Phpublico - PH Burgenland

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Phpublico - PH Burgenland
phpublico
    Fachzeitschrift für Bildung und Erziehung
    Dezember 2021

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    100 Jahre Burgenland
    100 Jahre Pädagog_innenbildung
    Herbert Brettl & Ute Leonhardt
    Brigitte Leimstättner & Birgit Taschler
    Andrea Zorka Kinda-Berlakovich
    Claudia Schneider
    Lukas Pallitsch
    Martin A. Hainz
    Thomas Leitgeb, Alexander Zimmermann & Michael Leitgeb
    Georg Huemer
Phpublico - PH Burgenland
Impressum

phpublico | Heft 8 | Dezember 2021

Herausgeber_innen:
Sabine Weisz, Herbert Gabriel, Sabine Haider, Martin A. Hainz

Verlag und Erscheinungsort:
E. Weber Verlag GmbH, 7000 Eisenstadt

Druck:
druck.at, 2544 Leobersdorf

ISBN:
978-3-85253-715-3

Redaktionsteam:
Martin A. Hainz, Sabine Haider, Stefan Meller, Lukas Pallitsch,
Sabrina Schrammel, Andrea Weinhandl, Alexander Zimmermann

Kontakt und Korrespondenzadresse:
calls.phpublico@ph-burgenland.at

Satz & Layout:
Stefan Meller

Alle Rechte bei den Autorinnen und Autoren.

Private Pädagogische Hochschule Burgenland
Stabstelle Forschung
Thomas-Alva-Edison-Straße 1, 7000 Eisenstadt
Phpublico - PH Burgenland
Inhaltsverzeichnis

Sabine Weisz & Herbert Gabriel
Vorwort												                                                                                     5

Martin A. Hainz
Editorial											         7

Aus der Wissenschaft

Herbert Brettl & Ute Leonhardt
„Bildgedächtnis Burgenland“ | 100 Jahre – 100 Fotos							                                              9

Brigitte Leimstättner & Birgit Taschler
Im Burgenland – 1984 – die erste Integrationsklasse Österreichs | Rückblick – Einblick – Ausblick 		   13

Andrea Zorka Kinda-Berlakovich
Einblicke in das zweisprachige Schulwesen der burgenländischen Kroat_innen von 1921-2021		             22
Uvidi u dvojezični školski sustav gradišćanskih Hrvatov od 1921.-2021. ljeta				                       27

Claudia Schneider
Gerald Tarnai – Lehrer, Direktor und Zeitzeuge der burgenländischen Schulgeschichte. Ein Gespräch.     32

Lukas Pallitsch
Unansehnlichen Spuren der Geschichte ein Ansehen geben					                                            37

Martin A. Hainz
Distant Learning – Lasset die Kinder nicht zu mir kommen						                                         42

Thomas Leitgeb, Alexander Zimmermann & Michael Leitgeb
Das Zentrum für digitale Kompetenz der Privaten Pädagogischen Hochschule Burgenland:
im Dienst einer zukunftsorientierten Bildung im Burgenland – auf die nächsten 100 Jahre		              48

Rezensionen

Martin A. Hainz
Marcus Steinweg: Metaphysik der Leere									56

Georg Huemer
Jutta Treiber/Petra Neulinger: Frieda & Friedo – die guten Geister von Burg Schlaining –
ein burgenländisches Friedensmärchen					 				57

Autor_innenverzeichnis											60
Phpublico - PH Burgenland
Phpublico - PH Burgenland
Vorwort                                                                               Weisz & Gabriel

Sabine Weisz & Herbert Gabriel

100 Jahre Burgenland

„100 Jahre Burgenland“ – das veranlasst auch die        dazu notwendig, nicht nur in die eigene Kultur, Ge-
Private Pädagogische Hochschule Burgenland dazu,        schichte und Lebensweise einzutauchen. Doch auch
diesem Bundesland Österreichs, dem jüngsten, ein        die in diesem Band veröffentlichten Texte können
Geschenk zu bereiten. Was wäre dem Anlass dieses        den Blick auf 100 Jahre Burgenland bereichern und
Jubiläums für unsere Hochschule angemessener als        dazu führen, die Geschichte unseres Bundeslandes
eine Publikation zu dessen Geschichte, Gegenwart        mit erweiterten Facetten zu betrachten.
und Zukunft? Und so haben wir dazu eingeladen,
an dieser besonderen Ausgabe unseres phpublico          Wir danken allen Autor_innen und dem Redak-
mitzuwirken, sodass wir dem Burgenland ein blei-        tionsteam, und wünschen Ihnen bei der Lektüre
bendes Geschenk überreichen können.                     unserer Sonderausgabe von phpublico neue, ins-
                                                        pirierende Zugänge zur Kultur und Geschichte des
Wir haben uns sehr über die zahlreichen Einrei-         Burgenlandes.
chungen gefreut, sind wir doch dem Burgenland
von Kindheit an verbunden. „Das aufgeklärte Be-         Sabine Weisz und Herbert Gabriel
wusstsein ist also auch ein Bewusstsein der histo-
rischen Zufälligkeit“, schreibt Peter Bieri in seinem
Werk Wie wäre es, GEBILDET zu sein? (2017). Er
lädt ein, neugierig zu sein, der Frage nachzugehen,
wie es zu dem, was wir täglich als selbstverständlich
wahrnehmen, gekommen ist. Wie wir wissen, ist es

                                                                                                        5
Phpublico - PH Burgenland
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Editorial                                                                                             Hainz

Martin A. Hainz

Sehr geehrte Leserin,
sehr geehrter Leser!

Am 12. Dezember 1921 kam das Burgenland zur             tituieren, erst sprachlich leisten musste. 1921 gab es
Welt; oder jedenfalls zu Österreich. Es ist ein Über-   im Burgenland eine Maturaklasse, so Brettl, die Bil-
gangsland, im allerbesten Sinne. Denn dort, wo          dungszentren waren im Wesentlichen bei Ungarn
Moderne besteht, ist Übergangsland, also Gegen-         geblieben. Und dennoch war das Bildungsniveau
wart nicht als die von Mignolo in The Darker Side of    nicht anders als im Rest Österreichs.
Western Modernity beschriebene Abschottung wi-
der das Vergangene, sondern als das Wissen, selbst      Das „Aschenputtel am östlichen Rande“ hat sei-
noch unzeitgemäß zu sein. Schon darum gilt, was         nen Platz in Österreich und Europa gefunden, es
Wilhelm von Humboldt formulierte: „Nur wer die          hat sich gefunden, formuliert Brettl, es geht seinen
Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.“ Nur wer         Weg.11 Unsere PPH steht hierfür. Wir stehen dafür,
das kennt und erkennt, was an ihm ein Vergange-         uns und einander zu bilden und kennenzulernen,
nes sein müsste, aber auch das, was aus dem Ver-        im Ungarischen, Burgenland-Kroatischen und Ös-
gangenen wie ein Vorgriff ragt, dem weitet sich der     terreichischen: In der Geschichte der letzten hun-
Horizont.                                               dert Jahre ist also vor allem auch viel Gegenwärtiges
                                                        und Zukünftiges gegeben, das es in Erinnerung zu
Andreas Vitásek schreibt in diesem Sinne im lesens-     halten und zu bedenken gilt. Das Burgenland war,
werten Band Vom Kommen und Gehen, den Peter             ist und bleibt ein Bildungsland, ein Immer-noch-
Menasse und Wolfgang Wagner anlässlich des Cen-         zeitgemäßer-Werden. Aspekte seiner Vergangenheit
tenniums bei Böhlau herausgegeben haben, man            wie seiner Gegenwart und Zukunft stellt Heft #8
müsse ohne Nostalgie beim Burgenland eben auch          von ph publico vor.
an Rechnitz, über das soeben Eva Menasse geschrie-
ben hat, und an den Terror von Oberwart denken.         Den Beginn machen Beispiele aus dem fotografi-
Das darf nicht vergessen werden.                        schen Bildgedächtnis des Burgenlandes mit Refle-
                                                        xionen zu ihrer Medialität, der (vor allem burgen-
Daran ist und bleibt zu denken. Dennoch: Nicht          ländischen) Geschichte und didaktischen Impulsen
nur daran ist zu denken, sondern eben auch an den       von Herbert Brettl und Ute Leonhardt.
Aufbruch daraus, die Aufarbeitung, das gerade da-
raus dann entwickelte Potential dieses Staates und      Diversität und Integration behandeln Brigitte
dieses Bundeslandes. Nur Vergangenheit und Zu-          Leimstättner und Birgit Taschler, Gegenstand
kunft gemeinsam gestatten es, sich darum dort im-       ihres Beitrags ist die erste Integrationsklasse Öster-
merhin positionieren zu wollen, wo das Akute ist        reichs, die 1984 im Burgenland zustande kam.
und Über- und Ausgänge geschehen. Dafür steht
das Burgenland heute: für das Überwinden von
Grenzen, cis- und transleithanisch. Herbert Brettl,
der auch am Gelingen dieses Hefts beteiligt war, for-   1 Der Vortrag ist unter
                                                        https://youtu.be/pZroWGX_lLE?t=969
muliert das Fragile Burgenlands, das nach dem Ers-      nachzuhören.
ten Weltkrieg entstanden im Zweiten schon wieder
Geschichte geworden zu sein schien, als die auch
eines Landes, das seine Legitimität, um sich kons-

                                                                                                           7
Phpublico - PH Burgenland
Editorial                                              Hainz

Von ihr als Beispiel ausgehend wird auch ein Aus-
blick formuliert. Andrea Zorka Kinda-Berlako-
vich gibt hierauf in ihrer – zweisprachigen – Unter-
suchung Einblicke in das zweisprachige Schulwesen
der burgenländischen Kroat_innen von 1921-2021,
in Geleistetes und uns noch Aufgegebenes.

Persönliche Memoralistik steht im Mittelpunkt des
Gesprächs, das Claudia Schneider mit dem Leh-
rer, Direktor und Zeitzeugen der burgenländischen
Schulgeschichte Gerald Tarnai führte. Zu lernen
bedeute, „sich an den anderen orientieren, ohne
sich selbst aufzugeben“, so heißt es in dem Beitrag,
der Erfahrungen und Ausblicke bietet.

Auf die Spur des jüdischen Erbes begibt sich in
seinen Betrachtungen Lukas Pallitsch, der hierbei
mit Rückgriff auf Theoretiker wie Benjamin und
Adorno vor allem auch das, was zerstört wurde und
heute verloren ist, behutsam (wieder) kenntlich
macht. Dine Petriks literarischer Essay begibt sich
desgleichen auf die Suche nach Vergessenem und
Verdrängtem, wobei unter anderem die Lyrik Her-
tha Kräftners in Erinnerung gerufen wird. Distanz
als Problem, zumal in Zeiten der Pandemie, aber
auch als Chance, wenn Unterricht nämlich Refle-
xion lehrt, steht im Mittelpunkt des Aufsatzes von
Martin A. Hainz.

Im letzten Aufsatz des Heftes schildern Thomas
Leitgeb, Alexander Zimmermann und Michael
Leitgeb das Zentrum für digitale Kompetenz der
Privaten Pädagogischen Hochschule Burgenland als
Beispiel zukunftsorientierter Bildung im Burgen-
land, wo anhand von u.a. Computational Thinking
und Educational Robotics Problemformulieren und
-lösen vermittelt wird. Das Heft beschließen zwei
Buchvorstellungen: von Martin A. Hainz zu einem
philosophischen Essay von Marcus Steinweg und,
zu einem Kinderbuch, das in Zusammenarbeit mit
der PPH Burgenland entstand, Georg Huemer.

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Aus der Wissenschaft                                                                             Brettl & Leonhardt

Herbert Brettl & Ute Leonhardt

„Bildgedächtnis Burgenland“
100 Jahre – 100 Fotos

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich              vaten und öffentlichen Sammlungen für die Ver-
die Technik der Fotografie rasant. Neben Berufs-              wendung im Schulunterricht didaktisch aufbereitet.
fotograf_innen griffen immer mehr Privatperso-                So sollen Schüler_innen im Umgang mit Bildmedi-
nen zur Kamera und fotografierten für sie wichtige            en sensibilisiert werden, um diese richtig analysie-
Ereignisse, wie Reisen, Ausflüge, Bräuche, Feste, Fa-         ren, interpretieren und hinterfragen zu lernen.
milientreffen und Alltagsszenen. Fotos sind somit ein
Spiegel der Gesellschaft und zeigen auf, was zu einer         Die ausgewählten Fotos sollen das Interesse der
bestimmten Zeit „als abbildungswürdig, als normal,            Betrachter_innen wecken und nehmen die politi-
als abweichend, als schön oder hässlich“1 galt.               schen, sozialen und kulturellen Ereignisse sowie die
                                                              wirtschaftliche Entwicklung des Burgenlandes in
Heute begegnen uns Fotos nahezu in allen Lebens-              den Blick. Sie sollen dazu beitragen, die burgenlän-
bereichen, sei es im Internet, in sozialen Netzwer-           dische Identität sichtbar zu machen und sich mit ihr
ken, im Fernsehen, auf Plakaten, in Zeitungen usw.            auseinanderzusetzen.
Meist werden diese Bilder nur flüchtig betrachtet.
Um ein Foto zur Gänze zu erfassen und dessen
Botschaft zu verstehen, bedarf es aber Zeit. Fotos            Methodisch-didaktische Anmerkungen
spiegeln auch das individuelle und kollektive Ge-
schichtsbewusstsein wider. Sie werden „somit zur              In den letzten Jahren ist die Visual History immer
visuellen Erinnerung“2 und prägen die burgenlän-              mehr in den Fokus der Geschichtswissenschaft
dische Erinnerungskultur.                                     gerückt.4 Zurecht wird heute aber immer wieder
                                                              kritisch angemerkt, dass Fotos in der Vergangen-
Anlässlich des Jubiläums „100 Jahre Burgenland“               heit nur als historisches Dokument behandelt wur-
entwickelten Mag. Dr. Herbert Brettl, Mag. Dr.                den. Sie wurden inhaltlich gelesen, „ohne dass ihre
Ute Leonhardt und Mag. DDr. Evelyn Fertl, M.A.,               Formgebung, ihre Ästhetik, ihre Produktionsbe-
alle Lehrbeauftragte der Privaten Pädagogischen               dingungen, die Instrumente ihrer Erzeugung und
Hochschule Burgenland, das „Bildgedächtnis Bur-               die bildspezifischen Mittel zur Sinnproduktion aber
genland“3. Für dieses in Kooperation mit dem Bur-             nur selten Aufmerksamkeit fänden“.5
genländischen Landesarchiv und der Bildungsdi-
rektion Burgenland durchgeführte Projekt wurden               Fotos wurden oftmals aufgrund ihrer vermeintlich
100 Fotografien aus den umfangreichen Beständen               hohen Authentizität als Abbild der Wirklichkeit
des Burgenländischen Landesarchivs sowie aus pri-
                                                              4     Zur Fotografie als historischer Quelle: Jens Jäger,
1   Jens Jäger: Fotografie und Geschichte. Campus-Verlag,
                                                              Fotografiegeschichte(n). Stand und Tendenzen der
Frankfurt/M. (2009), S. 14 f.
                                                              historischen Forschung, Archiv für Sozialgeschichte 48, 2008,
2     Herwig Buntz, Fotografien im Geschichtsunterricht,      511–537; ders. 2009; Jens Jäger/Martin Knauer (Hg.), Bilder als
Didaktische Überlegungen, Praxis Geschichte, Heft 01/2006.,   historische Quellen? Dimension der Debatten um historische
S. 11-13.                                                     Bildforschung, München 2009.
                                                              Martina Heßler, Bilder zwischen Kunst und Wissenschaft.
3 Bildgedächtnis Burgenland. Das Foto als Geschichtsquelle
                                                              Neue Herausforderungen für die Forschung, Geschichte und
– Didaktisch aufbereitete Aufgabenformate zur Schulung der
                                                              Gesellschaft 31,2, 2005, 266–292, hier: 272.
Methodenkompetenz im Geschichtsunterricht, Laufzeit: 1.
September 2019–31. November 2021, Projektleitung: Mag. Dr.    5 Martina Heßler, Bilder zwischen Kunst und Wissenschaft.
Herbert Brettl, Mag. DDr. Evelyn Fertl, M.A., Mag. Dr. Ute    Neue Herausforderungen für die Forschung, Geschichte und
Leonhardt.                                                    Gesellschaft 31,2, 2005, 266-292, hier: 272.

                                                                                                                          9
Aus der Wissenschaft                                                                          Brettl & Leonhardt

angesehen. Dennoch zeigen sie immer nur einen                   Aufgabenformate
„Ausschnitt“ der Realität und halten einen Moment
fest, der von den Fotograf_innen, manchmal be-                  Um die erwähnten Kompetenzen im Umgang mit
absichtigt, manchmal zufällig, ausgewählt wird. Je              historischen Fotografien zu festigen und zu ver-
nachdem, wie ein Motiv fotografiert wird, kann die-             tiefen, werden zu jedem Foto geeignete Aufgaben-
ses „realistisch, idealisiert oder verfälscht dargestellt       formate erstellt. Einerseits orientieren sich diese an
werden“6.                                                       den Schritten der Bildanalyse: Im ersten Schritt der
                                                                Bildbetrachtung sollen die Lernenden ihre Eindrü-
Um Fotos für den Unterricht sinnvoll nutzen zu                  cke, Gedanken und Meinungen äußern. Im zwei-
können, müssen die Schüler_innen erkennen, dass                 ten Schritt erfolgt die Bildbeschreibung. Im dritten
diese sehr oft Inszenierungen und Interpretationen              Schritt erfolgt die Bildinterpretation, die auch Bild-
und keine Abbilder einer historischen Realität dar-             beschreibung, Fotograf_innen, Auftraggeber_in-
stellen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine einge-           nen, Zweck der Aufnahme, historischen Kontext
hende Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Foto                usw. berücksichtigt.
wichtig. Der Geschichtsdidaktiker Michael Sauer
bringt es auf den Punkt: „Bilder erschließen sich               Zudem werden vermehrt Methoden und Aufgaben
nicht von selber, man muss sie befragen, um sie zum             eingesetzt, die einen kreativen, handlungs- und
Sprechen zu bringen; das will gelernt sein.“7                   kompetenzorientierten Umgang mit den Fotos er-
                                                                lauben. Je nach Foto werden einzelne oder meh-
Die Auseinandersetzung mit Fotos erfordert meh-                 rere Schritte für ein Foto ausgewählt. Die Lernen-
rere Kompetenzen, die allgemein unter dem Begriff               den können die Aufgaben in Einzel-, Partner- oder
Methodenkompetenz zusammengefasst werden.                       Gruppenarbeit lösen. Die zu den Fotos ausgearbei-
Wie sich die historische Methodenkompetenz errei-               teten Informationstexte und Arbeitsaufträge eignen
chen lässt, ist im Lehrplan Geschichte und Sozial-              sich hervorragend, die Lernenden in der histori-
kunde/Politische Bildung (2016) angeführt: „Die                 schen Methoden- aber auch in der Fragekompetenz
Eigenständigkeit im kritischen Umgang mit histori-              zu schulen. Nur so können die Schüler_innen ler-
schen Quellen zum Aufbau von Vorstellungen und                  nen, angemessen mit dieser spezifischen Form der
Erzählungen über die Vergangenheit (Re-Konstruk-                Geschichtsdarstellung umzugehen.
tion) sowie ein kritischer Umgang mit historischen
Darstellungen sind zu fördern (De-Konstruktion).                Die Fotos mit den thematischen Basistexten und Auf-
Dazu sind Methoden zu vermitteln, um Analysen                   gabenstellungen wurden von Mag. Elvira Mihalits-
und Interpretationen vornehmen zu können.“8                     Hanbauer auf die Lernplattform „Lernen Mit System“
                                                                (lms.at) gestellt. Die Lerninhalte stehen den Lehrer_
                                                                innen bzw. Schüler_innen in Form von E-Books zur
6    Klaus Bergmann, Gerhard Schneider, Das Bild, in:
Pandel, Hans-Jürgen / Becher, Ursula A. J. (Hrsg.): Handbuch    Verfügung. Diese sind chronologisch nach Dekaden
Medien im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts 2010. S.          angeordnet. Die Lehrer_innen bzw. die Schüler_in-
226-268; Historische Fotografien, Schüler lernen historische    nen wählen ein Thema aus, welches aus dem Infor-
Fotografien zu analysieren und zu deuten in: Gesa Büchert,
Hannes Burkhardt, Migrationsgeschichte, Sammeln, sortieren      mationstext, dem Foto und den Arbeitsaufträgen be-
und zeigen, Ein Leitfaden für Lehrkräfte an Gymnasien und       steht. Einen kurzen Einblick in die Aufgabenformate
Realschulen 2014, S. 106-116, hier: S. 107.                     sollen die nachfolgenden Beispiele geben.
7    Michael Sauer, Bilder im Geschichtsunterricht, Typen,
Interpretationsmethoden, Unterrichtsverfahren, Seelze-Velber
2000, S. 7.
                                                                Beispiel 1: Grenze als Trennlinie
8 Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich II Nr. 113
vom 18. Mai 2016, S. 4 (Verordnung der Bundesministerin für
Bildung und Frauen, mit der die Verordnung über die Lehrpläne   Eine Grenze stellt eine Trennungslinie zwischen
der Hauptschulen, die Verordnung über die Lehrpläne der         Gebieten dar, wobei zwischen geografisch-natürli-
Neuen Mittelschulen sowie die Verordnung über die Lehrpläne     chen und historisch gewachsenen Grenzen unter-
der allgemeinbildenden höheren Schulen).
                                                                schieden wird. Mit der Errichtung des Burgenlan-

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Aus der Wissenschaft                                                                          Brettl & Leonhardt

                                                                                     2. Legt alle gezeichneten
                                                                                        Bilder aus. Schaut sie euch
                                                                                        in Ruhe an und entschei-
                                                                                        det euch für das Bild, das
                                                                                        am besten gelungen ist.

                                                                                     Beispiel 2: Sonntäglicher
                                                                                     Kirchgang

                                                                                      In den 1960er Jahren bekann-
                                                                                      ten sich 98 % der burgenländi-
                                                                                      schen Bevölkerung zum christ-
                                                                                      lichen Glauben, rund 40 %
                                                                                      besuchten regelmäßig den
                                                                                      sonntäglichen Gottesdienst.
                                                                                      Nicht immer waren die Motive
(Foto: Österreichische Lichtbildstelle / Quelle: Burgenländisches Landesarchiv, Foto- für den Besuch der Sonntags-
sammlung)                                                                             messe von religiöser Überzeu-
                                                                                      gung geprägt. Auch der gesell-
des wurde 1921 im Westen die Grenze zu Österreich                 schaftliche Druck und die Angst, ihre Stellung in der
aufgehoben und im Osten zu Ungarn zum Leidwe-                     Dorfgemeinschaft zu verlieren, ließen die Gläubi-
sen der Bevölkerung eine neue errichtet. Der neue                 gen am „Tag des Herrn“ in die Dorfkirchen pilgern.
Verlauf der österreichischen Staatsgrenze trennte
nun aber ein Gebiet, das über Jahrtausende eine
Einheit gebildet hatte. Die Grenze erschwerte in den
nachfolgenden Jahrzehnten familiäre und soziale
Bindungen, versperrte Marktwege und zerschnitt
Verkehrswege. Ebenso wurden Zollgrenzen errich-
tet, die die Wirtschaft behinderten und Schmuggler
animierten, diese zu umgehen. Auch am Grenz-
übergang zwischen Mogersdorf und Szentgott-
hárd wurden nun Personen- und Warenkontrollen
durchgeführt. Der Stadt Szentgotthárd war durch
die neue Grenzziehung 1921 ihr Hinterland abhan-
dengekommen und die burgenländischen Arbei-
ter_innen hatten vielfach ihre Arbeitsplätze in der
Stadt verloren.

Arbeitsaufträge

1. Geht paarweise zusammen. Nur einer von euch
   schaut sich das Foto an und versucht seiner Part-
   nerin oder seinem Partner das Foto zu beschrei-
   ben. Der andere hört aufmerksam zu und ver-
   sucht, anhand der Beschreibung, das Bild nach-              (Foto: Rudolf Herbert Berger / Quelle: Burgenländisches
   zuzeichnen.                                                 Landesarchiv, Fotosammlung)

                                                                                                                   11
Aus der Wissenschaft                                                                  Brettl & Leonhardt

In Sonntagskleidung, mit dem Gebetsbuch in der            wölfe“, wie die Schilfschneider im Volksmund hie-
Hand machten sich Männer und Frauen dann auf              ßen, das Schilf händisch mit Stoßeisen und Rohr-
den Weg zur Messe und nahmen auf „ihren“ ange-            reißer vom Eis. Danach banden sie es zu Garben
stammten Kirchenbänken Platz.                             und stellten diese am Schilfrand als kegelförmige
                                                          Bündel („Mandl“) auf. Für die Weiterverarbeitung
                                                          wurde das Rohr später sortiert und geputzt. Ver-
Arbeitsauftrag                                            wendung fand es als Dachdeckung, Stuhlgeflecht,
                                                          Stalleinstreu, billiges Heizmaterial und Baumate-
Schreibt, ohne den Begleittext zum Foto zu sehen,         rial, als sogenanntes Stuckaturrohr. Das Jungrohr
eine Geschichte zum Dargestellten im Bild, die das        diente auch als Viehfutter und wurde im Sommer
Vorher und das Nachher berücksichtigt. Ein Part-          im Wasser des Neusiedler Sees und der angrenzen-
ner oder eine Partnerin überprüft, inwieweit das          den Lacken geschnitten.
Foto Anhaltspunkte für die Schlüssigkeit der von
dir verfassten Geschichte gibt.
                                                          Arbeitsauftrag

Beispiel 3: Schilfschneider                               Die Lehrperson fertigt für jedes Lernendenpaar
                                                          eine Kopie des Fotos an und zerschneidet es in ein-
Für die Taglöhner in den Ortschaften rund um den          zelne Puzzleteile und gibt die Einzelteile in einen
Neusiedler See bedeutete die mühevolle Arbeit des         Briefumschlag.
Schilfschnittes oft die einzige Möglichkeit, im Win-      1. Nehmt jeweils ein Puzzleteil aus eurem Brief-
ter Geld zu verdienen. Bei eisigen Temperaturen,             umschlag und beschreibt dieses genau.
wenn der See zugefroren war, schnitten die „Rohr-         2. Nachdem ihr alle Puzzleteile beschrieben habt,
                                                             versucht das Thema des Fotos zu nennen.
                                                          3. Versucht nun das Foto zusammenzufügen und
                                                             findet heraus, ob eure Vermutung richtig ist.
                                                          4. Benennt Schwierigkeiten, die sich beim Zusam-
                                                             menstellen des Puzzles ergeben haben.

(Foto: Rudolf Herbert Berger / Quelle: Burgenländisches
Landesarchiv, Fotosammlung)

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Aus der Wissenschaft                                                              Leimstättner & Taschler

Brigitte Leimstättner & Birgit Taschler

Im Burgenland – 1984 – die erste Integrationsklasse Österreichs
Rückblick – Einblick – Ausblick

Rückblick                                                 se Idee zu unterstützen und zum Teil mitzutragen
                                                          (Leimstättner 2010, S. 96).
1984 wurde im Burgenland die erste offizielle lnteg-
rationsklasse Österreichs eröffnet.                       Ein weiterer Aspekt ergab sich aus der im Burgen-
                                                          land sehr kleinstrukturierten Schullandschaft mit
„Dass die erste offizielle Integrationsklasse Öster-      seinen vielen Klein- und Kleinstschulen.
reichs 1984 im Burgenland initiiert wurde, über-
raschte viele. Das Burgenland, das aufgrund seiner        Um „drohende Klassenzusammenlegungen bzw.
peripheren Lage, seiner besonderen Strukturen und         Schulschließungen zu verhindern“, wurden „an
seines historischen Hintergrundes lange als rückstän-     manchen Regelschulorten Schüler/innen, die […]
dig galt, zeigte bzw. entwickelte im Vergleich zu ande-   eine zusätzliche Förderung aufgrund von Entwick-
ren Bundesländern überraschendes Innovationsver-          lungsverzögerungen und Behinderungen gebraucht
mögen im Bereich der Integration von Kindern mit          hätten, nicht in die Sonderschule geschickt“. „Aller-
»besonderen Bedürfnissen«“ (Leimstättner 2010, S.         dings blieb ihnen so in vielen Fällen die Förderung
95).                                                      am Schulstandort vorenthalten“, „das hat Anfang
                                                          der 1980er Jahre die Argumentation zur Einrich-
„(Die) Integration von Schüler/innen mit besonde-         tung einer offiziellen Integrationsklasse erleichtert.“
ren Bedürfnissen begann zuerst als Initiative und         (Leimstättner 2010, S. 96).
Bewegung und dann als Reform in Gestalt eines
Schulversuches. Gerade die erste Phase war von            Die Geschichte einer Entwicklung zu erzählen, die
viel Engagement und Aufbruchsstimmung geleitet.“          so sehr wie diejenige der ersten Integrationsklasse
(Leimstättner 2010, S. 96).                               Österreichs mit den handelnden Personen verbun-
                                                          den ist, kann – bei allem Bemühen um distanzierte
Was waren nun Gründe für diese Vorreiterrolle?            Beschreibung – nicht umhinkommen, einige Blicke
                                                          auf die persönlichen Beweggründe und Hinter-
„Im Gegensatz zu vielen anderen Regionen Öster-           gründe zu werfen, die zum Gelingen dieser Innova-
reichs fehlten im Burgenland Sonderkindergärten,          tion beitrugen.
daher wurden behinderte Kinder in die Regelkin-
dergärten aufgenommen und dort integriert. […]            Die maßgeblichen Personen waren die damals für
Durch die erfolgreiche Praxis von Integration an den      das Südburgenland zuständige Schulpsychologin
Kindergärten konnten Eltern von behinderten und           Gertraud Schleichert1 und ich, Brigitte Leimstätt-
nichtbehinderten Kindern, aber auch alle anderen          ner, als Lehramtsstudentin. Der erste gemeinsame
institutionell Beteiligten Sicherheit darüber bekom-      konkrete Zugang zum Thema ergab sich 1979 inner-
men, dass Integration eine Bereicherung sowohl für        halb einer zehntägigen Kunst- und Kulturveranstal-
die Gemeinschaft als auch das Individuum darstellen       tung in Oberwart: „ausnahmsweise oberwart“.2 In
kann.“ (Leimstättner 2010, S. 95f.)                       Kooperation mit am Thema Interessierten, Thera-
                                                          peut_innen und körperbehinderten Menschen ent-
So fand die Integrationsbewegung im Burgenland            stand eine Ausstellung zum Thema „Behindert sein“.
von Beginn an vor allem die Eltern als Verbündete.        Wichtig war in diesem Zusammenhang darauf hin-
Auch Entscheidungsträger_innen aus unterschied-           zuweisen, dass man nicht nur behindert ist, sondern
lichen Ebenen des Schulsystems waren bereit, die-         auch behindert wird, weil es durch die strukturelle

                                                                                                            13
Aus der Wissenschaft                                                          Leimstättner & Taschler

und symbolische Umgebung sehr viele Hindernis-         wurde. Diese vier Jahre waren geprägt von gründ-
se im Leben gibt. Um das anschaulich zu machen,        lichen Auseinandersetzungen mit Theorien der Re-
wurden Objekte auf der Hauptstraße in Oberwart         formpädagogik, mit Erfahrungen anderer Schulen
installiert, die für alle Menschen den gewohnten       im deutschsprachigen Raum (v.a. mit Schulen in
und gewöhnlichen Alltagsfluss unterbrachen. Trotz      Berlin) und auf Erkenntnis und Weiterentwicklung
kontroverser Diskussionen gab es damals auch sehr      ausgerichteter Reflexion. Begleitet wurde dieser
viele positive und interessierte Rückmeldungen auf     Prozess von intensiver Elternmitarbeit, unterstützt
diese Perspektivenerweiterung. Das bestärkte uns       wurde er durch die Schulpsychologie, das Pädago-
darin, einen nächsten Schritt zu setzen.               gische Institut Burgenland und Expert_innen von
                                                       außen. In den ersten drei Jahren nach Eröffnung
Die über die Ausstellung entstandenen Kontakte er-     dieser Integrationsklasse gab es auch drei öster-
weiterten sich und es bildete sich eine Gruppe, die    reichweite Symposien im Burgenland – unter an-
Interesse am Thema Integration hatte. Das führte       derem mit dem Thema „Integration ist unteilbar“.
dazu, dass wir bald einen ersten Entwurf für die       Organisiert wurden diese von der Gruppe BUNGIS
Konzeption einer Integrationsklasse formulierten.      (Behinderte und Nicht-Behinderte gemeinsam in
Dieser beinhaltete u.a. eine begrenzte Schüler_in-     Schulen).3 An diesen Symposien nahmen auch viele
nenzahl und Unterricht nach unterschiedlichen          internationale Expert_innen teil. Rückblickend ge-
Lehrplänen. Alle Kinder waren erwünscht – körper-      sehen, konnte das alles nur gelingen, weil alle Be-
behindert, mehrfachbehindert, Kinder aus unter-        teiligten nach ihren jeweiligen Möglichkeiten ihre
schiedlich privilegierten Familien und mit verschie-   Kompetenzen einbrachten und die Kräfte gebün-
denen kulturellen, konfessionellen und ethnischen      delt wirksam werden konnten.
Hintergründen. Wir sahen unsere Aufgabe darin,
den Kindern das zur Verfügung zu stellen, was sie in   Einerseits war Gertraud Schleichert als Schulpsy-
ihren jeweiligen Lern- und Entwicklungsprozessen       chologin auf struktureller Ebene wirksam, anderer-
unterstützen könnte.                                   seits leistete ich – Brigitte Leimstättner – als Son-
                                                       derpädagogin, die nun schon vier Jahre an einer
Das Ziel sollte sein, „daß jedes Kind optimal lernen   Allgemeinen Sonderschule unterrichtete, auf der
kann, und zwar nicht nur im intellektuellen, son-      schulisch-praktischen Ebene den notwendigen Bei-
dern auch im sozialen Bereich. Durch die Pflege        trag. Therapeut_innen brachten ihre Feldkompe-
von Eigenständigkeit und Kreativität sollte es mög-    tenz ein und die Eltern trugen den Hauptteil zum
lich sein, sowohl Behinderte als auch Nichtbehin-      Gelingen bei – nämlich durch ihre Motivation, den
derte zur bestmöglichen Entfaltung ihrer Potentiale    Kindern in der Regelschule einen sozialen Raum
zu bringen.“ (Schleichert 1993, S.32)                  und ein Lernfeld für Anerkennung von Differenz
                                                       und Umgang mit Diversität zu eröffnen.
Es folgte eine intensive Phase der Kooperation zwi-
schen Eltern, Lehrer_innen und einzelnen Vertre-       Im Jahr 1986 kam die zweite Integrationsklasse
ter_innen aus dem Verwaltungs- und Administra-         dazu. Ich – Birgit Taschler – unterrichtete diese
tionsbereich auf Bundes- und Landesebene. Nach         Klasse vier Jahre in der Volksschule und konnte
vielen einschneidenden Gesprächen und Verhand-         diese als Integrationsklasse weitere vier Jahre in der
lungen auf den unterschiedlichsten Ebenen der          Hauptschule in Oberwart führen.
Schulverwaltung, mehrmaliger Adaptierung des
Konzeptes und wiederholten Einreichungen, kam
es vor allem auch wegen nachhaltiger Unterstützung     Einblick
der beteiligten Eltern im September 1984 zur Er-
öffnung der ersten Integrationsklasse als Schulver-    Zehn Jahre später – im Jahre 1994 – kam es schließ-
such an der Volksschule Oberwart, welche bis zur       lich „trotz Skepsis und Vorsicht seitens der Schul-
vierten Schulstufe von mir als Sonderschullehrerin,    verwaltung“ (Leimstättner 2010, S. 97) zur Imple-
einer Volksschullehrerin und einer Helferin geführt    mentierung von Integration ins österreichische

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Aus der Wissenschaft                                                             Leimstättner & Taschler

Regelschulwesen. Es wurden gesetzliche Grund-            Geschichte eines besonderen Kindes‘ – das sind sie ja
lagen erstellt, die den Umgang mit Integration von       alle. Oder: ‚Die Geschichte eines Kindes mit beson-
behinderten Kindern im Regelschulsystem klä-             deren Bedürfnissen‘ – auch das haben ja alle Kinder.
ren sollten. Mit der gesetzlichen Verankerung des        Oder so: ‚Die Geschichte eines Kindes mit selektivem
Rechts auf Teilhabe am regulären Bildungsweg für         Mutismus‘ – ist das nicht eine Reduktion, die nur auf
alle Schüler_innen veränderten sich auch die Rah-        das Defizit schaut?‘
menbedingungen und die Ressourcenvergabe, wel-
che immer stärker unter ökonomischen Zwängen             Vielleicht so: ‚Die Geschichte eines Kindes, das zu Be-
entschieden wurden, wodurch sich diese im Ver-           ginn seiner Schullaufbahn mit uns nicht sprach.“
gleich zur Schulversuchssituation verschlechterten.
                                                         Als Erwin4 in die Schule eingeschrieben wurde, war
In der Folge offenbarten sich „neben den ganz of-        seine Mama sehr nervös. Sie hatte zwar gehört, dass
fensichtlichen auch die versteckten und verborge-        unsere Volksschule eine Integrationsschule ist. Aber
nen Mechanismen der Ausgrenzung und die Anteile          trotzdem hatte sie Ängste, dass ihr Kind nun als In-
und Beteiligung der Schule.“ (Leimstättner 2010, S.      tegrationskind abgestempelt werden könnte oder
201; vgl. Bourdieu 1997).                                gar selektiven Maßnahmen unterzogen würde. Sie
                                                         befürchtete, dass er somit eine Sonderstellung ein-
„ Auf legitime und scheinbar natürliche Weise wird       nehmen würde, wenn er vielleicht oft gar aus dem
einem Teil der Schüler/innen – und hier geht es nicht    Klassenverband herausgenommen werden würde.
»nur« um behinderte Kinder – durch Druck, Zwang          Die Lehrerin, bereits sehr erfahren im differenzierten
und Erniedrigung gezeigt, dass sie keinen Platz in der   Unterrichten, war neugierig. Sie stellt im Vorfeld viele
Gesellschaft haben, herausfallen, oder an die äußers-    Fragen: Wie wird sich das Lesen gestalten, wie kann
ten Ränder gedrängt werden. Und das liegt – außer        sie erkennen, ob das Kind lesen kann und ob es ihre
bei behinderten Kindern – nicht an ihrem kognitiven      Anweisungen verstanden hat? So luden wir Lehre-
Vermögen, sondern daran, dass die Schule diejenigen      rinnen die Sprachheillehrerin zur Konferenz ein. Ge-
gut umsorgt, die das Wissen um die kulturellen Codes     meinsam tauschten wir Ideen und Erfahrungen aus.
mitbringen und diese familiär unterstützt für sich       In der ersten Zeit galt das Augenmerk der Gruppe,
nutzen können.“ (Leimstättner 2010, S. 201).             ihren Dynamiken und dem sozialen Lernen. Erwin
                                                         machte alles mit. Da, wo es um Sprache ging, stellten
In diesem Zusammenhang kann auch von struktu-            die Kinder Fragen – meist Entscheidungsfragen – die
reller und symbolischer Gewalt gesprochen werden         mit Kopfnicken zu beantworten waren, was er auch
(Schmidt, Woltersdorff 2018).                            tat. Wie immer konnten wir Lehrerinnen von den
                                                         Kindern viel lernen. Auch über die Ebene des Zeich-
Die Umsetzung von Integration hat sich seit der          nens konnten wir hervorragend untereinander und
ersten Integrationsklasse unterschiedlich entwickelt     mit Erwin kommunizieren.
und wurde auch auf verschiedene Art und Weise ge-
lebt. Um den Bogen in die Gegenwart zu spannen,          Der Sprachheilunterricht war die einzige Maßnah-
beschreibt das Team der Volksschule Jabing – Bir-        me, bei der Erwin aus dem Klassenverband heraus-
git Taschler ist dort Schulleiterin – einen aktuellen    ging. Aber das machten alle anderen Kinder, die den
inklusiven Zugang aus ihrer pädagogischen Praxis         Sprachheilunterricht besuchten, ebenso. Dieser Un-
und skizziert im Anschluss die Erfahrungen und           terricht wurde in spielerischer Form angeboten und
Erkenntnisse aus diesem Prozess.                         es wurde auf die Interessen des Kindes eingegangen:
                                                         Das Nachspielen von kleinen Szenen und das Arbei-
                                                         ten mit Handpuppen, das hat Erwin sehr viel Spaß
Die Geschichte eines Kindes                              gemacht. Schrittweise wurden dem Kind so zuerst
                                                         einzelne Geräusche und Lautmalereien, später dann
„Schon die Überschrift bringt mich (B. Taschler)         erste Silben „entlockt“.
zum Nachdenken. Wie kann ich das nennen: ‚Die

                                                                                                            15
Aus der Wissenschaft                                                            Leimstättner & Taschler

Es vergingen Monate, Erwin hatte sich in der Ge-        fen. Da an unserer Schule aber sehr oft klassenüber-
meinschaft gut eingelebt, die Kinder mochten ihn,       greifend und projektorientiert gearbeitet wird, gab es
und dass Erwin nicht sprach, kam nur selten zum         für Erwin nicht viel Neues. Die Kinder und auch die
Tragen. Da der Unterricht an unserer Schule sehr        Lehrerin waren Erwin gut bekannt. Die Sinnerfas-
schüler_innenzentriert ist und viele Lernmaterialien    sung des Gelesenen konnte nun durch viele verschie-
in Partner- und Gruppenarbeiten bearbeitet wurden,      dene schriftliche Methoden überprüft werden. An der
hatte Erwin viele Möglichkeiten, mit den Kindern in     Gestaltung seiner Sätze und Aufsätze war ersichtlich,
kleinen Gruppen zusammen zu sein. Außerdem muss         dass Erwin über einen großen Wortschatz verfügte.
gesagt werden, dass die Klassenlehrerin intensiven      In Sachunterrichtsprojekten machte Erwin bei der
Kontakt zur Mutter pflegte und somit auch erfuhr,       Gruppenarbeit mit. Die Lehrerin ließ ihn die Schü-
was Erwin besonders gern machte, wie er seine Nach-     ler_innen seiner Gruppe auswählen und der nächste
mittage gestaltete und was er zuhause erzählte. Denn    Schritt begann: Erwin sprach in diesen Kleingrup-
in der Kleinfamilie sprach Erwin, dort war er sogar     pen im geschlossenen Raum, allerdings nicht mit uns
eine richtige Plaudertasche. Es war Winter und die      Lehrerinnen. Dieses Privileg blieb vorerst der Sprach-
Sprachheillehrerin kam plötzlich mit geröteten Ba-      heillehrerin vorbehalten und eben einigen Kindern.
cken in die Pause, um zu verkünden: „Erwin hat ge-
sprochen“. Einzelne Wörter mit hinter der Hand ver-     Eines Tages nun kam ich zur Gruppenarbeit dazu
decktem Mund. Es dauerte wieder einige Zeit und die     und verkündete, dass ich mit Erwin gerne seinen
Hand durfte weichen.                                    Projektteil lesen und üben möchte. Erwin wurde sehr
                                                        nervös, aber an seinen Augen konnte ich erkennen,
Erwin hatte einen besonderen Freund in der Klasse,      dass er bereit war. Ich nahm den Druck heraus, in
Acar4. Mit diesem Kind verbrachte er die Pause und      dem ich ihm das Angebot machte, er dürfe sich den
auch beim Zusammenarbeiten wählte Erwin oft Acar        Wochentag aussuchen. An dem Tag war Montag. Ich
als Partner. Die Sprachheillehrerin fragte Erwin, ob    hatte das Gefühl, dass es nun für ihn möglich sei, es
Acar mitkommen darf und so war Acar das erste           war einfach nur das Gefühl. Schon am nächsten Tag
Kind in der Schule, das Erwin sprechen hörte. Er war    kam Erwin zu mir und bedeutete, dass er am Don-
richtig stolz und verkündete es sofort allen Kindern.   nerstag mit mir lesen möchte.
Erwin lächelte verschmitzt, sein Kopf war hochrot, so
als hätte er eine große Anstrengung vollbracht.         Donnerstag: Erwin war sehr nervös. Wir setzten uns
                                                        in der Klasse zu einem Tisch, ein bisschen abseits der
Den nächsten Schritt machte die Mutter. Sie lud         übrigen Kinder und wirklich, Erwin las mir leise,
Klaus4, ein weiteres Kind, von dem Erwin oft erzähl-    sehr leise vor. Seine Hände verrieten seine Nervosi-
te, nachhause ein. Auch er erlebte das Sprechen Er-     tät. Das Lesen gelang ihm bravourös. Der Bann war
wins. Und für ihn war es einfach so: „Zuhause spricht   gebrochen. Schritt für Schritt erweiterten wir das Le-
Erwin, in der Schule nicht“. Kein Kind fragte warum,    sefeld, bis es ihm gelang, vor der ganzen Klasse zu
kein Kind bedrängte ihn, kein Kind sonderte ihn aus.    lesen. Knapp bevor Erwin unsere Schule verließ, also
Auch in der Lesegruppe, in der drei bis vier Kinder     am Ende der vierten Schulstufe präsentierte Erwin
das ganze Jahr über konstant miteinander lesen, er-     ein Sachunterrichtsprojekt mit seiner Gruppe vor al-
fanden die Kinder immer wieder neue Aufgaben,           len Lehrer_innen und Schüler_innen der gesamten
um herauszufinden, ob Erwin das „leise“ Gelesene        Schule. Wir waren sehr stolz. Von da an sprach er
verstand. In der halbjährlichen Lernfortschrittsdo-     auch mit allen Kindern. Der Übergang in eine nächs-
kumentation wurden die Lese- und Sprechkompe-           te Schule, dachten wir, wird somit um ein Vielfaches
tenzen mit der Mutter und der Sprachheillehrerin        leichter sein als der Eintritt in unsere Schule: für ihn,
besprochen und in seinem Pensenbuch eingetragen.        seine Familie, alle Freund_innen und alle Lehrer_in-
                                                        nen. Darüber freuten wir uns am meisten. Ja, und so
Es waren zwei Jahre vergangen und nun gab es den        war es auch. Erwin blieb dem Sprechen treu.
vorgesehenen Lehrerinnenwechsel. Unsere Schule
besteht aus zwei Klassen mit jeweils zwei Schulstu-

16
Aus der Wissenschaft                                                            Leimstättner & Taschler

Was sind aus unserer Sicht die Erfolgs- und Gelingens-   Praxisreflexion unter Einbeziehung relevanter Theo-
bedingungen hinsichtlich Integration bzw. Inklusion?     rien im Team. Wichtig ist uns der beständige Blick
                                                         auf die Lernprozesse und eine differenzierte Sicht auf
Es lassen sich eine Reihe von inklusiven Wirkme-         Kompetenzen des Kindes. Dabei geht es vor allem
chanismen aus diesem Praxis-Beispiel herausfiltern:      darum, die eigenen Deutungs-, Handlungs- und Be-
Zunächst braucht es eine Atmosphäre des Vertrauens       wertungsschemata (…), zu hinterfragen, damit eine
und der Sicherheit für Eltern und Kinder. Die Mög-       dem jeweiligen Kind entsprechende Förderhaltung
lichkeit dies herzustellen, hat jede Schulleitung und    gewährleistet bleibt und keine unbewussten oder un-
jedes Team, indem sie erkennen und anerkennen,           reflektierten Zuschreibungen wirkmächtig werden.
dass Eltern immer wieder in Sorge sind und diese         „Es ist eine Herausforderung, gemeinsam mit den
auch bewusst wahrnehmen, um sie auch konstruktiv         Kolleg_innen aufzuspüren, welche Haltungen, (ver-
in die Begegnungen und in die Kommunikation ein-         borgenen) Machtmechanismen und Dynamiken im
zubinden. Schon vor Schulbeginn wird das Gespräch        Kontakt mit den Schüler_innen zu sozialer Ungleich-
und der Austausch mit der Mutter, dem Vater bzw.         heit führen und unsere pädagogischen Alltagspraxen
Erziehungsberechtigten und der Kindergartenpäda-         auf die impliziten Unterscheidungshandlungen hin
gogin gesucht. In diesen Gesprächen können die Zu-       zu überprüfen. So können wir allenfalls diese ihrer
gänge und Besonderheiten der Schule (wie Inklusion,      scheinbaren Natürlichkeit entziehen und ihre Unter-
alternative Leistungsbeurteilung, individualisierte      scheidungsmacht bloßlegen. Dieser Prozess benötigt
Pädagogik) vermittelt werden. Der Schuleingang           Zeit und Raum und wir nehmen uns diesen Raum in
wird kindgerecht gestaltet, im letzten Kindergarten-     unterschiedlichen Settings (z.B. professionelle Lern-
jahr verbringen die Kinder einige Vormittage in der      gemeinschaften mit dem Thema kollegiale Hospita-
Schule. Die Lehrerin hat viele verschiedene Möglich-     tion, schulinterne Lehrer_innenfortbildung, Supervi-
keiten die Kinder zu beobachten. Einerseits findet       sion, ... ).“ (Leimstättner 2013)
dadurch eine angemessene pädagogische Diagnostik
statt, andererseits können mit der Kindergartenpä-       Ein wichtiges (Qualitäts-)Thema ist für uns auch der
dagogin wichtige Themen professionell besprochen         Übertritt unserer Schüler_innen in die nächste Schu-
und abgeklärt werden. Alle Beteiligten gehen vorbe-      le – wir Pädagog_innen versuchen die Kinder in die-
reitet in den Schulbeginn des zukünftigen Jahres.        sem Übergang professionell zu begleiten.

Es findet kontinuierlich eine enge Zusammenarbeit        Dieses Beispiel aus der Praxis zeigt, dass integra-
mit den eingebundenen relevanten Umwelten und            tive bzw. inklusive Pädagogik möglich ist. Obwohl
Vertreter_innen von Unterstützungssystemen (z.B.         Integration nun schon so viele Jahre gesetzlich ver-
Therapeuten_innen, Schulpsychologie, Kinder- und         ankert und seit 2008 Inklusion auch pädagogischer
Jugendhilfe, …) statt. In regelmäßigen Abständen         Auftrag ist, gibt es doch noch sehr viele Beispiele,
werden größere Teambesprechungen abgehalten, in          die darauf hinweisen, dass diese „Neuerung“ an der
denen die Unterstützer_innen den Lernprozess des         Basis – bei den Lehrer_innen – oft gar nicht oder
Kindes reflektieren und gemeinsam überlegen, was         nur schleppend angenommen wird (vgl. Leimstätt-
dem Kind neue Möglichkeiten für seine Entwicklung        ner 2012). In vielen Fällen fühlen sich die Klassen-
eröffnen kann. Bei Erwin war dies z.B. der enge Kon-     lehrer_innen für die sogenannten Integrationskin-
takt zu Acar, den die Sprachheillehrerin nutzte. Auch    der nicht zuständig und geben die Verantwortung
der Zeitpunkt, in der Großgruppe zu sprechen, ver-       an die Integrationslehrer_innen oder an die Schul-
langte genaue Beobachtung, Einfühlungsvermögen           assistent_innen ab. Es ist jedoch sattsam erwiesen,
und systematisches Verstehen, um Erwin nicht zu          dass Integration und erst recht Inklusion nur dann
überfordern, aber ihm auch zum richtigen Zeitpunkt       gelingen können, wenn der Umgang mit Differenz
etwas zuzutrauen.                                        in der Schule von allen gleichwertig und gleich-
                                                         würdig mit dem notwendigen Professions(selbst)
Teil unseres pädagogischen Alltags und unseres päd-      bewusstsein und einem angemessenen Professi-
agogischen Tuns ist die kontinuierliche professionelle   ons(selbst)verständnis getragen wird.

                                                                                                           17
Aus der Wissenschaft                                                            Leimstättner & Taschler

Wie ist es zu verstehen, dass die Haltung vieler         hältnissen heranzuziehen (Bourdieu 1997). Im Fal-
Lehrpersonen und Kollegien nicht berufsimplizit          le der Integration im pädagogischen Kontext geht es
integrativ bzw. inklusiv ist – und somit Integration     vor allem darum, den „kollektiven Habitus“ (Bour-
bzw. Inklusion in sehr vielen pädagogischen Einhei-      dieu 1987) nicht nur der Berufsgruppe der Lehrer_
ten kein selbstverständlicher Teil des professionel-     innen sondern auch der Gesellschaft zu verändern.
len Alltags ist?
                                                         „Die Voraussetzung für eine gelingende Integration
Georg Feuser einer der ersten Integrationstheo-          wäre der Bruch mit dem ‚Modus der Evidenz‘ des
retiker diagnostiziert 2008, die Integration sei ge-     Schulsystems als Unterschiede produzierende und re-
scheitert. Er sieht die Ursache darin, dass sie in       produzierende Institution, die über eine ganze Reihe
erschütternder Weise unpolitisch geworden sei,           von Mechanismen verfügt, um diese Funktion auf-
da die Bereitschaft, sich gesellschaftlich mit ihrem     recht zu erhalten und die im ‚Zweifelsfall‘ immer be-
Anliegen auseinanderzusetzen und politisch zu ex-        strebt ist, Änderungen auf ein erträgliches Maß ‚her-
ponieren gegen den Widerstand, den sie erfährt, gar      unterzukühlen‘“ (Leimstättner 2011, S. 84).
nicht oder nur sehr rudimentär vorhanden ist. Feu-
ser begründet das Scheitern der Integration unter        „Wenn aber […] der Wille gegen diese Widerstände,
anderem auch damit, dass das gründliche Denken           die auch immer im jeweiligen Habitus der Akteur_
der Integration ausgeblieben sei und segregieren-        innen verankert sind, nicht stark genug ist, dann ist
de und selektierende Erziehungs-, Bildungs- und          es für die Akteur_innen leichter und »sicherer« auf
Unterrichtssysteme nicht ausreichend in Frage ge-        Gewohntes und selbstverständlich Gewordenes zu-
stellt wurden, um sie notwendigerweise umzubauen         rückzugreifen“ (Leimstättner 2011, S. 99), d.h. den
(Leimstättner 2010, S. 98; Feuser 2008). Die für die     „Modus der Evidenz aufrecht zu erhalten.“ (Barlösi-
Integration – also das Hineinnehmen eines Men-           us 2006, S. 89).
schen in ein bereits existierendes System – benö-
tigten strukturellen Veränderungen wurden nicht          Lehrerinnen und Lehrer stellen eine tragende Säule
ausreichend vollzogen. Dies betrifft noch viel mehr      des Bildungssystems dar. Ihr Wirken ist die inhaltli-
die Inklusion, die von Anfang an ein gemeinsames         che Leistungsebene des Schulsystems – mit Thomas
System für alle Menschen will, in dem niemand aus-       Brüsemeister gesprochen: „Das ist eine Leistung,
gegrenzt oder stigmatisiert wird.                        die innerhalb des Schulsystems von keinem anderen
                                                         Akteur erbracht werden kann.“ (Brüsemeister 2007,
Es gehe nicht darum, den politisch Verantwortli-         S. 85). In diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig,
chen das Handeln abzunehmen, sondern deutlich            sich zu vergegenwärtigen, dass den Lehrpersonen
zu machen, „was pädagogisch machbar ist und was          sowohl historisch als auch gegenwärtig nicht nur
politisch gemacht werden muss, damit das Päda-           die Aufgabe der Inhaltsvermittlung zukommt, viel-
gogische gemacht werden kann, so es gewollt ist.“        mehr waren sie schon immer „eine wichtige Stütze
(Feuser 2008)                                            gesellschaftlicher Ordnungssysteme“ (Leimstättner
                                                         2011, S. 11) und „werfen […] als Individuen einen
„Die Beantwortung der Frage, weshalb die Bemü-           durch ihre jeweilige Sozialisation bedingten Blick
hungen der Integrationsbewegung auf halbem Weg           auf die Schüler/innen, der ihr pädagogisches Han-
gescheitert sind, gelingt vielleicht ein wenig besser,   deln oft unbewusst und unabhängig von ihren Fach-
wenn wir fragen, was es überhaupt für eine Gesell-       kompetenzen mitbestimmt.“ (Leimstättner 2011, S.
schaft bedeutet, wenn bestimmte Gruppen etwas ver-       10) Umso erstaunlicher scheint es, dass in den bis-
ändern wollen.“ (Leimstättner 2010, S. 99)               herigen Forschungen dem biografischen „Gepäck“
                                                         der Lehrer_innen, ganz im Gegensatz zu jenem der
An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, die Konzepte     Schüler_innen, wenig Aufmerksamkeit geschenkt
und Analyseinstrumente Pierre Bourdieus im Hin-          wurde. (Leimstättner 2012)
blick auf (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit und
(Re-)Produktion von Macht – und Herrschaftsver-

18
Aus der Wissenschaft                                                          Leimstättner & Taschler

Differenz und die sich daraus ergebenden Praktiken      eingelassen und Erkenntnisse und Erfahrungen un-
der Inklusion und Exklusion zeigt sich sowohl zwi-      tereinander geteilt. Sich selbst als (Re-)Produzent_
schen Schüler_innen als auch zwischen Lehrer_in-        innen sozialer Ungleichheit zu begreifen, führte ei-
nen und Schüler_innen verschiedener sozialer und        nerseits zu Irritationen und Unsicherheiten, denen
kultureller Herkunft und den jeweiligen habituellen     ein entsprechender Stellenwert eingeräumt wurde.
Prägungen.                                              Andererseits wurde der Umgang mit der eigenen In-
                                                        volviertheit als Bereicherung beschrieben. Es zeigte
Im pädagogischen Kontext ist es unerlässlich, den       die eigenen Verstrickungen, machte sie verhandel-
institutionellen und personellen Habitus zu reflek-     bar und eröffnete somit neue Perspektiven auf den
tieren und allenfalls zu verändern.                     pädagogischen Kontext. Bemerkenswert erscheint
                                                        dabei, dass dieser Prozess von den Studierenden
Bourdieu bietet dazu „zwei Sichtweisen, die sich ge-    als wichtige Grundlage für methodisch-didaktische
genseitig ergänzen bzw. verstärken, erklärt werden.     Interventionen erachtet wurde. Es war zu beob-
Einerseits zeichnet sich der Habitus durch eine »au-    achten, dass sie mit dem systematischen Verstehen
ßerordentliche Trägheit (aus), die aus der Einschrei-   ganz selbstverständlich auf adäquate methodisch-
bung der sozialen Strukturen in die Körper resul-       didaktische Herangehensweisen zugreifen konnten
tiert«, und eine dauerhafte Transformation desselben    (Schrammel, Leimstättner 2018).
ist nur durch eine »wahre Arbeit der Gegendressur,
die ähnlich dem athletischen Training wiederholte       Um der Stärkung reflexiver Kompetenzen mehr
Übungen einschließt« zu erzielen, andererseits gibt     Raum und Bedeutung zu geben, ist es allerdings
er den Akteur/innen auch eine »generierende und         notwendig, entsprechende strukturelle Rahmen-
einigende, konstruierende und einteilende Macht5«       bedingen zu schaffen. Reflexivität darf nicht mehr
[,] (und) bindet sie gleichzeitig an ihren Auftrag“     wie bisher dem Engagement des/der Einzelnen und
(Leimstättner 2011, S. 184; Bourdieu 2001, S. 220).     seiner/ihrer Freiwilligkeit, der Eigenverantwortung
                                                        oder der Beliebigkeit überlassen werden, sondern
                                                        muss impliziter Bestandteil des Berufsbildes sein.
Ausblick                                                Biografiearbeit und die Anwendung der Methode
                                                        der intersektionalen Analyse schaffen schon in der
Lehrer_innen sind die Akteur_innen – sie sind           Ausbildung eine nachhaltige Sensibilisierung, wie
Teil des „sozialen“ Spiels (vgl. Bourdieu 1987a). Es    die eigene Positionierung im sozialen Raum den
ist eine bedeutende Frage, welche habituellen Dis-      Blick auf Schüler_innen beeinflusst und bestimm-
positionen Lehrer_innen aus ihrem Elternhaus mit-       te Formen der Ausgrenzung oder Diskriminierung
nehmen, welche Sozialisationsformen sie auf ihrem       begünstigen kann. Gleichzeitig muss das Bewusst-
eigenen Bildungsweg durchlaufen, welche feldspe-        sein für diese Auseinandersetzung alle Ebenen des
zifischen Diskrepanzen ihnen in ihrem alltäglichen      Schulsystems durchdringen, um den Anspruch er-
Handeln begegnen (Leimstättner 2011, S. 86) und         heben zu können, den Umgang mit Differenz und
welche Bedingungen geschaffen werden können,            Diversität ernst zu nehmen (vgl. Leimstättner 2010,
um ihnen die ungeteilte Anerkennung von Diffe-          S. 193).
renz (vgl. Mecheril, Plößer 2011) in Form von refle-
xiven Prozessen zu erleichtern. Es ist notwendig, die   Kontinuierliche professionelle Praxisreflexionen
Doxa (vgl. Bourdieu 1987a) – das scheinbar Natür-       mit relevanten Theorien als ein wichtiger Teil des
liche – zur Disposition zu stellen. Theorien zur Re-    Professialisierungskontinuums sind unabdingbar
produktion von Chancenungleichheit in der Schu-         für eine integrative, inklusive Haltung im pädago-
le, die Schule als Mittelschichtsinstitution und die    gischen Kontext.
Orientierung von Lehrer_innen an unhinterfragten
kulturellen Normen stellen hierfür den Hebel dar.
Eine Gruppe von Studierenden der Pädagogischen
Hochschule Burgenland hat sich auf diesen Prozess

                                                                                                        19
Aus der Wissenschaft                                                                          Leimstättner & Taschler

Endnoten                                                         Bremer, Helmut (2006). Die Notwendigkeit milieubezogener
                                                                 pädagogischer Reflexivität. Zum Zusammenhang von Habi-
1   Gertraud Schleichert hat in ihrer Publikation „Behinderte    tus, Selbstlernen und sozialer Selektivität. In: Friebertshäuser,
und Nichtbehinderte gemeinsam in Schulen. Integrierte Klasse     Barbara; Rieger, Markus; Wigger, Lothar (Hg.). Reflexive Er-
in Oberwart – Dokumente aus acht Jahren Schulversuch“ sehr       ziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss
detailliert die Geschichte der Integration im Burgenland be-     an Pierre Bourdieu. Wiesbaden: VSA Verlag für Sozialwissen-
schrieben und dargestellt.                                       schaften. S.289-S.308.

2   https://www.peterwagner.at/topmenu/arbeiten/werkliste-       Brüsemeister, Thomas (2007). Steuerungsakteure und ihre
aktionen-projekte/ausnahmsweise-oberwart/                        Handlungslogiken im Mehr- ebenensystem der Schule. In:
                                                                 Kussau, Jürgen; Brüsemeister, Thomas. Governance, Schule
3   http://www.vereinvamos.at/cms/de/ueber-uns/vereinsge-        und Politik. Zwischen Antagonismus und Kooperation. Wies-
schichte/index.html                                              baden: Springer VSA. S.63-S.95.

4   Die Namen der Kinder wurden verändert.                       Feuser, Georg (2008). Von Selektion über Integration zu In-
                                                                 klusion. Vortrag beim SYMPOSIUM: Die inklusive Schule
5   Akteur_innen konstruieren die Gesellschaft und die Gesell-   –JEDE/R IST WILLKOMMEN Katholische Pädagogische
schaft konstruiert die Akteur_innen – diese Wechselwirkungen     Hochschule, (Eggenberg) in Kooperation mit Landesschulrat
sind als „zirkuläre Beziehungen“ zu begreifen (Papilloud 2003,   für Steiermark & Heilpädagogische Gesellschaft Steiermark
S.39-S.40).                                                      (HPG) Graz: 4. und 5.April 2008. Das Manuskript wurde mir
                                                                 freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

                                                                 Friebertshäuser, Barbara; Rieger-Ladich, Markus; Wigger,
Literatur                                                        Lothar (2006) (Hg.). Reflexive Erziehungswissenschaft. For-
                                                                 schungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu. Wies-
Barlösius, Eva (2006). Pierre Bourdieu. Frankfurt/Main: Cam-     baden: VSA Verlag für Sozialwissenschaften.
pus Verlag.
                                                                 Frotschnig, Christina; Leimstättner, Brigitte; Schönfeldinger,
Bourdieu, Pierre (1987). Die feinen Unterschiede. Die Kritik     Alexandra; Schrammel, Sabrina & Taschler, Birgit (2017).
der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main: Suhrkamp    Schulübergreifende Kollegiale Hospitation. In: ph publico. im-
Verlag.                                                          pulse aus wissenschaft, forschung und pädagogischer praxis.
                                                                 12/2017. Eisenstadt: Weber Verlag. S.81-S.88.
Bourdieu, Pierre (1987a). Sozialer Sinn. Kritik der theoreti-
schen Vernunft. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag.                 Leimstättner, Brigitte (2010). Vom inneren Tragen äußerer Ver-
                                                                 änderungen. Lehrer/innen und Schulleiter/innen in der Spirale
Bourdieu, Pierre (1997). Die verborgenen Mechanismen der         der Schulentwicklung. Unveröffentlichte Dissertation. Graz:
Macht. Hamburg: VSA Verlag für Sozialwissenschaften.             Karl-Franzens-Universität.

Bourdieu, Pierre (2001). Meditationen. Zur Kritik der scholas-   Leimstättner, Brigitte (2011). Das Feld Schule und seine Ak-
tischen Vernunft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.                      teur/innen. In: Erler, Ingolf; Laimbauer, Viktoria; Sertl, Mi-
                                                                 chael (Hg.). Wie Bourdieu in die Schule kommt. Schulheft, Jg.
Bourdieu, Pierre (2001a). Wie die Kultur zum Bauern kommt.       36, Nr. 142. 2011. Innsbruck-Wien-Bozen: Studienverlag. S.78-
Hamburg: VSA Verlag für Sozialwissenschaften.                    S.86.

Bourdieu, Pierre (2005). Die Männliche Herrschaft. Frankfurt     Leimstättner, Brigitte (2012 ). Wir nehmen alle mit. „Wir lassen
am Main: Suhrkamp.                                               keinen zurück.“ In: Erziehung und Unterricht. Neues Lernen

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