu «Sozialfaschisten», gegen die der erste Schlag zu führen war, um dann im Zusammen- stoß Klasse gegen Klasse, die Entscheidung zu suchen. Links und rechts waren auf dem Kontinent keine Begriffe, die Relationen innerhalb eines politischen Kontinuums ausdrückten, sondern fundamentale Alternativen. In einem Zeitalter der Kriege und der Revolutionen schien es oft nur eine Frage zu geben: Wer gegen wen? Wer schaltet wen aus oder wird vom anderen umge- bracht. Diese Vorstellung war insofern nicht aus der Luft gegriffen, als Republik und parlamentarische Demokratie bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht gesichert waren. Ihren sicheren Boden fanden sie erst in der Verallgemeinerung der Lohnabhän- gigkeit und der Verbürgerlichung der Arbeiterklasse. An die Stelle sich ablösender Gegensätze traten differenzierte Lebenslagen in einer mehr oder weniger offenen Gesellschaft und politischer Plu- ralismus. In einer solchen Situation kann auch ein Revolutionär aus Prinzip wie Toni Negri nur noch die Multitude als politisches Subjekt ausmachen. War die Links-Rechts-Polarisierung zunächst durch den Gegensatz von Feudalherrschaft und Bourgeoisie, von Monarchie und Demokratie und dann durch den Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat, von Kapitalismus und Sozialismus unterfüttert, wird sie nun immer mehr zum Wolkenverschieben am leeren Ideenhimmel. In der Europäischen Union herrschen heute auch auf dem Kontinent mehr oder weniger «britische», beziehungsweise «ame- rikanische» Verhältnisse. Die Parteien sind in dem Sinn Volkspar- teien, dass sie interessierte Individuen aus allen Schichten orga- herausbildete, funktionierte das Wechsel- und Zusammenspiel nisieren und ansprechen wollen, und zur Verwirklichung ihrer von zwei Parteien über Jahrhunderte hinweg, ohne dass es sich im Programmatik auf parlamentarische Mehrheitsbildung zielen. Links-Rechts-Schema definieren und polarisieren ließ. Die politischen Leidenschaften und die politische Rhetorik blei- Das Gegenüber von links und rechts, das die dramatisierende, ben aber weiterhin von alternativen Fundamentalismen geprägt. aber selten dramatische Geopolitik des britischen Parlaments be- Einen tieferen Grund gibt es dafür nicht. «Die Linke» will alles, nur schreibt, erhielt auf dem europäischen Kontinent mit dem Ge- keine kommunistische Plattform sein. Ihre Führung weiß warum. gensatz von Republik und Monarchie, von Sozialismus und Kapi- Die FDP begründet ihre Steuervorschläge damit, dass sie allen talismus und immer wieder von Revolution und Reaktion eine nützten. Jede Partei betont, auf dem Boden des Grundgesetzes zu ganz andere Spannung. Es wurde antagonistisch aufgeladen. In stehen. «Die Linke» beschwert sich, dass sie immer noch vom Ver- den Kriegen wurden die Gegensätze durch nationalistischen fassungsschutz beobachtet wird. Außer der Vergangenheit gibt es Kurzschluss überbrückt. Burgfrieden hieß das in Deutschland im dafür auch keinen Grund. Populistischer Schwindel ist nicht I. Weltkrieg, Volksgemeinschaft hieß es im Dritten Reich. verfassungswidrig. Das gemeinsame Ganze, das die britischen Parlamentspartei- Heute machen sich fast alle lustig über Francis Fukuyamas en auf ihren entgegengesetzten Seiten zusammenhielt, gab es auf «Das Ende der Geschichte» (1992). Doch fällt niemandem im Wes- dem Festland nicht und sollte es auch nicht geben. Die Mitte, die ten, aber auch anderswo in der Welt, eine bessere Form für den beim britischen parlamentarischen Gegenüber im gemeinsamen Umgang mit den Problemen der Moderne ein als eine durch Re- Ganzen kein Problem war, wurde auf dem Kontinent oft als Hin- publiken regulierte kapitalistische Marktwirtschaft. Im Zentrum dernis in den Entscheidungsschlachten zwischen Revolution und steht die Frage, wie ein gesellschaftlicher Zusammenhalt zu errei- «Die Mitte wurde auf dem europäischen Kontinent oft nur als Hindernis in den Entscheidungsschlachten zwischen Revolution und Konterrevolution, zwischen Rechts und Links verstanden.»
8 Begriffsgeschichte chen ist, ohne den die Durchsetzung der wichtigsten, vor allem auch ökologischen Veränderungen unmöglich ist. Und wie diese Kleines Glossar aus der linken Begriffswelt. Zeichnungen: Gerhard Seyfried Veränderungen stabilisiert werden können. Links und rechts sind zu Schattierungen in dieser durchaus ge- meinsamen Bemühung geworden. Rechts nennt sich heute fast niemand mehr freiwillig. Als «eher links» bezeichnen sich dage- gen viele. Aus diesem Gefühl ihren Vorteil zu ziehen, ist die usur- patorische, aber auch realitätsblinde Bemühung einer Partei, die sich ohne Wenn und Aber «Die Linke» nennt. So hofft sie, maxi- male programmatische Verschwommenheit mit der Vortäuschung strikter Prinzipientreue vereinbaren zu können. Die Dankbarkeit, die Scheidemann den Kommunisten auf dem SPD-Parteitag von 1919 zollte, will sich «Die Linke» auf keinen Fall verdienen. Scheidemann sagte damals: «Nicht zufällig nennen wir uns von alters her Sozialdemokraten. Wir haben uns niemals die Verwirklichung des Sozialismus anders vorstellen können als auf dem Wege der Demokratie.» Er fuhr dann fort: «Ich bin der äu- ßersten Linken dafür dankbar, dass sie auf diesen Namen verzich- tet, dass sie sich Kommunisten nennen.» Das Festhalten der Sozi- aldemokraten am Ziel des «demokratischen Sozialismus» ist dabei heute so hilflos traditionstreu, wie umgekehrt der Verzicht auf das kommunistische Vorzeichen zeigt, wie zeitgemäß opportunistisch sich die «Die Linke» in der deutschen Parteienlandschaft zu bewe- gen versteht. Mit ihrem Namen täuscht sie eine scharfe Scheideli- nie vor, die zu benennen sie gleichzeitig vermeidet. Ein grundsätzlicher Formwandel in Politik und Gesellschaft ist heute weder absehbar noch überzeugend zu begründen. Außer Re|vo|lu|tion, die; große Sache, was schon daran zu erken- den Neonazis, der verbliebenen «Systemopposition», scheint ihn nen ist, dass der Begriff auch in der Astronomie Anwendung fin- auch niemand zu verkünden und anzustreben. Aber innerhalb det, etwa für die Bewegung der Sonne um die Erde; die Vorsilbe dieser Formen, Republik und Marktwirtschaft, sind ziemlich «re» des lat. Ursprungsworts (revolutio = zurückdrehen, umdre- gigantische Veränderungen erforderlich. Wie heute fast alle wis- hen) deutet an, dass es sich anfangs um eine restaurative Angele- sen, betreffen sie neben der Bildungspolitik und dem Kampf ge- genheit gehandelt hat; siehe: Glorious R. in England 1688/89, gen Verarmung und Ausschluss, eine ganze Reihe von Problemen, mit der die endgültige Niederlage des Absolutismus markiert die sich unter dem Rubrum ökologische Frage zusammenfassen wird nach zeitweisem Intermezzo des Königshauses in der Folge lassen. des Bürgerkriegs; R. ist als Begriff seitdem salonfähig für welt- Westerwelle wendet sich mit den Steuervorschlägen der FDP weite Umsturzbewegungen (Französische R., Märzr. u.a.), die polemisch gegen die «roten und schwarzen Sozialdemokraten» in neue politische Verhältnisse mit sich bringen; marxistisch-leni- der Großen Koalition und zeigt in aller Grobschlächtigkeit eine nistisch aufgefasst führt die R. zwangsläufig zu Höherem, was gewisse Sensibilität dafür, dass das tatsächliche Engagement für durch die Praxis allerdings widerlegt wurde (Oktoberrevolution, die Lösung bestimmter Probleme heute nicht mehr in dieser oder Zusammenbruch der Sowjetunion); China lehrt, dass die R. nicht jener Partei ihren Ort hat, wie ja auch das zivilgesellschaftliche immer von den benachteiligten Schichten ausgehen muss (Kul- Engagement Parteigrenzen überschreitet. turrevolution); Zweifel an der Tiefgründigkeit des Begriffs nährt In modernen Gesellschaften gibt es heute große Spannungen die Inflation seiner Verwendung in zahllosen Disziplinen (Sozio- durch die Kumulation von alten und neuen Problemen und zu- logie, Technik, Sexualität usw.); daher macht es die Geisteswis- Foto: B.Borstelmann / argum gleich gibt es die Chance, ihre Lösung nicht in der Spaltung der senschaft seit einiger Zeit ein paar Nummern kleiner, indem sie Gesellschaft suchen zu müssen, sondern in ihrem bewussten Zu- ihre wechselnden Moden turn oder schlichter Paradigmenwech- sammenschluss zu finden. Pluralismus ist die Chance, Polarisie- sel nennt; zuletzt eher folkloristisch-poetische Verwendung bei rung die Gefahr.| jedem Machtwechsel in demokratisch weniger avancierten Län- dern (Nelkenr., Rosenr., Orangene R.). Matthias Dell Vita Joscha Schmierer, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.
9 Was den linken Diskurs mit der Ozonschicht verbindet. 45 Jahre lang die Frage: «What’s left?» Eine Relektüre. Von Ulrike Baureithel Im Sommer 1991 – die Linke zerfetzte sich sche Denkübung, ordne sich «rechts» und tertitel «an alle» wandte. Eingeladen hatte gerade im Für und Wider um den zweiten «links» um ein «leeres Zentrum», und jede der Publizist Horst Krüger, und im Vorwort Golfkrieg – fand sich in Kassel eine kleine Seite stifte, gleichgültig wie und wohin sie gab er seinen Diskutanten mit auf den Weg, illustre Runde aus Wissenschaft und Publi- sich bewegt, jeweils die Identität der ande- «links» könne immer «nur in Bezug zu et- zistik zusammen, um Wege aus dem de- ren, ohne aus der Kollaboration mit dem was anderem stehen: zu einer Mitte und saströsen Freund-Feind-Denken zu su- «System» ausbrechen zu können. zu rechts.» «Links» sei also nichts «Primä- chen. Seitdem der Linken ihr Links-Sein res», sondern etwas «Reaktives». Implizit problematisch geworden und ihre Identi- Was als politisches Entlastungsversprechen den Soziologen Karl Mannheim im Gepäck, tät in die Konkursmasse des dahingeschie- daherkam und im Clinch zwischen «Pazifis- nannte Krüger das relationale Modell zeit- denen Realsozialismus eingegangen war, ten» und «Bellizisten» keine nennenswer- bedingt noch «dialektisch», und er ver- mehrten sich Ansätze, über die Funktion ten praktischen Spuren hinterlassen hat, band seine Frage mit der Aufforderung an des Rechts-links-Gegensatzes im politi- überrascht, wiederentdeckt in einem Band, die «heimatlose Intelligenz», sich neu zu schen Raum nachzudenken. In einem der sich fast zwanzig Jahre zuvor mit der verorten. Damit war der Auftakt gemacht amorphen Kontinuum, so die akademi- Frage «Was ist heute links?» (1963) im Un- für eine bis heute andauernde linke Selbst- «Was links ist, lässt sich nicht ein für alle Male festlegen» (André Gorz).
10 Begriffsgeschichte «Nach über einem Jahrzehnt politischer Irrtümer und persönlicher setzt, öffnete sich die Linke nun lebens- weltlicheren Problemen. In acht politisch Selbstverleugnung theoriemüde, älter geworden und durchaus konträr positionierten «Locke- neuen Verhältnissen ausgesetzt, öffnete sich die Linke nun lebens rungsübungen» nähern sich die Autoren – und, nun satisfaktionsfähig!, auch zwei weltlicheren Problemen.» Autorinnen – den neu auf die Agenda ge- rückten Themen: Technologiekritik, ökolo- gisches Wirtschaften, geschlechtsspezifi- reflexion und der damit verbundenen Jahr zuvor so gründlich entmystifiziert sche Arbeitsteilung. «Hoffnung», wie der Schriftsteller Hans- hatte. «Die heimatlose Mitte wärmt ihren Werner Richter damals formulierte, «dass verhängnisvollen Traum von den goldenen Jochen Reiches Kritik an den «natürlichen der Begriff ‹links› jene Klärung erfährt, die Zwanziger Jahren auf … sie ist nur noch Kreisläufen» und am Terror einer zur «Poli- für unsere Zeit notwendig ist, eine Klärung weinerlich», spottete Heinrich Böll. tik» erklärten einsinnigen «Natur» liest sich nach vorn». immer noch luzide und kündigt die «ökoli- «Was heißt heute links?» und «Ist die Linke Es sind die Engagierten und politisch Ge- bertäre» Wende der Grünen an. «Die Natur heute noch links?», fährt Richter fort, um beutelten – Walter Dirks und Hans-Werner des Menschen ist die Kultur», erklärt er sofort festzustellen, wie «verschwommen» Richter, Gerhard Zwerenz mit seiner DDR- und fordert die grünen Abgeordneten auf: die Begriffe nach dem Godesberger Pro- Erfahrung und der NS-Verfolgte Wolfgang «Sie müssen den Baum ins Parlament brin- gramm der SPD geworden seien. 1963 – Abendroth –, die den «Anschluss an die gen, nicht weil das aus den Kreisläufen der mitten im Kalten Krieg und in Ludwig Er- Massen» (Dirks) forderten oder das «kultu- Natur abgeleitet werden sollte …, sondern hards Wirtschaftswunderland – war der relle Partisanentum» (Zwerenz) propagier- weil es um die Zukunft der menschlichen Begriff «Klasse» so anstößig wie der Ge- ten. Eine regelrechte «Generallinie» entwarf Gesellschaft geht.» In Lothar Baiers Pole- danke an eine reale deutsche Wiederverei- Abendroth in seinem noch heute lesens- mik gegen eine ehemals kulturfeindliche nigung. Dagegen hatte die von Helmut werten historischen Abriss, wenn er der Linke, die sich nun in eine biedere Stadt- Schelsky in Umlauf gebrachte «nivellierte bundesrepublikanischen Linken die Ver- teil-Kulturseligkeit rette und sich kritiklos Mittelstandsgesellschaft», in der alle sozia- antwortung für die DDR auferlegt und ihr dem «Kulturbetrieb» verschreibe, begegnet len Gegensätze befriedet seien, Konjunk- eine linke «Gesamtkonzeption» abverlangt. einem der 2004 verstorbene Essayist in sei- tur. «Irrig», nannte der «konservative Lin- ner scharfzüngigsten Lesart. Dass es 1984 ke» Walter Dirks diese Vorstellung; der Bekanntlich hatten der SDS – und später sei- immerhin auch feministische Fragestel- Klassencharakter der BRD sei nur «ver- ne verschiedenen organisatorischen Aus- lungen in die linken Denkkartelle schaff- schleiert», sekundierte der Philosoph Hans läufer – die «nationale Frage» auf jeweils ten, war ein Fortschritt, doch, ach, es bleibt Heinz Holz. eigene Weise lösen wollen. In den Bruder- bei dem, was Frauen so umtreibt: Famili- kämpfen des «roten Jahrzehnts» zwischen enpolitik und Vereinbarkeitsproblem, auch Die «heimatlose Linke» stand sichtlich mit 1967 und 1977 war dann aber keine Zeit für wenn Barbara Sichtermann das feministi- dem Rücken zur Wand, die verlorenen Uto- und kein Bedürfnis nach Selbstreflexion, sche Paradox von Gleichheit und Differenz pien wehmütig im Blick: «Der Versuch ih- zu dringend war, das wiederentdeckte re- – Emanzipation vom Weiblich-Besonderen rer Wiedererweckung in einer so genann- volutionäre Subjekt von seiner histori- oder Emanzipation als Weiblich-Besonde- ten neuen Linken», dekretierte Ralf schen Mission zu überzeugen. Erst mit res – scharfsinnig umkreist. Dahrendorf aber unmissverständlich, sei dem endgültigen Abgesang der «neuen «ebenso krampfhaft wie hoffnungslos.» Linken», den Flügel-Kämpfen zwischen Interessant ist, dass gerade sie und auch Eingeschwenkt auf Marktwirtschaft und «Realos» (parlamentarischer Durchmarsch) Gisela Erler, die später das umstrittene NATO, hatte 1961 die SPD die Mitglied- und «Fundis» (Fundamentalopposition) in grüne «Müttermanifest» mit aus der Taufe schaft in der Partei und im SDS für «unver- der neu gegründeten grünen Sammlungs- hob, für die politischen «Umwertungen» einbar» erklärt. Doch von den jungen radi- partei und der konservativen Wende der der damaligen Linken stehen. Es ginge da- kaleren Linken – einer Ulrike Meinhof Kohl-Republik erhob sich die Notwendig- rum, schreibt Sichtermann, dass die «un- Foto: Connie Uschtrin etwa, 1963 immerhin schon Chefredakteu- keit «Die Linke neu (zu) denken» (Wagen- bezahlte Arbeit (der Mütter/UB) ihre Res- rin von «konkret» – und von Frauen über- bach, 1984). Nach über einem Jahrzehnt pektierlichkeit zurückgewinnt». Statt haupt ist in diesem Brainstorming nichts politischer Irrtümer und persönlicher schwedischem Sozialstaat, der die Frauen zu lesen. Dagegen Erinnerungen an die Selbstverleugnung theoriemüde, älter ge- dort «heimatlos» mache, weil er ihnen den zwanziger Jahre, die Helmuth Plessner ein worden und neuen Verhältnissen ausge- weiblichen Ort verwehre, versuchen die Vita Ulrike Baureithel ist seit 1990 Redakteurin der Wochenzeitung Freitag, Lehrbeauftragte an der Berliner Humboldt-Universität und freie Autorin.
11 Pro|le|ta|riat, das; unterste Schublade in der gesellschaftlichen Kommode; niedriger geht’s dennoch immer, im alten Rom etwa dank der Unfreien (Sklaven); anders als diese verfügte das landlose P. über seine Nachkommen (lat. proles); nach K. Marx die Gruppe der Lohnarbeiter, zu Zeiten der Industrialisierung häufig mit Migrationshintergrund (Verstäd- terung); das P. schafft Mehrwert qua Arbeitskraft mit Produktionsmitteln, die nicht seine sind, wird dafür mies bezahlt; Distinktion auch hier am Start: das sog. Lumpenproletariat (Bettler, Kesselflicker, Sexarbeiterinnen), das nur recycelt, dient der Abgrenzung nach un- ten; prominentester Gegenspieler: die Bourgeoisie, die Produktionsmittel besitzt; wirksams- tes Instrument im Kampf gegen ebendiese: Klassenbewusstsein, das über die Vereinigung der Entfremdeten zur Diktatur des Proletariats führt; eingelöst zumindest auf dem Papier etwa in Gestalt E. Honeckers, der als Dachdecker aus Neunkirchen (Saar) Gen.sekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitz. der späten DDR wird, im Ganzen eher traurige Vorstellung; vermutlich nicht unschuldig daran, dass P. im Folgenden seiner emanzipatorischen Kraft beraubt zur soziologischen Konstante (Prolet, Proll) billigen Überlegenheitsdünkels sich all- tagskulturell (Bierkonsum, Fernsehverhalten, Arschgeweih) höher gestellt wähnender Schnösel verkommt; zuletzt vorsichtige politische Renaissance in der begrifflichen Ausgrün- dung Prekariat. Matthias Dell Autorinnen, der neuen konservativen So- 1993er Bilanz «What's left», sei als «histori- Dass mit der Entladung der Rechts-links- zialpolitik – Heiner Geißler plante damals sche Niederlage der Linken» zu begreifen. Spannung sich auch neue nationale und gerade die erste Stufe des Erziehungsgel- Dies muss die FAZ derart in Schrecken ver- religiöse Konflikte ankündigen könnten, des – auch positive Seiten abzugewinnen. setzt haben, dass sie diese «Prognosen zur schwante wohl manchem der Autoren. Am Ähnlich argumentiert Thomas Schmid ge- Linken» selbst in Auftrag gab. Ende der Aufklärung könnte möglicher- gen die 35-Stunden-Woche-Kampagne der weise eine bedrohliche Leerstelle entste- Gewerkschaften und verweist auf das le- Wo Gattungsfragen nach Lösung schreien hen, die neu mit Sinn gefüllt werden muss. bensweltliche Bedürfnis nach flexibleren und Menschheitsprobleme unter den Nä- «Die Demokratie brauche eben ihr Gegen- Arbeitszeitmodellen. Wo sich diese von geln brennen, scheint der alte Streit zwi- über, um sich zu definieren», schreibt Cora den «sozialdemokratischen Rockschößen» schen «rechts» und «links» beigelegt, Stephan. Und Antje Vollmer schließt ihren und der «heiligen Einfalt der Grünen» (Co- grundlegende Revisionen kündigen sich an. Beitrag mit der Beobachtung: «Ich habe vertext des Wagenbach-Buchs) abgestoße- «Was links ist, lässt sich nicht ein für alle den Eindruck, das nachdrückliche konser- nen Linken nun selbst verorten, wird in- Male festlegen», konzedierte denn auch vative Fragen ‹Was bleibt denn von den dessen so wenig klar wie in der gebundenen André Gorz. Nun steht das fortschrittsgläu- Linken›, hat damit zu tun, dass sie (die Ratlosigkeit bei Horst Krüger: Nur dass bige Verhältnis der Technik zur Disposition Konservativen/UB) mit dieser kulturellen «freischwebend» nun weniger soziologisch (Konrad Adam), und es werden Versäum- Leerstelle nicht gern allein gelassen wer- als habituell gemeint sein dürfte. nisse anerkannt, etwa die linke Ignoranz den möchten.» | gegenüber den osteuropäischen Dissiden- Im wahrsten Sinne des Wortes «heimatlos» ten (Henning Ritter und André Gorz). wurde die intellektuelle Linke erst mit dem Drohten 1984 «Entropie» und Wärmetod, Fall der Mauer und der sich ankündigenden zieht zehn Jahre später die soziale Verglet- Globalisierung. Die damit ausgelöste Läh- scherung ein in den Diskurs, gegen die mung war so groß, dass die linke Selbstre- kommunitaristische Wärmehallen instal- flexion dieses Mal sogar vom «feindlichen liert werden sollen (Michael Walzer). Das Lager» angestoßen werden musste und «Gesamtkonzept», von dem Abendroth dieses sich auch selbst daran beteiligte. noch träumte, hat sich – zusammen mit Die Koinzidenz des Zusammenbruchs von der Ozonschicht – fast ohne Rückstände realem Sozialismus und Krise des Sozial- aufgelöst. Dies nun als Chance zu begreifen staats, so der italienische Politikwissen- und ein «gewisses Maß an Entfremdung» schaftler Norbert Bobbio einleitend in der zu ertragen, mahnte Elmar Altvater an.
12 Lebenswelten Der Container mit der Aufschrift «links»: Gebetsraum für unsortierte Glaubensbekenntnisse. Von Christian Schneider Nahezu zwei Drittel der Deutschen, so kann man aus Umfragen erfah- Irgendwann in den 70ern standen viele «68er» mit einem Haufen ren, würden Barack Obama wählen. Klar, dass unter den Qualitäten, halb verlorener, halbherzig verteidigter Illusionen inmitten uner- die ihn papabile machen, sein jugendliches Charisma an erster warteter Realitäten da. Mit einer abgeschlossenen Lehrerausbil- Stelle steht. Überraschend indes, dass viele unserer heimischen dung z.B., aber zugleich einem Berufsverbot oder wenigstens Barack-Fans als Grund ihrer Sympathie seine «Orientierung an einem gewissen Ekel vor dem Schulalltag. Über wirkliches politi- linken Positionen» nennen. Ist der künftige amerikanische Präsi- sches Talent, gar den politischen Zwangscharakter, der ohne das dent etwa links? Die Frage muss, wenn man sie aus der deutschen Gefühl der Macht nicht leben kann, verfügten die wenigsten. Je Perspektive stellt, in erster Linie aus den Projektionen und Ideali- dröger, drückender und kälter der Alltag wurde, desto mehr wärm- sierungen derer beantwortet werden, die in ihm das rolemodel ten die alten Identifikationen mit den unterdrückten Minderhei- eines neuen linken Heros sehen. ten, den Entrechteten und Beleidigten, die einem «zur Aktions- «Links» ist, was immer sich dahinter inhaltlich verbirgt, zu- zeit» halfen, sich als Teil der großen anti-imperialistischen Front nächst ein polarisierender Topos. Wer sich als links erklärt, steckt zu fühlen. einen Claim ab, dessen Grenzen scharfäugig bewacht werden. So In diesen Post-68er-Jahren koexistierten in vielen Köpfen die gesehen ist der «Synkretist» Obama alles andere als ein Linker: Er unwahrscheinlichsten Phantasien friedlich neben den ödesten denkt nicht nur zusammen, was er für zusammengehörig hält, er Alltagsrealitäten. Der Container, in dem all diese Lebenssplitter, möchte erklärtermaßen Konfrontationen aufbrechen und Gegen- die Illusionen und Wünsche des vergangenen Aufbruchs unge- sätze unter einen Hut bringen. ordnet beieinander lagen, trug die Aufschrift LINKS. Diese Melan- Der Grund dieses überwältigenden synagogischen Wunsches ge war, eben weil so unspezifisch, in vielfältiger Weise anschluss- liegt, so die Botschaft der beiden Bücher, die er geschrieben hat, fähig. Unter der Parole vom Privaten als des (eigentlich) in seiner Biografie. Wir alle kennen mittlerweile die Story vom Politischen konnten sich Friedensbewegte ebenso sammeln wie schwarzen, ihm beinahe unbekannten kenianischen Vater und Frauengruppen, die Schwulen- und Lesbenbewegung oder dieje- der weißen amerikanischen Mutter, der Geburt in Hawaii, dem nigen, die sich einer besseren Kindererziehung verschrieben hat- Leben in Indonesien und Baracks spätem umwegigen Ankom- ten. Der Container LINKS war eigentlich so etwas wie ein Gebets- men in den Vereinigten Staaten – eine Patchwork-Lebensge- raum für ein seltsam unsortiertes Glaubensbekenntnis: das schichte, in der vom ersten Moment an das Private vom Politi- Bekenntnis gegen eine «Mehrheit», die kaum mehr exakt politisch schen dramatisch umschlossen zu sein scheint. zu bestimmen war, aber wenigstens einen verlässlichen Grenz- «Das Private ist das Politische» lautete eine Spätparole von 68: wert zum eigenen Existenzentwurf markierte. Wer sich damals eine Losung, die das Ende der politischen Orientierung an revolu- diesem Bekenntnis anschloss, schwamm, ohne sich darüber im tionstrunkenen linken Zirkeln und Parteien einläutete und den Klaren zu sein, indes längst in einem neuen Mainstream. Beginn eines New Age ankündigte. Zur selben Zeit, als die Radi- Als sich gegen Ende der siebziger Jahre weltweit religiös moti- kalsten der von der versandenden Revolte Enttäuschten sich dem vierte Protestbewegungen zu Wort meldeten, war die Mehrzahl Konzept Stadtguerilla verschrieben, begann in der lebensweltli- der Zeitdiagnostiker sprachlos. Religiöse Artikulationsformen von chen Fraktion die Stadtflucht: Nicht mehr die – ausbildungsge- Dissidenz fielen aus ihrem Analyseraster, das «Religion» als puren mäße – urbane, d. h. Uni-nahe Wohngemeinschaft war angesagt, Gegensatz zu jener Vorstellung «des Politischen» sah, die sich im sondern Landkommune. Neue libertäre, ja romantisch getönte Westen nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hatte. Spätestens Orientierungen bildeten sich, die nicht zuletzt die Niederlage im in den sechziger Jahren schien die Religion vollends zu einer rei- «eigentlichen» Feld des Politischen zu verarbeiten suchten. An- nen Privatangelegenheit geworden zu sein. Doch genau da, wo Foto: privat stelle der erwarteten Revolution hatte es halt nur eine Hochschul- das Private das Politische zu werden begann, fand beides, das in- reform gegeben. explizierte Glaubensbekenntnis und das Politische, zu neuen For- Vita & Publikationen Christian Schneider ist Soziologe und Forschungsanalytiker und lehrt psychoanalytische Sozialpsychologie an der Universität Kassel. Jüngste Veröffentlichung: Zusammen mit M. Frölich und K. Visarius, «Projektionen des Fundamentalismus. Reflexionen und Gegenbilder im Film», Marburg 2008.
13 Bour|geoi|sie, die; (frz. Bourgeoisie, zu bourgeois (bildungs- spr. abwertend) = Bürger, zu: bourg = Marktflecken, aus dem Germ., verw. mit Burg); never forget where you're coming from, lei- der zu häufig passiert; im revolutionären Frankreich am Ende des 18. Jh.s kurze Zeit Hoffnungsträger der bürgerlichen Umgestaltung, weil Bezeichnung für das Milieu zwischen Adel und Bauernschaft, das eine führende Rolle bei der gewaltsamen Beendigung des Abso- lutismus spielte; dann aber nicht minder gewaltsam die neu gewon- nene Macht verteidigte (Jakobinischer Terror); ob seiner Rolle zwi- schen oben und unten auf der gesellschaftl. Skala (Sandwichstellung) später auch als Juste Milieu bezeichnet (Julirevolution) und in der Folge diffamiert als halbgare Schicht von Besitzstandswahrern; da- ran hat sich bis heute nichts geändert; K. Marx diagnostizierte un- überwindbare Gegensätze zwischen der Klasse der Ausbeuter (B.) und der Klasse der Ausgebeuteten (siehe auch: Proletariat) und empfahl den Klassenkampf; kam mehrfach zum Ausbruch (Oktober- revolution, DDR), hat aber letztlich wenig an den Verhältnissen ge- ändert (Kapitalismus); das Versagen des Bürgertums (deutscher Begriff) kennt viele Beispiele (Drittes Reich); die B. ist trotzdem (oder gerade deshalb) gesellschaftlicher Leistungsträger geblieben (Mittelstand), der unverdrossen seine Abstiegsangst (H. Müller: «Für alle reicht’s nicht») mit Konservatismus behandelt; immerhin: Der Begriff ist selbst in der neobürgerlichen Gegenwart desavouiert; Ci- toyen kommt cooler. Matthias Dell men – und einem unerwarteten Mischungsverhältnis. Nicht reli- verstockten «rechten» religiösen Fundamentalismus repräsen- giös in irgendeinem organisierten, gar kirchlichen Sinne, aber in tiert, macht uns Obama öffentlich zu Zeugen des äquilibristi- Form eines bemerkenswerten Osmoseprozesses, mauserte sich schen Akts, eine ebenso stark christlich fundierte Überzeugung der linke Glaube klassischer Prägung zu einer neuen Weltan- unter Einbeziehung linker utopischer Elemente sozialpolitisch zu schauung sui generis. Seither jedenfalls ist es mit dem «wissen- reformulieren. schaftlichen» Sozialismus, auf den die alte Arbeiterbewegung so Obama verkörpert – auch hier ein Musterbeispiel einer Patchwork- stolz war, endgültig vorbei. Identity – das Paradox eines liberalen Fundamentalisten: Er ver- In dem Jahrzehnt zwischen dem Fall des Schahs und dem der bindet bei seinen Auftritten das Erweckungspathos eines Ghetto Berliner Mauer hat sich das Konzept «Links» wieder in Richtung preachers gekonnt mit der liberalen Gestik, dem modischen Outfit auf eine heilsgeschichtliche Botschaft verändert, die nach dem und der sprachlichen Suavität eines Oberklassen-Ostküsten- Ende des «realen Sozialismus» desto heftiger zum Tragen kommt. Rechtsanwalts. Wenn wir nur fest genug daran glauben, ist alles – Und heute erstaunlicherweise von Leuten wie Barack Obama ver- mein 2000-Dollar Anzug beweist es – möglich: Yes, we can! Dies ist körpert wird. Er führt in der für unseren Geschmack manchmal in der Tat genuin «links», denn ein utopischer Entwurf, der mit leicht bizarren US-Kulisse öffentlich auf, was hierzulande noch der Idee der sozialen Gerechtigkeit und des Aufstiegs verknüpft keine klare Artikulation gefunden hat. ist, gehört zu den unverzichtbaren «Quellen und Bestandteilen» Obama ist dezidiert links, wenn man darunter die Vermählung linker Weltanschauung. Obama präsentiert das, was sich alle er- von basalen sozialen Überzeugungen mit einer kollektiven Stim- sehnen, die versuchen, eine «idealistische» linke Jugend mit einer mung versteht, die Aufbruch und Bewegung verheißt. Er hat eini- weitgehend desillusionierten Gegenwart unter einen Hut zu brin- ge voluntaristische Glaubensderivate der Linken aus der Versen- gen. Seine Idealisierung hierzulande kündet von dem starken kung geholt und auf erstaunliche Weise flott gemacht. Mag er Wunsch nach Bewegung, nach Aufbruch – und dem unstillbaren programmatisch der Gegentypus zu Bush sein, so ist er ihm min- Hunger nach einer Glaubwürdigkeit, hinter dem sich die Sehn- destens in einer Hinsicht ähnlich: der grundlegenden Orientie- sucht nach einem (möglicherweise nicht nur) politischen Glau- rung im Glauben. Wo Bush als bekennender Evangelikaler den ben verbirgt. | «Obama präsentiert das, was sich alle ersehnen, die versuchen, eine idealistische linke Jugend mit einer weitgehend desillusionierten Gegenwart unter einen Hut zu bringen.»
14 Lebenswelten Freiheit, Frauenemanzipation Gleichheit, gehört in keine Schub- lade. Von Waltraud Schwab Schönheit «Brüderlichkeit» braucht niemand mehr. ren mal von der bürgerlich ausgerichteten, von Arbeiter- und Arbeiterinnenorganisa- Stattdessen kann «Schönheit» die dritte konservativen Frauenbewegung am Ende tionen wurde die Situation von Frauen in Säule der französischen Revolutionsbot- des 19. Jahrhunderts gefordert. Dann wie- organisierten Zusammenhängen zum schaft ersetzen. So steht es auf einem Wer- der von der sich als fortschrittlich und links Thema. Wer immer eine Verbesserung der beplakat des Kosmetikkonzerns Yves Ro- verstehenden zweiten Welle der Frauenbe- Lebens- und Arbeitsumstände der Arbei- cher mit dem Slogan «Freiheit, Gleichheit, wegung in den siebziger und achtziger Jah- terinnen forderte, sei es Bildung, sei es Schönheit – für alle», der auch am 75. Jah- ren des letzten Jahrhunderts. Mutterschutz, sei es Strafe bei Gewalt ge- restag der Bücherverbrennung im Mai Die Französische Revolution war der politische gen Frauen, stellte die gesellschaftlich 2008 großflächig an der Fassade der Juristi- Aufbruch in die Neuzeit. Die Menschenrech- akzeptierte Ungleichheit der Frauen in schen Fakultät der Humboldt-Universität te, die damals proklamiert wurden, ziehen Frage. am Bebelplatz in Berlin hing. sich als Idee durch staatliche Verfassungen Dabei gab es immer mehrere Fronten, Für Frauenbewegte steckt viel Stoff zum von demokratischen Staaten. Die Begriffe an denen die Situation der Frau zum The- Grübeln in dieser Begebenheit. Und dass «links» und «rechts» als politische Positio- ma gemacht wurde. An der Klassenfront Siemens neuerdings Frauenklassen für die nierungen gab es damals indes noch nicht. wurde der Schutz der Arbeiterinnen, aber Ausbildung von Mechatronikern einrich- Sie wurden erst vierzig Jahre später, nach auch die Gleichbehandlung von Männern tet, also solchen Menschen, die sich mit der Julirevolution 1830, in Frankreich etab- und Frauen gefordert. Sozialistinnen wie der Verknüpfung mechanischer und elekt- liert. Im neugegründeten Parlament saßen Clara Zetkin, Rosa Luxemburg, die klas- ronischer Komponenten befassen, liefert die konservativ orientierten Abgeordneten senbezogen argumentierten, deckten An- Material zum Nachdenken dazu. Denn was rechts und die im revolutionären Sinne als fang des 20. Jahrhunderts im politischen in 200 Jahren Frauenbewegung – von der liberal geltenden Abgeordneten links. Ver- Spektrum die linke Seite ab. Französischen Revolution bis heute – ge- mutlich allerdings wären die französischen In der bürgerlichen Frauenbewegung fordert und erreicht wurde, das spiegelt Revolutionäre Linke gewesen. Links hingegen, die es nahezu gleichzeitig gab, sich in beidem. schließt Terror nicht aus. wurde das Selbstbestimmungsrecht stär- Von politisch links indes ist weder beim Eine wichtige Streiterin für die Rechte ker in den Vordergrund gerückt. Denn ge- Werbekonzern noch bei Siemens die Rede. der Frau während der Französischen Revo- sellschaftliche Konventionen hielten die Der Ausbildungsleiter von Siemens in Ber- lution war die Schriftstellerin Olympe de bürgerlichen Frauen in ihrer Rolle als Ehe- lin hat eben festgestellt, dass die Forderung Gouges. Sie proklamierte 1791 «die Rechte frau und Mutter gefangen. Bildung galt für «Frauen in Männerberufe» zwar richtig ist, der Frau und Bürgerin». Sie wollte die sie als unnötig. Erst ab Ende des 19. Jahr- allein es funktioniert für die weiblichen Gleichheit, die für die Männer aller Stände hunderts wurde es Frauen allmählich er- Auszubildenden nicht. «Deshalb geht der gefordert war, auch für die Frauen. Un- laubt zu studieren. Für ihr Wahlrecht Konzern neue Wege und richtet Frauen- denkbar für ihre Kampfgefährten. Sie wur- mussten sie weiter kämpfen. ausbildungsgänge ein», sagt er. de als Gegenrevolutionärin 1793 verurteilt Für alle aber, die sich in der Vergangen- Dass diese Wege nicht neu sind, wird und starb unter der Guillotine. heit für die Verbesserung der Situation der Foto: privat niemanden stören. Vielmehr wurden Frau- Erst mit der Industrialisierung, der Entste- Frauen stark machten, gilt: Sie setzten enbildungsklassen in den letzten 200 Jah- hung des Proletariats und der Etablierung Denk- und Handlungsanstöße in Gang, die Vita & Publikationen Waltraud Schwab ist Berlin-Repor- terin der taz. 2005 erhielt sie den Theodor-Wolff-Preis. Jüngste Publikation: «Berlin ist eine Frau», Jaron-Verlag, Berlin 2005
Sie können auch lesen