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phpublico Fachzeitschrift für Bildung und Erziehung Dezember 2021 0 8 100 Jahre Burgenland 100 Jahre Pädagog_innenbildung Herbert Brettl & Ute Leonhardt Brigitte Leimstättner & Birgit Taschler Andrea Zorka Kinda-Berlakovich Claudia Schneider Lukas Pallitsch Martin A. Hainz Thomas Leitgeb, Alexander Zimmermann & Michael Leitgeb Georg Huemer
Impressum phpublico | Heft 8 | Dezember 2021 Herausgeber_innen: Sabine Weisz, Herbert Gabriel, Sabine Haider, Martin A. Hainz Verlag und Erscheinungsort: E. Weber Verlag GmbH, 7000 Eisenstadt Druck: druck.at, 2544 Leobersdorf ISBN: 978-3-85253-715-3 Redaktionsteam: Martin A. Hainz, Sabine Haider, Stefan Meller, Lukas Pallitsch, Sabrina Schrammel, Andrea Weinhandl, Alexander Zimmermann Kontakt und Korrespondenzadresse: calls.phpublico@ph-burgenland.at Satz & Layout: Stefan Meller Alle Rechte bei den Autorinnen und Autoren. Private Pädagogische Hochschule Burgenland Stabstelle Forschung Thomas-Alva-Edison-Straße 1, 7000 Eisenstadt
Inhaltsverzeichnis Sabine Weisz & Herbert Gabriel Vorwort 5 Martin A. Hainz Editorial 7 Aus der Wissenschaft Herbert Brettl & Ute Leonhardt „Bildgedächtnis Burgenland“ | 100 Jahre – 100 Fotos 9 Brigitte Leimstättner & Birgit Taschler Im Burgenland – 1984 – die erste Integrationsklasse Österreichs | Rückblick – Einblick – Ausblick 13 Andrea Zorka Kinda-Berlakovich Einblicke in das zweisprachige Schulwesen der burgenländischen Kroat_innen von 1921-2021 22 Uvidi u dvojezični školski sustav gradišćanskih Hrvatov od 1921.-2021. ljeta 27 Claudia Schneider Gerald Tarnai – Lehrer, Direktor und Zeitzeuge der burgenländischen Schulgeschichte. Ein Gespräch. 32 Lukas Pallitsch Unansehnlichen Spuren der Geschichte ein Ansehen geben 37 Martin A. Hainz Distant Learning – Lasset die Kinder nicht zu mir kommen 42 Thomas Leitgeb, Alexander Zimmermann & Michael Leitgeb Das Zentrum für digitale Kompetenz der Privaten Pädagogischen Hochschule Burgenland: im Dienst einer zukunftsorientierten Bildung im Burgenland – auf die nächsten 100 Jahre 48 Rezensionen Martin A. Hainz Marcus Steinweg: Metaphysik der Leere 56 Georg Huemer Jutta Treiber/Petra Neulinger: Frieda & Friedo – die guten Geister von Burg Schlaining – ein burgenländisches Friedensmärchen 57 Autor_innenverzeichnis 60
Vorwort Weisz & Gabriel Sabine Weisz & Herbert Gabriel 100 Jahre Burgenland „100 Jahre Burgenland“ – das veranlasst auch die dazu notwendig, nicht nur in die eigene Kultur, Ge- Private Pädagogische Hochschule Burgenland dazu, schichte und Lebensweise einzutauchen. Doch auch diesem Bundesland Österreichs, dem jüngsten, ein die in diesem Band veröffentlichten Texte können Geschenk zu bereiten. Was wäre dem Anlass dieses den Blick auf 100 Jahre Burgenland bereichern und Jubiläums für unsere Hochschule angemessener als dazu führen, die Geschichte unseres Bundeslandes eine Publikation zu dessen Geschichte, Gegenwart mit erweiterten Facetten zu betrachten. und Zukunft? Und so haben wir dazu eingeladen, an dieser besonderen Ausgabe unseres phpublico Wir danken allen Autor_innen und dem Redak- mitzuwirken, sodass wir dem Burgenland ein blei- tionsteam, und wünschen Ihnen bei der Lektüre bendes Geschenk überreichen können. unserer Sonderausgabe von phpublico neue, ins- pirierende Zugänge zur Kultur und Geschichte des Wir haben uns sehr über die zahlreichen Einrei- Burgenlandes. chungen gefreut, sind wir doch dem Burgenland von Kindheit an verbunden. „Das aufgeklärte Be- Sabine Weisz und Herbert Gabriel wusstsein ist also auch ein Bewusstsein der histo- rischen Zufälligkeit“, schreibt Peter Bieri in seinem Werk Wie wäre es, GEBILDET zu sein? (2017). Er lädt ein, neugierig zu sein, der Frage nachzugehen, wie es zu dem, was wir täglich als selbstverständlich wahrnehmen, gekommen ist. Wie wir wissen, ist es 5
Editorial Hainz Martin A. Hainz Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser! Am 12. Dezember 1921 kam das Burgenland zur tituieren, erst sprachlich leisten musste. 1921 gab es Welt; oder jedenfalls zu Österreich. Es ist ein Über- im Burgenland eine Maturaklasse, so Brettl, die Bil- gangsland, im allerbesten Sinne. Denn dort, wo dungszentren waren im Wesentlichen bei Ungarn Moderne besteht, ist Übergangsland, also Gegen- geblieben. Und dennoch war das Bildungsniveau wart nicht als die von Mignolo in The Darker Side of nicht anders als im Rest Österreichs. Western Modernity beschriebene Abschottung wi- der das Vergangene, sondern als das Wissen, selbst Das „Aschenputtel am östlichen Rande“ hat sei- noch unzeitgemäß zu sein. Schon darum gilt, was nen Platz in Österreich und Europa gefunden, es Wilhelm von Humboldt formulierte: „Nur wer die hat sich gefunden, formuliert Brettl, es geht seinen Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.“ Nur wer Weg.11 Unsere PPH steht hierfür. Wir stehen dafür, das kennt und erkennt, was an ihm ein Vergange- uns und einander zu bilden und kennenzulernen, nes sein müsste, aber auch das, was aus dem Ver- im Ungarischen, Burgenland-Kroatischen und Ös- gangenen wie ein Vorgriff ragt, dem weitet sich der terreichischen: In der Geschichte der letzten hun- Horizont. dert Jahre ist also vor allem auch viel Gegenwärtiges und Zukünftiges gegeben, das es in Erinnerung zu Andreas Vitásek schreibt in diesem Sinne im lesens- halten und zu bedenken gilt. Das Burgenland war, werten Band Vom Kommen und Gehen, den Peter ist und bleibt ein Bildungsland, ein Immer-noch- Menasse und Wolfgang Wagner anlässlich des Cen- zeitgemäßer-Werden. Aspekte seiner Vergangenheit tenniums bei Böhlau herausgegeben haben, man wie seiner Gegenwart und Zukunft stellt Heft #8 müsse ohne Nostalgie beim Burgenland eben auch von ph publico vor. an Rechnitz, über das soeben Eva Menasse geschrie- ben hat, und an den Terror von Oberwart denken. Den Beginn machen Beispiele aus dem fotografi- Das darf nicht vergessen werden. schen Bildgedächtnis des Burgenlandes mit Refle- xionen zu ihrer Medialität, der (vor allem burgen- Daran ist und bleibt zu denken. Dennoch: Nicht ländischen) Geschichte und didaktischen Impulsen nur daran ist zu denken, sondern eben auch an den von Herbert Brettl und Ute Leonhardt. Aufbruch daraus, die Aufarbeitung, das gerade da- raus dann entwickelte Potential dieses Staates und Diversität und Integration behandeln Brigitte dieses Bundeslandes. Nur Vergangenheit und Zu- Leimstättner und Birgit Taschler, Gegenstand kunft gemeinsam gestatten es, sich darum dort im- ihres Beitrags ist die erste Integrationsklasse Öster- merhin positionieren zu wollen, wo das Akute ist reichs, die 1984 im Burgenland zustande kam. und Über- und Ausgänge geschehen. Dafür steht das Burgenland heute: für das Überwinden von Grenzen, cis- und transleithanisch. Herbert Brettl, der auch am Gelingen dieses Hefts beteiligt war, for- 1 Der Vortrag ist unter https://youtu.be/pZroWGX_lLE?t=969 muliert das Fragile Burgenlands, das nach dem Ers- nachzuhören. ten Weltkrieg entstanden im Zweiten schon wieder Geschichte geworden zu sein schien, als die auch eines Landes, das seine Legitimität, um sich kons- 7
Editorial Hainz Von ihr als Beispiel ausgehend wird auch ein Aus- blick formuliert. Andrea Zorka Kinda-Berlako- vich gibt hierauf in ihrer – zweisprachigen – Unter- suchung Einblicke in das zweisprachige Schulwesen der burgenländischen Kroat_innen von 1921-2021, in Geleistetes und uns noch Aufgegebenes. Persönliche Memoralistik steht im Mittelpunkt des Gesprächs, das Claudia Schneider mit dem Leh- rer, Direktor und Zeitzeugen der burgenländischen Schulgeschichte Gerald Tarnai führte. Zu lernen bedeute, „sich an den anderen orientieren, ohne sich selbst aufzugeben“, so heißt es in dem Beitrag, der Erfahrungen und Ausblicke bietet. Auf die Spur des jüdischen Erbes begibt sich in seinen Betrachtungen Lukas Pallitsch, der hierbei mit Rückgriff auf Theoretiker wie Benjamin und Adorno vor allem auch das, was zerstört wurde und heute verloren ist, behutsam (wieder) kenntlich macht. Dine Petriks literarischer Essay begibt sich desgleichen auf die Suche nach Vergessenem und Verdrängtem, wobei unter anderem die Lyrik Her- tha Kräftners in Erinnerung gerufen wird. Distanz als Problem, zumal in Zeiten der Pandemie, aber auch als Chance, wenn Unterricht nämlich Refle- xion lehrt, steht im Mittelpunkt des Aufsatzes von Martin A. Hainz. Im letzten Aufsatz des Heftes schildern Thomas Leitgeb, Alexander Zimmermann und Michael Leitgeb das Zentrum für digitale Kompetenz der Privaten Pädagogischen Hochschule Burgenland als Beispiel zukunftsorientierter Bildung im Burgen- land, wo anhand von u.a. Computational Thinking und Educational Robotics Problemformulieren und -lösen vermittelt wird. Das Heft beschließen zwei Buchvorstellungen: von Martin A. Hainz zu einem philosophischen Essay von Marcus Steinweg und, zu einem Kinderbuch, das in Zusammenarbeit mit der PPH Burgenland entstand, Georg Huemer. 8
Aus der Wissenschaft Brettl & Leonhardt Herbert Brettl & Ute Leonhardt „Bildgedächtnis Burgenland“ 100 Jahre – 100 Fotos Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich vaten und öffentlichen Sammlungen für die Ver- die Technik der Fotografie rasant. Neben Berufs- wendung im Schulunterricht didaktisch aufbereitet. fotograf_innen griffen immer mehr Privatperso- So sollen Schüler_innen im Umgang mit Bildmedi- nen zur Kamera und fotografierten für sie wichtige en sensibilisiert werden, um diese richtig analysie- Ereignisse, wie Reisen, Ausflüge, Bräuche, Feste, Fa- ren, interpretieren und hinterfragen zu lernen. milientreffen und Alltagsszenen. Fotos sind somit ein Spiegel der Gesellschaft und zeigen auf, was zu einer Die ausgewählten Fotos sollen das Interesse der bestimmten Zeit „als abbildungswürdig, als normal, Betrachter_innen wecken und nehmen die politi- als abweichend, als schön oder hässlich“1 galt. schen, sozialen und kulturellen Ereignisse sowie die wirtschaftliche Entwicklung des Burgenlandes in Heute begegnen uns Fotos nahezu in allen Lebens- den Blick. Sie sollen dazu beitragen, die burgenlän- bereichen, sei es im Internet, in sozialen Netzwer- dische Identität sichtbar zu machen und sich mit ihr ken, im Fernsehen, auf Plakaten, in Zeitungen usw. auseinanderzusetzen. Meist werden diese Bilder nur flüchtig betrachtet. Um ein Foto zur Gänze zu erfassen und dessen Botschaft zu verstehen, bedarf es aber Zeit. Fotos Methodisch-didaktische Anmerkungen spiegeln auch das individuelle und kollektive Ge- schichtsbewusstsein wider. Sie werden „somit zur In den letzten Jahren ist die Visual History immer visuellen Erinnerung“2 und prägen die burgenlän- mehr in den Fokus der Geschichtswissenschaft dische Erinnerungskultur. gerückt.4 Zurecht wird heute aber immer wieder kritisch angemerkt, dass Fotos in der Vergangen- Anlässlich des Jubiläums „100 Jahre Burgenland“ heit nur als historisches Dokument behandelt wur- entwickelten Mag. Dr. Herbert Brettl, Mag. Dr. den. Sie wurden inhaltlich gelesen, „ohne dass ihre Ute Leonhardt und Mag. DDr. Evelyn Fertl, M.A., Formgebung, ihre Ästhetik, ihre Produktionsbe- alle Lehrbeauftragte der Privaten Pädagogischen dingungen, die Instrumente ihrer Erzeugung und Hochschule Burgenland, das „Bildgedächtnis Bur- die bildspezifischen Mittel zur Sinnproduktion aber genland“3. Für dieses in Kooperation mit dem Bur- nur selten Aufmerksamkeit fänden“.5 genländischen Landesarchiv und der Bildungsdi- rektion Burgenland durchgeführte Projekt wurden Fotos wurden oftmals aufgrund ihrer vermeintlich 100 Fotografien aus den umfangreichen Beständen hohen Authentizität als Abbild der Wirklichkeit des Burgenländischen Landesarchivs sowie aus pri- 4 Zur Fotografie als historischer Quelle: Jens Jäger, 1 Jens Jäger: Fotografie und Geschichte. Campus-Verlag, Fotografiegeschichte(n). Stand und Tendenzen der Frankfurt/M. (2009), S. 14 f. historischen Forschung, Archiv für Sozialgeschichte 48, 2008, 2 Herwig Buntz, Fotografien im Geschichtsunterricht, 511–537; ders. 2009; Jens Jäger/Martin Knauer (Hg.), Bilder als Didaktische Überlegungen, Praxis Geschichte, Heft 01/2006., historische Quellen? Dimension der Debatten um historische S. 11-13. Bildforschung, München 2009. Martina Heßler, Bilder zwischen Kunst und Wissenschaft. 3 Bildgedächtnis Burgenland. Das Foto als Geschichtsquelle Neue Herausforderungen für die Forschung, Geschichte und – Didaktisch aufbereitete Aufgabenformate zur Schulung der Gesellschaft 31,2, 2005, 266–292, hier: 272. Methodenkompetenz im Geschichtsunterricht, Laufzeit: 1. September 2019–31. November 2021, Projektleitung: Mag. Dr. 5 Martina Heßler, Bilder zwischen Kunst und Wissenschaft. Herbert Brettl, Mag. DDr. Evelyn Fertl, M.A., Mag. Dr. Ute Neue Herausforderungen für die Forschung, Geschichte und Leonhardt. Gesellschaft 31,2, 2005, 266-292, hier: 272. 9
Aus der Wissenschaft Brettl & Leonhardt angesehen. Dennoch zeigen sie immer nur einen Aufgabenformate „Ausschnitt“ der Realität und halten einen Moment fest, der von den Fotograf_innen, manchmal be- Um die erwähnten Kompetenzen im Umgang mit absichtigt, manchmal zufällig, ausgewählt wird. Je historischen Fotografien zu festigen und zu ver- nachdem, wie ein Motiv fotografiert wird, kann die- tiefen, werden zu jedem Foto geeignete Aufgaben- ses „realistisch, idealisiert oder verfälscht dargestellt formate erstellt. Einerseits orientieren sich diese an werden“6. den Schritten der Bildanalyse: Im ersten Schritt der Bildbetrachtung sollen die Lernenden ihre Eindrü- Um Fotos für den Unterricht sinnvoll nutzen zu cke, Gedanken und Meinungen äußern. Im zwei- können, müssen die Schüler_innen erkennen, dass ten Schritt erfolgt die Bildbeschreibung. Im dritten diese sehr oft Inszenierungen und Interpretationen Schritt erfolgt die Bildinterpretation, die auch Bild- und keine Abbilder einer historischen Realität dar- beschreibung, Fotograf_innen, Auftraggeber_in- stellen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine einge- nen, Zweck der Aufnahme, historischen Kontext hende Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Foto usw. berücksichtigt. wichtig. Der Geschichtsdidaktiker Michael Sauer bringt es auf den Punkt: „Bilder erschließen sich Zudem werden vermehrt Methoden und Aufgaben nicht von selber, man muss sie befragen, um sie zum eingesetzt, die einen kreativen, handlungs- und Sprechen zu bringen; das will gelernt sein.“7 kompetenzorientierten Umgang mit den Fotos er- lauben. Je nach Foto werden einzelne oder meh- Die Auseinandersetzung mit Fotos erfordert meh- rere Schritte für ein Foto ausgewählt. Die Lernen- rere Kompetenzen, die allgemein unter dem Begriff den können die Aufgaben in Einzel-, Partner- oder Methodenkompetenz zusammengefasst werden. Gruppenarbeit lösen. Die zu den Fotos ausgearbei- Wie sich die historische Methodenkompetenz errei- teten Informationstexte und Arbeitsaufträge eignen chen lässt, ist im Lehrplan Geschichte und Sozial- sich hervorragend, die Lernenden in der histori- kunde/Politische Bildung (2016) angeführt: „Die schen Methoden- aber auch in der Fragekompetenz Eigenständigkeit im kritischen Umgang mit histori- zu schulen. Nur so können die Schüler_innen ler- schen Quellen zum Aufbau von Vorstellungen und nen, angemessen mit dieser spezifischen Form der Erzählungen über die Vergangenheit (Re-Konstruk- Geschichtsdarstellung umzugehen. tion) sowie ein kritischer Umgang mit historischen Darstellungen sind zu fördern (De-Konstruktion). Die Fotos mit den thematischen Basistexten und Auf- Dazu sind Methoden zu vermitteln, um Analysen gabenstellungen wurden von Mag. Elvira Mihalits- und Interpretationen vornehmen zu können.“8 Hanbauer auf die Lernplattform „Lernen Mit System“ (lms.at) gestellt. Die Lerninhalte stehen den Lehrer_ innen bzw. Schüler_innen in Form von E-Books zur 6 Klaus Bergmann, Gerhard Schneider, Das Bild, in: Pandel, Hans-Jürgen / Becher, Ursula A. J. (Hrsg.): Handbuch Verfügung. Diese sind chronologisch nach Dekaden Medien im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts 2010. S. angeordnet. Die Lehrer_innen bzw. die Schüler_in- 226-268; Historische Fotografien, Schüler lernen historische nen wählen ein Thema aus, welches aus dem Infor- Fotografien zu analysieren und zu deuten in: Gesa Büchert, Hannes Burkhardt, Migrationsgeschichte, Sammeln, sortieren mationstext, dem Foto und den Arbeitsaufträgen be- und zeigen, Ein Leitfaden für Lehrkräfte an Gymnasien und steht. Einen kurzen Einblick in die Aufgabenformate Realschulen 2014, S. 106-116, hier: S. 107. sollen die nachfolgenden Beispiele geben. 7 Michael Sauer, Bilder im Geschichtsunterricht, Typen, Interpretationsmethoden, Unterrichtsverfahren, Seelze-Velber 2000, S. 7. Beispiel 1: Grenze als Trennlinie 8 Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich II Nr. 113 vom 18. Mai 2016, S. 4 (Verordnung der Bundesministerin für Bildung und Frauen, mit der die Verordnung über die Lehrpläne Eine Grenze stellt eine Trennungslinie zwischen der Hauptschulen, die Verordnung über die Lehrpläne der Gebieten dar, wobei zwischen geografisch-natürli- Neuen Mittelschulen sowie die Verordnung über die Lehrpläne chen und historisch gewachsenen Grenzen unter- der allgemeinbildenden höheren Schulen). schieden wird. Mit der Errichtung des Burgenlan- 10
Aus der Wissenschaft Brettl & Leonhardt 2. Legt alle gezeichneten Bilder aus. Schaut sie euch in Ruhe an und entschei- det euch für das Bild, das am besten gelungen ist. Beispiel 2: Sonntäglicher Kirchgang In den 1960er Jahren bekann- ten sich 98 % der burgenländi- schen Bevölkerung zum christ- lichen Glauben, rund 40 % besuchten regelmäßig den sonntäglichen Gottesdienst. Nicht immer waren die Motive (Foto: Österreichische Lichtbildstelle / Quelle: Burgenländisches Landesarchiv, Foto- für den Besuch der Sonntags- sammlung) messe von religiöser Überzeu- gung geprägt. Auch der gesell- des wurde 1921 im Westen die Grenze zu Österreich schaftliche Druck und die Angst, ihre Stellung in der aufgehoben und im Osten zu Ungarn zum Leidwe- Dorfgemeinschaft zu verlieren, ließen die Gläubi- sen der Bevölkerung eine neue errichtet. Der neue gen am „Tag des Herrn“ in die Dorfkirchen pilgern. Verlauf der österreichischen Staatsgrenze trennte nun aber ein Gebiet, das über Jahrtausende eine Einheit gebildet hatte. Die Grenze erschwerte in den nachfolgenden Jahrzehnten familiäre und soziale Bindungen, versperrte Marktwege und zerschnitt Verkehrswege. Ebenso wurden Zollgrenzen errich- tet, die die Wirtschaft behinderten und Schmuggler animierten, diese zu umgehen. Auch am Grenz- übergang zwischen Mogersdorf und Szentgott- hárd wurden nun Personen- und Warenkontrollen durchgeführt. Der Stadt Szentgotthárd war durch die neue Grenzziehung 1921 ihr Hinterland abhan- dengekommen und die burgenländischen Arbei- ter_innen hatten vielfach ihre Arbeitsplätze in der Stadt verloren. Arbeitsaufträge 1. Geht paarweise zusammen. Nur einer von euch schaut sich das Foto an und versucht seiner Part- nerin oder seinem Partner das Foto zu beschrei- ben. Der andere hört aufmerksam zu und ver- sucht, anhand der Beschreibung, das Bild nach- (Foto: Rudolf Herbert Berger / Quelle: Burgenländisches zuzeichnen. Landesarchiv, Fotosammlung) 11
Aus der Wissenschaft Brettl & Leonhardt In Sonntagskleidung, mit dem Gebetsbuch in der wölfe“, wie die Schilfschneider im Volksmund hie- Hand machten sich Männer und Frauen dann auf ßen, das Schilf händisch mit Stoßeisen und Rohr- den Weg zur Messe und nahmen auf „ihren“ ange- reißer vom Eis. Danach banden sie es zu Garben stammten Kirchenbänken Platz. und stellten diese am Schilfrand als kegelförmige Bündel („Mandl“) auf. Für die Weiterverarbeitung wurde das Rohr später sortiert und geputzt. Ver- Arbeitsauftrag wendung fand es als Dachdeckung, Stuhlgeflecht, Stalleinstreu, billiges Heizmaterial und Baumate- Schreibt, ohne den Begleittext zum Foto zu sehen, rial, als sogenanntes Stuckaturrohr. Das Jungrohr eine Geschichte zum Dargestellten im Bild, die das diente auch als Viehfutter und wurde im Sommer Vorher und das Nachher berücksichtigt. Ein Part- im Wasser des Neusiedler Sees und der angrenzen- ner oder eine Partnerin überprüft, inwieweit das den Lacken geschnitten. Foto Anhaltspunkte für die Schlüssigkeit der von dir verfassten Geschichte gibt. Arbeitsauftrag Beispiel 3: Schilfschneider Die Lehrperson fertigt für jedes Lernendenpaar eine Kopie des Fotos an und zerschneidet es in ein- Für die Taglöhner in den Ortschaften rund um den zelne Puzzleteile und gibt die Einzelteile in einen Neusiedler See bedeutete die mühevolle Arbeit des Briefumschlag. Schilfschnittes oft die einzige Möglichkeit, im Win- 1. Nehmt jeweils ein Puzzleteil aus eurem Brief- ter Geld zu verdienen. Bei eisigen Temperaturen, umschlag und beschreibt dieses genau. wenn der See zugefroren war, schnitten die „Rohr- 2. Nachdem ihr alle Puzzleteile beschrieben habt, versucht das Thema des Fotos zu nennen. 3. Versucht nun das Foto zusammenzufügen und findet heraus, ob eure Vermutung richtig ist. 4. Benennt Schwierigkeiten, die sich beim Zusam- menstellen des Puzzles ergeben haben. (Foto: Rudolf Herbert Berger / Quelle: Burgenländisches Landesarchiv, Fotosammlung) 12
Aus der Wissenschaft Leimstättner & Taschler Brigitte Leimstättner & Birgit Taschler Im Burgenland – 1984 – die erste Integrationsklasse Österreichs Rückblick – Einblick – Ausblick Rückblick se Idee zu unterstützen und zum Teil mitzutragen (Leimstättner 2010, S. 96). 1984 wurde im Burgenland die erste offizielle lnteg- rationsklasse Österreichs eröffnet. Ein weiterer Aspekt ergab sich aus der im Burgen- land sehr kleinstrukturierten Schullandschaft mit „Dass die erste offizielle Integrationsklasse Öster- seinen vielen Klein- und Kleinstschulen. reichs 1984 im Burgenland initiiert wurde, über- raschte viele. Das Burgenland, das aufgrund seiner Um „drohende Klassenzusammenlegungen bzw. peripheren Lage, seiner besonderen Strukturen und Schulschließungen zu verhindern“, wurden „an seines historischen Hintergrundes lange als rückstän- manchen Regelschulorten Schüler/innen, die […] dig galt, zeigte bzw. entwickelte im Vergleich zu ande- eine zusätzliche Förderung aufgrund von Entwick- ren Bundesländern überraschendes Innovationsver- lungsverzögerungen und Behinderungen gebraucht mögen im Bereich der Integration von Kindern mit hätten, nicht in die Sonderschule geschickt“. „Aller- »besonderen Bedürfnissen«“ (Leimstättner 2010, S. dings blieb ihnen so in vielen Fällen die Förderung 95). am Schulstandort vorenthalten“, „das hat Anfang der 1980er Jahre die Argumentation zur Einrich- „(Die) Integration von Schüler/innen mit besonde- tung einer offiziellen Integrationsklasse erleichtert.“ ren Bedürfnissen begann zuerst als Initiative und (Leimstättner 2010, S. 96). Bewegung und dann als Reform in Gestalt eines Schulversuches. Gerade die erste Phase war von Die Geschichte einer Entwicklung zu erzählen, die viel Engagement und Aufbruchsstimmung geleitet.“ so sehr wie diejenige der ersten Integrationsklasse (Leimstättner 2010, S. 96). Österreichs mit den handelnden Personen verbun- den ist, kann – bei allem Bemühen um distanzierte Was waren nun Gründe für diese Vorreiterrolle? Beschreibung – nicht umhinkommen, einige Blicke auf die persönlichen Beweggründe und Hinter- „Im Gegensatz zu vielen anderen Regionen Öster- gründe zu werfen, die zum Gelingen dieser Innova- reichs fehlten im Burgenland Sonderkindergärten, tion beitrugen. daher wurden behinderte Kinder in die Regelkin- dergärten aufgenommen und dort integriert. […] Die maßgeblichen Personen waren die damals für Durch die erfolgreiche Praxis von Integration an den das Südburgenland zuständige Schulpsychologin Kindergärten konnten Eltern von behinderten und Gertraud Schleichert1 und ich, Brigitte Leimstätt- nichtbehinderten Kindern, aber auch alle anderen ner, als Lehramtsstudentin. Der erste gemeinsame institutionell Beteiligten Sicherheit darüber bekom- konkrete Zugang zum Thema ergab sich 1979 inner- men, dass Integration eine Bereicherung sowohl für halb einer zehntägigen Kunst- und Kulturveranstal- die Gemeinschaft als auch das Individuum darstellen tung in Oberwart: „ausnahmsweise oberwart“.2 In kann.“ (Leimstättner 2010, S. 95f.) Kooperation mit am Thema Interessierten, Thera- peut_innen und körperbehinderten Menschen ent- So fand die Integrationsbewegung im Burgenland stand eine Ausstellung zum Thema „Behindert sein“. von Beginn an vor allem die Eltern als Verbündete. Wichtig war in diesem Zusammenhang darauf hin- Auch Entscheidungsträger_innen aus unterschied- zuweisen, dass man nicht nur behindert ist, sondern lichen Ebenen des Schulsystems waren bereit, die- auch behindert wird, weil es durch die strukturelle 13
Aus der Wissenschaft Leimstättner & Taschler und symbolische Umgebung sehr viele Hindernis- wurde. Diese vier Jahre waren geprägt von gründ- se im Leben gibt. Um das anschaulich zu machen, lichen Auseinandersetzungen mit Theorien der Re- wurden Objekte auf der Hauptstraße in Oberwart formpädagogik, mit Erfahrungen anderer Schulen installiert, die für alle Menschen den gewohnten im deutschsprachigen Raum (v.a. mit Schulen in und gewöhnlichen Alltagsfluss unterbrachen. Trotz Berlin) und auf Erkenntnis und Weiterentwicklung kontroverser Diskussionen gab es damals auch sehr ausgerichteter Reflexion. Begleitet wurde dieser viele positive und interessierte Rückmeldungen auf Prozess von intensiver Elternmitarbeit, unterstützt diese Perspektivenerweiterung. Das bestärkte uns wurde er durch die Schulpsychologie, das Pädago- darin, einen nächsten Schritt zu setzen. gische Institut Burgenland und Expert_innen von außen. In den ersten drei Jahren nach Eröffnung Die über die Ausstellung entstandenen Kontakte er- dieser Integrationsklasse gab es auch drei öster- weiterten sich und es bildete sich eine Gruppe, die reichweite Symposien im Burgenland – unter an- Interesse am Thema Integration hatte. Das führte derem mit dem Thema „Integration ist unteilbar“. dazu, dass wir bald einen ersten Entwurf für die Organisiert wurden diese von der Gruppe BUNGIS Konzeption einer Integrationsklasse formulierten. (Behinderte und Nicht-Behinderte gemeinsam in Dieser beinhaltete u.a. eine begrenzte Schüler_in- Schulen).3 An diesen Symposien nahmen auch viele nenzahl und Unterricht nach unterschiedlichen internationale Expert_innen teil. Rückblickend ge- Lehrplänen. Alle Kinder waren erwünscht – körper- sehen, konnte das alles nur gelingen, weil alle Be- behindert, mehrfachbehindert, Kinder aus unter- teiligten nach ihren jeweiligen Möglichkeiten ihre schiedlich privilegierten Familien und mit verschie- Kompetenzen einbrachten und die Kräfte gebün- denen kulturellen, konfessionellen und ethnischen delt wirksam werden konnten. Hintergründen. Wir sahen unsere Aufgabe darin, den Kindern das zur Verfügung zu stellen, was sie in Einerseits war Gertraud Schleichert als Schulpsy- ihren jeweiligen Lern- und Entwicklungsprozessen chologin auf struktureller Ebene wirksam, anderer- unterstützen könnte. seits leistete ich – Brigitte Leimstättner – als Son- derpädagogin, die nun schon vier Jahre an einer Das Ziel sollte sein, „daß jedes Kind optimal lernen Allgemeinen Sonderschule unterrichtete, auf der kann, und zwar nicht nur im intellektuellen, son- schulisch-praktischen Ebene den notwendigen Bei- dern auch im sozialen Bereich. Durch die Pflege trag. Therapeut_innen brachten ihre Feldkompe- von Eigenständigkeit und Kreativität sollte es mög- tenz ein und die Eltern trugen den Hauptteil zum lich sein, sowohl Behinderte als auch Nichtbehin- Gelingen bei – nämlich durch ihre Motivation, den derte zur bestmöglichen Entfaltung ihrer Potentiale Kindern in der Regelschule einen sozialen Raum zu bringen.“ (Schleichert 1993, S.32) und ein Lernfeld für Anerkennung von Differenz und Umgang mit Diversität zu eröffnen. Es folgte eine intensive Phase der Kooperation zwi- schen Eltern, Lehrer_innen und einzelnen Vertre- Im Jahr 1986 kam die zweite Integrationsklasse ter_innen aus dem Verwaltungs- und Administra- dazu. Ich – Birgit Taschler – unterrichtete diese tionsbereich auf Bundes- und Landesebene. Nach Klasse vier Jahre in der Volksschule und konnte vielen einschneidenden Gesprächen und Verhand- diese als Integrationsklasse weitere vier Jahre in der lungen auf den unterschiedlichsten Ebenen der Hauptschule in Oberwart führen. Schulverwaltung, mehrmaliger Adaptierung des Konzeptes und wiederholten Einreichungen, kam es vor allem auch wegen nachhaltiger Unterstützung Einblick der beteiligten Eltern im September 1984 zur Er- öffnung der ersten Integrationsklasse als Schulver- Zehn Jahre später – im Jahre 1994 – kam es schließ- such an der Volksschule Oberwart, welche bis zur lich „trotz Skepsis und Vorsicht seitens der Schul- vierten Schulstufe von mir als Sonderschullehrerin, verwaltung“ (Leimstättner 2010, S. 97) zur Imple- einer Volksschullehrerin und einer Helferin geführt mentierung von Integration ins österreichische 14
Aus der Wissenschaft Leimstättner & Taschler Regelschulwesen. Es wurden gesetzliche Grund- Geschichte eines besonderen Kindes‘ – das sind sie ja lagen erstellt, die den Umgang mit Integration von alle. Oder: ‚Die Geschichte eines Kindes mit beson- behinderten Kindern im Regelschulsystem klä- deren Bedürfnissen‘ – auch das haben ja alle Kinder. ren sollten. Mit der gesetzlichen Verankerung des Oder so: ‚Die Geschichte eines Kindes mit selektivem Rechts auf Teilhabe am regulären Bildungsweg für Mutismus‘ – ist das nicht eine Reduktion, die nur auf alle Schüler_innen veränderten sich auch die Rah- das Defizit schaut?‘ menbedingungen und die Ressourcenvergabe, wel- che immer stärker unter ökonomischen Zwängen Vielleicht so: ‚Die Geschichte eines Kindes, das zu Be- entschieden wurden, wodurch sich diese im Ver- ginn seiner Schullaufbahn mit uns nicht sprach.“ gleich zur Schulversuchssituation verschlechterten. Als Erwin4 in die Schule eingeschrieben wurde, war In der Folge offenbarten sich „neben den ganz of- seine Mama sehr nervös. Sie hatte zwar gehört, dass fensichtlichen auch die versteckten und verborge- unsere Volksschule eine Integrationsschule ist. Aber nen Mechanismen der Ausgrenzung und die Anteile trotzdem hatte sie Ängste, dass ihr Kind nun als In- und Beteiligung der Schule.“ (Leimstättner 2010, S. tegrationskind abgestempelt werden könnte oder 201; vgl. Bourdieu 1997). gar selektiven Maßnahmen unterzogen würde. Sie befürchtete, dass er somit eine Sonderstellung ein- „ Auf legitime und scheinbar natürliche Weise wird nehmen würde, wenn er vielleicht oft gar aus dem einem Teil der Schüler/innen – und hier geht es nicht Klassenverband herausgenommen werden würde. »nur« um behinderte Kinder – durch Druck, Zwang Die Lehrerin, bereits sehr erfahren im differenzierten und Erniedrigung gezeigt, dass sie keinen Platz in der Unterrichten, war neugierig. Sie stellt im Vorfeld viele Gesellschaft haben, herausfallen, oder an die äußers- Fragen: Wie wird sich das Lesen gestalten, wie kann ten Ränder gedrängt werden. Und das liegt – außer sie erkennen, ob das Kind lesen kann und ob es ihre bei behinderten Kindern – nicht an ihrem kognitiven Anweisungen verstanden hat? So luden wir Lehre- Vermögen, sondern daran, dass die Schule diejenigen rinnen die Sprachheillehrerin zur Konferenz ein. Ge- gut umsorgt, die das Wissen um die kulturellen Codes meinsam tauschten wir Ideen und Erfahrungen aus. mitbringen und diese familiär unterstützt für sich In der ersten Zeit galt das Augenmerk der Gruppe, nutzen können.“ (Leimstättner 2010, S. 201). ihren Dynamiken und dem sozialen Lernen. Erwin machte alles mit. Da, wo es um Sprache ging, stellten In diesem Zusammenhang kann auch von struktu- die Kinder Fragen – meist Entscheidungsfragen – die reller und symbolischer Gewalt gesprochen werden mit Kopfnicken zu beantworten waren, was er auch (Schmidt, Woltersdorff 2018). tat. Wie immer konnten wir Lehrerinnen von den Kindern viel lernen. Auch über die Ebene des Zeich- Die Umsetzung von Integration hat sich seit der nens konnten wir hervorragend untereinander und ersten Integrationsklasse unterschiedlich entwickelt mit Erwin kommunizieren. und wurde auch auf verschiedene Art und Weise ge- lebt. Um den Bogen in die Gegenwart zu spannen, Der Sprachheilunterricht war die einzige Maßnah- beschreibt das Team der Volksschule Jabing – Bir- me, bei der Erwin aus dem Klassenverband heraus- git Taschler ist dort Schulleiterin – einen aktuellen ging. Aber das machten alle anderen Kinder, die den inklusiven Zugang aus ihrer pädagogischen Praxis Sprachheilunterricht besuchten, ebenso. Dieser Un- und skizziert im Anschluss die Erfahrungen und terricht wurde in spielerischer Form angeboten und Erkenntnisse aus diesem Prozess. es wurde auf die Interessen des Kindes eingegangen: Das Nachspielen von kleinen Szenen und das Arbei- ten mit Handpuppen, das hat Erwin sehr viel Spaß Die Geschichte eines Kindes gemacht. Schrittweise wurden dem Kind so zuerst einzelne Geräusche und Lautmalereien, später dann „Schon die Überschrift bringt mich (B. Taschler) erste Silben „entlockt“. zum Nachdenken. Wie kann ich das nennen: ‚Die 15
Aus der Wissenschaft Leimstättner & Taschler Es vergingen Monate, Erwin hatte sich in der Ge- fen. Da an unserer Schule aber sehr oft klassenüber- meinschaft gut eingelebt, die Kinder mochten ihn, greifend und projektorientiert gearbeitet wird, gab es und dass Erwin nicht sprach, kam nur selten zum für Erwin nicht viel Neues. Die Kinder und auch die Tragen. Da der Unterricht an unserer Schule sehr Lehrerin waren Erwin gut bekannt. Die Sinnerfas- schüler_innenzentriert ist und viele Lernmaterialien sung des Gelesenen konnte nun durch viele verschie- in Partner- und Gruppenarbeiten bearbeitet wurden, dene schriftliche Methoden überprüft werden. An der hatte Erwin viele Möglichkeiten, mit den Kindern in Gestaltung seiner Sätze und Aufsätze war ersichtlich, kleinen Gruppen zusammen zu sein. Außerdem muss dass Erwin über einen großen Wortschatz verfügte. gesagt werden, dass die Klassenlehrerin intensiven In Sachunterrichtsprojekten machte Erwin bei der Kontakt zur Mutter pflegte und somit auch erfuhr, Gruppenarbeit mit. Die Lehrerin ließ ihn die Schü- was Erwin besonders gern machte, wie er seine Nach- ler_innen seiner Gruppe auswählen und der nächste mittage gestaltete und was er zuhause erzählte. Denn Schritt begann: Erwin sprach in diesen Kleingrup- in der Kleinfamilie sprach Erwin, dort war er sogar pen im geschlossenen Raum, allerdings nicht mit uns eine richtige Plaudertasche. Es war Winter und die Lehrerinnen. Dieses Privileg blieb vorerst der Sprach- Sprachheillehrerin kam plötzlich mit geröteten Ba- heillehrerin vorbehalten und eben einigen Kindern. cken in die Pause, um zu verkünden: „Erwin hat ge- sprochen“. Einzelne Wörter mit hinter der Hand ver- Eines Tages nun kam ich zur Gruppenarbeit dazu decktem Mund. Es dauerte wieder einige Zeit und die und verkündete, dass ich mit Erwin gerne seinen Hand durfte weichen. Projektteil lesen und üben möchte. Erwin wurde sehr nervös, aber an seinen Augen konnte ich erkennen, Erwin hatte einen besonderen Freund in der Klasse, dass er bereit war. Ich nahm den Druck heraus, in Acar4. Mit diesem Kind verbrachte er die Pause und dem ich ihm das Angebot machte, er dürfe sich den auch beim Zusammenarbeiten wählte Erwin oft Acar Wochentag aussuchen. An dem Tag war Montag. Ich als Partner. Die Sprachheillehrerin fragte Erwin, ob hatte das Gefühl, dass es nun für ihn möglich sei, es Acar mitkommen darf und so war Acar das erste war einfach nur das Gefühl. Schon am nächsten Tag Kind in der Schule, das Erwin sprechen hörte. Er war kam Erwin zu mir und bedeutete, dass er am Don- richtig stolz und verkündete es sofort allen Kindern. nerstag mit mir lesen möchte. Erwin lächelte verschmitzt, sein Kopf war hochrot, so als hätte er eine große Anstrengung vollbracht. Donnerstag: Erwin war sehr nervös. Wir setzten uns in der Klasse zu einem Tisch, ein bisschen abseits der Den nächsten Schritt machte die Mutter. Sie lud übrigen Kinder und wirklich, Erwin las mir leise, Klaus4, ein weiteres Kind, von dem Erwin oft erzähl- sehr leise vor. Seine Hände verrieten seine Nervosi- te, nachhause ein. Auch er erlebte das Sprechen Er- tät. Das Lesen gelang ihm bravourös. Der Bann war wins. Und für ihn war es einfach so: „Zuhause spricht gebrochen. Schritt für Schritt erweiterten wir das Le- Erwin, in der Schule nicht“. Kein Kind fragte warum, sefeld, bis es ihm gelang, vor der ganzen Klasse zu kein Kind bedrängte ihn, kein Kind sonderte ihn aus. lesen. Knapp bevor Erwin unsere Schule verließ, also Auch in der Lesegruppe, in der drei bis vier Kinder am Ende der vierten Schulstufe präsentierte Erwin das ganze Jahr über konstant miteinander lesen, er- ein Sachunterrichtsprojekt mit seiner Gruppe vor al- fanden die Kinder immer wieder neue Aufgaben, len Lehrer_innen und Schüler_innen der gesamten um herauszufinden, ob Erwin das „leise“ Gelesene Schule. Wir waren sehr stolz. Von da an sprach er verstand. In der halbjährlichen Lernfortschrittsdo- auch mit allen Kindern. Der Übergang in eine nächs- kumentation wurden die Lese- und Sprechkompe- te Schule, dachten wir, wird somit um ein Vielfaches tenzen mit der Mutter und der Sprachheillehrerin leichter sein als der Eintritt in unsere Schule: für ihn, besprochen und in seinem Pensenbuch eingetragen. seine Familie, alle Freund_innen und alle Lehrer_in- nen. Darüber freuten wir uns am meisten. Ja, und so Es waren zwei Jahre vergangen und nun gab es den war es auch. Erwin blieb dem Sprechen treu. vorgesehenen Lehrerinnenwechsel. Unsere Schule besteht aus zwei Klassen mit jeweils zwei Schulstu- 16
Aus der Wissenschaft Leimstättner & Taschler Was sind aus unserer Sicht die Erfolgs- und Gelingens- Praxisreflexion unter Einbeziehung relevanter Theo- bedingungen hinsichtlich Integration bzw. Inklusion? rien im Team. Wichtig ist uns der beständige Blick auf die Lernprozesse und eine differenzierte Sicht auf Es lassen sich eine Reihe von inklusiven Wirkme- Kompetenzen des Kindes. Dabei geht es vor allem chanismen aus diesem Praxis-Beispiel herausfiltern: darum, die eigenen Deutungs-, Handlungs- und Be- Zunächst braucht es eine Atmosphäre des Vertrauens wertungsschemata (…), zu hinterfragen, damit eine und der Sicherheit für Eltern und Kinder. Die Mög- dem jeweiligen Kind entsprechende Förderhaltung lichkeit dies herzustellen, hat jede Schulleitung und gewährleistet bleibt und keine unbewussten oder un- jedes Team, indem sie erkennen und anerkennen, reflektierten Zuschreibungen wirkmächtig werden. dass Eltern immer wieder in Sorge sind und diese „Es ist eine Herausforderung, gemeinsam mit den auch bewusst wahrnehmen, um sie auch konstruktiv Kolleg_innen aufzuspüren, welche Haltungen, (ver- in die Begegnungen und in die Kommunikation ein- borgenen) Machtmechanismen und Dynamiken im zubinden. Schon vor Schulbeginn wird das Gespräch Kontakt mit den Schüler_innen zu sozialer Ungleich- und der Austausch mit der Mutter, dem Vater bzw. heit führen und unsere pädagogischen Alltagspraxen Erziehungsberechtigten und der Kindergartenpäda- auf die impliziten Unterscheidungshandlungen hin gogin gesucht. In diesen Gesprächen können die Zu- zu überprüfen. So können wir allenfalls diese ihrer gänge und Besonderheiten der Schule (wie Inklusion, scheinbaren Natürlichkeit entziehen und ihre Unter- alternative Leistungsbeurteilung, individualisierte scheidungsmacht bloßlegen. Dieser Prozess benötigt Pädagogik) vermittelt werden. Der Schuleingang Zeit und Raum und wir nehmen uns diesen Raum in wird kindgerecht gestaltet, im letzten Kindergarten- unterschiedlichen Settings (z.B. professionelle Lern- jahr verbringen die Kinder einige Vormittage in der gemeinschaften mit dem Thema kollegiale Hospita- Schule. Die Lehrerin hat viele verschiedene Möglich- tion, schulinterne Lehrer_innenfortbildung, Supervi- keiten die Kinder zu beobachten. Einerseits findet sion, ... ).“ (Leimstättner 2013) dadurch eine angemessene pädagogische Diagnostik statt, andererseits können mit der Kindergartenpä- Ein wichtiges (Qualitäts-)Thema ist für uns auch der dagogin wichtige Themen professionell besprochen Übertritt unserer Schüler_innen in die nächste Schu- und abgeklärt werden. Alle Beteiligten gehen vorbe- le – wir Pädagog_innen versuchen die Kinder in die- reitet in den Schulbeginn des zukünftigen Jahres. sem Übergang professionell zu begleiten. Es findet kontinuierlich eine enge Zusammenarbeit Dieses Beispiel aus der Praxis zeigt, dass integra- mit den eingebundenen relevanten Umwelten und tive bzw. inklusive Pädagogik möglich ist. Obwohl Vertreter_innen von Unterstützungssystemen (z.B. Integration nun schon so viele Jahre gesetzlich ver- Therapeuten_innen, Schulpsychologie, Kinder- und ankert und seit 2008 Inklusion auch pädagogischer Jugendhilfe, …) statt. In regelmäßigen Abständen Auftrag ist, gibt es doch noch sehr viele Beispiele, werden größere Teambesprechungen abgehalten, in die darauf hinweisen, dass diese „Neuerung“ an der denen die Unterstützer_innen den Lernprozess des Basis – bei den Lehrer_innen – oft gar nicht oder Kindes reflektieren und gemeinsam überlegen, was nur schleppend angenommen wird (vgl. Leimstätt- dem Kind neue Möglichkeiten für seine Entwicklung ner 2012). In vielen Fällen fühlen sich die Klassen- eröffnen kann. Bei Erwin war dies z.B. der enge Kon- lehrer_innen für die sogenannten Integrationskin- takt zu Acar, den die Sprachheillehrerin nutzte. Auch der nicht zuständig und geben die Verantwortung der Zeitpunkt, in der Großgruppe zu sprechen, ver- an die Integrationslehrer_innen oder an die Schul- langte genaue Beobachtung, Einfühlungsvermögen assistent_innen ab. Es ist jedoch sattsam erwiesen, und systematisches Verstehen, um Erwin nicht zu dass Integration und erst recht Inklusion nur dann überfordern, aber ihm auch zum richtigen Zeitpunkt gelingen können, wenn der Umgang mit Differenz etwas zuzutrauen. in der Schule von allen gleichwertig und gleich- würdig mit dem notwendigen Professions(selbst) Teil unseres pädagogischen Alltags und unseres päd- bewusstsein und einem angemessenen Professi- agogischen Tuns ist die kontinuierliche professionelle ons(selbst)verständnis getragen wird. 17
Aus der Wissenschaft Leimstättner & Taschler Wie ist es zu verstehen, dass die Haltung vieler hältnissen heranzuziehen (Bourdieu 1997). Im Fal- Lehrpersonen und Kollegien nicht berufsimplizit le der Integration im pädagogischen Kontext geht es integrativ bzw. inklusiv ist – und somit Integration vor allem darum, den „kollektiven Habitus“ (Bour- bzw. Inklusion in sehr vielen pädagogischen Einhei- dieu 1987) nicht nur der Berufsgruppe der Lehrer_ ten kein selbstverständlicher Teil des professionel- innen sondern auch der Gesellschaft zu verändern. len Alltags ist? „Die Voraussetzung für eine gelingende Integration Georg Feuser einer der ersten Integrationstheo- wäre der Bruch mit dem ‚Modus der Evidenz‘ des retiker diagnostiziert 2008, die Integration sei ge- Schulsystems als Unterschiede produzierende und re- scheitert. Er sieht die Ursache darin, dass sie in produzierende Institution, die über eine ganze Reihe erschütternder Weise unpolitisch geworden sei, von Mechanismen verfügt, um diese Funktion auf- da die Bereitschaft, sich gesellschaftlich mit ihrem recht zu erhalten und die im ‚Zweifelsfall‘ immer be- Anliegen auseinanderzusetzen und politisch zu ex- strebt ist, Änderungen auf ein erträgliches Maß ‚her- ponieren gegen den Widerstand, den sie erfährt, gar unterzukühlen‘“ (Leimstättner 2011, S. 84). nicht oder nur sehr rudimentär vorhanden ist. Feu- ser begründet das Scheitern der Integration unter „Wenn aber […] der Wille gegen diese Widerstände, anderem auch damit, dass das gründliche Denken die auch immer im jeweiligen Habitus der Akteur_ der Integration ausgeblieben sei und segregieren- innen verankert sind, nicht stark genug ist, dann ist de und selektierende Erziehungs-, Bildungs- und es für die Akteur_innen leichter und »sicherer« auf Unterrichtssysteme nicht ausreichend in Frage ge- Gewohntes und selbstverständlich Gewordenes zu- stellt wurden, um sie notwendigerweise umzubauen rückzugreifen“ (Leimstättner 2011, S. 99), d.h. den (Leimstättner 2010, S. 98; Feuser 2008). Die für die „Modus der Evidenz aufrecht zu erhalten.“ (Barlösi- Integration – also das Hineinnehmen eines Men- us 2006, S. 89). schen in ein bereits existierendes System – benö- tigten strukturellen Veränderungen wurden nicht Lehrerinnen und Lehrer stellen eine tragende Säule ausreichend vollzogen. Dies betrifft noch viel mehr des Bildungssystems dar. Ihr Wirken ist die inhaltli- die Inklusion, die von Anfang an ein gemeinsames che Leistungsebene des Schulsystems – mit Thomas System für alle Menschen will, in dem niemand aus- Brüsemeister gesprochen: „Das ist eine Leistung, gegrenzt oder stigmatisiert wird. die innerhalb des Schulsystems von keinem anderen Akteur erbracht werden kann.“ (Brüsemeister 2007, Es gehe nicht darum, den politisch Verantwortli- S. 85). In diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig, chen das Handeln abzunehmen, sondern deutlich sich zu vergegenwärtigen, dass den Lehrpersonen zu machen, „was pädagogisch machbar ist und was sowohl historisch als auch gegenwärtig nicht nur politisch gemacht werden muss, damit das Päda- die Aufgabe der Inhaltsvermittlung zukommt, viel- gogische gemacht werden kann, so es gewollt ist.“ mehr waren sie schon immer „eine wichtige Stütze (Feuser 2008) gesellschaftlicher Ordnungssysteme“ (Leimstättner 2011, S. 11) und „werfen […] als Individuen einen „Die Beantwortung der Frage, weshalb die Bemü- durch ihre jeweilige Sozialisation bedingten Blick hungen der Integrationsbewegung auf halbem Weg auf die Schüler/innen, der ihr pädagogisches Han- gescheitert sind, gelingt vielleicht ein wenig besser, deln oft unbewusst und unabhängig von ihren Fach- wenn wir fragen, was es überhaupt für eine Gesell- kompetenzen mitbestimmt.“ (Leimstättner 2011, S. schaft bedeutet, wenn bestimmte Gruppen etwas ver- 10) Umso erstaunlicher scheint es, dass in den bis- ändern wollen.“ (Leimstättner 2010, S. 99) herigen Forschungen dem biografischen „Gepäck“ der Lehrer_innen, ganz im Gegensatz zu jenem der An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, die Konzepte Schüler_innen, wenig Aufmerksamkeit geschenkt und Analyseinstrumente Pierre Bourdieus im Hin- wurde. (Leimstättner 2012) blick auf (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit und (Re-)Produktion von Macht – und Herrschaftsver- 18
Aus der Wissenschaft Leimstättner & Taschler Differenz und die sich daraus ergebenden Praktiken eingelassen und Erkenntnisse und Erfahrungen un- der Inklusion und Exklusion zeigt sich sowohl zwi- tereinander geteilt. Sich selbst als (Re-)Produzent_ schen Schüler_innen als auch zwischen Lehrer_in- innen sozialer Ungleichheit zu begreifen, führte ei- nen und Schüler_innen verschiedener sozialer und nerseits zu Irritationen und Unsicherheiten, denen kultureller Herkunft und den jeweiligen habituellen ein entsprechender Stellenwert eingeräumt wurde. Prägungen. Andererseits wurde der Umgang mit der eigenen In- volviertheit als Bereicherung beschrieben. Es zeigte Im pädagogischen Kontext ist es unerlässlich, den die eigenen Verstrickungen, machte sie verhandel- institutionellen und personellen Habitus zu reflek- bar und eröffnete somit neue Perspektiven auf den tieren und allenfalls zu verändern. pädagogischen Kontext. Bemerkenswert erscheint dabei, dass dieser Prozess von den Studierenden Bourdieu bietet dazu „zwei Sichtweisen, die sich ge- als wichtige Grundlage für methodisch-didaktische genseitig ergänzen bzw. verstärken, erklärt werden. Interventionen erachtet wurde. Es war zu beob- Einerseits zeichnet sich der Habitus durch eine »au- achten, dass sie mit dem systematischen Verstehen ßerordentliche Trägheit (aus), die aus der Einschrei- ganz selbstverständlich auf adäquate methodisch- bung der sozialen Strukturen in die Körper resul- didaktische Herangehensweisen zugreifen konnten tiert«, und eine dauerhafte Transformation desselben (Schrammel, Leimstättner 2018). ist nur durch eine »wahre Arbeit der Gegendressur, die ähnlich dem athletischen Training wiederholte Um der Stärkung reflexiver Kompetenzen mehr Übungen einschließt« zu erzielen, andererseits gibt Raum und Bedeutung zu geben, ist es allerdings er den Akteur/innen auch eine »generierende und notwendig, entsprechende strukturelle Rahmen- einigende, konstruierende und einteilende Macht5« bedingen zu schaffen. Reflexivität darf nicht mehr [,] (und) bindet sie gleichzeitig an ihren Auftrag“ wie bisher dem Engagement des/der Einzelnen und (Leimstättner 2011, S. 184; Bourdieu 2001, S. 220). seiner/ihrer Freiwilligkeit, der Eigenverantwortung oder der Beliebigkeit überlassen werden, sondern muss impliziter Bestandteil des Berufsbildes sein. Ausblick Biografiearbeit und die Anwendung der Methode der intersektionalen Analyse schaffen schon in der Lehrer_innen sind die Akteur_innen – sie sind Ausbildung eine nachhaltige Sensibilisierung, wie Teil des „sozialen“ Spiels (vgl. Bourdieu 1987a). Es die eigene Positionierung im sozialen Raum den ist eine bedeutende Frage, welche habituellen Dis- Blick auf Schüler_innen beeinflusst und bestimm- positionen Lehrer_innen aus ihrem Elternhaus mit- te Formen der Ausgrenzung oder Diskriminierung nehmen, welche Sozialisationsformen sie auf ihrem begünstigen kann. Gleichzeitig muss das Bewusst- eigenen Bildungsweg durchlaufen, welche feldspe- sein für diese Auseinandersetzung alle Ebenen des zifischen Diskrepanzen ihnen in ihrem alltäglichen Schulsystems durchdringen, um den Anspruch er- Handeln begegnen (Leimstättner 2011, S. 86) und heben zu können, den Umgang mit Differenz und welche Bedingungen geschaffen werden können, Diversität ernst zu nehmen (vgl. Leimstättner 2010, um ihnen die ungeteilte Anerkennung von Diffe- S. 193). renz (vgl. Mecheril, Plößer 2011) in Form von refle- xiven Prozessen zu erleichtern. Es ist notwendig, die Kontinuierliche professionelle Praxisreflexionen Doxa (vgl. Bourdieu 1987a) – das scheinbar Natür- mit relevanten Theorien als ein wichtiger Teil des liche – zur Disposition zu stellen. Theorien zur Re- Professialisierungskontinuums sind unabdingbar produktion von Chancenungleichheit in der Schu- für eine integrative, inklusive Haltung im pädago- le, die Schule als Mittelschichtsinstitution und die gischen Kontext. Orientierung von Lehrer_innen an unhinterfragten kulturellen Normen stellen hierfür den Hebel dar. Eine Gruppe von Studierenden der Pädagogischen Hochschule Burgenland hat sich auf diesen Prozess 19
Aus der Wissenschaft Leimstättner & Taschler Endnoten Bremer, Helmut (2006). Die Notwendigkeit milieubezogener pädagogischer Reflexivität. Zum Zusammenhang von Habi- 1 Gertraud Schleichert hat in ihrer Publikation „Behinderte tus, Selbstlernen und sozialer Selektivität. In: Friebertshäuser, und Nichtbehinderte gemeinsam in Schulen. Integrierte Klasse Barbara; Rieger, Markus; Wigger, Lothar (Hg.). Reflexive Er- in Oberwart – Dokumente aus acht Jahren Schulversuch“ sehr ziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss detailliert die Geschichte der Integration im Burgenland be- an Pierre Bourdieu. Wiesbaden: VSA Verlag für Sozialwissen- schrieben und dargestellt. schaften. S.289-S.308. 2 https://www.peterwagner.at/topmenu/arbeiten/werkliste- Brüsemeister, Thomas (2007). Steuerungsakteure und ihre aktionen-projekte/ausnahmsweise-oberwart/ Handlungslogiken im Mehr- ebenensystem der Schule. In: Kussau, Jürgen; Brüsemeister, Thomas. Governance, Schule 3 http://www.vereinvamos.at/cms/de/ueber-uns/vereinsge- und Politik. Zwischen Antagonismus und Kooperation. Wies- schichte/index.html baden: Springer VSA. S.63-S.95. 4 Die Namen der Kinder wurden verändert. Feuser, Georg (2008). Von Selektion über Integration zu In- klusion. Vortrag beim SYMPOSIUM: Die inklusive Schule 5 Akteur_innen konstruieren die Gesellschaft und die Gesell- –JEDE/R IST WILLKOMMEN Katholische Pädagogische schaft konstruiert die Akteur_innen – diese Wechselwirkungen Hochschule, (Eggenberg) in Kooperation mit Landesschulrat sind als „zirkuläre Beziehungen“ zu begreifen (Papilloud 2003, für Steiermark & Heilpädagogische Gesellschaft Steiermark S.39-S.40). (HPG) Graz: 4. und 5.April 2008. Das Manuskript wurde mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Friebertshäuser, Barbara; Rieger-Ladich, Markus; Wigger, Literatur Lothar (2006) (Hg.). Reflexive Erziehungswissenschaft. For- schungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu. Wies- Barlösius, Eva (2006). Pierre Bourdieu. Frankfurt/Main: Cam- baden: VSA Verlag für Sozialwissenschaften. pus Verlag. Frotschnig, Christina; Leimstättner, Brigitte; Schönfeldinger, Bourdieu, Pierre (1987). Die feinen Unterschiede. Die Kritik Alexandra; Schrammel, Sabrina & Taschler, Birgit (2017). der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main: Suhrkamp Schulübergreifende Kollegiale Hospitation. In: ph publico. im- Verlag. pulse aus wissenschaft, forschung und pädagogischer praxis. 12/2017. Eisenstadt: Weber Verlag. S.81-S.88. Bourdieu, Pierre (1987a). Sozialer Sinn. Kritik der theoreti- schen Vernunft. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag. Leimstättner, Brigitte (2010). Vom inneren Tragen äußerer Ver- änderungen. Lehrer/innen und Schulleiter/innen in der Spirale Bourdieu, Pierre (1997). Die verborgenen Mechanismen der der Schulentwicklung. Unveröffentlichte Dissertation. Graz: Macht. Hamburg: VSA Verlag für Sozialwissenschaften. Karl-Franzens-Universität. Bourdieu, Pierre (2001). Meditationen. Zur Kritik der scholas- Leimstättner, Brigitte (2011). Das Feld Schule und seine Ak- tischen Vernunft. Frankfurt/Main: Suhrkamp. teur/innen. In: Erler, Ingolf; Laimbauer, Viktoria; Sertl, Mi- chael (Hg.). Wie Bourdieu in die Schule kommt. Schulheft, Jg. Bourdieu, Pierre (2001a). Wie die Kultur zum Bauern kommt. 36, Nr. 142. 2011. Innsbruck-Wien-Bozen: Studienverlag. S.78- Hamburg: VSA Verlag für Sozialwissenschaften. S.86. Bourdieu, Pierre (2005). Die Männliche Herrschaft. Frankfurt Leimstättner, Brigitte (2012 ). Wir nehmen alle mit. „Wir lassen am Main: Suhrkamp. keinen zurück.“ In: Erziehung und Unterricht. Neues Lernen 20
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