Jahr Heft 1/2 Jan./Febr. 2017 - Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung - GEW Hessen
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zum Inhaltsverzeichnis Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 70. Jahr Heft 1/2 Jan./Febr. 2017 zum Inhaltsverzeichnis © Klaus Staeck
T a rif un d B es o l d un g HLZ 1–2/2017 2 Zeitschrift der GEW Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung ISSN 0935-0489 I M P R E S S U M Herausgeber: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Landesverband Hessen Zimmerweg 12 60325 Frankfurt/Main Telefon (0 69) 971 2930 Fax (0 69) 97 12 93 93 E-Mail: info@gew-hessen.de Homepage: www.gew-hessen.de Verantwortlicher Redakteur: Tarifrunde 2017 beginnt Sechs Prozent mehr! Harald Freiling Klingenberger Str. 13 60599 Frankfurt am Main Telefon (0 69) 636269 Unmittelbar nach den Weihnachtsferi- Der vorläufig letzte Verhandlungs- Fax (069) 6313775 en beginnt die heiße Phase der Tarif- termin mit der Tarifgemeinschaft E-Mail: freiling.hlz@t-online.de verhandlungen für die Beschäftigten deutscher Länder (TDL) – das sind Mitarbeit: Christoph Baumann (Bildung), Tobias Cepok (Hoch- der Bundesländer. Die Gewerkschaften alle Bundesländer außer Hessen – ist schule), Dr. Franziska Conrad (Aus- und Fortbildung), des öffentlichen Dienstes fordern 6 Pro- für den 16. und 17. Februar vorgese- Holger Giebel, Angela Scheffels (Mitbestimmung), zent mehr bei einer einjährigen Lauf- hen. Erfahrungsgemäß kann es da- Michael Köditz (Sozialpädagogik), Annette Loycke (Recht), Heike Lühmann (Aus- und Fortbildung), Ka- zeit sowie die Einführung einer 6. Er- her Anfang Februar auch in Hessen rola Stötzel (Weiterbildung), Gerd Turk (Tarifpolitik fahrungsstufe für die Entgeltgruppen zu Aktionen und Arbeitskampfmaß- und Gewerkschaften) 9 bis 15. Davon würden die Mitglie- nahmen kommen. Gestaltung: Harald Knöfel, Michael Heckert † der der GEW besonders profitieren, da Am 2. und 3. März könnte in Diet- Titelthema: Harald Freiling diese weit überwiegend in diesen Ent- zenbach eine Einigung in der hessi- Illustrationen: Klaus Staeck (Titel, S. 7), Thomas geltgruppen eingruppiert sind. Wei- schen Tarifauseinandersetzung erzielt Plaßmann (S. 31, 33), Ruth Ullenboom (S. 4) tere Forderungen betreffen die unso- werden. An der TU Darmstadt und der Fotos, soweit nicht angegeben: zialen Fristverträge an Schulen und Goethe-Universität Frankfurt wird dann DGB (S. 27), GEW (S. 2, 3, 5, 37) Hochschulen, die Übertragung des Ta- anschließend gesondert verhandelt. Verlag: rifergebnisses auf die Beamtinnen und Die GEW Hessen wird auch in die- Mensch und Leben Verlagsgesellschaft mbH Beamten und Pensionärinnen und Pen- ser Tarifrunde die Beamtinnen und Niederstedter Weg 5 61348 Bad Homburg sionäre sowie die Absenkung der Be- Beamten zu demonstrativen Aktio- Anzeigenverwaltung: amtenarbeitszeit auf die tariflich fixier- nen aufrufen, denn es geht auch um Mensch und Leben Verlagsgesellschaft mbH te 40-Stundenwoche. ihre Interessen. Peter Vollrath-Kühne Postfach 19 44 61289 Bad Homburg Telefon (06172) 95 83-0, Fax: (06172) 9583-21 Informieren Sie sich über die Forderungen der Gewerkschaften in E-Mail: mlverlag@wsth.de der Tarifrunde 2017, über alle wichtigen Tarifnachrichten, Termine Erfüllungsort und Gerichtsstand: und Aktionen Bad Homburg Bezugspreis: • in der aktuellen Ausgabe der e&w im Januar 2017, Jahresabonnement 12,90 Euro (9 Ausgaben, ein- • bei den schulischen Vertrauensleuten der GEW und schließlich Porto); Einzelheft 1,50 Euro. Die Kosten sind für die Mitglieder der GEW Hessen im Beitrag • auf der Homepage der GEW Hessen: www.gew-hessen.de enthalten. Zuschriften: Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder wird keine Haftung übernommen. Im Falle einer Ver- Aus dem Inhalt Rubriken Titelthema: Berufsverbote öffentlichung behält sich die Redaktion Kürzungen vor. Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen 4 Spot(t)light 6 Vor 45 Jahren: nicht mit der Meinung der GEW oder der Redaktion 5 Meldungen Der Radikalenerlass tritt in Kraft übereinstimmen. 32 Recht: Schulgesetz 8 Internationale Solidarität 34 Recht: Versetzung und Beurlaubung 10 Berufsverbote bei Post und Bahn 36 Jubilarinnen und Jubilare 12 Ausgeschlossen aus der GEW: Redaktionsschluss: 38 Bücher: Der Bildungs-Rat der GBW Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse Jeweils am 5. des Vormonats 39 Briefe 14 Radikalenerlass und Gewerkschafts- ausschlüsse spalteten die GEW Einzelbeiträge 16 Ein Offener Brief an die GEW Nachdruck: 23 Promotion an Fachhochschulen Fotomechanische Wiedergabe, sonstige Vervielfälti- 17 Der „Fall“ Dr. Thea Holleck gungen sowie Übersetzungen des Text- und Anzei- 24 GEW und GBW: Eine Kontroverse 18 Die Berufsverbote und ihre genteils, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher 26 70 Jahre Hessische Verfassung finanziellen Spätfolgen Genehmigung der Redaktion und des Verlages. 28 Edith Erbrich – eine Zeitzeugin Druck: 30 Migration und Identitätsbildung (2) Druckerei und Verlag Gutenberg Riemann GmbH S.19-22: lea-Fortbildungsprogramm Werner-Heisenberg-Str. 7, 34123 Kassel
3 HLZ 1–2/2017 zum Inhaltsverzeichnis KOMMENTAR Aktuell bis heute Am 28. Januar 2017 jährt sich der Radikalenerlass te ich auch einen Satz zu den Lehrerinnen und Leh- zum 45. Mal. Es scheint lange her, doch es ist noch rern sagen, denen im Kontext des Radikalenerlasses nicht vorbei. Wer die Medien aufmerksam verfolgt, unterstellt wurde, Kinder im Unterricht politisch zu den lässt der Hauch des Kalten Krieges bis heute beeinflussen: Zur Demokratie kann nur erfolgreich frösteln: Erst vor wenigen Jahren wurde in Heidel- erziehen, wer für Schülerinnen und Schüler selbst als berg ein Lehrer wegen seiner Mitgliedschaft in einer Demokratin und Demokrat, als politischer Mensch antifaschistischen Initiative mit einem Berufsverbot erkennbar wird. Lehrkräfte dürfen nicht indoktrinie- belegt. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses die- ren. Aber ein politisches Neutrum erzieht nicht zur ser Ausgabe durfte die Universität München einen Demokratie, sondern zur politischen Enthaltsamkeit! jungen Wissenschaftler nicht als Doktoranden ein- Die Geschichte der Berufsverbote ist bis heute stellen. Der Verfassungsschutz wurde eingeschaltet, nicht aufgearbeitet. Deshalb hat auch die GEW Hes- der Ausgang des Verfahrens ist offen. sen damit begonnen, sich kritisch mit den Berufsver- Berufsverbot: Das böse B-Wort führt zurück in boten und den Unvereinbarkeitsbeschlüssen in den die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts. 1972 verab- eigenen Reihen auseinanderzusetzen. In einem ak- schiedete die Ministerpräsidentenkonferenz den soge- tuellen Beschluss bittet die GEW Hessen die in den nannten Radikalenerlass. In der Folge wurden rund siebziger Jahren ausgeschlossenen Mitglieder um 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber für den Entschuldigung und erklärt die Ausschlüsse für nich- öffentlichen Dienst auf ihre Verfassungstreue durch- tig. Darüber hinaus hat sich in Hessen ein „Bündnis leuchtet, 11.000 Berufsverbotsverfahren gestartet Berufsverbote Hessen“ gegründet, in dem GEW, ver. und rund 1.500 Bewerberinnen und Bewerber abge- di, IG Metall, VVN/BdA und weitere Gruppen und lehnt oder aus dem Staatsdienst entlassen. Es traf vor Betroffene zusammenarbeiten. Zu den Zielen gehö- allem Lehrerinnen und Lehrer sowie Menschen in der ren vor allem die Rehabilitierung und Entschädigung Sozialarbeit, bei Post, Bahn oder in der Rechtspflege. der Betroffenen sowie die Herausgabe und Löschung Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie nicht die nö- der über sie beim Verfassungsschutz gespeicherten tige Gewähr dafür böten, jederzeit für die freiheitli- Daten. Wir engagieren uns für eine Auseinander- che demokratische Grundordnung einzutreten. Dabei setzung mit der schwerwiegenden Beschädigung der wurde ignoriert, dass sie ihren Amtseid nicht auf die demokratischen Kultur durch die Politik der Berufs- Marktwirtschaft, eine bestimmte Politik oder Regie- verbote. Wer will sich noch engagieren für Frieden rung ableisten, sondern auf die Verfassung. Und die- und gegen Krieg, gegen das neue Erstarken rechter, se lässt ein breites Spektrum verschiedener Meinun- menschenverachtender Ideologien oder gegen Atom- gen zu! Keinem der Betroffenen konnte vor Gericht kraftwerke, wenn politische Betätigung mit Berufs- jemals eine konkrete Verfehlung nachgewiesen wer- verboten belegt wird? Deshalb ist der Kampf gegen den. Trotzdem haben sich die Behörden bei keinem Berufsverbote ein Eintreten für demokratische Ver- von ihnen jemals entschuldigt und niemand ist offi- fahren und Inhalte insgesamt und ein Thema, des- ziell rehabilitiert worden. Und schlimmer noch: Der sen Diskussion eine breite Öffentlichkeit verdient. Radikalenerlass hat – weit über den Kreis der Betrof- fenen hinaus – Angst und Duckmäusertum geschürt. Politische Arbeit wurde kriminalisiert und die Aus- wirkungen sind bis heute spürbar! Viele der Betroffenen haben sich über Jahre hin- weg gegen das ihnen drohende oder gegen sie ver- hängte Berufsverbot gewehrt. Sie haben mit ihrem Einsatz für die Grundrechte, für Meinungs- und Or- Ulrike Noll Sprecherin des Bündnisses ganisationsfreiheit viel für die Demokratie getan. Ich gegen Berufsverbote in bin als jüngere Kollegin dankbar für ihren Mut und Hessen und Schatzmeisterin ihr Durchhaltevermögen! Als heutige Lehrerin möch- der GEW Hessen
SPOT(T)LIGHT zum Inhaltsverzeichnis HLZ 1–2/2017 4 Freiheit! die eine Lehrerin, die mit Lärmschutz Aufsicht führt. Unser Nachbar hat sich allerdings jetzt auch solche Kopfhörer gekauft. Er spielt professionell in einem Kammer- orchester und hat angeblich ein feines Mann, waren meine Eltern verklemmt „Tempora mutantur, nos et muta- Gehör. Er leidet unter den Trampolin- und spießig! Wir Kinder mussten mög- mur in illis.“ Die Zeiten ändern sich. springern auf allen Nachbargrundstü- lichst unauffällig sein. Bei Arztbesu- Und wir ändern uns mit ihnen. Zum cken. Er hat doch tatsächlich eine Pe- chen haben wir im Wartezimmer nur Glück ist Verklemmtes und Verkniffe- tition verfasst, nach der sonntags auf geflüstert. Zwischen 13 und 15 Uhr war nes heute weitgehend abgeschafft. Je- den Grundstücken kein Elektrogerät be- im Mietshaus Mittagsruhe. Rollerfahren der kann seine Individualität offen aus- nutzt werden darf. Aber wann sollen und Seilspringen durften wir nur auf leben. Bei mir hält die gestrenge Zucht denn bitte die Berufstätigen schred- dem Hof, nicht etwa im Korridor. Lau- der Eltern zwar bis heute an (ich hebe dern, Laub saugen und Fußböden ab- ten Streit konnten unsere Eltern nicht immer noch meinen Müll auf und spiele schleifen? Und launige Grillfeste fei- leiden. Also prügelten und kratzten zwischen 13 und 15 Uhr nicht Klavier), ern? Vermutlich will der Nachbar auch, wir uns ganz leise fauchend. Drangen aber ich freue mich von Herzen, wenn dass Kinder wie früher dressiert und do- Schmerzenslaute bis ins Wohnzimmer, andere in der Lage sind, ihren Bedürf- mestiziert werden. beendete unser Vater unfreundlich un- nissen freien Lauf zu lassen. Das fängt Der sensible Kammermusiker be- seren Kampf. Wenn mir auf der Straße bei den Nachbarn an, die sich über zwei klagt sich auch häufig über Konzert- Bonbonpapier runterfiel, musste ich es Grundstücke hinweg unterhalten oder besucher: Sie rascheln an leisen Stellen aufheben. Appelgriebsche wurden so ihre Telefonate so ungeniert führen, mit Bonbonpapier, tauschen in nor- lange in der Hand getragen, bis sich ir- dass mir dieser Vertrauensbeweis etwas maler Lautstärke Beurteilungen über gendwo ein Mülleimer fand. Oder der peinlich ist. Meiner Nachbarin nicht. den Dirigenten aus und dämpfen ihren Apfel wurde einfach ganz aufgeges- Sie hat keine Hemmungen, ihre Ehekri- Keuchhusten in keiner Weise. Manch- sen. Wenn ein Besucher uns 50 Pfen- sen, Erbschaftsfragen und Verdauungs- mal würde er am liebsten seinen Gei- nig schenkte, bedankten wir uns brav. probleme ganz offen am Handy zu dis- genbogen ins Publikum werfen und ge- Immerhin mussten wir keinen Knicks kutieren. Manchmal beneide ich sie um hen. und keinen Diener mehr machen. Auch ihren freien Geist! Genau wie ich die „Freiheit ist teurer als Gold!“, gebe nicht, wenn der Großonkel es forder- Grundschüler gegenüber beneide. Sie ich zu bedenken. – „Wer keine Grenzen te. Lehrer waren Respektspersonen. La- werden in großen Autos vorgefahren kennt, hat von Freiheit keine Ahnung“, tent destruktive Bemerkungen über das und müssen ihre schweren Rucksäcke knurrt er. Wenn die neuen Nachbarn Lehrpersonal habe ich von den Eltern nicht selber tragen. Beim Abholen las- ihre wöchentlichen Grillfeste veranstal- erst lange nach meinem Abitur gehört. sen fürsorgliche Eltern den Motor vier- ten, klopft der Künstler jetzt gern di- Wenn meine Mutter erkältet war, telstundenlang laufen, damit der Nach- rekt am Zaun Teppiche und hackt Holz. ging sie nicht zu Kulturveranstaltun- wuchs nicht friert. Oder er stellt seine Lautsprecherboxen gen oder nahm so starke Hustentropfen, Manchmal bleibe ich an der Müll- auf die Terrasse und beschallt die Nach- dass ihre Bronchien acht Stunden lang tonne stehen und lausche versonnen barn mit sibirischen Schamanengesän- lahmgelegt waren. Ihr Husten hätte Ka- dem schrillen, Verzeihung, fröhlichen gen. Gerne sonntags zwischen 13 und rajan ja beim Dirigieren stören können. Kindergeschrei vom Spielplatz der 15 Uhr. Mir steckt er noch ein paar Nach 22 Uhr und während der Tages- Grundschule. Wie schön, dass niemand Aphorismen in den Briefkasten: „Frei- schau rief man niemanden an. Abends die Kinder gängelt oder einschränkt, heit gibt Urlaub zur Bosheit“ und „Se- bearbeitete meine Mutter ihre „Brief- auch nicht, wenn sie in den Anlagen lig sind die Rücksichtslosen, denn sie schulden“ und rechnete bis auf den Äste und Zweige abreißen, um sich da- werden das Erdreich besitzen!“ letzten Pfennig das Haushaltsgeld ab. mit zu necken. Seltsam finde ich nur Gabriele Frydrych
5 HLZ 1–2/2017 zum Inhaltsverzeichnis M e l d un g en Grundschulleitungen: Solidarisch mit türkischer Brandbrief an den Minister Lehrergewerkschaft Ein „Brandbrief“ von 63 Grundschullei- Auf Einladung von GEW und DGB Hes- tungen in Darmstadt und im Landkreis sen berichtete Sakine Esen Yılmaz, bis Darmstadt-Dieburg an Kultusminis- zum Sommer Generalsekretärin der tür- ter Lorz machte im Dezember einigen kischen Bildungsgewerkschaft Eğitim Wirbel. Er thematisiert die schlech- Sen, über die aktuelle Verfolgung von te Versorgung des inklusiven Unter- Gewerkschaftsmitgliedern in der Tür- richts, dessen Akzeptanz gerade in den kei. Sakine Esen Yılmaz wurde wegen Kollegien abnimmt, die lange positi- ihres gewerkschaftlichen Engagements ve Erfahrungen im Gemeinsamen Un- mehrmals inhaftiert. Als sie im April terricht gemacht haben. Es gebe zwar 2016 eine weitere Haftstrafe antreten von rechts nach links: Sakine Esen Yılmaz, zusätzliche Stellen für Intensivklassen, sollte, floh sie nach Deutschland, um Süleyman Ates, (Übersetzung), Birgit Koch für die Nachförderung in Regelklassen Asyl zu beantragen. In diesem Verfah- (GEW Hessen), Gabriele Kailing (DGB) gebe es aber „dringenden Nachbesse- ren wird sie von der GEW unterstützt. Unterstützung der demokratischen Op- rungsbedarf“. Mit einer Rücknahme der Von 11.500 Lehrerinnen und Lehrern, position hinzuwirken. Kürzung der Förderstunden könnte die die in den letzten Monaten entlassen • Zur Unterstützung entlassener Lehr- Landesregierung „ein Zeichen setzen, wurden, sind fast 9.500 Mitglieder von kräfte der Eğitim Sen hat die Bildungsin- dass die Grundschule nicht weniger Eğitim Sen. Die Unterdrückung der ternationale ein Spendenkonto eingerich- wichtig ist als die gymnasiale Oberstu- Presse, die Verhaftung von Abgeord- tet: Education International, IBAN: BE05 fe“. Außerdem geht es um die Ganz- neten und die Verlängerung des Aus- 3101 0061 7075, SWIFT/BIC: BBRUB- tagsangebote, die Besoldung der Kon- nahmezustands verursachen ein Klima EBB, Verwendung: UAA Eğitim Sen rektorinnen und die Deputate. der Angst. Sakine Esen Yılmaz forderte • Ein ausführliches Interview mit Saki- • Im Wortlaut: www.gew-hessen.de > die deutschen Gewerkschaften auf, auf ne Esen Yılmaz finden Sie als Download Bildung > Grundschule ein Waffenembargo und eine deutliche unter www.gew-hessen.de. Vertrauenleuteseminar Nikolaustag 2016: Wir bleiben dran am 21. und 22. März 2017 Am 6. Dezember, dem Nikolaustag, ren erfolgende schrittweise Abwertung Ein landesweites Seminar für Vertrau- übergaben die GEW-Vorsitzenden Bir- des Berufs der Lehrerinnen und Lehrer“ ensleute der GEW Hessen findet am 21. git Koch und Jochen Nagel vor dem aufmerksam zu machen. und 22. März 2017 in Heigenbrücken Hessischen Kultusministerium in Wies- Die Postsäcke mit den Kopien der im Spessart statt. Es geht um alle aktu- baden zwei gut gefüllte Säcke mit mehr Anträge und die mahnenden Wor- ellen Themen von Tarif und Besoldung als 5.000 Anträgen auf „amtsange- te wurden von den Pressesprechern über Flüchtlingsbeschulung bis zur In- messene Besoldung“. Die verbeamte- des Ministeriums entgegengenommen klusion, aber es bleibt auch Raum für ten Lehrerinnen und Lehrer machten (Foto: Mitte). „Wir kommen wieder!“, den Austausch über die Arbeitsbedin- gegenüber der Hessischen Bezügestel- erklärte Birgit Koch abschließend. gungen vor Ort und die Fragen der Teil- le ihre Ansprüche auf eine Übertragung • Wie Landesregierung und Bezügestelle nehmerinnen und Teilnehmer. Die Kos- der tariflichen Gehaltserhöhungen in mit den Anträgen auf amtsangemessene ten für Übernachtung und Verpflegung den Jahren 2015 und 2016 geltend und Besoldung bzw. Versorgung umgehen, war werden vom GEW-Landesverband ge- setzten damit ihren Protest gegen Null- bei Redaktionsschluss der HLZ noch nicht tragen, die Fahrtkosten von den Kreis- runde und Besoldungsdiktat fort. Birgit bekannt. Aktuelle Informationen findet verbänden. Veranstalter ist das Referat Koch nahm den Nikolaustag zum An- man auf der Homepage der GEW Hessen Mitbestimmung und gewerkschaftliche lass, um noch einmal „auf die seit Jah- (www.gew-hessen.de > Recht). Bildung der GEW Hessen, die Leitung haben Sebastian Schackert und Heike Rickert-Fischer. • Anmeldung: bloesel@gew-hessen.de GEW-Beitragsquittung für 2016 in der nächsten e&w Diese HLZ erscheint als Doppelnum- mer 1-2/2017. Im Februar erscheint kei- ne HLZ. Der Bundeszeitschrift e&w ist dann das Jahresprogramm von lea, dem Bildungswerk der GEW Hessen, beige- legt. Im Umschlag der e&W 2/2017 fin- den Sie dann auch die Beitragsquittung für 2016 und Ihren aktuellen GEW-Mit- gliedsausweis.
T ite l thema : B er u fsverbote zum Inhaltsverzeichnis HLZ 1–2/2017 6 Ein Klima der Angst Der „Radikalenerlass“ von 1972 und die Folgen Die Regierungschefs der Bundesländer beschlossen vor 45 Nach diesem Erlass wurden alle Bewerberinnen und Be- Jahren am 28. Januar 1972 im Rahmen einer Besprechung werber für den öffentlichen Dienst des Bundes und der Länder mit dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) einen ab 1972 einer „Einzelfallprüfung“ unterzogen. Dem diente gemeinsamen Runderlass zur „Beschäftigung von rechts- und die Regelanfrage bei den Landesämtern für Verfassungs- linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst“. Der Erlass schutz. Diese durchleuchteten in der Folge über 3,5 Millio- ging als „Radikalenerlass“ oder „Extremistenbeschluss“ in die nen Bewerberinnen und Bewerber und Beschäftigte des öf- Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein. Tatsächlich fentlichen Dienstes auf ihre politische „Zuverlässigkeit“. In wurde der Erlass so gut wie ausschließlich gegen Mitglieder der Folge kam es zu mindestens 11.000 Berufsverbotsverfah- linker und demokratischer Organisationen eingesetzt. ren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.250 Ablehnungen von Be- Während in Ziffer 1 (siehe Kasten) zunächst die bestehen- werbern und 265 Entlassungen (1). den beamtenrechtlichen Pflichten nach den Beamtengesetzen Willy Brandt hatte in seiner ersten Regierungserklärung in Bund und Ländern wiedergegeben werden, öffnet Ziffer 2 als Bundeskanzler einer sozialliberalen Regierung am 28. Ok- mit der dort geforderten Einzelfallprüfung die Tür für tau- tober 1969 mit der Forderung „Mehr Demokratie“ große Hoff- sende von Überprüfungen, Anhörungen und Ermittlungen. nungen geweckt. 25 Jahre später ging Klaus-Henning Rosen, Ziel der Prüfung war es, herauszufinden, ob ein Bewerber ein enger Mitarbeiter Brandts, der Frage nach, was Brandt be- „verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelt“ und deshalb wog, den demokratiefeindlichen „Radikalenerlass“ mitzutra- „nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt“ werden darf gen und ihn über Jahre hinweg anwenden zu lassen. Es sei, (Ziffer 2.1.1.). Aber auch ohne den Nachweis „verfassungs- so schrieb er am 28. Januar 1997 in der Frankfurter Rund- feindlicher Aktivitäten“ begründete allein die Zugehörigkeit schau, eine „Konzession nach innen“ gewesen, um sich Luft zu einer Organisation, „die verfassungsfeindliche Ziele ver- zu verschaffen für seine Außenpolitik, insbesondere für die folgt“, Zweifel an der Bereitschaft, „jederzeit für die freiheit- eingeschlagene Entspannungspolitik gegenüber der DDR. Der lich-demokratische Grundordnung“ einzutreten: Artikel von Rosen lässt auch Zweifel an der Darstellung auf- „Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des kommen, Willy Brandt habe später bezogen auf den „Radi- Einstellungsantrages.“ (Ziffer 2.1.2) kalenerlass“ von einem „Irrtum“ gesprochen: Bereits im Staatsdienst beschäftigte Beamtinnen und Beamte „Willy Brandt weist später Vorwürfe gegen das von ihm seiner- wurden vergleichbaren Prüfungen unterzogen. Bestanden auf zeit akzeptierte Verfahren mit der Frage zurück, ob immer ein Grund von „Handlungen“ oder auch schon der reinen „Mit- Fehler sei, ‚was sich anders entwickelt als gedacht‘“. gliedschaft“ Zweifel an der Verfassungstreue, Das klingt nicht nach Reue über einen Irrtum oder Fehler. „so hat der Dienstherr aufgrund des jeweils ermittelten Sach- Und die vom Berufsverbot Betroffenen können sich auch verhaltes die gebotenen Konsequenzen zu ziehen und insbeson- nichts dafür kaufen. dere zu prüfen, ob die Entfernung des Beamten aus dem Dienst Die „Regelanfrage“ wurde zuletzt 1991 in Bayern abge- anzustreben ist.“ (Ziffer 2.2.) schafft. Doch das heißt nicht, dass aktive Demokraten, die Der „Radikalenerlass“ galt auch für Arbeiter und Angestell- Grundgesetz und Landesverfassungen allzu wörtlich nehmen, te im öffentlichen Dienst (3.). nicht weiterhin vom Inlandsgeheimdienst bespitzelt werden. Beschluß der Regierungschefs des Bundes Im Wortlaut: und der Länder vom 28. Januar 1972 Die Regierungschefs der Länder haben in einer Besprechung mit dem daran, ob er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grund- Bundeskanzler am 28.1.1972 auf Vorschlag der Ständigen Konferenz ordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel der Innenminister der Länder die folgenden Grundsätze beschlossen: eine Ablehnung des Einstellungsantrages. 1. Nach den Beamtengesetzen in Bund und Ländern darf in das 2.2 Beamte Beamtenverhältnis nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, Erfüllt ein Beamter durch Handlungen oder wegen seiner Mitglied- daß er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung schaft in einer Organisation verfassungsfeindlicher Zielsetzung im Sinne des Grundgesetzes eintritt; Beamte sind verpflichtet, sich die Anforderungen des § 35 Beamtenrechtsrahmengesetz nicht, aktiv innerhalb und außerhalb des Dienstes für die Erhaltung dieser aufgrund derer er verpflichtet ist, sich durch sein gesamtes Verhal- Grundordnung einzusetzen. Es handelt sich hierbei um zwingende ten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne Vorschriften. des GG zu bekennen und für deren Erhaltung einzutreten, so hat 2. Jeder Einzelfall muß für sich geprüft und entschieden werden. der Dienstherr aufgrund des jeweils ermittelten Sachverhaltes die Von folgenden Grundsätzen ist dabei auszugehen: gebotenen Konsequenzen zu ziehen und insbesondere zu prüfen, ob die Entfernung des Beamten aus dem Dienst anzustreben ist. 2.1 Bewerber 3. Für Arbeiter und Angestellte im öffentlichen Dienst gelten 2.1.1 Ein Bewerber, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwi- entsprechend den jeweiligen tarifvertraglichen Bestimmungen die- ckelt, wird nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt. selben Grundsätze. 2.1.2 Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungs- feindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel (Ministerialblatt von Nordrhein-Westfalen, 1972, S. 324)
7 HLZ 1–2/2017 zum Inhaltsverzeichnis Jüngstes Beispiel ist Kerem Schamberger, der sich im Som- mer 2016 für eine Dozentenstelle an der Universität München beworben hatte (HLZ 12/2016). In Bayern muss jede Bewer- berin und jeder Bewerber für den öffentlichen Dienst einen mehrseitigen Fragebogen ausfüllen. Dort hat Kerem Scham- berger wahrheitsgemäß angegeben, dass er unter anderem Mitglied der VVN / Bund der Antifaschistinnen und Antifa- schisten, der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und der Roten Hilfe ist. Nun wartet er noch immer darauf, dass die Universität ihn einstellt. Der „Radikalenerlass“ und die damit einhergehende Be- spitzelung, die Berufsverbote und Disziplinarverfahren haben tausende engagierter Menschen um ihre berufliche Perspek- tive gebracht. Sie mussten sich beruflich anders orientieren, hatten schlechter dotierte Jobs und erhalten in der Folge heu- te eine deutlich geringere Rente. Bespitzelung und politische Verfolgung hatten aber über die unmittelbar Betroffenen hinaus verheerende Folgen für das politische Klima in diesem Lande. Die politische Auf- bruchstimmung, die Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts herrschte, ebbte ab. Viele, die eine sichere Be- schäftigung haben wollten, hielten sich mit ihrer politischen Meinung zurück. Der „Radikalenerlass“ führte nur in wenigen Fällen dazu, Auch Künstlerinnen und Künstler engagierten sich gegen die Be- dass Betroffene mit ihrer politischen Haltung und ihrem En- rufsverbote. Zu ihnen gehörten der Liedermacher Franz-Josef De- genhardt („Befragung eines Lehramtskandidaten“) und der Grafiker gagement brachen. Viele kämpften, teilweise über Jahrzehn- Klaus Staeck, dessen vielfach gezeigtes Plakat wir mit freundlicher te, für ihre Einstellung, Wiedereinstellung oder Weiterbe- Genehmigung des Künstlers für die Titelseite verwenden durften. schäftigung, viele, aber längst nicht alle mit Erfolg. Viele von ihnen sind noch heute politisch aktiv. Kraft gab ihnen die Solidarität. In den siebziger und achtziger Jahren gab es Der Kampf gegen die Folgen des „Radikalenerlasses“ ist wohl keine Universitätsstadt, in der es nicht „Komitees ge- nicht beendet. Auch nach 45 Jahren bleibt die Forderung gen Berufsverbote“ gab, die die Solidarität mit vom Berufs- nach politischer und beruflicher Rehabilitierung und mate- verbot Betroffenen organisierten, teilweise über viele Jahre rieller Wiedergutmachung aktuell und auf der Tagesordnung. hinweg. Neben dem unmittelbaren Einzelfall ging es aber im- Norbert Birkwald mer auch darum, die Bespitzelung durch die Geheimdienste anzuprangern und die demokratiefeindliche Praxis der Be- Norbert Birkwald wurde 1975 nach dem Referendariat nicht in den hörden, Menschen allein wegen ihrer konsequent demokra- Schuldienst übernommen. Als „Begründung“ dienten die Mitglied- tischen Haltung unter Verdacht zu stellen oder deren Ein- schaft in der DKP und Aktivitäten in der DFG/VK (Deutsche Frie- stellung abzulehnen. densgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner). Außerdem wurde Die Praxis der Berufsverbote stieß nicht nur im Inland sein PKW bei einer Demonstration gegen Umweltverschmutzung der damaligen Farbwerke Hoechst fotografiert. auf politischen Widerstand. Solidarität gab es auch im Aus- land, wie der Artikel von Silvia Gingold in dieser HLZ belegt (1) Die Zahlen wurden einer Postkarte entnommen, die 2012 zum (S.8). Das Unverständnis im Ausland dokumentiert die Tat- 40. Jahrestag des „Radikalenerlasses“ von der Initiative „40 Jahre sache, dass man dort das deutsche Wort übernehmen musste: Radikalenerlass“ veröffentlicht wurde (www.berufsverbote.de). „Le Berufsverbot“, sagten die Franzosen, „The Berufsverbot“ (2) http://berufsverbote.de/index.php/Woertchen.html die Briten. In vielen europäischen Ländern, aber auch in den USA oder in Japan gab es Veranstaltungen, Texte, Petitionen Ausstellung zur Geschichte der Berufsverbote und andere Solidaritätsbekundungen und zwar nicht nur im außerparlamentarischen Bereich, sondern auch in nationalen Die Ausstellung über die Geschichte der Berufsverbote zeigt Parlamenten (2). Die Bundesregierung gab einige Millionen auf 18 Stelltafeln die Geschichte der Berufsverbote in Deutsch- D-Mark aus, um ausländische Regierungen und vor allem die land vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart und bietet ei- Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass deutsche Geheim- nen umfassenden Überblick über Fragen politischer Verfolgung und Repression. QR-Codes auf den Tafeln führen zu weiter- dienste und Behörden rechtmäßig handelten. Vergebens: Der führenden Informationen und zur Website der Initiative „Be- „Radikalenerlass“ musste aufgehoben werden, die europäische rufsverbote Hessen“ mit zahlreichen hessischen Fällen und ak- Rechtsprechung beschied in mehreren Fällen, dass die vom tuellen Veranstaltungshinweisen (www.berufsverbote-hessen. Berufsverbot Betroffenen ein Recht auf Beschäftigung hatten. de). Die Ausstellung ist in den nächsten Wochen in folgenden Hat dies allen Betroffenen zu ihrem Recht verholfen? Städten zu sehen: Nein, viele Gerichtsurteile sind nie aufgehoben worden. Das • in Darmstadt vom 1. bis 24. Februar 2017 im Foyer des DGB- erfolgreiche Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Falle Hauses, Rheinstraße 50 Dorothea Vogt wurde bei weitem nicht auf alle Betroffenen • in Kassel vom 1. bis 21. März im DGB-Büro, Spohrstr. 6-8, angewandt. Dass viele wieder eingestellt werden mussten, • in Marburg vom 25. März bis 8. April im Rathaus, Markt 1 war in erster Linie dem Druck der demokratischen Bewegun- • in Hanau vom 4. Mai bis 26. Mai im DGB-Büro, Willy- gen im In- und Ausland zu verdanken. Brandt-Straße 23
Titelthema zum Inhaltsverzeichnis HLZ 1–2/2017 8 Le Berufsverbot Internationale Solidarität im Kampf gegen Berufsverbote Am 3. Juli 1975 schrieb die französische Tageszeitung L’Humanité: Scharfe Proteste kamen aus Frankreich „Rätsel: Eine junge Lehrerin ist aus dem Dienst entlassen wor- Pierre Kaldor, Rechtsanwalt und Sprecher der französischen den, weil sie Kommunistin ist. Können Sie sagen, in welchem Komitees für Meinungsfreiheit und gegen Berufsverbote, der Land sich dieses abgespielt hat? (…) Zweifellos würden sich die mich als einer der Anwälte vor dem Verwaltungsgerichtshof Antworten ziemlich gleichen: in Spanien, im Iran, in Chile oder in meinem Prozess gegen das Land Hessen vertrat, betonte: in einem anderen Land, dessen Regierung die Verachtung der „Dies ist keine Einmischung in die Innenpolitik der Bundesre- Menschen- und Bürgerrechte offen zur Schau trägt. (…) Diese publik, da die Berufsverbote als Angriff auf die Menschenrechte Geschichte hat sich in Wirklichkeit in unserem kleinen Europa ein Hindernis für eine Politik der internationalen Entspannung ereignet, an unseren Grenzen, in der Stadt Kassel, in der Bun- darstellen. (…) Bei der Résistance traf ich auch deutsche Anti- desrepublik Deutschland.“ faschisten, die gemeinsam mit uns Franzosen unter Einsatz ih- Für viele Franzosen, für die kommunistische Lehrerinnen und res Lebens gegen die Nazi-Okkupation kämpften. Diesen Deut- Lehrer zum gewohnten Bild des öffentlichen Lebens gehören, schen fühle ich mich seither tief verpflichtet. Die Hochachtung für die es normal ist, dass Kommunisten politische Funkti- vor diesen anderen Deutschen – den Demokraten und Antifa- onen in Parlamenten und Staatsämtern bekleiden, war dies schisten – ist einer der Hauptgründe dafür, dass ich mich zu- ein unvorstellbarer Vorgang. sammen mit weiteren Mitbürgern in der französischen Kampa- „Le Berufsverbot“ fand daher in den 70er Jahren als nicht gne gegen Berufsverbote engagiert habe.“ (1) übersetzbare Vokabel Eingang in den Sprachschatz der fran- Francois Mitterand, der damalige Vorsitzende der Parti So- zösischen Medien und wurde in Frankreich zum Begriff für cialiste, erklärte auf dem Parteitag in Dijon 1976, er könne die antidemokratische Praxis in der Bundesrepublik Deutsch- es nicht akzeptieren, land, auf die viele Franzosen mit Unverständnis reagierten. „dass die Bundesrepublik Deutschland, unter der Verantwortung der Sozialdemokratie, fortfährt, jeden vom öffentlichen Dienst Mein Berufsverbot jedoch erregte in Frankreich beson- auszuschalten, der nicht als Diener der derzeitigen Ideologie an- ders große Empörung, da meine Eltern während der deut- gesehen wird. Ich sage, dass dieser Beschluss der Länderminis- schen Besatzung an der Seite der Résistance zusammen mit terpräsidenten von den sozialdemokratischen Ministerpräsiden- Franzosen gegen die Nazis gekämpft hatten, wofür sie von ten zurückgenommen werden muss. Wir fordern sie brüderlich der französischen Regierung mit dem Befreiungsorden aus- dazu auf, aber wir fordern sie dazu, wenn es sein muss, mit al- gezeichnet worden waren. Junge Deutsche, die in der anti- ler Strenge auf. Ich werde für meinen Teil nicht zögern, insbe- faschistischen Tradition der Widerstandskämpfer standen sondere im Fall Silvia Gingold, noch am heutigen Abend die In- und wegen ihres Engagements gegen Neonazis, Rassismus itiative zu ergreifen für ein Komitee zur Verteidigung der Rechte und Krieg Berufsverbot bekamen, teilweise von Richtern, die der Betroffenen, und werde dessen erster Unterzeichner sein.“ schon im Dienste der Nazis gestanden hatten, all das löste in Auch für den französischen Publizisten Alfred Grosser wa- Frankreich heftige Proteste und große Beunruhigung aus. Es ren die Berufsverbote ein Thema. Anlässlich der Verleihung bildeten sich rund 200 über das ganze Land verteilte Komi- des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Frank- tees, die auf Veranstaltungen über die Praxis der Berufsver- furter Paulskirche 1975 stellte er fest: bote in der BRD informierten und durch Unterschriften und „Vielleicht bin ich zu sehr Franzose oder denke ich zu sehr an Briefe an bundesdeutsche Gerichte und die Entsendung von 1933, aber es scheint mir doch, als ob in der Bundesrepublik Prozessbeobachtern praktische Solidarität mit den vom Be- immer mehr von der Verteidigung der Grundordnung durch den rufsverbot Betroffenen übten. Staat die Rede sei und immer weniger von der Verteidigung der Silvia Gingold „hält einen duften Unterricht“ Der „Fall“ Günther Waldeck Silvia Gingold wurde 1975 aus dem Schuldienst entlassen, da Günther Waldeck wurde als Referendar nach Melsungen sie Mitglied in der DKP war. Sie berichtet in dieser HLZ über „versetzt“, danach bekam er einen Halbjahresvertrag an ei- die breite Unterstützung im In- und Ausland. Auch die Klas- ner Schule in Hofgeismar. Bei einer Anhörung wurde er 1974 sensprecherin der von ihr unterrichteten Klasse schrieb 1975 auch gefragt, ob er an Demonstrationen gegen die NPD teil- an Kultusminister Krollmann, sie halte „einen duften Unter- genommen habe. Auch positive dienstliche Beurteilungen richt.“ Bei ihr mache „das Lernen wirklich Spaß“ und deshalb führten nicht zu seiner Einstellung. Ein Hearing in der Kasse- „möchten wir Frl. Gingold gerne behalten“. Das Verwaltungs- ler Hochschule der Bildenden Künste zeigt, wie stark der Pro- gericht Kassel wies die Begründung des Kultusministeriums test gegen die verfassungsfeindlichen Berufsverbote war. Das 1976 als „nicht ausreichend“ zurück. Danach wurde sie als Verwaltungsgericht wies seine mit Unterstützung der GEW angestellte Lehrerin an der Gesamtschule Spangenberg im eingereichte Klage 1976 ab. Seine mangelnde Verfassungs- Schwalm-Eder-Kreis eingestellt. In letzter Instanz entschied treue sei wegen nachgewiesener Aktivitäten für die DKP und der Verwaltungsgerichtshof in Kassel, ein „verfassungsfeind- die SDAJ offensichtlich. Er arbeitete als Buchhändler, bis er liches Verhalten“ könne weiter nicht ausgeschlossen werden. Anfang der 80er Jahre eine Anstellung als Lehrer für Deutsch Deshalb sei eine Verbeamtung nicht möglich. als Fremdsprache an einer privaten Sprachenschule erhielt.
9 HLZ 1–2/2017 zum Inhaltsverzeichnis Titelthema Grundfreiheiten gegen den Staat. (…) Aber wenn jeder Anwär- ter auf eine Stellung im öffentlichen Dienst auf Herz und Nieren geprüft werden soll, wenn er Fragebögen auszufüllen hat, wenn dem Gymnasiasten schon klar wird, was er zu unterlassen und was er brav zu sagen hat, um später keine Schwierigkeiten zu bekommen, so vermeidet man weniger Gefahren für die Grund- ordnung, als dass man junge Generationen zum Konformismus und zu einem gefährlichen Mitläufertum verleitet.“ Nicht nur aus Frankreich hagelte es Kritik an den Berufsver- boten, auch sozialdemokratische Politikerinnen und Politi- ker vieler anderer europäischer Länder, Juristen, Professoren, Lehrer, Schriftsteller, Künstler, Gewerkschafter und Mitglie- der weiterer demokratischer Organisationen prangerten die Gesinnungsverfolgung in der BRD an. Das große Interesse des europäischen Auslandes an der Praxis der Berufsverbote fand auch seinen Ausdruck in der Teilnahme ausländischer Gäste an der Internationalen Konfe- renz „Demokratische Rechte verteidigen – Berufsverbote auf- heben – Gemeinsam gegen die Verletzung von Grund- und Menschenrechten in der BRD“ am 27. und 28. Januar 1979 in Darmstadt. Vertreterinnen und Vertreter aus Belgien, Dä- nemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Schweden, der Schweiz und Spanien, von internationalen Organisatio- nen wie dem Weltfriedensrat, der Menschenrechtskommis- sion, dem Weltgewerkschaftsbund und der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) brachten dort ihre Sorge über die antidemokratischen Disziplinierungsmaß- nahmen in der BRD zum Ausdruck. Alex Veldhof, Mitglied des niederländischen „Komitees tagen de Berufsverbote“ der Partij van de Arbeid sagte auf der Konferenz in Darmstadt: „Wenn in der Bundesrepublik eine Atmosphäre der Verdächti- und Freiheiten, die sich alle aus der dem Menschen innewoh- gung und Hexenjagd entsteht, können wir nicht untätig zuse- nenden Würde ergeben und für seine freie und volle Entfaltung hen (…) und deshalb nehmen wir öffentlich Stellung, wenn wir wesentlich sind, fördern und ermutigen.“ sehen, dass der Apparat der Bespitzelung, der Anhörungen, der Deshalb könne man – so die finnische Delegation – Einschüchterung, wie sich das hier seit dem Radikalenerlass „nicht auf dem Feld der Außenpolitik Abschied vom ‚Kalten entwickelt hat, einer menschenwürdigen Existenz, einer Exis- Krieg‘ nehmen und in der Innenpolitik mit den Methoden und tenz im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonven- Mechanismen des ‚Kalten Krieges‘ (…) fortfahren, denn dies er- tion entgegensteht.“ mutigt und leistet indirekt Kräften Vorschub, die die auf Ent- In den europäischen Nachbarländern waren die Erinnerung spannung und friedliche Koexistenz ausgerichtete Politik der an die Verbrechen der Nazis, die Verfolgung der Hitlergeg- SPD/FDP-Bundesregierung bekämpfen.“ ner und der Kommunistenhass noch äußerst präsent. Diese Am 13. März 1976 organisierte die Internationale Föderation historischen Erfahrungen begründeten ein tief verwurzeltes der Widerstandskämpfer (FIR) eine große Demonstration in Misstrauen gegenüber der innenpolitischen Entwicklung in Straßburg, auf der Teilnehmer aus Frankreich, Belgien, Lu- der BRD angesichts der Hexenjagd auf Menschen, die ge- xemburg, den Niederlanden und der BRD einen Appell an gen bestehende gesellschaftliche Missstände aufbegehrten. das Europaparlament richteten, in dem sie die Abschaffung der Berufsverbote forderten. Internationaler Druck auf die SPD Diese Proteste, die Berichterstattung in den europäischen Medien, die Aktivitäten und Solidaritätsbekundungen aus Die internationalen Proteste und die Solidarität mit den vom dem europäischen Ausland, die Appelle der Schwesterpar- Berufsverbot Betroffenen waren bestimmt von der Sorge, das teien der SPD brachten die verantwortlichen Politiker in der „Modell Berufsverbot“ könne auch auf andere Länder über- BRD mehr und mehr in Bedrängnis und trugen schließlich tragen werden und so die Demokratie in Europa gefährden. dazu bei, dass Willy Brandt 1976 die mit dem Ministerprä- So erinnerten Vertreterinnen und Vertreter des Zentralver- sidentenerlass eingeleitete Praxis, die der Demokratie mehr bandes der sozialdemokratischen Jugend Finnlands auf der Schaden als Nutzen eingebracht habe, als „Irrtum“ einge- Darmstädter Konferenz an die Abschlusserklärung der Konfe- stand. Die Unterstützung aus dem Ausland sowie die breite renz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), Protest- und Solidaritätsbewegung in der BRD stärkten die in der es heißt: vom Berufsverbot Betroffenen, ermutigten sie, gaben ihnen „Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grund- Kraft und Halt und führten in zahlreichen Fällen zur Wie- freiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- dereinstellung. und Überzeugungsfreiheiten für alle, ohne Unterschied der Ras- Silvia Gingold se, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten. Sie werden die wirksame Ausübung der zivilen, politischen, wirt- (1) Etty, Peter und Silvia Gingold. Porträt einer Familie. Ein Bilder- schaftlichen, sozialen und kulturellen sowie der anderen Rechte buch über deutsche Zustände. Pahl-Rugenstein-Verlag 1982
Titelthema zum Inhaltsverzeichnis HLZ 1–2/2017 10 Berufsverbote bei Post und Bahn Zum Beispiel: Axel Brück, Egon Momberger und Herbert Bastian Axel Brück und Egon Momberger, die in Gießen als Fernmel- „Die ökonomische und politische Entwicklung in diesen 45 Jah- deobersekretär beziehungsweise Postinspektor bei der Deut- ren hat nicht dazu geführt, unsere politischen Grundüberzeu- schen Post arbeiteten, wurden in den 70er Jahren wegen gungen in Frage zu stellen. Der Frieden in der Welt ist nicht si- der Mitgliedschaft in der DKP aus dem Dienst entlassen cherer geworden. Im Gegenteil, so viel Kriege wie heute gab es und auch später nicht wieder eingestellt. Im Gespräch noch nie. Die Kluft zwischen Arm und Reich in unserem Lan- mit Ulrike Noll vom hessischen Bündnis gegen Berufs- de, in der Welt ist größer und nicht kleiner geworden. Die de- verbote forderten beide übereinstimmend, „die Betroffe- mokratischen Rechte sind nicht erweitert, sondern eingeschränkt worden. Die Saat des Antikommunismus ist aufgegangen und nen zu rehabilitieren und zu entschädigen“. Die Entlassun- stellt durch neue rechtspopulistische Bewegungen und Parteien gen müssten als „unzulässig eingestuft und soweit möglich eine große Gefahr für die im Grundgesetz niedergeschriebenen zurückgenommen werden“. Positiv erinnern sie sich an die Grundrechte und Freiheiten dar.“ breite Solidarität, die sie nach Bekanntwerden ihrer Entlas- Sehr wohl hätten die Berufsverbote dazu beigetragen, den sung erfahren haben: „Antikommunismus fest in breiten Massen unserer Bevöl- „Es gab eine große und breite Solidaritätsbewegung weit über kerung zu verankern.“ Und sie glauben auch nicht, dass die Grenzen der Stadt und des Landes hinaus. Aus vielen Be- reichen aus dem In- und Ausland haben uns einzelne Personen, die Berufsverbote nur ein Thema der Geschichte des Kal- Komitees und Gewerkschaftsorganisationen auf vielfältige Art ten Krieges sind: und Weise unterstützt und das Unrecht öffentlich gemacht. Die „Die Angriffe auf die demokratischen Rechte und Freiheiten wer- Dokumentation der Deutschen Postgewerkschaft unter dem Ti- den sich in vielen Bereichen und unterschiedlichen Arten wei- tel ‚Demokratie im Betrieb, Freiheit im Beruf. Kein Berufsver- ter verschärfen.“ bot für Axel Brück und Egon Momberger‘ sei an dieser Stelle Herbert Bastian, Posthauptschaffner, gewerkschaftlicher Ver- nur beispielhaft genannt.“ trauensmann und DKP-Stadtverordneter in Marburg, wurde Nach dem Rauswurf mussten sie sich eine neue Existenz auf- nach 25 Jahren aus dem Dienst entlassen. Das Entlassungs- bauen. Brück und Momberger betonen dabei im Gespräch die schreiben enthielt kein Wort des Dankes für das ihm vorher materielle Unterstützung durch den Heinrich-Heine-Fonds: attestierte „untadelige Verhalten im Dienst“. Selbst Marburger „Sie hat uns dabei geholfen, nicht in unmittelbare Not zu Christdemokraten hatten vergeblich beim obersten Dienst- geraten.“ Beide Kollegen betonen, dass sie das Berufsverbot herrn, Bundespostminister Christian Schwarz-Schilling, in- nicht gebrochen hat: terveniert. Alle Versorgungsansprüche wurden gestrichen. Für ein halbes Jahr wurde ein „Unterhaltsanspruch“ von monatlich 688 DM gewährt. „Billige Rache“ überschrieb der Axel Brück und Egon Momberger (2. und 3. von links) bei einer SPIEGEL in seiner Ausgabe 43/1987 seinen Artikel über die Solidaritätsveranstaltung im niederländischen Alkmar im Gespräch mit einem Vertreter der Partei der Arbeit und dem Marburger Lehrer „unerbittliche“ Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge- Mario Berger, der ebenfalls mit einem Berufsverbot belegt wurde. richts, das das Berufsverbot letztinstanzlich bestätigte. (Foto: privat) Der „Fall“ der Lehrerin Dorothea Kröll Dorothea Kröll, der 1976 nach Ende ihres Referendariats we- gen „Zweifeln an ihrer Verfassungstreue“ eine Einstellung als Lehrerin verweigert wurde, verlor 1978 einen Arbeitsge- richtsprozess in erster Instanz. Zur Sicherung des Lebensun- terhalts arbeitete sie 1976 bis 1980 als Honorarkraft in Ju- gendeinrichtungen, in einem Privathaushalt zur Verwaltung der Privatbibliothek und in einem Kinder- und Jugendwohn- heim des Sozialdienstes Katholischer Frauen unter Leitung eines ehemaligen Priesters, der das Zölibat „gekündigt“ hat- te, und mit einer Psychologin, die Berufsverbote ablehnte. 1980 wurde sie angestellte Lehrerin an einer Kasseler Schule, deren Leiter sich „traute“, eine „Linke“ ins Kollegium aufzu- nehmen. Die anfängliche Skepsis des Kollegiums wich bald. Seit 2009 arbeitet sie als Beraterin für Schulentwicklung und Bildungsförderung. Aus ihren Akten erfuhr sie später, dass sie vom Verfassungsschutz durch „IM des Westens“ bespit- zelt wurde, unter anderem durch Mitstudierende und einen sich jovial gebenden Nachbarn aus dem elterlichen Dorf.
11 HLZ 1–2/2017 zum Inhaltsverzeichnis Titelthema Zum Beispiel: Axel Seiderer Wie seine Postkollegen wünscht sich auch Axel Seiderer, der als Inspektoranwärter der Bundesbahn aus dem Dienst ent- fernt wurde, im Gespräch mit Ulrike Noll vom hessischen Bündnis gegen Berufsverbote, eine rechtsverbindliche Rück- nahme des Radikalenerlasses sowie eine Entschuldigung und Rehabilitierung der Betroffenen: „Das wird nicht von selbst kommen, dazu brauchen wir ein auf- geschlossenes Klima im Land, und dafür müssen wir entschie- den arbeiten.“ Der Regelanfrage beim Verfassungsschutz folgten 1974 schriftliche und mündliche Befragungen, die letztlich im- mer in die Aufforderung mündeten, er solle sich von seiner Partei, der DKP, distanzieren und sie verlassen. Mit Schre- cken erinnert er sich an die Befragung direkt durch den Ver- fassungsschutz: „Es ging ausschließlich darum, mich einzuschüchtern. Auf alle Fragen, die mir gestellt wurden, kannte der Geheimdienstler er- sichtlich bereits die Antworten.“ Sein Arbeitgeber, die Deutsche Bundesbahn, warf ihm in der Entlassungsverfügung vom 7.11.1977 eine „formal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle und innerlich distanzier- te Haltung gegenüber Staat und Verfassung“ vor. Es wurde Axel Seiderer (Schild „Mitglied der DKP“) 1978 auf einer Demons- ausdrücklich „nicht bestritten, dass Sie sich im Dienst partei- tration gegen Berufsverbote in Frankfurt (Foto: privat) politisch zurückgehalten und nicht versucht haben, Kollegen von der kommunistischen Ideologie zu überzeugen“. Doch da- Ob er durch das Berufsverbot „vorsichtiger“ geworden ist, rauf komme es „nach dem Grundgesetz, dem Bundesbeam- will Ulrike Noll im Gespräch wissen: tengesetz sowie der Rechtsprechung des BVerfG und der Ver- „Ich neige nicht zum Jammern und Klagen. Mich erfasste damals waltungsgerichte nicht an“. Es reiche aus, dass er nicht die eher eine ‚Jetzt-erst-recht‘-Stimmung. Mein Misstrauen gegen Gewähr biete, „dass Sie jederzeit für die freiheitlich demo- politische Richtungsentscheidungen von oben ist nicht eben ge- kratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintre- ringer geworden. Ich denke, ich gehe mit politischen Informa- ten“. Seine Klage gegen die DB wurde 1982 abgeschmettert. tionen und Medien heute noch distanzierter und kritischer um, Auch Axel Seiderer schöpfte Kraft aus der Solidarität, als zur Zeit des Berufsverbots. Insofern könnte man sagen, ich auch von Freunden und Bekannten, die ihm politisch nicht sei vorsichtiger geworden, allerdings nicht in dem Sinn, dass ich unbedingt nahe standen: meine Meinung jetzt nicht mehr offen äußern würde.“ „Sie waren entsetzt, zumindest aber überrascht, weil sie so etwas Er ist sich sicher, dass die Verfechter der Berufsverbote ihr in diesem Land nicht für möglich gehalten hatten. Auch Freunde Ziel, „die Kritiker des ökonomisch-politischen Systems der aus der SPD, deren Mitglied ich sieben Jahre lang gewesen war, Bundesrepublik Deutschland mundtot zu machen“, nicht er- setzten sich für mich ein. Mein Vater hatte zwar nie verstanden, reicht haben: warum ich Kommunist geworden bin, aber er schrieb als langjäh- „Die von den Herrschenden gewollte Friedhofsruhe ist nie einge- riger Sozialdemokrat an den SPD-Vorsitzenden Willy Brandt und treten, aber das freie Klima der Offenheit und des gesellschaft- verwies dabei darauf, dass schon sein Vater als Beschäftigter der lichen Aufbruchs, das es im Land seit Ende der 60er Jahre zu- Frankfurter Stadtverwaltung von den Nazis aus dem Dienst entfernt mindest teilweise gab, wurde doch beträchtlich geschädigt. Und worden war. Eine Nachfrage von Brandts Büro bei Verkehrsminister die Berufsverbote hatten daran ihren Anteil.“ Gscheidle ergab, dass der keine Kommunisten bei Post und Bahn Im „Kampf gegen das Unrecht“ und die Willkür von Staat und haben wollte. Damit hatte sich der Vorstoß meines Vaters erledigt.“ Behörden brauche man schon „eine Prise Michael Kohlhaas“: Seine Gewerkschaft, die GdED, gewährte Rechtsschutz, in „Aber der Erfolg des Kampfes ist umso wahrscheinlicher, je Straßburg und Alkmaar wurde er als Betroffener zu Solidari- mehr er in der Öffentlichkeit mit vielen gemeinsam und einge- tätsveranstaltungen eingeladen. Diese Resonanz aus dem Aus- bettet in eine breite Solidaritätsbewegung geführt wird. Die Soli- land hat aus seiner Sicht „wesentlich dazu beigetragen, dass darität, die man erfährt, macht auch das zwischenzeitliche Ver- sich die Stimmung auch in der Bundesrepublik gedreht hat“. lieren erträglicher.“ Als ehemaliger Beamter, für den keine Beiträge zur Ar- beitslosenversicherung abgeführt wurden, erhielt er nur Ar- beitslosenhilfe, damals 65,70 DM pro Woche: 24. Januar 2017: Mahnwache vor dem Landtag „Ich konnte die erste Zeit nur durch die Unterstützung meiner Am 24. Januar 2017 wird von 11 bis 15 Uhr eine Mahn- damaligen Freundin, meiner heutigen Ehefrau, meiner Eltern wache vor dem Landtag in Wiesbaden stattfinden, auf der sowie durch Freunde, Genossen und die Solidaritätsbewegung die Forderungen des Hessischen Bündnisses gegen Berufs- überstehen. Später habe ich mich mit Aushilfsjobs über Wasser gehalten und war einige Jahre für einen Verlag tätig. Die letz- verbote an die Fraktionen des Hessischen Landtags überge- ten 25 Jahre meiner Berufstätigkeit arbeitete ich in einer Werk- ben werden. Betroffene Kolleginnen und Kollegen werden statt für behinderte Menschen in Frankfurt.“ zu Wort kommen und ihre „Fälle“ vorstellen.
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